Leseprobe_Komponisten auf Sommerfrische
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Teresa Hrdlicka<br />
<strong>Komponisten</strong><br />
<strong>auf</strong><br />
<strong>Sommerfrische</strong><br />
in Bad Ischl<br />
Johannes Brahms, Anton Bruckner, Johann Strauss (Sohn),<br />
Franz Lehár, Leo Fall, Oscar Straus, Emmerich Kálmán
<strong>Komponisten</strong> <strong>auf</strong> <strong>Sommerfrische</strong> in Bad Ischl
Teresa Hrdlicka<br />
<strong>Komponisten</strong><br />
<strong>auf</strong> <strong>Sommerfrische</strong><br />
in Bad Ischl<br />
Johannes Brahms, Anton Bruckner, Johann Strauss (Sohn),<br />
Franz Lehár, Leo Fall, Oscar Straus, Emmerich Kálmán
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von<br />
Teresa Hrdlicka: <strong>Komponisten</strong> <strong>auf</strong> <strong>Sommerfrische</strong> in Bad Ischl. Johannes Brahms, Anton Bruckner,<br />
Johann Strauss (Sohn), Franz Lehár, Leo Fall, Oscar Straus, Emmerich Kálmán<br />
Hollitzer Verlag, Wien 2024<br />
Coverabbildung:<br />
Fotografie: Johann Strauss mit Johannes Brahms <strong>auf</strong> seinem Ischler Balkon, Sommer 1894<br />
(gemeinfrei)<br />
Lektorat: Eike Rathgeber<br />
Satz und Umschlaggestaltung: Nikola Stevanović<br />
Druck und Bindung: EU<br />
© Hollitzer Verlag, Wien 2024<br />
Alle Rechte vorbehalten.<br />
www.hollitzer.at<br />
ISBN 978-3-99094-164-5
Inhaltsverzeichnis<br />
Vorwort 7<br />
Johannes Brahms (1833– 1897) 11<br />
Anton Bruckner (1824–1896) 39<br />
Johann Strauss (Sohn) (1825–1899) 53<br />
Franz Lehár (1870– 1948) 77<br />
Leo Fall (1873– 1925) 111<br />
Oscar Straus (1870– 1954) 119<br />
Emmerich Kálmán (1882–1953) 133<br />
Chronologie 146<br />
Bildnachweis 147<br />
Bibliographie 149<br />
Namensregister 155
Vorwort<br />
VORWORT<br />
Bad Ischl hat sich im L<strong>auf</strong>e des 19. Jahrhunderts vom kleinen Salinenmarkt<br />
zum Kurort von Weltruf gemausert. Dass die sommerliche Anwesenheit des<br />
Kaisers und des Wiener Hofes an der Sogwirkung einen besonderen Anteil<br />
hatte, steht außer Diskussion. Die Ischler Bürger leisteten zu der Umstellung<br />
von der Salzwirtschaft <strong>auf</strong> den Fremdenverkehr ihren Beitrag, indem sie<br />
Zimmer vermieteten, Gastwirtschaften eröffneten und Hotels errichteten.<br />
Schließlich wollte der <strong>Sommerfrische</strong>n- oder Kurgast die städtischen Annehmlichkeiten<br />
während seines Aufenthalts nicht missen, und so wurde die<br />
Urbanität <strong>auf</strong>s Land transferiert. Jedes Jahr zu Saisonbeginn zog die große Welt<br />
in den kleinen Kurort und richtete sich bis Ende September ein. Dem meist<br />
adeligen oder großbürgerlichen Publikum sollte es an nichts mangeln: Die<br />
verschiedensten Berufsgruppen eröffneten ihre Sommer-Dependancen, meist<br />
mit dem Etikett „k. u. k.“ und dem Päfix „Hof-“ ausgezeichnet: Bäckereien,<br />
Coiffeure, Optiker, Photographen, Spediteure, Schneider, Weinhandlungen<br />
und sogar eine Stutzflügel-Vermietung. Angesagte Wiener Ärzte ordinierten<br />
in den Sommermonaten im Nobelkurort. Nachhilfe in Französisch oder<br />
„allen Gymnasialfächern“ bzw. Klavierunterricht wurden ebenso angeboten.<br />
Kolonialwarenhändler oder die lokale Buchhandlung verkündeten: „On parle<br />
français – English spoken“, Die Restaurationen lockten mit schattigen Gärten,<br />
Terrasse mit Aussicht, Extrazimmer, guter Küche, frischem Bier, Milchprodukten<br />
aus eigener Meierei, Wiener Caféhaus, Five o’clock Tea, Billard- und<br />
Spielsalon, und sogar ein koscheres Restaurant fehlte nicht. Wie schon Friedrich<br />
Torberg in der Tante Jolesch schrieb: Bad Ischl wurde vom Publikum nicht<br />
unbedingt seiner heilkräftigen Quellen wegen <strong>auf</strong>gesucht, und galt nicht nur<br />
als Kurort, sondern als besonders attraktive <strong>Sommerfrische</strong> 1 . Der Autor eines<br />
Leitartikels im Sommer 1894 brachte es <strong>auf</strong> den Punkt: „[…] kurz Ischl bietet<br />
die Genüsse einer Weltstadt mitten in der Alpenwelt.“ 2<br />
Dies und noch mehr wussten auch die Scharen von Künstlern zu schätzen,<br />
die Bad Ischl seit je in seinen Bann zog. Seit den Aufenthalten von Johann<br />
Strauss (Sohn) in den 1890er Jahren war Ischl die sommerliche Zentrale der<br />
1 Friedrich Torberg: Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten, München<br />
1975, S. 66 f.<br />
2 Max von Thalstein: „Ischl und Aussee“, in: Ischler Wochenblatt, 26. August 1894, S. 2.<br />
7
<strong>Komponisten</strong> <strong>auf</strong> <strong>Sommerfrische</strong> in Bad Ischl<br />
Wiener Operette. Um den illustren Walzerkönig sammelten sich <strong>Komponisten</strong>kollegen,<br />
Librettisten, Verleger, Journalisten, Theaterdirektor:innen,<br />
Sänger:innen – mit einem Wort die Wiener Theaterwelt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts<br />
führte der Bühnenverleger und Pächter des Theaters an der Wien,<br />
Wilhelm Karczag (1857–1923) die Tradition fort, sodass sein Sekretär Emil<br />
Steininger behaupten konnte:<br />
Karczag fand, daß sich nur wenige Gegenden, was landschaftlichen Reiz,<br />
gute Luft und pittoreske Gesellschaft anlangt, mit dem Ischler Esplanadenkaffeehaus<br />
und dem Hinterzimmer der Konditorei Zauner messen können.<br />
Daher fuhr er Sommer für Sommer nach Ischl, und es ergab sich von selbst,<br />
dass so ziemlich das ganze Theater an der Wien am 1. Juli jedes Jahres mit<br />
dem Direktor dorthin übersiedelte. So wurde durch ihn Ischl gewissermaßen<br />
die Etappenstation der nächsten Operettensaison und es gab keinen Erfolg<br />
oder Durchfall im Winter, der nicht in einem der Ischler Sommer in endlosen<br />
Konferenzen des Direktors mit seinem <strong>Komponisten</strong>- und Librettistenkollegium<br />
<strong>auf</strong>s sorgfältigste vorbereitet worden wäre. 3<br />
Der Ischler Sommer bot seinen Gästen einen gesellschaftlichen Ausnahmezustand<br />
jenseits der Etikette der Stadt oder des Zeremoniells des Hofes, der für<br />
die Bildung von Netzwerken schlechthin ideal war.<br />
Von den Folgen des 1. Weltkriegs wie Lebensmittelknappheit und Geldentwertung<br />
erholte sich der Kurort in den 1920er Jahren erstaunlich rasch.<br />
Äußeres Kennzeichen war die Errichtung des neuen Kurmittelhauses durch<br />
Architekt Clemens Holzmeister ab 1929. Aber schon ab 1923 waren die wichtigsten<br />
Vertreter der sogenannten „Silbernen Operette“ wieder im Städtchen<br />
an der Traun versammelt und hielten ihre „Operettenbörse“ ab.<br />
Abgesehen von allem städtischen Komfort, den Bad Ischl seinen Sommerfrischlern<br />
bot, war es die Natur, die die Gäste am meisten schätzten. So<br />
mochte Johann Strauss (Sohn) sowohl das anhaltende Regenwetter als auch<br />
das „lebhafte Rauschen des nah liegenden Baches“ 4 unendlich, und Franz<br />
3 Emil Steininger: „Wie Ischl von der Operette annektiert wurde. Die Prominenten im<br />
Grünen“, in: Neues Wiener Journal, 9. Juni 1929, S. 7.<br />
4 Johann Strauss an Josef Priester, Ischl, 21. Juni o. J. [1894], in: Franz Mailer (Hg.): Johann<br />
Strauss (Sohn), Leben und Werk in Briefen und Dokumenten, Bd. 7, Tutzing 1998, S. 70.<br />
8
Vorwort<br />
Lehár versicherte noch in einem Interview des Jahres 1944, dass ihn die „ungemein<br />
schöne Welt, […], die Berge, die Flüsse, die prachtvolle Luft“, die<br />
ihn in Ischl umgaben, angeregt hätten. Auch Lehárs Operette Endlich allein<br />
(1914), Neubearbeitung als Schön ist die Welt (1930), verdankt ihre Entstehung<br />
der Salzkammergut-Landschaft: Librettist Alfred Maria Willner soll bei dem<br />
abendlichen Anblick der Ischler Berge die zündende Idee für das Textbuch<br />
gekommen sein.<br />
Doch nicht nur Operettenkomponisten und -librettisten, auch Johannes<br />
Brahms war empfänglich für die Reize der Salzkammergutlandschaft, wie<br />
seine zehn dort verbrachten Sommer beweisen. Nach Pörtschach, Preßbaum<br />
und Mürzzuschlag fiel seine Wahl <strong>auf</strong> Ischl, wo er sich, Ruhe und Einsamkeit<br />
suchend, abseits des geschäftigen Treibens seine Komponierstube einrichtete.<br />
Jenen Aufenthalten des greisen Meisters verdanken wir Werke wie das<br />
Klagelied Nänie op. 82, die beiden Streichquintette op. 88 und op. 111, die<br />
späten Sammlungen für Klavier: Fantasien op. 116, Intermezzi op. 117 und<br />
Klavierstücke op. 118, die Vier Klavierstücke op. 119, das Klarinettentrio<br />
op. 114 und das Klarinettenquintett op. 115, die beiden Klarinettensonaten<br />
op. 120, die Deutschen Volkslieder, sowie etliche Lieder.<br />
Die sieben hier versammelten Meister der Tonkunst eint ihr Urlaubsdomizil<br />
Bad Ischl, wo sie sich (mit Ausnahme von Anton Bruckner) ein zweites<br />
Zuhause schufen, indem sie entweder jahrelang mieteten oder in eigenen Villen<br />
residierten. Sie alle waren Teil der unverwechselbaren Atmosphäre der<br />
berühmten Kurstadt an der Traun. Hier wurde (nicht nur) Musikgeschichte<br />
geschrieben. <strong>Komponisten</strong>, die nur kurz <strong>auf</strong> Durchreise waren oder an anderen<br />
Orten des Salzkammergutes ihre Residenzen <strong>auf</strong>schlugen wie Gustav<br />
Mahler, Hugo Wolf oder Carl Goldmark (auch Richard Strauss weilte vorübergehend<br />
in Bad Ischl) wurden bewusst ausgeklammert, sie hätten den<br />
Rahmen gesprengt.<br />
Ich möchte noch dar<strong>auf</strong> hinweisen, dass es sich in diesem Buch bei Johann<br />
Strauss naturgemäß immer um Johann Strauss (Sohn) handelt, weshalb der<br />
Zusatz (Sohn) im L<strong>auf</strong>text weggelassen wird. Da Ischl erst ab dem Jahr 1906<br />
den Zusatz „Bad“ im Namen führen durfte, habe ich versucht, diesem Umstand<br />
in der Chronologie Rechnung zu tragen.<br />
9
<strong>Komponisten</strong> <strong>auf</strong> <strong>Sommerfrische</strong> in Bad Ischl
Johannes Brahms (1833– 1897)<br />
JOHANNES BRAHMS<br />
(1833–1897)<br />
Es ist doch prachtvoll hier! 1<br />
Der aus Hamburg stammende Johannes Brahms war im Winter 1862/63<br />
erstmals für eine Reihe von Konzerten nach Wien gekommen. Zehn Jahre<br />
später ließ er sich endgültig in der kaiserlichen Metropole nieder. Doch schon<br />
im August 1867 war Brahms mit seinem Vater durch das Salzkammergut<br />
gereist: Von Aussee ging es über Ischl nach St. Wolfgang, wo der Schafberg<br />
erstiegen wurde und weiter nach Salzburg. Das war etwa 20 Jahre vor seinen<br />
regelmäßigen Sommer<strong>auf</strong>enthalten in Ischl.<br />
Ein zweiter Kurz<strong>auf</strong>enthalt in Ischl war einem Besuch des bedeutenden<br />
Geigers und Musiker-Kollegen Joseph Joachim in Salzburg im Sommer<br />
1879 (am Weg von Gastein nach Berchtesgaden) geschuldet. Damals könnte<br />
Brahms’ Entscheidung, den nachfolgenden Sommer im mondänen Kurort an<br />
der Traun zu verbringen, gefallen sein.<br />
Johannes Brahms war 1880 – im 48. Lebensjahr stehend – bereits ein<br />
angesehener Pianist und Komponist, der seit einigen Jahren ohne feste Anstellung<br />
nur vom Konzertieren und seinen Kompositionen leben konnte. Er<br />
hatte sich mit dem Deutschen Requiem, zwei Symphonien, den Chorkompositionen<br />
„Schicksalslied“ und „Triumphlied“, einem Klavierkonzert sowie<br />
etlichen Liedern, Klavier- und Kammermusikwerken einen Namen gemacht.<br />
In gewohnter Weise gehörten die Winter den Konzert<strong>auf</strong>tritten als Dirigent<br />
und Pianist. Die Monate November bis April verbrachte er – wenn nicht in<br />
Wien – oft <strong>auf</strong> Tourneen, die den Künstler bis nach Hamburg, Amsterdam,<br />
Budapest, Prag, München und Basel führten. Er konzertierte mit den renommiertesten<br />
europäischen Orchestern, wie den Wiener Philharmonikern, dem<br />
Züricher Tonhalleorchester, dem Gewandhausorchester Leipzig und dem<br />
Amsterdamer Concertgebouw.<br />
Nach diesen <strong>auf</strong>reibenden Monaten suchte Brahms im Sommer Orte,<br />
die ihm Erholung und Schaffensruhe bieten konnten. Die Monate Mai bis<br />
1 Johannes Brahms an Eduard Hanslick, Ischl, [?] Mai 1880, zitiert nach: Ed.[uard] H.[anslick]:<br />
„Johannes Brahms. Erinnerungen und Briefe“, in: Neue Freie Presse, 1. Juli 1897, S. 3.<br />
11
<strong>Komponisten</strong> <strong>auf</strong> <strong>Sommerfrische</strong> in Bad Ischl<br />
September gehörten der musikalischen Produktion. Mit Vorliebe bereiste<br />
Brahms zu diesem Zweck Baden-Baden und Pörtschach (zuletzt im Sommer<br />
1879) und verbrachte dort jeweils mehrere Monate. Pörtschach am<br />
Wörthersee war dem <strong>Komponisten</strong> trotz des Sees und des angenehmen<br />
Klimas durch Autogrammjäger und unliebsame Zuhörer beim Klavierspiel<br />
verleidet worden. So dürfte sich im Freundeskreis herumgesprochen haben,<br />
dass Brahms <strong>auf</strong> der Suche nach einem neuen Feriendomizil war.<br />
Brahms’ dreizehn Jahre jüngerer Freund Ignaz Brüll empfahl ihm nicht<br />
nur für den Sommer 1880 den Alpenkurort Ischl, sondern besorgte auch das<br />
passende Quartier.<br />
Ignaz Brüll hatte ebenso wie Brahms seine Karriere als Pianist begonnen<br />
und zugunsten des Komponierens <strong>auf</strong>gegeben. Mit seiner 1875 am Berliner<br />
Opernhaus ur<strong>auf</strong>geführten Oper Das goldene Kreuz wurde er schlagartig berühmt.<br />
Mit Johannes Brahms verband ihn eine enge Freundschaft. Brahms’<br />
Biograph Max Kalbeck schildert Brüll als „zartbesaitet“ und als „großen<br />
Pianist“, „gewandtesten Partiturleser und Vom-Blatt-Spieler“ 2 . Brüll und<br />
Brahms verbrachten in der Folge viele Sommer gemeinsam in Ischl. Man<br />
kann sich vorstellen, wie wohl sich der Hamburger Komponist in der hochmusikalischen<br />
Familie der Brülls (der Vater war Bariton und die Mutter<br />
Pianistin, die Schwester Hermine ebenfalls Sängerin) gefühlt haben musste.<br />
Hermine Brüll, verheiratete Schwarz, berichtet in ihren Erinnerungen<br />
an jene Ischler Sommer:<br />
Brahms war in den Sommermonaten in Ischl ein täglicher Gast bei den<br />
Eltern. In der kleinen Gartenlaube <strong>auf</strong> der Wiese in Kaltenbach saßen die<br />
beiden Musiker beim schwarzen Kaffee, rauchten und schwiegen sich aus.<br />
Dieses ruhige Sichgehenlassen und das Gefühl der Zusammengehörigkeit<br />
genügte beiden, um sie in die behaglichste Stimmung zu versetzen. Da<br />
konnten sie stundenlang die schönen Auen durchwandern. Auch Goldmark 3<br />
kam des öfteren <strong>auf</strong> einen Tag von Gmunden herüber, uns zu besuchen. 4<br />
2 Max Kalbeck: Johannes Brahms, Bd. III, Kap. 4, http://www.zeno.org/Musik/M/<br />
Kalbeck,+Max/Johannes+Brahms/3.+Band/1.+Halbband/4.+Kapitel (12.01.2023)<br />
3 Carl Goldmark (1830–1915), der Komponist der Oper Die Königin von Saba (1875), gehörte<br />
zum Freundeskreis um Johannes Brahms und verbrachte seine Sommer vorzugsweise im<br />
nahen Gmunden.<br />
4 Hermine Schwarz: Ignaz Brüll und sein Freundeskreis, Wien etc. 1922, S. 84.<br />
12
Johannes Brahms (1833– 1897)<br />
Sehr zu Brahms’ Leidwesen verlegte die Familie Brüll ihren Sommersitz<br />
nach dem Tod des Vaters Siegmund in den 1890er-Jahren nach dem nicht weit<br />
entfernten Unterach am Attersee, wo der vom Onkel gek<strong>auf</strong>te Berghof nicht<br />
nur neues Feriendomizil, sondern auch ein beliebter Künstlertreff wurde.<br />
Nach der Übersiedlung der Brülls nach Unterach kam Brahms jeden Sommer<br />
einige Tage dorthin zu Besuch und es wurde eifrig musiziert, entweder<br />
Brahms-Brüll vierhändig oder Brahms begleitete Hermine beim Singen am<br />
Klavier. Brahms, für weiblichen Charme durchaus empfänglich, mochte die<br />
jüngere Schwester von Ignaz verehrt haben. Mit Brüll zu musizieren war,<br />
wie Brahms sagte „ein rechtschaffenes Pläsier“ 5 .<br />
Mit der Ischler Quartier-Auswahl dürfte Brüll ein gutes Händchen bewiesen<br />
haben, denn Brahms sollte der kleinen, westlich vom Ortszentrum<br />
gelegenen Wohnung an der Salzburger Straße 51 (heute: Vorsteherweg 3) mit<br />
Unterbrechungen zehn Sommer treu bleiben. Die vier gemieteten Zimmer<br />
waren im damals noch nicht eingemeindeten Ortsteil Steinbruch gelegen,<br />
am steilen Osthang des Kalvarienbergs mit Blick <strong>auf</strong> den Jainzen und die<br />
Ischl, den Abfluss des Wolfgangsees, und unweit des Wanderwegs „Bauernfelds<br />
Waldpfad“, der in 20 Minuten zum sogenannten Ahornbüchl mit einer<br />
Gastwirtschaft und weiter nach Lindau bzw. zum Nussensee führte. Die<br />
etwas unattraktive, sonnenarme Lage der Wohnung kam Brahms’ Bedürfnis<br />
nach Ruhe und Einsamkeit entgegen. Und noch einen großen Vorteil bot<br />
die Unterkunft: Sie verfügte über zwei Eingänge, so dass Brahms, wenn unerwünschter<br />
Besuch nahte, sich durch schleunige Flucht durch den zweiten<br />
Ausgang entziehen konnte 6 . In Ischl, wo sich das Interesse <strong>auf</strong> die kaiserliche<br />
Familie und die Hocharistokratie beschränkte, konnte er leichter seine Ruhe<br />
haben und unbehelligter seiner Wege gehen als im provinziellen Pörtschach.<br />
Obwohl schon am 23. Mai 1880 im Kurort eingetroffen, meldet die Ischler<br />
Curliste den Gast erst in ihrer Ausgabe vom 8. Juni als „Herr Johann Brahms,<br />
Tonkünstler aus Wien, wohnhaft bei Gruber 7 , Steinbruch 51“; <strong>auf</strong> derselben<br />
Seite war übrigens auch die Ankunft Ignaz Brülls mit Eltern verzeichnet. 8<br />
5 Kalbeck, Johannes Brahms, ebd.<br />
6 Siegfried Kross: Johannes Brahms. Versuch einer kritischen Dokumentar-Biographie, Bd. 2, Bonn<br />
1997, S. 823<br />
7 Engelbert Gruber, Eisenbahnbediensteter.<br />
8 Ischler Curliste, 8. Juni 1880, S. 1.<br />
13
<strong>Komponisten</strong> <strong>auf</strong> <strong>Sommerfrische</strong> in Bad Ischl<br />
Abb. 1: Das Haus in der Salzburger Straße, wo Johannes Brahms zehn Sommer verbrachte.<br />
Ölbild aus dem Besitz von Johannes Brahms<br />
Ganz zu Beginn seines Aufenthaltes schrieb Brahms an den befreundeten<br />
Kritiker Eduard Hanslick: „Das wäre nun sehr schön, wenn du nach Ischl<br />
kämst; es ist doch prachtvoll hier und höchst genußvoll zu spazieren.“ 9<br />
In einem undatierten Brief berichtet Brahms seinem Freund Theodor<br />
Billroth:<br />
Ischl aber muß ich sehr loben, und da nur mit dem einen gedroht wird, daß<br />
halb Wien sich hier zusammenfindet, so kann ich ruhig sein – mir ist das<br />
Ganze nicht zuwider. Ich wohne höchst behaglich Salzburger Straße 51.<br />
An Konkurrenten habe ich einstweilen nur Frank 10 und Brüll hier, jetzt<br />
konkurrieren wir wohl im Spazierengehen und Bummeln – da bin ich all<br />
9 Johannes Brahms an Eduard Hanslick, [?] Mai 1880, zitiert nach: Ed.[uard] H.[anslick]:<br />
Johannes Brahms. Erinnerungen und Briefe, S. 3.<br />
10 Ernst Frank (1847–1889), königlich preußischer Kapellmeister aus Hannover.<br />
14
Johannes Brahms (1833– 1897)<br />
meinen Kollegen weit über! Dir und den Deinen für die Ferien Ischl zu<br />
empfehlen, brauche ich wohl nicht, Du wirst es kennen. Vielleicht hält Dich<br />
das Klima ab; es ist sehr warme weiche Luft und regnet viel. Dagegen aber<br />
sind die Wohnungen, Wege und auch die Wirtshäuser gut. 11<br />
Geregnet hat es in jenem Sommer 1880 wahrhaftig viel, die meteorologischen<br />
Aufzeichnungen des Ischler Wochenblatts berichten fast durchgehend von trübem,<br />
nassem Wetter. Brahms, der die Bewegung im Freien dennoch nicht<br />
missen wollte, holte sich bei einem seiner ausgedehnten Spaziergänge ein Ohrenleiden,<br />
weswegen er Anfang Juli seinen Ischl-Aufenthalt kurz unterbrach<br />
und einen Arzt in Wien <strong>auf</strong>suchte, was sogar der Neuen Freien Presse eine Notiz<br />
wert war. Der August wurde dem <strong>Komponisten</strong> durch anhaltend starke Regenfälle<br />
verleidet, die die Flüsse Traun und Ischl über die Ufer treten ließen:<br />
In den Tagen vom 12. bis 16. August d. J. ist im ganzen Salzkammergut<br />
durch die anhaltenden, wolkenbruchartigen Regen ein Hochwasser entstanden,<br />
wie ein solches seit dem Jahre 1794 in dieser Gegend nicht mehr<br />
vorgekommen ist. […] Die Traun verließ trotz der festen Uferverbauung<br />
ihr Bett, streckenweise alles unter Wasser setzend. In Ischl wurde die ganze<br />
Kaltenbach-Au in einen See verwandelt, die Esplanade war überschwemmt,<br />
im Gries fuhr man in den Straßen mit Kähnen […]. 12<br />
Brahms selbst war in seiner hoch über der Ischl gelegenen Wohnung nicht<br />
unmittelbar betroffen. Trotz des Hochwassers fanden ab dem 16. August<br />
die Feierlichkeiten zum 50. Geburtstag des in Ischl weilenden Monarchen<br />
statt. Es wurde mit festlich geschmückten Straßen, bengalischen Feuern <strong>auf</strong><br />
den Bergspitzen, umherziehenden Musikkapellen, Böllerschießen, einer<br />
Festvorstellung im Theater und einem Festgottesdienst in St. Nikolaus<br />
begangen. Der ganze Ort war in Tracht und <strong>auf</strong> den Beinen – es muss ein<br />
eindrückliches Bild für den Hanseaten gewesen sein!<br />
Am 23. August 1880 gab der Sänger Josef Waldner von der Schweriner<br />
Hofoper in einem Liederabend im 1875 fertiggestellten Kurhaus auch Lieder<br />
von Johannes Brahms zum Besten.<br />
11 Otto Gottlieb-Billroth: Billroth und Brahms im Briefwechsel, Berlin, Wien 1935, S. 297.<br />
12 Ischler Wochenblatt, 29. August 1880, S. 3.<br />
15
<strong>Komponisten</strong> <strong>auf</strong> <strong>Sommerfrische</strong> in Bad Ischl<br />
Anfang September bekam Brahms Besuch von Clara Schumann – auch<br />
sie eine hervorragende Pianistin. Sie befand sich am Weg von ihrer <strong>Sommerfrische</strong><br />
in Tirol nach Berchtesgaden und stieg in Ischl im Hotel Post ab, einem<br />
der von Brahms bevorzugten Speiselokale. Brahms reiste der Künstlerin und<br />
ihrer Tochter bis Aussee entgegen. Die europaweit gefeierte Witwe von<br />
Robert Schumann, 14 Jahre älter als Brahms, war seit über 20 Jahren – trotz der<br />
Entfernung – sein Lebensmensch. Eine enge Geistesverwandtschaft und gemeinsame<br />
musikalische Interessen verbanden die beiden Ausnahmekünstler.<br />
Zusammen unternahmen sie von Ischl aus einen Besuch bei dem Chirurgen<br />
Theodor Billroth in St. Wolfgang. Letzterer sollte noch eine herausragende<br />
Rolle bei Brahms’ weiteren Ischl-<strong>Sommerfrische</strong>n spielen. Der etwa gleichaltrige<br />
bedeutende deutsche Mediziner, der in Wien eine Chirurgenschule<br />
und das Rudolfinerhaus gründete, war ein passionierter Musikliebhaber und<br />
Dilettant <strong>auf</strong> dem Klavier und der Bratsche und bereits Widmungsträger von<br />
Brahms’ Streichquartetten op. 51. In der Folge begleitete Brahms Clara Schumann<br />
noch bis Berchtesgaden. Die Pianistin erinnerte sich noch zwei Jahre<br />
danach an diesen unvergesslichen Aufenthalt: „Nun bist du wieder in dem<br />
herrlichen Ischl, und wie muß es bei dem himmlischen Wetter jetzt da sein!<br />
Die Feiertage machst Du gewiß schöne Ausflüge! Nur einmal möchte ich den<br />
Weg von Ischl nach Gmunden wieder machen, das war doch entzückend.“ 13<br />
Die musikalische Ausbeute dieser ersten Ischler <strong>Sommerfrische</strong>, die am<br />
20. September 1880 endete, ließ sich sehen: die Akademische Festouvertüre, die<br />
Tragische Ouvertüre und der Beginn der Arbeit an dem Zweiten Klavierkonzert<br />
und dem Chorwerk mit Orchester <strong>auf</strong> ein Gedicht von Friedrich Schiller<br />
„Nänie“.<br />
Brahms’ Biograph Max Kalbeck beschreibt den bevorzugten morgendlichen<br />
Lieblingsspaziergang des <strong>Komponisten</strong>: „In die Schmalnau am Jainzen,<br />
dann über den Fluß nach Rettenbach und durch die romantische ‚Wildnis‘ bis<br />
zum Forsthause führte einer seiner Lieblingswege.“ 14<br />
Den nächsten Sommer 1881 verbrachte Johannes Brahms nicht in Ischl,<br />
sondern in Pressbaum im Wienerwald. Möglicherweise hatten ihm der viele<br />
13 Berthold Litzmann (Hg.): Clara Schumann – Johannes Brahms. Briefe aus den Jahren 1853–<br />
1896, Hildesheim/New York 1970, S. 252.<br />
14 Kalbeck: Johannes Brahms, Bd. III, Kap. 5, http://www.zeno.org/Musik/M/Kalbeck,+Max/<br />
Johannes+Brahms/3.+Band/1.+Halbband/5.+Kapitel (15.01.2023)<br />
16
Johannes Brahms (1833– 1897)<br />
Abb. 2: Theodor Billroth <strong>auf</strong> der Terrasse seiner Villa in St. Gilgen 1892 (Fotografie von<br />
Josef Löwy)<br />
Regen und die Unwetter des vorangegangenen Sommers Ischl verleidet.<br />
Jedenfalls findet er sich erst im Mai 1882 wieder in Ischl ein, nach einem<br />
anstrengenden Konzertwinter, in dem er vor allem als Solist seines Zweiten<br />
Klavierkonzerts viel gereist war. Die Nähe zu dem von ihm sowohl als Konversationspartner<br />
wie als Pianist zur Erprobung neuer Kammermusikwerke<br />
hoch geschätzten Ignaz Brüll mochte die Entscheidung zugunsten Ischls<br />
beeinflusst haben. Diesmal arbeitete er am C-Dur-Klaviertrio, dem ersten<br />
Streichquintett in F-Dur, dem Gesang der Parzen und an mehreren Liedern,<br />
wie den späteren Opera 84, 85 und 86, darunter die äußerst populäre „Feldeinsamkeit“<br />
(„Ich ruhe still im hohen grünen Gras“). Die erste Erwähnung<br />
des Streichquintetts findet sich in einem Brief Clara Schumanns an Brahms<br />
vom 28. Juni 1882: „Ach ja, es wäre wohl schön gewesen hättest Du mir<br />
17
<strong>Komponisten</strong> <strong>auf</strong> <strong>Sommerfrische</strong> in Bad Ischl<br />
das Frühlings-Quintett im traulichen Stübchen am Berge vorgespielt!“ 15 Mit<br />
dem Stübchen ist wohl Brahms’ Wohnung in der Salzburgerstraße gemeint.<br />
Brahms wusste auch einen berufenen Ratgeber in Sachen Drucklegung an<br />
seiner Seite: Bevor ein Manuskript an den Wiener Kopisten Franz Hlawaczek<br />
ging, holte er regelmäßig die Meinung Theodor Billroths darüber ein.<br />
Auch diesmal blieb Brahms in Ischl nicht von Wetterkapriolen verschont:<br />
Kam er Mitte Mai gerade rechtzeitig in ein letztes Schneegestöber, so erlebte<br />
er Ende Juli ein zweites Mal Hochwasser. Zwar nicht so dramatisch wie im<br />
Sommer 1880, aber doch ließ tagelanges heftiges Regenwetter die Traun<br />
beängstigend anschwellen: „Hier können wir allerdings durch die Straßen<br />
(drüben) in Kähnen fahren; das Wasser ist schon so hoch gestiegen wie vor<br />
zwei Jahren, und der Regen hört noch nicht <strong>auf</strong>.“ 16<br />
Mitte August 1882 fand sich eine hochkarätige Musikerschar im nahen<br />
Aussee ein, um zwei der zuletzt entstandenen Werke Brahms’ aus der T<strong>auf</strong>e<br />
zu heben: das Klaviertrio C-Dur und das Streichquintett F-Dur; beides in der<br />
neu erbauten Villa des ungarischen Hochschulprofessors Ladislaus von Wágner<br />
de Zólyom, Ordinarius für Agrar- und Forstwirtschaft in Budapest, auch<br />
er ebenso wie Billroth ein leidenschaftlicher Musikliebhaber und seit vielen<br />
Jahren Brahms-Freund. In seiner direkt am See gelegenen Altausseer Villa<br />
mit Ausblick <strong>auf</strong> den Loser und die Trisselwand fanden regelmäßig Quartettabende<br />
statt. Die erste Geige spielte der international bekannte Violinist<br />
Ludwig Straus, damals Konzertmeister des renommierten Hallé-Orchesters<br />
in Manchester, die zweite Geige Professor Wágner selbst und (im Trio) natürlich<br />
Brahms den Flügel. Nach einer geglückten Probe am 20. August willigte<br />
Brahms ein, seine Kompositionen öffentlich bei freiem Zutritt für das<br />
Publikum <strong>auf</strong>zuführen 17 . Am 25. August war es soweit: Vor einem höchst<br />
illustren Publikum – der Komponist Carl Goldmark, Johann Freiherr Vesque<br />
von Püttlingen, Minister Johann Freiherr von Chlumecky, Fürstin Marie zu<br />
Hohenlohe-Schillingsfürst, aber auch Dr. Johann Schnitzler, Vater von Arthur<br />
waren dabei – fand die Ur<strong>auf</strong>führung aus den Manuskripten statt.<br />
15 Clara Schumann an Johannes Brahms, 28. Juni 1882, zit. nach: Kathrin Kirsch: „Einleitung“,<br />
in: Johannes Brahms, Neue Gesamtausgabe, München 2019, Bd. II/2, S. XIV.<br />
16 Johannes Brahms an Theodor Billroth, Ischl, 31. Juli 1882, in: Otto Gottlieb-Billroth<br />
(Hg.): Billroth und Brahms im Briefwechsel, Berlin, Wien 1935, S. 331.<br />
17 Wolfgang Ebert: Brahms in Aussee, Gröbming o. J. (1997), S. 46.<br />
18
Johannes Brahms (1833– 1897)<br />
Einer der Mitwirkenden, der am 2. Bratschenpult sitzende Moritz von<br />
Kaiserfeld, berichtete authentisch:<br />
Die Matinee wurde mit Brahms’ Rhapsodie h-moll, op. 79, gespielt von<br />
Brüll, eröffnet. Sodann folgte das C-dur-Trio mit Brahms am Flügel.<br />
Nie hörte ich den Meister schöner spielen, als an jenem Tage. Die beiden<br />
Mittelsätze, die dem Verständnis schon beim erstenmale Hören am zugänglichsten<br />
sind, besonders der herrliche Variationensatz mit dem magyarisch<br />
angehauchten Thema, erweckte stürmische Begeisterung. […] Das F-dur-<br />
Quintett stand am Schluß des Programmes. Ich war mir meiner schwierigen<br />
Stellung an der zweiten Bratsche wohl bewußt, kannte die strengen<br />
Anforderungen des Meisters und seine satirische Schärfe. 18<br />
So kam es, dass Altaussee als Ur<strong>auf</strong>führungsort zweier wichtiger Brahms’scher<br />
Kammermusikwerke in die Musikgeschichte einging!<br />
Bevor Johannes Brahms Ischl am 1. September 1882 verließ, gab es noch<br />
eine Familienfeier im Hause Brüll: Brahms’ Freund Ignaz verlobte sich offiziell<br />
mit Marie Schosberg, woran Brahms freudig teilnahm.<br />
Von 1883 bis 1888 hielt sich Brahms im Sommer nicht in Ischl <strong>auf</strong>. Erst<br />
im Mai 1889 bezog er wieder sein Quartier in der Salzburgerstraße. Ab jenem<br />
Sommer blieb er dem Kurort an der Traun treu und verbrachte die ihm verbleibenden<br />
Sommer bis 1896 konsequent dort. Es hat den Anschein, dass Ischl bzw.<br />
die Salzkammergut-Landschaft der Sehnsucht des berühmten Künstlers nach<br />
Ruhe und Einsamkeit weitestgehend entsprachen. Auch die Wohnung behielt<br />
er bei. Nicht selten blieb er viereinhalb Monate, von Mitte Mai bis gegen Ende<br />
September. Rechnet man alle Ischler Aufenthalte zusammen, kommt man <strong>auf</strong><br />
die beeindruckende Summe von dreieinhalb Jahren. Auch seinen Hausleuten<br />
gegenüber zeigte Brahms eine gewisse Anhänglichkeit. Frau Gruber hatte z. B.<br />
strengen Befehl, keine Besucher in seiner Abwesenheit in sein Musikzimmer<br />
einzulassen, wo sich sein Flügel und seine Manuskripte befanden. Mit Vorliebe<br />
kehrte er zum Mittagessen im Hotel Kaiserin Elisabeth ein, der Hotelbesitzer<br />
und gleichzeitige Bürgermeister Franz Koch wusste die Ehre zu schätzen.<br />
Brahms frequentierte jedoch nicht den im Hochparterre mit Blick <strong>auf</strong> die<br />
18 Moritz v. Kaiserfeld: „Eine Brahms-Erinnerung“, in: Neue Musik-Zeitung, 1898 (Jg. 19),<br />
S. 193, zitiert nach: Ebert: Brahms in Aussee, S. 53 f.<br />
19
<strong>Komponisten</strong> <strong>auf</strong> <strong>Sommerfrische</strong> in Bad Ischl<br />
Traun gelegenen vornehmen Speisesaal, sondern mit Vorliebe das „Beisel“ im<br />
Souterrain, „wo man ebensogut, aber billiger und in minder anspruchsvoller<br />
Gesellschaft aß“ 19 . Freund Theodor Billroth beschreibt die Lokalität so:<br />
Wir speisten in einem unterirdischen feuchten Raum, zum Hotel Elisabeth<br />
gehörend. Man hat dort dieselben Speisen wie oben im feinen Salon, doch<br />
etwas billiger, im Sommer sehr kühl, und braucht keine Toilette zu machen:<br />
Alles, wie für Brahms gemacht. 20<br />
Nach dem Mittagessen kehrte Brahms gern im Café Walter <strong>auf</strong> der Esplanade,<br />
der beliebten Promeniermeile am linken Ufer der Traun, ein, wo er<br />
bei Schönwetter an einem der unter den Bäumen befindlichen Tische seinen<br />
schwarzen Kaffee trank und die Zeitungen 21 las. Sehr oft traf er dort<br />
Freunde, wie den extra aus Karlsruhe angereisten Gustav Wendt, aber auch<br />
Richard Heuberger, Eduard Hanslick, Julius Epstein, Gustav Walter oder Joseph<br />
Vockner. „Bald gehörte der Herr Doktor 22 zu den populärsten Persönlichkeiten<br />
von Ischl, und er war naiv genug, sich seiner Beliebtheit zu freuen,<br />
die ihn zu nichts verpflichtete.“ 23 Dies bestätigte auch der Komponist selbst<br />
in einem Brief an Joseph Viktor Widmann vom Sommer 1889: „Wie man von<br />
Klein und Groß, Jung und Alt willkommen geheißen wird – und mancherlei<br />
– ist gar lieb und schön“ 24 und an Clara Schumann: „Es ist überaus schön und<br />
angenehm hier und mir, wie ich wohl schon oft sagte, vor allem durch die<br />
gar so liebenswürdig gearteten Menschen <strong>auf</strong>s beste behaglich.“ 25 Er ließ oft<br />
durchblicken, dass ihm die österreichische Mentalität mehr lag als jene der<br />
Schweizer und Deutschen.<br />
19 Kalbeck: Johannes Brahms, Bd. III, Kap. 5, http://www.zeno.org/Musik/M/Kalbeck,+Max/<br />
Johannes+Brahms/3.+Band/1.+Halbband/5.+Kapitel (16.01.2023)<br />
20 Georg Fischer: Briefe von Theodor Billroth, Hannover, Leipzig, 1902, S. 471.<br />
21 Nachweislich interessierte ihn auch das Ischler Wochenblatt, die seit 1873 erscheinende lokale<br />
Wochenzeitung.<br />
22 Im Jahr 1879 war Johannes Brahms ehrenhalber der Doktortitel von der Breslauer Universität<br />
verliehen worden.<br />
23 Fischer: Briefe von Theodor Billroth, S. 471.<br />
24 Johannes Brahms an Joseph Viktor Widmann, 25. Mai 1891, in: Johannes Brahms Briefwechsel,<br />
Bd. VIII, Tutzing 1974, S. 117.<br />
25 Johannes Brahms an Clara Schumann, Ischl, Juni 1891, in: Litzmann (Hg.): Clara Schumann<br />
– Johannes Brahms, S. 452.<br />
20
Johannes Brahms (1833– 1897)<br />
Abb. 3: Inserat des Café Walter im Ischler Wochenblatt, 1891<br />
Die Abgeschiedenheit seiner Mietwohnung mochte ideal für das kreative<br />
Schaffen gewesen sein, nur so lässt sich der bedeutende Umfang an neuen<br />
hier entstandenen Werken erklären. In den Wintermonaten in Wien wurden<br />
die Ischler Manuskripte Korrekturen unterzogen und, wenn sie der strengen<br />
Selbstkritik des Meisters standhielten, für die Herausgabe vorbereitet. Oft<br />
ging ihm in Ischl das Notenpapier aus, und er musste in Wien Neues anfordern.<br />
Nicht wenige seiner Kompositionen fanden ein vorzeitiges Ende in<br />
der Traun, wie Brahms in einem Brief an seinen Verleger Simrock bestätigt:<br />
„Viel zerrissenes Notenpapier habe ich zum Abschied von Ischl in die Traun<br />
geworfen.“ 26 Es gibt viele Zeugnisse von Aufführungen Brahms’scher Werke<br />
in Ischl, etwa von der Kurkapelle, von den Sängerinnen Marie von Lidl und<br />
Amalie Joachim, der Pianistin Ilona Eibenschütz, dem Cellisten Siegmund<br />
Bürger. Sicherlich hat die Kurverwaltung auch den europaweit bekannten<br />
Künstler Brahms gebeten, im Kurhaus <strong>auf</strong>zutreten, doch scheute er anscheinend<br />
in der Zeit seiner sommerlichen Aufenthalte öffentliche Auftritte.<br />
26 Johannes Brahms an Fritz Simrock, [Wien, 12. Oktober 1890], zit. nach: Kross: Johannes<br />
Brahms, Bd. 2, Bonn 1997, S. 1019.<br />
21
<strong>Komponisten</strong> <strong>auf</strong> <strong>Sommerfrische</strong> in Bad Ischl<br />
Neben seinen landschaftlichen Reizen war es vor allem die geographische<br />
Nähe zu zwei Freunden, weshalb Brahms Ischl so schätzte – interessanterweise<br />
handelte es sich bei beiden Freunden um keine Berufskollegen, wie<br />
Brahms sie normalerweise um sich scharte, sondern um den norddeutschen<br />
Chirurgen Theodor Billroth in St. Gilgen und den Wiener Industriellen<br />
Victor von Miller zu Aichholz im nahen Gmunden. St. Gilgen, am Westufer<br />
des Wolfgangsees gelegen, war ca. 90 Minuten Wagenfahrt von Ischl<br />
(ab 1893 war die letzte Teilstrecke der Salzkammergut-Lokalbahn von Ischl<br />
nach St. Gilgen eröffnet), Gmunden, gelegen am nördlichen Ufer des Traunsees,<br />
32 Kilometer mit der Bahn entfernt. Die Villa des bekannten Chirurgen<br />
verfügte über eine eigene Station der Lokalbahn mit Namen „Billroth“,<br />
der sich der Arzt allerdings nur den letzten Sommer vor seinem Ableben<br />
erfreuen konnte. Beide Freunde, Miller-Aichholz und Billroth, pflegten in<br />
ihrer Freizeit exzessiv Musik zu spielen, der erste als ausgezeichneter, bei<br />
Julius Epstein ausgebildeter Pianist, und der zweite als Geiger und Pianist.<br />
Zahlreiche Hauskonzerte bei dem einen und anderen Freund, angeregte<br />
Gespräche, ausgedehnte Spaziergänge und besonders die hervorragenden<br />
Kochkünste der Frau Olga Miller-Aichholz machten Brahms’ Besuchstage<br />
zu Festtagen. Brahms traf in der Villa in Gmunden, die in einem riesigen<br />
Park gelegen war, <strong>auf</strong> viele gute Freunde: den Geiger Joseph Joachim, den<br />
<strong>Komponisten</strong> Carl Goldmark, den Pianisten Anton Door, den Gesangslehrer<br />
Joseph Gänsbacher, den Musikarchivar und Leiter der Wiener Singakademie<br />
Eusebius Mandyczewski, sowie den Wiener Musikpapst Eduard Hanslick.<br />
Die Crème de la crème der Wiener Musikszene gab sich allsommerlich hier<br />
ein Stelldichein!<br />
Besonders die Hausmusik wurde bei Miller-Aichholz gepflegt, es fanden<br />
zahlreiche Hauskonzerte statt, und Brahms ließ sich gern herbei, seine neuesten<br />
Kompositionen dem erlesenen Kreis vorzuführen. Im Sommer 1893<br />
vermittelte Victor Miller-Aichholz einen Auftritt vor der Königin von Hannover,<br />
der Witwe König Georgs V., <strong>auf</strong> Schloss Cumberland in Gmunden,<br />
der Exilresidenz der Hannoveraner. Diese Einladung wäre beinahe am höfischen<br />
Dresscode gescheitert, da Brahms nicht die entsprechende Garderobe<br />
(Frack) dabeihatte. Er musizierte dennoch am 5. September 1893 gemeinsam<br />
mit seinem langjährigen Freund und Duo-Partner <strong>auf</strong> der Geige, dem vormaligen<br />
hannoveranischen Hofmusiker Joseph Joachim vor der Königin.<br />
22
Johannes Brahms (1833– 1897)<br />
Abb. 4: Johannes Brahms und Victor Miller-Aichholz, Gmunden 1894<br />
23
<strong>Komponisten</strong> <strong>auf</strong> <strong>Sommerfrische</strong> in Bad Ischl<br />
Ein weiterer Höhepunkt in der Beziehung von Johannes Brahms mit<br />
der Familie Miller-Aichholz war der 70. Geburtstag des Brahms-Freundes,<br />
Kritikers der Neuen Freien Presse und Inhabers des ersten Lehrstuhls für Geschichte<br />
der Musik in Wien, Dr. Eduard Hanslick. Letzterer war ein Brahms-<br />
Jünger der ersten Stunde und Widmungsträger von des Meisters 16 Walzern<br />
op. 39 aus dem Jahr 1865. Die Feierlichkeiten fanden am 11. September 1895<br />
in der Villa Miller-Aichholz statt, und es waren u. a. Richard Heuberger,<br />
Eusebius Mandyczewski, Carl Goldmark und Franz Holbein anwesend. Olga<br />
Miller-Aichholz berichtet in ihrem Tagebuch von folgenden musikalischen<br />
Darbietungen durch die Gmundner Kurkapelle: Brahms’sche Walzer und<br />
Ungarische Tänze, eine Ouvertüre von Franz Schubert und als Abschluss der<br />
Donauwalzer 27 . Mit „Tränen in den Augen“ soll Brahms Hanslick für die ihm<br />
jahrelang bewiesene treue Freundschaft gedankt haben 28 .<br />
Ein weiterer gesellschaftlicher Fixpunkt im sommerlichen Ischl war<br />
für Johannes Brahms der Umgang mit dem acht Jahre älteren Walzerkönig<br />
Johann Strauss. Strauss, dem die Ärzte 1892 erstmals eine Kur in Ischl verschrieben,<br />
blieb ebenso wie Brahms dem Salzkammergut bis zu seinem Tod<br />
im Jahr 1899 treu. Ab dem Sommer 1894 war er in der herrschaftlichen Villa<br />
Erdödy eingemietet, die er drei Jahre später k<strong>auf</strong>te, und führte dank seiner<br />
Gemahlin Adele ein großes gastfreundliches Haus.<br />
An jedem Sonntag war Diner bei Strauß, und da fand sich eine höchst interessante<br />
Gesellschaft ein. Als einer der Getreuesten kam der intim befreundete<br />
Meister Johannes Brahms. Die Gemüthlichkeit war ja beiden Johannes eigen,<br />
nur mußte sie bei Johannes dem Ernsteren erst ein wenig angefacht werden. […]<br />
Am Schlusse der Tafelfreuden war Brahms so fröhlich gestimmt, daß er ganz jovial<br />
wurde, sich oftmals selbst ans Clavier setzte und Straß’sche [!] Walzer oder<br />
Operetten-Melodien spielte. Unvergeßlich wird der Moment bleiben, als nach<br />
einem dieser köstlichen Diners Brahms mit Strauß vierhändig Walzer spielte,<br />
das ging in die Füße und nur die heilige Scheu vor diesen beiden Heroen der<br />
Musik ließ die Gesellschaft bei diesen prikkelnden Rhythmen ruhig bleiben. 29<br />
27 Ingrid Spitzbart: Johannes Brahms und die Familie Miller-Aichholz in Gmunden. Gmunden in<br />
alten Ansichten, Band 4, Zaltbommel 1997, S. 59.<br />
28 Carl Goldmark: Erinnerungen aus meinem Leben, zitiert nach: Spitzbart: Johannes Brahms, S. 61.<br />
29 Sigmund Bürger: Ein Gast bei Strauß, in: Pester Lloyd, zitiert nach: Franz Mailer (Hg.):<br />
Johann Strauss (Sohn) Bd. 7, S. 87 f.<br />
24
Johannes Brahms (1833– 1897)<br />
Der Unterschied zwischen den beiden „Musikheroen“ könnte nicht<br />
größer sein: <strong>auf</strong> der einen Seite der Meister der Wiener Tanzmusik und der<br />
Operette, immer dandyhaft nach der letzten Mode gekleidet, und <strong>auf</strong> der<br />
anderen Seite der eingewienerte Norddeutsche, Schöpfer großer Formen wie<br />
der Symphonien oder des Requiems, ein ernster und äußerst selbstkritischer<br />
Grübler, gleichzeitig äußerst bescheiden lebend und immer salopp gekleidet.<br />
Das 1894 in Ischl entstandene Foto der beiden führenden Persönlichkeiten der<br />
internationalen Musikszene Strauss und Brahms vom Fotografen der High<br />
Society Rudolf Krziwanek macht den äußeren Unterschied augenscheinlich<br />
(siehe Abbildung 20). „Da werden sie wieder alle über meine defekte Kleidung<br />
schimpfen! Ich bin nie nachlässig gekleidet. Und daß ich im Sommer<br />
Jägerwäsche trage – , nun, das darf ich mir erlauben“ 30 soll Brahms nach dem<br />
Fototermin gesagt haben. An seine Freundin Clara Schumann schickte er einen<br />
Abzug dieses Fotos mit den Worten: „Es macht Dir vielleicht Spaß, mich<br />
zusammen mit Johann Strauß von der schönen blauen Donau zu sehen.“ 31<br />
Jedenfalls musste keiner der beiden durch den anderen eine Konkurrenz<br />
befürchten – zu unterschiedlich waren ihre Schaffensgebiete.<br />
Die beiden Musikgrößen schätzten einander durchaus, wie gegenseitige<br />
Konzert- bzw. Theaterbesuche beweisen: Brahms ist öfter in Aufführungen<br />
von Strauss’ Fledermaus gewesen und hat sich vor der Premiere von dessen<br />
einziger Oper Ritter Pásmán sogar Wochen zuvor den Klavierauszug zum<br />
Studium besorgt. Als bereits vom Tode Gezeichneter hat er noch der Ur<strong>auf</strong>führung<br />
von Strauss’ Operette Göttin der Vernunft im Jahr 1897 beigewohnt.<br />
Umgekehrt war Johann Strauss bei der Wiener Erst<strong>auf</strong>führung der beiden<br />
Klarinettensonaten op. 120 von Brahms im Jänner 1895 anwesend.<br />
Im Sommer 1893 berichtete Strauss, der bei Schlechtwetter die besten<br />
kompositorischen Einfälle hatte, davon, wie er Brahms und Goldmark aus<br />
seinen neuesten Skizzen vorspielte. Weitere Größen der Kulturszene, denen<br />
Brahms bei Johann Strauss begegnete, waren der Lustspieldichter Oskar Blumenthal,<br />
der Direktor der Budapester Oper Arthur Nikisch, Schauspielerin<br />
30 Richard Heuberger: Erinnerungen an Johannes Brahms: Tagebuchnotizen aus den Jahren 1875–<br />
1897, Tutzing 1971, S. 71.<br />
31 Johannes Brahms an Clara Schumann, Ischl, 11. September 1894, in: Franz Mailer (Hg.):<br />
Johann Strauss (Sohn). Leben und Werk in Briefen und Dokumenten. Bd. VII: 1894, Tutzing<br />
1998, S. 123.<br />
25
<strong>Komponisten</strong> <strong>auf</strong> <strong>Sommerfrische</strong> in Bad Ischl<br />
Katharina Schratt und der von Brahms geschätzte Dichter und Librettist Baron<br />
Ludwig Dóczi. Brahms war auch einer der Gäste bei der Verlobungsfeier<br />
von Adele Strauss’ Tochter Alice im August 1895, wo auch die Musik nicht<br />
fehlen durfte: „Fräulein Ilona Eibenschütz sowie die Herren Professor Bürger,<br />
Kneisl 32 und unser Landsmann Svecenski 33 aus Boston trugen ein Brahm’sches<br />
[sic] Concert meisterhaft vor und wurden stürmisch acclamirt.“ 34 Bei dem<br />
„Brahms’schen Concert“ handelte es sich um dessen frühes Quartett g-Moll<br />
für Klavier, Violine, Viola und Violoncello, op. 25.<br />
Eine besondere Ehre und Freude wurde Johannes Brahms am 13. Mai<br />
1893 in Ischl zuteil: Freund Eusebius Mandyczewski überbrachte ihm die im<br />
Auftrag der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien geprägte goldene Medaille<br />
mit dem Konterfei des Meisters – eine ganz besondere Ehrung. Brahms<br />
soll „ergriffen gewesen sein und konnte kaum reden“. 35 Weitere Kopien der<br />
Münze gingen an Freunde wie u. a. Johann Strauss.<br />
Auch der eine Generation jüngere Hamburger Opernkapellmeister Gustav<br />
Mahler, seit 1893 jeden Sommer im nahen Steinbach am Attersee mit<br />
Kompositionsarbeit verbringend, wartete „dem alten großen Meister als<br />
Junger“, jährlich in Ischl <strong>auf</strong>. Brieflich dokumentiert ist sein letzter Besuch<br />
– mit dem Fahrrad – in Ischl Anfang Juli 1896, während er an seiner Dritten<br />
Symphonie arbeitete. Mahler schrieb darüber an seine Geliebte, die Sängerin<br />
Anna von Mildenburg: „In den nächsten Tagen mache ich einen kleinen<br />
Ausflug nach Ischl, wo ich seit Jahren immer Brahms treffe. Hier kann ich<br />
wirklich mit Faust sagen: Von Zeit zu Zeit seh ich den Alten gern! Er ist ein<br />
knorriger und stämmiger Baum, aber reife, süße Früchte, und eine Freude,<br />
den mächtigen, reichbelaubten Baum anzusehen.“ 36<br />
Weitreichende Folgen sollte eine Sommerbekanntschaft der ganz anderen<br />
Art haben: jene mit der bereits erwähnten 38 Jahre jüngeren ungarischösterreichischen<br />
Pianistin Ilona Eibenschütz, die ebenfalls ab dem Jahr 1891<br />
32 Franz Kneisel (1865–1926) in Wien ausgebildeter Musiker, war Gründer und 1. Geiger des<br />
berühmten ersten Streichquartetts in Amerika, des Kneisel-Quartet in Boston.<br />
33 Louis Svećenski (1862–1926), geboren in Kroatien, war Geiger und Bratschist des Kneisel-<br />
Quartet und des Boston Symphony Orchestra.<br />
34 Agramer Zeitung, 14. August 1895, S. 5.<br />
35 Heuberger: Erinnerungen an Johannes Brahms, S. 61.<br />
36 Gustav Mahler an Anna von Mildenburg, Steinbach am Attersee, 26. Juni 1896, in: Alma<br />
Mahler (Hg.): Gustav Mahler Briefe 1879–1911. Berlin etc. 1924, S. 147.<br />
26
Johannes Brahms (1833– 1897)<br />
mit ihrer Familie die Sommer in Ischl verbrachte. Brahms hatte sie bereits,<br />
als sie noch Schülerin von Clara Schumann war, in Frankfurt/Main kennengelernt<br />
und wenige Jahre später in Ischl wiedergetroffen. Dort war er<br />
oftmals bei ihren Eltern Marie und David Eibenschütz, vormals Kantor in<br />
der Synagoge von Pest, zu Gast.<br />
Viele Jahre später erinnert sich die Pianistin, wie Brahms ihr und einigen<br />
anderen im Sommer 1893 seine frisch komponierten Stücke Opp. 118 und<br />
119 vorgespielt hat:<br />
Es war ein unvergessliches Vergnügen für mich, als Brahms eines Tages im<br />
Sommer 1892 37 nach dem Essen zu mir sagte: ‚Ich möchte Ihnen vorspielen,<br />
was ich gerade komponiert habe, ein paar Übungen.‘ (Nur Prof. Wendt und<br />
meine Schwestern waren zugegen, Brahms jedoch wollte sie nicht im Musikzimmer<br />
haben und sie mussten draußen <strong>auf</strong> der Stiege zuhören). Er probierte<br />
nur kurz das Klavier aus und begann zu spielen, die g-Moll-Ballade,<br />
Intermezzo Rhapsodie in Es-Dur 38 , schließlich alle Klavierstücke Opus 118<br />
und 119. Er spielte, als würde er improvisieren, mit Herz und Seele, manchmal<br />
vor sich hinsummend, alles um sich herum vergessend. Sein Spiel war<br />
alles in allem groß und edel, wie seine Kompositionen. Es war natürlich<br />
die wundervollste Sache für mich, diese Stücke zu hören, von denen noch<br />
niemand etwas ahnte. Ich war die erste, für die er sie spielte. 39<br />
Ein halbes Jahr später, im Jänner und Februar 1894 war es Ilona Eibenschütz,<br />
die Brahms’ späte Klavierstücke opp. 118 und 119 unter dem Titel „New<br />
Pieces“ in London zur Welt-Ur<strong>auf</strong>führung brachte! Die in ganz Europa<br />
gefeierte Pianistin galt vor allem im englischen Raum als führende Brahms-<br />
Interpretin.<br />
Eibenschütz berichtete als wichtige Brahms-Zeitzeugin noch von einem<br />
anderen bemerkenswerten musikalischen Ereignis. Dazu sei vorausgeschickt,<br />
dass Brahms seine späten Klarinettenwerke (Trio a-Moll für Klarinette,<br />
37 Soll heißen Sommer 1893, Eibenschütz irrt sich hier im Datum!<br />
38 Bei der „g-Moll-Ballade“ handelt es sich um Nr. 3 im Zyklus der 6 Klavierstücke op. 118.<br />
Die Intermezzi op. 117, kurze Charakterstücke für Klavier, schrieb Brahms nachweislich<br />
im Sommer 1892 in Ischl. Hier handelt es sich um das Intermezzo Nr. 1 in Es-Dur.<br />
39 Teresa Hrdlicka: „Eine Brahms-Ur<strong>auf</strong>führung in Ischl“, in: Mitteilungen des Ischler Heimatvereines,<br />
Folge 41 2022, S. 47.<br />
27
<strong>Komponisten</strong> <strong>auf</strong> <strong>Sommerfrische</strong> in Bad Ischl<br />
Abb. 5: Johannes Brahms: Clavierstücke Op. 118 und 119, Titelblatt der Erstausgabe, Simrock,<br />
Berlin 1893<br />
28
Johannes Brahms (1833– 1897)<br />
Violoncello und Klavier, op. 114, Quintett h-Moll für Klarinette, zwei Violinen,<br />
Viola und Violoncello, op. 115 und die zwei Sonaten für Klarinette<br />
und Klavier, op. 120) in Ischl komponiert hat. Inspiriert dazu hat ihn der<br />
Solo klarinettist der Meininger Hofkapelle und der Bayreuther Festspiele und<br />
gleichzeitig Widmungsträger jener Werke Richard Mühlfeld. Im Sommer<br />
1895 – Mühlfeld wurde am 9. August in der Ischler Fremden-Liste registriert<br />
– musste sich laut Ilona Eibenschütz folgende Episode abgespielt haben:<br />
Der Klarinettist Mühlfeld kam für einen Tag nach Ischl, um Brahms zu<br />
besuchen und dessen Klarinetten-Quintett mit dem Kneisel-Quartett zu<br />
spielen. Das war die allerschönste Aufführung die ich je gehört habe. Sie<br />
fand in Kneisels Wohnung statt, das Publikum bestehend aus Brahms, Herr<br />
und Frau Steinbach, Herr und Frau Nikisch 40 und mir selbst. Mühlfeld<br />
spielte großartig <strong>auf</strong> seiner Klarinette, und als dies himmlische Werk beendet<br />
war, waren wir alle so bewegt, dass es allen die Sprache verschlug.<br />
Nikisch kniete nieder vor Brahms, und dies sprach uns allen aus der Seele. 41<br />
Bereits im Juni jenes Sommers 1895 berichtete der Schriftsteller und Ministerialbeamte<br />
Max Waldstein in seinen regelmäßig erscheinenden „Ischler<br />
Wochenplaudereien“:<br />
Zwei andere Musikgrößen, der sehr exclusive Brahms und der weltpopuläre<br />
Johann Strauß hingegen erfreuen sich […] einer felsenfesten Gesundheit<br />
und beschäftigen sich hier in Ischl sehr viel mit neuen Werken, welche im<br />
Winter das Licht der Welt erblicken werden. 42<br />
Die „felsenfeste Gesundheit“ bezieht sich <strong>auf</strong> einen vorangehenden Passus<br />
über den kränkelnden Operndirektor Wilhelm Jahn.<br />
Im dar<strong>auf</strong>folgenden Sommer des Jahres 1896 war es mit Brahms’ Gesundheit<br />
jedoch nicht gut bestellt. Eine schwere Krankheit brach in Ischl aus.<br />
Beschleunigt wurde sein Verfall durch die Nachricht vom Tod der ihm so<br />
40 Der Dirigent Arthur Nikisch (1855–1922), seit 1895 Direktor der Budapester Oper und<br />
seine Frau, die Sängerin Amélie Nikisch, geb. Heussner.<br />
41 Teresa Hrdlicka: „Eine Brahms-Ur<strong>auf</strong>führung in Ischl“, S. 46 f.<br />
42 Ischler Wochenblatt, 23. Juni 1895.<br />
29