ALCHEMIST K K O I U M Illustrationen: Editienne 44
Text Reinhard Pohorec Aus Japan kommt – mal wieder – der Begriff für eine mehr oder wenige neue Entdeckung, die im kulinarischen Raum ebenso bahnbrechend sein könnte wie einst »Umami«. Diesmal geht es um »Kokumi«. Was sich dahinter verbirgt, ist erst schwer zu beschreiben, bei detaillierter chemisch-physikalischer Beschreibung aber absolut plausibel. Und für die Bar vielleicht eine neue Geheimwaffe. Umami ist keine fernöstliche Kampfsportart. Mit »auf die Fresse« hat es sprichwörtlich dennoch zu tun. Vereinzelt trifft man noch auf entgeisterte Blicke und dicke Fragezeichen in den Augen jener, die bei süß, sauer, salzig und bitter mit ihrem Geschmackslatein am Ende sind. Seit der Chemiker Kikunae Ikeda 1908 erstmalig behauptet hatte, eine neue Geschmackskomponente gefunden zu haben, ist viel passiert. Doch kaum ist Umami halbwegs im Genussmainstream angekommen – immerhin hat es knapp über hundert Jahre gedauert –, stolpert mit Kokumi () die nächste Sensorik-Wunderwaffe aus Japan um die Ecke. Wem nicht jetzt schon der Kopf raucht, aber immerhin das Wasser im Munde zusammenläuft, der möge uns über die nächsten Zeilen gewogen bleiben. Was ist Kokumi? Eine schnelle Suchmaschinenanfrage spült eine Definitionsflut für den Begriff über den Bildschirm, darunter »Vollmundigkeit«, »Köstlichkeit« und Ähnliches. So weit, so schwammig. Die wörtliche Übersetzung aus dem Japanischen lautet: »reicher (koku) Geschmack (mi)«. Der Komplexität menschlicher Sensorik ist mit einer einfachen Ein-Wort-Definition jedoch kaum Rechnung getragen. Schmecken wir etwas genauer hin. Während Umami heute mit Fug und Recht als fünfte Geschmackskomponente kategorisiert wird, betrifft Kokumi vor allem die Mundfülle. Zwar hat es nicht zwingend eine eigene Aromatik oder gustatorische Qualität, modifiziert, ergänzt oder verstärkt aber die Wahrnehmung anderer Eindrücke, was zu einem vollmundigen und vielschichtigen Erlebnis führt. Kokumi ist eng an die Umamigeschmacksbildung gekoppelt, hat aber per se nichts damit zu tun. Umami wird immer über entsprechende und eindeutige Geschmacksrezeptoren wahrgenommen; Kokumi nicht, sondern über sogenannte Calciumsensitive Rezeptoren. Der küchenaffine deutsche Physiker Thomas Vilgis klärt auf: »Für Kokumi sind vor allem Gamma-Glutamylpeptide verantwortlich, also kurze Proteinbruchstücke, an denen eine Glutaminsäure am einen Ende sitzt, gefolgt von zwei bis drei wasserunlöslichen Aminosäuren. Allerdings muss, um Kokumi auszulösen, die übliche alpha-Peptidbindung enzymatisch in eine gamma-Peptidbindung geändert werden. Okay, das klingt jetzt recht biochemisch-theoretisch«, schmunzelt er. Der Professor für Theoretische Physik an der Universität Mainz leitet die Arbeitsgruppe »Molekulare Lebensmittelwissenschaften« am Max-Planck-Institut für Polymerforschung. Als begeisterter Koch hat er die Erkenntnisse seiner Forschung in mehreren Büchern zur Wissenschaft des Kochens publiziert. In seinem Buch Aroma – Die Kunst des Würzens beschreibt Vilgis Kokumi unter der Überschrift »Geschmacksmodulation und Mundfülle«. Dabei assoziiert er diese Rundheit am Gaumen nicht unbedingt mit dem cremig-fettigen Gefühl, beispielsweise einer Panna Cotta. Vielmehr könne eine große Mundfülle ebenso durch sehr lange gekochte Hühnerbrühen oder andere Fleischfonds erzeugt werden. Auch ein Gulasch, eine einfache Bolognese oder ein herzhafter Bohneneintopf besitzen eine solche Vollmundigkeit. Es ist folglich wichtig zu unterscheiden: Der Kokumi-Eindruck ist keine texturelle Qualität, sondern molekular bedingt. Ein verbindender Aspekt obiger Gerichte ist die überdurchschnittlich lange Kochzeit und Reife. Im Zuge des dabei stattfindenden Prozesses der Hydrolyse zerfallen die in allen Lebensmitteln vorkommenden Proteinketten langsam zu immer kleineren Teilchen. Bruchstücke, die aus zwei oder drei Aminosäuren und einer Glutaminsäure bestehen, werden Gamma-Glutamylpeptide (auch γ-Glutamilpeptide) genannt. Diese Peptide sind unter anderem für den Kokumi-Effekt verantwortlich. Vilgis doziert weiter: »Das Zerlegen der Proteine in diese ›kokumisierenden‹ Glutamylpeptide kann sowohl durch Fermentation als auch durch Enzyme, pH-Wert-Änderungen oder, wie in den bereits genannten Beispielen, durch Hitze vonstatten gehen. Bei der Herstellung von Sojasauce etwa werden zum Zerlegen der Proteine enzymatische Fermentationsprozesse eingesetzt. Auch die lange Reifung von Käse lässt neben vielen anderen Reaktionen solche Proteinbruchstücke entstehen, die für die große Mundfülle von reifem Käse sorgen.« 45