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Die Neue Hochschule Heft 2/2024

Zeitschrift des hlb Hochschullehrerbund e.V. - Themenschwerpunkt: Lernziel Demokratie

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12 LERNZIEL: DEMOKRATIE DNH 2 | <strong>2024</strong><br />

Wirtschaftsdemokratie – (k)ein Thema<br />

für die Hochschullehre<br />

Als Arbeitskraft in einem Unternehmen oder einer <strong>Hochschule</strong> befinde ich mich nicht<br />

im Vollbesitz meiner bürgerlichen Rechte – wir leben in einer „halbierten“ Demokratie.<br />

Ansätze, diese Diskrepanz zu überwinden, werden im Folgenden dargestellt.<br />

Von Prof. Dr. André Bleicher<br />

Foto: André Bleicher<br />

PROF. DR. ANDRÉ BLEICHER<br />

<strong>Hochschule</strong> Biberach<br />

Professur Allgemeine<br />

Betriebswirtschaftslehre,<br />

Strategisches Management und<br />

Organisation<br />

Karlsstraße 11<br />

88400 Biberach<br />

bleicher@hochschule-bc.de<br />

https://www.hochschule-biberach.de/<br />

kontakt/andre-bleicher<br />

https://orcid.org/0009-0009-<br />

4818-7541<br />

Wirtschaftsdemokratie gilt gemeinhin<br />

als ein verstaubtes Element des Traditionssozialismus,<br />

das in den 1920er-<br />

Jahren zwar eine Rolle spielte, etwa<br />

in der Vorstellung einer funktionalen<br />

Demokratie, welche die parlamentarische<br />

Demokratie ergänzen sollte. 1 In<br />

der Verfassung der Weimarer Republik<br />

findet in Artikel 165 die gleichberechtigte<br />

Mitbestimmung als wirtschaftsdemokratische<br />

Forderung ihren<br />

Niederschlag, diese sollte in einem<br />

dreistufigen Rätesystem auf Betriebs-,<br />

Bezirks- und Reichsebene umgesetzt<br />

werden. Der inhaltlich nur wenig präzisierte<br />

Verfassungsauftrag zur Demokratisierung<br />

von Unternehmen und<br />

Wirtschaft wurde jedoch während der<br />

1920er-Jahre nur in sehr begrenztem<br />

Umfang umgesetzt. Wesentlich geprägt<br />

wurde die Debatte durch Fritz Naphtalis<br />

(1929) Schrift „Wirtschaftsdemokratie.<br />

Ihr Wesen, Weg und Ziel“. Neben<br />

Arbeitsrecht und Kollektivverträgen<br />

sollte Mitbestimmung auf allen Ebenen<br />

wirtschaftlicher Entscheidungen, vom<br />

Arbeitsplatz über die Fabrik (Betrieb),<br />

das Unternehmen bis zu Branchen und<br />

Gesamtwirtschaft, als Prinzip wirksam<br />

werden, und es sollten geeignete Institutionen<br />

geschaffen werden, welche die<br />

Arbeitnehmerbeteiligung sichern.<br />

Realisiert wurde davon wenig.<br />

<strong>Die</strong> Gewerkschaften versuchten nach<br />

dem zweiten Weltkrieg zwar, an diese<br />

Diskussion anzuknüpfen, allerdings sah<br />

das Grundgesetz der Bundesrepublik<br />

Deutschland eine wirtschaftsdemokratische<br />

Verfasstheit der Ökonomie nicht<br />

vor. In der Auseinandersetzung um die<br />

paritätische Mitbestimmung versuchte<br />

Viktor Agartz, damals Leiter des wirtschaftswissenschaftlichen<br />

Instituts<br />

des DGB, die Konzepte der Weimarer<br />

Republik neu zu beleben, und favorisierte<br />

eine wirtschaftsdemokratische<br />

Ausgestaltung in Kammern, Räte und<br />

Ausschüsse. <strong>Die</strong> Gegenposition vertrat<br />

der Betriebswirt Erich Potthoff, der vor<br />

allem das erreichbare Ziel, die Mitbestimmung<br />

in den Aufsichtsräten, favorisierte<br />

und eine makroökonomische<br />

Koordinierung in Räte als nicht sinnvoll<br />

ansah und deshalb die Traditionslinie<br />

zur Debatte der 1920er-Jahre durchtrennen<br />

wollte. Schließlich setzte sich<br />

Potthoff durch und die Gewerkschaften<br />

konzentrierten sich in den 1950er-Jahren<br />

auf die Durchsetzung der paritätischen<br />

Mitbestimmung in den Sektoren<br />

Kohle und Stahl (ausführlich hierzu<br />

Molitor 2011).<br />

So wird verständlich, warum einzelne<br />

Studien über wirtschaftsdemokratische<br />

Erfolgsmodelle, wie sie beispielsweise<br />

Hartmut Wächter (2012) mit der<br />

Fallstudie „Opel Hoppmann“ vorgelegt<br />

hat, keinen großen Nachhall gefunden<br />

haben. Walther Müller-Jentschs Replik<br />

auf Wächter favorisiert statt eines wirtschaftsdemokratischen<br />

Ansatzes den<br />

rheinischen Kapitalismus und die in<br />

ihm verankerten Formen der Mitbestimmung<br />

und Müller-Jentsch mahnt<br />

eine pragmatische Ausrichtung der<br />

Gewerkschaften an, indem er die Maximen<br />

Gottfried Benns zitiert und dafür<br />

plädiert, man möge doch von seinen<br />

Permalink:<br />

https://doi.org/10.5281/zenodo.10838037<br />

1 Vertreten wurde diese Idee von den Austromarxisten Otto Bauer, Max Adler und Karl Renner, die sich dabei an die<br />

von G.D.H. Cole (1920) entwickelte Idee des englischen Gildensozialismus anlehnten, in welchem Produktions- und<br />

Konsumsphäre demokratisiert werden sollten.

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