Inspiration Nr 02- 2024
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Wegweiser Trekking Maloja – Soglio<br />
Im Roman «Karte und Gebiet» von Michel Houellebecq fertigt<br />
ein junger Künstler Fotos von Michelin-Landkarten an, denen er<br />
matschige Luftaufnahmen derselben Orte gegenüberstellt. «Die<br />
Karte ist interessanter als das Gebiet» ist der Titel der Ausstellung,<br />
die ihm zum Durchbruch verhilft. Unter diesem Motto<br />
schien auch die Tourenvorbereitung von Sils nach Soglio zu stehen:<br />
Wieder und wieder durchforsteten wir die Karten nach den<br />
besten Biwakplätzen, suchten Quellen und Ebenen, beklagten<br />
die grobe Auflösung der Maxar-Satellitenbilder vom Val da la<br />
Prasgnola. Irgendwann fühlten wir uns wie umgekehrte Vermesser,<br />
die nur noch loszogen, um ihre Daten mit der Wirklichkeit<br />
abzugleichen.<br />
Und dann das: Noch vor dem Anpfiff geht das Gebiet gegen<br />
die Karte eins zu null in Führung. Der von Sils sanft ansteigende<br />
Weg hinauf zum Lunghinsee ist wegen Steinschlaggefahr<br />
gesperrt. Also Maloja – Soglio statt Sils – Soglio. Das geht zwar<br />
schlechter über die Lippen, ist aber nicht minder schön. In der<br />
Abendsonne leuchten die Alpenrosen und Feuerlilien noch ein<br />
wenig bunter als sonst, zwei Wanderpärchen und drei junge Italiener<br />
kommen uns mit Profikameras und strahlenden Mienen ent-<br />
‹1›<br />
‹1› Einmalig in Europa: Am Pass<br />
Lunghin liegt die Dreifach-Wasserscheide<br />
zwischen Nordsee, Mittelmeer<br />
und Schwarzem Meer.<br />
‹2› Bergeller Bollwerk: Vom Pass da<br />
la Duana bekommen wir einen ersten<br />
Blick auf Cengalo, Badile & Co.<br />
‹4›<br />
«Kurz fühlen wir kleinen Menschlein<br />
uns ganz mächtig und spritzen<br />
das Wasser erst in den Atlantik, dann<br />
ins Mittelmeer und schliesslich<br />
noch ins Schwarze Meer.»<br />
‹2›<br />
‹3› Alleinstellungsmerkmal: Edelweiss<br />
deuten darauf hin, dass die<br />
Hochtäler Val da la Duana und Val da<br />
Roda eher wenig besucht werden.<br />
‹4› Schlechtes Timing: Den Abenteuerspielplatz<br />
im Talschluss des Val<br />
Maroz erreichen wir genau dann, als<br />
wir Strecke machen wollen.<br />
‹3›<br />
‹3›<br />
gegen. Muss schön sein, da oben. Ist es auch, aber – zwei zu null:<br />
Kalte Böen legen den Lunghinsee in Falten, sodass wir die besten<br />
Plätze am Ufer bald aufgeben und uns fürs Biwak zwischen<br />
die nahen Felsen verkriechen. Dass Houellebecq irrt, deutet sich<br />
also schon an und steht spätestens nach dem Abendspaziergang<br />
fest: Definitiv ist das Gebiet interessanter als die Karte. Ob es<br />
eben ist, sagt Swisstopo. Ob man auf Gras oder Steinen sein Lager<br />
aufschlägt, erfährt man auf Google Earth. Aber ob man fünf<br />
Meter neben der Isomatte einen Murmeltierzahn findet, um den<br />
man den Kindern daheim ein Märchen spinnen kann – das weiss<br />
keine Karte. Beim Stand von drei zu null verliert der Biancograt<br />
sein letztes Licht, dann leuchtet nur noch die Bergstation vom<br />
Corvatsch. Der Seeabfluss rauscht uns in den Schlaf.<br />
Spuren lesen auf der Via Sett<br />
Anderntags freuen wir uns, nicht noch weiter aufgestiegen zu<br />
sein. Hinter dem See wird die Landschaft sandig, karg, feucht.<br />
«Der Winter ist hier auch noch nicht lange her», meint Jürg.<br />
Apropos Karte und Gebiet: Die Dreifach-Wasserscheide am<br />
Pass Lunghin, das geografische Highlight der Tour, müssen wir<br />
im Nebel erst mal suchen. Kurz fühlen wir kleinen Menschlein<br />
uns ganz mächtig und spritzen das Wasser aus dem Granitbassin<br />
erst Richtung Atlantik, dann ins Mittelmeer und schliesslich<br />
noch ins Schwarze Meer. Nicht angeschrieben ist das Meer<br />
aus gelbem Enzian, durch das wir mit imaginärem Kräuterschnapsgeschmack<br />
auf der Zunge hinüber zum Septimerpass<br />
wandern. Dort erschrecken wir über eine Hütte. Teil des Plans<br />
war es doch, jede Chamanna und Capanna so weiträumig zu<br />
umgehen, als wären wir zwei der chronisch menschenscheuen<br />
Hauptfiguren eines Houellebecq-Romans. Doch die privat geführte<br />
und topmodern eingerichtete Cesa da Sett mit ihren 16 Betten<br />
hat ohnehin geschlossen. Jürg spekuliert noch auf einen frischen<br />
Espresso, drückt sich die Nase aber vergeblich platt.<br />
In den Karten der alten Römer dürfte der Septimerpass<br />
noch mit deutlich dickerem Strich verzeichnet gewesen sein,<br />
stellte er doch neben dem Julierpass den wichtigsten Übergang<br />
zwischen Chur und Mailand dar. Heute ist der Pass da Sett nur<br />
noch bei den Bikern die Nummer eins. Drei Velofahrer folgen<br />
der nationalen MTB-Route <strong>Nr</strong>. 1 auf Fahrstrassen nach Süden,<br />
das Kopfsteinpflaster der Via Sett haben wir für uns allein. Jede<br />
Kehre regt die Fantasie an: Hat man hier einen Zusatzochsen<br />
vorgespannt? Ist dort einst Flavius Vehiculus mit seinem wurmstichigen<br />
Klapperwagen steckengeblieben? Am «Sascel battü»<br />
verkündet eine Tafel, dass dieser Felsklotz schon vor 500 Jahren<br />
die Grenze zwischen Bivio und Bergell markierte. Auch eine<br />
1991 von den Instruktoren der Maurerlehrhallen Sursee vorbildlich<br />
restaurierte Bogenbrücke versprüht antiken Charme,<br />
vermag aber nicht ganz über die Bunkeranlagen (helvetisch,<br />
nicht römisch) und die 220-kV-Freileitung hinwegzutäuschen.<br />
Im Talboden passieren wir Maroz Dora und Maroz Dent. Das<br />
sind keine Zahncremes für morgens und abends, sondern zwei<br />
Alpen, von denen Dent, die obere, eindeutig die schönere ist. Ein<br />
14<br />
15