22.03.2024 Aufrufe

Marie Antoinette oder Kuchen für alle • Programmheft

Die Frist bis zur Hinrichtung kann sehr ungemütlich sein: Marie-Antoinette und ihr Gatte König Ludwig XVI. warten seit über 15 Jahren auf die Vollstreckung ihres Todesurteils. Während in Paris die unterschiedlichen Gruppierungen der Revolution um die Vorherrschaft kämpfen, ist die machtlose Monarchie im Palast zur Untätigkeit verdammt. Die Keller sind zwar voller Kuchen, doch fast das komplette Hofpersonal ist davongelaufen. Und dann ist auch noch der Champagner warm – also das geht zu weit! Ludwig XVI. beschließt, die Hinrichtung selbst in die Hand zu nehmen und bastelt für sich und seine Frau eine neumodische Guillotine. Bei den zwei linken Händen des weltfremden Königs sind die Konstruktionsfehler vorprogrammiert. Da ist es kein Wunder, dass beim Ausprobieren der Maschine einige unschuldige Menschen zu Opfern werden. Aber was sollen die royalen Hoheiten sonst machen in dieser misslichen Lage? Und warum werden sie ständig gestört von einem kleinen Wicht, der sich Napoleon nennt? Der Autor Peter Jordan hat eine bitterböse und rasante Satire über die blutige Epoche der Französischen Revolution geschrieben. Das Stück wurde 2022 an der Komödie am Kurfürstendamm uraufgeführt. Opulente historische Kostüme treffen auf Slapstick und Pop-Hits der Gegenwart. Hinter den Gags über das Vorzeigepaar des französischen Absolutismus stecken oft Spitzen auf unsere Zeit. Selten war das Porträt einer Endzeitgesellschaft auf der Theaterbühne so lockerleicht und erfrischend!

Die Frist bis zur Hinrichtung kann sehr ungemütlich sein: Marie-Antoinette und ihr Gatte König Ludwig XVI. warten seit über 15 Jahren auf die Vollstreckung ihres Todesurteils. Während in Paris die unterschiedlichen Gruppierungen der Revolution um die Vorherrschaft kämpfen, ist die machtlose Monarchie im Palast zur Untätigkeit verdammt. Die Keller sind zwar voller Kuchen, doch fast das komplette Hofpersonal ist davongelaufen. Und dann ist auch noch der Champagner warm – also das geht zu weit! Ludwig XVI. beschließt, die Hinrichtung selbst in die Hand zu nehmen und bastelt für sich und seine Frau eine neumodische Guillotine. Bei den zwei linken Händen des weltfremden Königs sind die Konstruktionsfehler vorprogrammiert. Da ist es kein Wunder, dass beim Ausprobieren der Maschine einige unschuldige Menschen zu Opfern werden. Aber was sollen die royalen Hoheiten sonst machen in dieser misslichen Lage? Und warum werden sie ständig gestört von einem kleinen Wicht, der sich Napoleon nennt? Der Autor Peter Jordan hat eine bitterböse und rasante Satire über die blutige Epoche der Französischen Revolution geschrieben. Das Stück wurde 2022 an der Komödie am Kurfürstendamm uraufgeführt. Opulente historische Kostüme treffen auf Slapstick und Pop-Hits der Gegenwart. Hinter den Gags über das Vorzeigepaar des französischen Absolutismus stecken oft Spitzen auf unsere Zeit. Selten war das Porträt einer Endzeitgesellschaft auf der Theaterbühne so lockerleicht und erfrischend!

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Komödie von Peter Jordan


MARIE-ANTOINETTE<br />

<strong>oder</strong> KUCHEN FÜR<br />

ALLE!<br />

Komödie von Peter Jordan<br />

durchgesehen und ergänzt von Leonhard Koppelmann<br />

<strong>Marie</strong>-<strong>Antoinette</strong>, Königin von Frankreich<br />

Ludwig XVI., König von Frankreich,<br />

Älterer Revolutionär<br />

Jean-Pierre de St. Nazaire le 4ème, Kammerdiener,<br />

Kardinal Louis de Rohan, Kardinal von Paris,<br />

Guillaume de la Tour, Jakobiner,<br />

Robespierre<br />

Caecilius, Kammerdiener des Königs,<br />

Madame Dubarry, ehemalige Mätresse Ludwigs XV.,<br />

Napoleon Bonaparte, als 10-jähriges Kind,<br />

Junger Revolutionär<br />

Catharina Struwe<br />

Matthias Manz<br />

Daniel Borgwardt<br />

Leon H<strong>alle</strong>r<br />

Regie Mario Holetzeck Bühnen- & Kostümbild Gundula Martin Dramaturgie<br />

Karolin Berg diverse Arrangements Matthias Manz<br />

Regieassistenz Ingo Zeising / Laura Mancusi Soufflage Laura Mancusi<br />

Inspizienz Sandra Vogel<br />

Technische Leitung Peter Jeske Produktionsmanagement &<br />

Werkstattleitung Steffen Wolf Technische Einrichtung Gerald Wagner<br />

Beleuchtung Michael Zeising Tontechnik Sascha Jenke<br />

Leitung der Kostümabteilung Kim Ludewig Gewandmeisterei Cornelia Weise<br />

Maske Carolin Liebschner, Lysann Rygiel Requisite Viola Monsignori<br />

Premiere 23. März 2024, Hauptbühne<br />

Dauer ca. 2 h 20 min (inkl. Pause)<br />

Aufführungsrechte Rowohlt Theater Verlag, Hamburg


Catharina Struwe & Matthias Manz<br />

1


So Manche verhalten sich ja als<br />

wären sie Monarchen <strong>oder</strong> – noch<br />

extremer – verlieren sich im Wahn,<br />

König und Königin zu sein – womöglich<br />

noch von Frankreich.<br />

Blöd nur, wenn die Ludwig XVI. und<br />

<strong>Marie</strong>-<strong>Antoinette</strong> heißen und sich<br />

inmitten der Französischen Revolution<br />

wiederfinden, wo das Volk samt<br />

Revolutionäre irgendwie nicht mehr<br />

so richtig gut auf die Herrschenden<br />

zu sprechen ist …<br />

Aus dem Geschichtsunterricht<br />

wissen wir – <strong>oder</strong> schlagen es<br />

heimlich bei Wikipedia nach: Ludwig<br />

XVI. wurde am 21. Januar, <strong>Marie</strong>-<strong>Antoinette</strong><br />

am 16. Oktober 1793 mittels<br />

eines neumodischen Gerätes<br />

namens Guillotine enthauptet.<br />

Der Autor des Stücks, Peter Jordan,<br />

bedient sich des kontrafaktischen<br />

Erzählens: Er schreibt das Jahr<br />

1806, <strong>Marie</strong>-<strong>Antoinette</strong> und Ludwig<br />

XVI. leben noch. Eingesperrt in<br />

ihren Gemächern wurden die<br />

Entmachteten einfach vergessen.<br />

Ihre Hinrichtung verschoben auf<br />

irgendwann. Bürokratische Mühlen<br />

mahlen eben langsam, so ist das<br />

jetzt in einer Demokratie.<br />

Also warten sie auf ihren Tod – seit<br />

fast zwanzig Jahren. Kein Wunder,<br />

wenn man da schon mal durchdreht.<br />

Die Zeit scheint still zu stehen<br />

– der Zustand des Wartens ist eine<br />

Demütigung mit Gewöhnungseffekt.<br />

2<br />

Und der Horror vor der Guillotine ist<br />

groß … Wäre das Abschlagen des<br />

Kopfes nicht schon angsteinflößend<br />

genug, hört man auch von völlig<br />

verpfuschten Hinrichtungen. Eine<br />

Anekdote geht so: Der alte, versierte<br />

Henker war gestorben, der Neue<br />

noch zu neu und nervös. Der erste<br />

Hieb: Skalpiert den Verurteilten.<br />

Zweiter Versuch: Das Fallbeil bleibt<br />

auf dem Weg nach unten stecken.<br />

Der dritte Anlauf trennt endlich den<br />

Kopf sauber vom Rumpf. Allerdings<br />

fliegt der Kopf nicht ins Körbchen,<br />

sondern im hohen Bogen. Unschön.<br />

Also bloß nicht zu lange darüber<br />

sinnieren, sondern sich ablenken,<br />

denken <strong>Marie</strong> und Ludwig. Doch wie<br />

sieht so ein post-königlicher Alltag<br />

aus, wenn man nichts zu tun hat,<br />

außer auf das Ende zu warten, das<br />

vielleicht nie kommt?<br />

In der Inszenierung Mario Holetzecks<br />

befinden wir uns in einer<br />

Irrenanstalt. Ein abgeschotteter<br />

Kosmos, abgekapselt von der Welt<br />

da draußen, nur durchlässig <strong>für</strong><br />

ungebetenen Besuch. Wie sich<br />

also die zähe Zeit vertreiben, wenn<br />

ständig jemand im Raum steht,<br />

den man am liebsten sofort wieder<br />

loswerden würde? Praktisch, wenn<br />

da der Gatte aus Langeweile auch<br />

so ein neumodisches Gerät geheimwerkert<br />

hat … Wenn man Zeit hat,<br />

kommen einem ja die verrücktesten<br />

Ideen … Und wo zum Teufel gibt es<br />

diesen <strong>Kuchen</strong>, von dem <strong>alle</strong> reden!?<br />

Karolin Berg


Ein ungleiches Paar<br />

Die Ehe zwischen <strong>Marie</strong>-<strong>Antoinette</strong><br />

und Ludwig XVI. war<br />

eine arrangierte, die eine jahrelange<br />

Feindschaft zwischen<br />

zwei Monarchien befrieden<br />

sollte. Der Großvater Ludwig<br />

XV. von Frankreich und Maria<br />

Theresia, Kaiserin von Österreich,<br />

be<strong>für</strong>worteten, dass die<br />

14-jährige Erzherzogin Maria<br />

Antonia den Enkel Ludwig<br />

XV., Louis Auguste, heiratet.<br />

Der Dauphin war nur ein Jahr<br />

älter, schüchtern, unbeholfen,<br />

gleichgültig und außer einem<br />

tadellosen Appetit und Freude<br />

an mechanischen Dingen war<br />

der Thronerbe lethargischer<br />

Natur.<br />

<strong>Marie</strong>-<strong>Antoinette</strong>s einzige<br />

Aufgabe bestand darin, einen<br />

männlichen Erben zu gebären.<br />

Doch schon eine<br />

Schwangerschaft gestaltete<br />

sich als diffizil. Manche Quellen<br />

sprechen von einer Vorhautverengung<br />

des Dauphins,<br />

die durch eine Operation<br />

hätte behoben werden können,<br />

doch dem stand Angst<br />

und Entscheidungsunwille im<br />

Weg; andere Quellen berichten<br />

über reine Unwissenheit<br />

und Hemmnis des Gatten.<br />

Die Brisanz dessen lag<br />

nicht nur darin, dass noch<br />

kein Thronerbe in Aussicht<br />

war, sondern in der damals<br />

geltenden Rechtslage. Nach<br />

kirchlichem Recht konnte<br />

eine Prokura-Hochzeit noch<br />

annulliert werden, bis auch<br />

die Ehe im Bette als vollzogen<br />

galt. Für <strong>Marie</strong>-<strong>Antoinette</strong><br />

hätte das bedeutet, dass der<br />

einzige Zweck ihrer Heirat,<br />

die Verbindung zwischen<br />

Frankreich und Österreich,<br />

gescheitert und sie erniedrigt<br />

nach Wien zurückgekehrt<br />

wäre.<br />

Erschwert wurde das Vorhaben<br />

durch beider Charakter<br />

und Biorhythmus, die nicht<br />

recht zusammenpassten.<br />

Ging Ludwig äußerst früh<br />

zu Bett, um seiner liebsten<br />

Beschäftigung, der Jagd,<br />

am frühen Morgen nachzugehen,<br />

amüsierte sich seine<br />

Gattin oft bis tief in die Nacht<br />

auf festlichen Bällen und in<br />

geselligen Runden bei Wett-,<br />

Glücksspielen und Tanz.<br />

Erst der Besuch Joseph II.,<br />

<strong>Marie</strong>-<strong>Antoinette</strong>s Bruder,<br />

brachte den Durchbruch.<br />

Offenbar hatte es bis dato<br />

auch Ludwigs schwerenötiger<br />

Großvater nicht <strong>für</strong> erforderlich<br />

gehalten, den Enkel in die<br />

Praxis einzuweihen. Als der<br />

Geschlechtsverkehr endlich<br />

glückte, war Ludwig XV. schon<br />

längst an den schwarzen<br />

Pocken gestorben und das<br />

junge Paar zu König und Königin<br />

von Frankreich gekrönt.<br />

Auch, wenn <strong>Marie</strong>-<strong>Antoinette</strong><br />

in einem Brief an ihre Mutter<br />

1773 fälschlicherweise versicherte,<br />

dass ihre Ehe jetzt<br />

auch im Bette vollzogen sei,<br />

dauerte es noch vier Jahre<br />

bis zu diesem Ereignis. Ein<br />

weiteres Jahr später war sie<br />

schwanger – acht Jahre nach<br />

ihrer Hochzeit.<br />

3


4<br />

Madame Deficit<br />

„Gekrönte Schlampe“, „Erzhure“,<br />

„Vampirin“, gefährliche Hexe“,<br />

„perverses Teufelsweib mit Kr<strong>alle</strong>n<br />

aus Stahl“, „Inzest-Verbrecherin“,<br />

„Nymphomanin“. Die Liste an<br />

Diffamierungen, denen sich <strong>Marie</strong>-<br />

<strong>Antoinette</strong> ausgesetzt sah, war<br />

lang. Beim Volk in Ungnade gef<strong>alle</strong>n,<br />

wurde sie samt Königsfamilie fast<br />

zwanzig Jahre in sogenannten<br />

„Libelles“ – in Schmähschriften<br />

und auf Flugblättern – obszön<br />

verhöhnt und verleumdet. Ihr Gatte<br />

galt als unfähig, impotent und<br />

führungsschwach. Ihr Sohn sei ein<br />

Bastard und die Königin selbst eine<br />

liebestolle, frivole, amoralische<br />

Frau. Wahr ist, dass sich „Madame<br />

Deficit“ lieber in ihr privates Petit<br />

Trianon zurückzog, zu dem nur ein<br />

exklusiver Personenkreis Zutritt<br />

hatte. Selbst der König musste<br />

draußen bleiben. Dass sie nicht der<br />

Etikette folgte, missfiel der Hofgesellschaft.<br />

Die Königin verstand<br />

nicht, dass es keine Privatperson<br />

<strong>Marie</strong> <strong>Antoinette</strong> mehr gab, sondern<br />

nur noch die Amtsträgerin, die<br />

sich vollkommen in den Dienst an<br />

Staat und Volk zu stellen hatte. Sie<br />

war an ihrem eigenen Hof von feindlichen<br />

Vertrauten und verwandten<br />

Neidern umgeben, sodass die<br />

Quelle der Gerüchte oft Versailles<br />

selbst war. Zeitlebens blieb sie, „die<br />

Ausländerin“, dem französischen<br />

Adel verhasst.<br />

Die Vorwürfe changierten<br />

zwischen Verschwendungssucht,<br />

Trink- und Sexorgien, Affären und<br />

lesbischem Sex, der in Frankreich<br />

als „deutsches Laster“ bezeichnet<br />

wurde – klar, das Übel findet sich<br />

immer in anderen Ländern: Die<br />

Syphilis hieß in Österreich die<br />

„Franzosenkrankheit“, in Frankreich<br />

„die italienische Krankheit“. Und da<br />

<strong>Marie</strong>-<strong>Antoinette</strong> an Weihnachten<br />

deutschsprachige Weihnachtslieder<br />

sang, lag auf der Hand, dass sie<br />

dem „deutschen Laster“ verf<strong>alle</strong>n<br />

sein musste. Hartnäckig hielt sich<br />

der Verdacht einer andauernden<br />

Affäre mit dem schwedischen<br />

Adligen Hans Axel von Fersen, die<br />

im Gegensatz zu den anderen Anschuldigungen<br />

als relativ erwiesen<br />

erscheint.<br />

Eine Hetzzeitung nannte sie „Erztigerin“.<br />

Der Tiger galt als von Gott<br />

benachteiligtes Tier. Denn seit<br />

dem Mittelalter waren Streifen<br />

das Muster des Teufels. Nur Leute<br />

außerhalb der Gesellschaft,<br />

wie Sträflinge <strong>oder</strong> Hofnarren,<br />

trugen dieses Muster. Das Raubtier<br />

stand <strong>für</strong> Gefahr, Hinterlist und<br />

Täuschung, umso unberechenbarer<br />

ein weiblicher Tiger. Die Libellisten<br />

lockten mit Überschriften wie: „Der<br />

königliche Dildo“, „Das königliche<br />

Bordell“, „Die königliche Orgie“,<br />

„Das uterine Wüten der <strong>Marie</strong>-<br />

<strong>Antoinette</strong>“, beworben als „ein<br />

seltenes Werk, vollkommen wahr,<br />

dessen Inhalt nur wenigen bekannt<br />

ist“. Die Schmierblätter gingen weg<br />

wie warme Semmeln. Der Inhalt war<br />

an den Haaren herbeigezogen, aber<br />

das Volk glaubte es.<br />

Die Karikatur „La Poule d’Autruyche“<br />

zeigt einen Vogelstrauß mit<br />

dem Kopf <strong>Marie</strong>-<strong>Antoinette</strong>s und<br />

vollgestopftem Schnabel, an dem<br />

sie zu ersticken droht. In dem Titel


versteckt sich das Wortspiel<br />

„autruche“ (Strauß) und „l’Autriche“<br />

(Österreich) sowie der Spottname<br />

„l’Autrichienne“ (Österreicherin),<br />

was klingt wie „chienne“ (Hündin,<br />

Hure). Dazu der Satz: „Ich verdaue<br />

Gold und Silber mit Leichtigkeit,<br />

aber die Verfassung kann ich nicht<br />

schlucken.“<br />

Den absoluten Tiefpunkt stellte 1785<br />

die „Halsbandaffäre“ dar. Involviert<br />

waren neben der Königin, der verschlagene<br />

Kardinal de Rohan und<br />

eine gewisse Jeanne de la Motte,<br />

eine verarmte, raffgierige Adelige,<br />

die sich als die Königin ausgab und<br />

in ihrem Namen ein Diamantencollier<br />

anfertigen ließ, mit dem sie<br />

nach England abhauen wollte. <strong>Marie</strong>-<strong>Antoinette</strong><br />

konnte zwar ihre Unschuld<br />

beweisen, doch blieb diese<br />

Affäre zeitlebens an ihr haften, ihre<br />

Popularität fiel ins Bodenlose. Der<br />

Tragweite des Hasses wurde sie<br />

sich zu spät bewusst.<br />

Zeitgleich spitzte sich die Lage der<br />

Bevölkerung immer weiter zu.<br />

Dem gegenüber stand ein heillos<br />

überforderter König, der keine<br />

Zukunftsvision <strong>für</strong> Frankreich<br />

bot, dessen Großvater das Land<br />

in einem desolaten Zustand<br />

hinterlassen hatte und damals<br />

schon verlauten ließ „nach mir die<br />

Sintflut“. <strong>Marie</strong>-<strong>Antoinette</strong> war in<br />

den Augen des Volkes auch das<br />

politische Feindbild gegen das sich<br />

die Menschen in der Französischen<br />

Revolution 1789 auflehnten.<br />

Je digère l‘or, l‘argent avec facilité,<br />

mais la constitution je ne puis l‘avaler<br />

5


v.l.n.r. Leon H<strong>alle</strong>r, Daniel Borgwardt, Matthias Manz & Catharina Struwe


Die Tragik<br />

eines mittleren<br />

Charakters<br />

<strong>Marie</strong> <strong>Antoinette</strong> war weder die<br />

große Heilige des Royalismus noch<br />

die Dirne, die „grue“der Revolution,<br />

sondern ein mittlerer Charakter,<br />

eine eigentlich gewöhnliche Frau,<br />

nicht sonderlich klug, nicht sonderlich<br />

töricht, nicht Feuer und nicht<br />

Eis, ohne besondere Kraft zum<br />

Guten und ohne den geringsten<br />

Willen zum Bösen (…).<br />

Aber die Geschichte (…) bedarf gar<br />

nicht eines heroischen Charakters<br />

als Hauptperson, um ein erschütterndes<br />

Drama emporzusteigern.<br />

Tragische Spannung, sie ergibt sich<br />

nicht nur aus dem Übermaß einer<br />

Gestalt, sondern jederzeit aus dem<br />

Missverhältnis eines Menschen zu<br />

seinem Schicksal. (…) Dieses Leiden<br />

des Nicht-Helden, des mittleren<br />

Menschen, sehe ich, weil ihm der<br />

sichtliche Sinn fehlt, nicht als<br />

geringer an als das pathetische des<br />

wahrhaften Helden und vielleicht<br />

noch erschütternder; (…)<br />

Ein mittlerer Charakter muss erst<br />

herausgetrieben werden aus sich<br />

selber, um <strong>alle</strong>s zu sein, was er sein<br />

könnte, und vielleicht mehr, als er<br />

selber früher ahnte und wusste;<br />

da<strong>für</strong> hat das Schicksal keine andere<br />

Peitsche als das Unglück. Und so,<br />

wie sich ein Künstler manchmal mit<br />

Absicht einen äußerlich kleinen Vorwurf<br />

sucht, statt eines pathetisch<br />

weltumspannenden, um seine<br />

8<br />

schöpferische Kraft zu erweisen, so<br />

sucht sich das Schicksal von<br />

Zeit zu Zeit den unbedeutenden<br />

Helden, um darzutun, dass es auch<br />

aus brüchigem Stoff die höchste<br />

Spannung, aus einer schwachen<br />

und unwilligen Seele eine große<br />

Tragödie zu entwickeln vermag.<br />

Eine solche Tragödie und eine der<br />

schönsten dieses ungewollten<br />

Heldentums heißt <strong>Marie</strong> <strong>Antoinette</strong>.<br />

Denn mit welcher Kunst, mit welcher<br />

Erfindungskraft an Episoden,<br />

in wie ungeheuren historischen<br />

Spannungsdimensionen baut hier<br />

die Geschichte diesen mittleren<br />

Menschen in ihr Drama ein, wie<br />

wissend kontrapunktiert sie die<br />

Grundsätze um diese ursprünglich<br />

wenig ergiebige Hauptfigur! (…)<br />

Mit melodramatischer Krassheit<br />

stellt dieses Drama die äußersten<br />

Gegensätze Stirn an Stirn; es stößt<br />

sie aus einem hundertzimmerigen<br />

Kaiserhause in ein erbärmliches<br />

Gefängnisgelass, vom Königsthron<br />

auf das Schafott, aus der<br />

gläsern-goldenen Karosse auf den<br />

Schinderkarren, aus dem Luxus in<br />

die Entbehrung, aus Weltbeliebtheit<br />

in den Hass, aus Triumph in die Verleumdung,<br />

immer tiefer und tiefer<br />

und unerbittlich bis in die letzte<br />

Tiefe hinab.<br />

Stefan Zweig


„Es sind heute viele<br />

Leute in Versailles“<br />

Mit diesem banalen Satz brach die<br />

Dauphine Frankreichs das eisige<br />

Schweigen zwischen sich und<br />

Madame Dubarry, der favorisierten<br />

Mätresse des damaligen Königs<br />

Ludwig XV. Das Schweigen hatte das<br />

Potenzial <strong>für</strong> eine handfeste Staatskrise.<br />

Richtete <strong>Marie</strong>-<strong>Antoinette</strong><br />

nicht das Wort an die Mätresse,<br />

verweigerte sie ihr die Anerkennung<br />

als Mitglied der Herrscherfamilie.<br />

Madame Dubarry hieß eigentlich<br />

Jeanne Bécu und kam aus der<br />

Gosse. Bevor sie an den Versailler<br />

Hof kam, wirkte sie im Bordell. Sie<br />

war die letzte „Favoritin“ Ludwig<br />

XV., des Großvaters Ludwig XVI. Der<br />

König ernannte sie zur Gräfin du<br />

Barry, offizieller Posten: „Maîtresseen-titre“.<br />

Jahrelang missachtete die<br />

Dauphine die Mätresse, was einem<br />

Affront des Königs gleichkam.<br />

<strong>Marie</strong>-<strong>Antoinette</strong> war derart feindselig<br />

gestimmt, dass sie gesagt<br />

haben soll: „Ich habe einmal gesprochen,<br />

aber ich bin entschlossen,<br />

dabei zu bleiben, und diese Frau<br />

wird den Ton meiner Stimme nicht<br />

mehr hören.“<br />

Die beiden Damen hatten nicht<br />

viel gemein. Die mit Unmengen an<br />

Rouge aufgetakelte Mätresse war<br />

weltgewandt, laut, vulgär, vollbusig<br />

und vor <strong>alle</strong>m war sie mächtig,<br />

weil Ludwig XV. vernarrt in sie war.<br />

Die Dauphine hingegen war naiv,<br />

eher schmächtig und zunächst<br />

die schlichtere Habsburger Mode<br />

gewohnt. Immer wieder griff ihre<br />

Mutter Maria Theresia mahnend<br />

ein, ihre Tochter möge doch endlich<br />

die Favoritin des Königs akzeptieren<br />

und sie dementsprechend behandeln.<br />

Doch die junge <strong>Marie</strong>-<strong>Antoinette</strong><br />

dachte gar nicht daran …<br />

Madame, meine geliebte Mutter! 9. Juli 1770<br />

(…) Der König (Ludwig XV. Anmerk. K. B.) hat tausend Freundlichkeiten <strong>für</strong> mich, und<br />

ich liebe ihn zärtlich, doch tut er einem wegen seiner Schwäche <strong>für</strong> Madame Dubarry leid, die<br />

das dümmste und impertinenteste Geschöpf ist, das man sich vorstellen kann. (…)<br />

Selbst nach dem Tod Ludwig XV.<br />

1774 ließ sie kein gutes Haar an der<br />

Dubarry … Da der Sohn des Königs,<br />

Louis Ferdinand, bereits 1765 im<br />

Alter von 36 Jahren an Tuberkulose<br />

gestorben war, folgte der Enkel<br />

auf den Thron. Der neue König<br />

Ludwig XVI. ließ „die Kreatur“ in ein<br />

Kloster verbannen und jagte <strong>alle</strong><br />

mit ihr in Verbindung Stehenden<br />

vom Hof. Am Ende ereilte jedoch<br />

beide Frauen das gleiche Schicksal.<br />

Madame Dubarry starb 1793 auf der<br />

Guillotine, im selben Jahr wie <strong>Marie</strong>-<br />

<strong>Antoinette</strong>.<br />

9


Leon H<strong>alle</strong>r & Matthias Manz<br />

v.l.n.r. Catharina Struwe, Daniel Borgwardt & Matthias Manz<br />

10


„Dann sollen sie doch<br />

<strong>Kuchen</strong> essen!“<br />

Zur Zeit der Französischen Revolution: Das Land liegt finanziell am Boden,<br />

Missernten verschlimmern die Lage der einfachen und mittelständischen<br />

Bevölkerung. Es herrscht Unmut über die Monarchie und die Machtverhältnisse,<br />

angestachelt von intriganten, böswilligen Pamphleten über die<br />

Königsfamilie; im Fokus: die französische Königin.<br />

Als das aufständische Volk von Paris gen Versailles zieht, soll <strong>Marie</strong>-<strong>Antoinette</strong><br />

gefragt haben, was der Aufruhr solle. Das Volk hungere und habe<br />

kein Brot, wurde die Königin unterrichtet. Darauf soll sie konsterniert<br />

erwidert haben: „Qu‘ils mangent de la brioche“. Ins Deutsche wurde der<br />

Ausruf übersetzt mit: „Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie doch<br />

<strong>Kuchen</strong> essen!“ Bereits diese Übersetzung ist nicht ganz korrekt. Denn<br />

„brioche“ ist kein <strong>Kuchen</strong> <strong>oder</strong> eine Torte, sondern ein einfaches Hefegebäck.<br />

Doch dass <strong>Marie</strong>-<strong>Antoinette</strong> so reagierte, ist schlicht ein Mythos.<br />

Der Ausruf aber blieb an ihr kleben wie Hefeteig. Passte er doch nur zu gut<br />

zur Dekadenz der Königin und symbolisierte den abgehobenen und weltfremden<br />

Charakter der beim französischen Volk in Ungnade gef<strong>alle</strong>nen<br />

Monarchin. Die mehr als angespannte Finanzlage etwa wurde nicht dem<br />

Umstand angelastet, dass Frankreich Unsummen in den amerikanischen<br />

Unabhängigkeitskrieg gegen Großbritannien steckte, sondern der<br />

Verschwendungssucht ihrer Königin. Taub <strong>für</strong> die sozialen Probleme des<br />

Landes glaubte das Ancien Régime, dass ohne sie kein Staat zu machen<br />

sei und sich die revolutionären Wogen schon wieder glätten würden.<br />

Privilegien abgeben? Nicht mit dem Adel. Dem gegenüber stand ein erstarkendes<br />

Bürgertum, das die Schriften und Gedanken der Aufklärung<br />

zu seinem Credo machte.<br />

Doch wer sagte denn nun diesen berühmten Satz? Er findet sich in den<br />

Memoiren des Philosophen Jean-Jacques Rousseau. Dieser schreibt ihn<br />

einer „großen Prinzessin“ zu, ohne einen Namen zu nennen. Die Zeilen<br />

Rousseaus stammen aus einer Zeit, zu der Maria Antonia, Erzherzogin von<br />

Österreich, noch ein Kind war und in Wien weilte. Wahrscheinlich ist, dass<br />

Rousseau die erste Frau des Sonnenkönigs, Ludwig XIV., Maria Teresia von<br />

Spanien meinte, die etwa hundert Jahre vor <strong>Marie</strong>-<strong>Antoinette</strong> gelebt hat.<br />

11


K<br />

K<br />

?<br />

D SW j


← Wie wir gendern? Mehr dazu hier!<br />

→ Liebe Gäste,<br />

wir möchten Sie darauf aufmerksam machen, dass Ton- und /<strong>oder</strong> Bildaufnahmen der<br />

Aufführungen aus urheberrechtlichen Gründen untersagt sind. Bitte schalten Sie Ihre<br />

Mobiltelefone stumm. Vielen Dank.<br />

→ Die neue Bühne dankt<br />

Blumen Mädler <strong>für</strong> die Premierenrosen.<br />

Impressum<br />

neue Bühne Senftenberg, Theaterpassage 1, 01968 Senftenberg,<br />

Intendant Daniel Ris Gestaltung www.pingundpong.de, Öffentlichkeitsarbeit Redaktion Karolin Berg<br />

Fotos Arthur Lindemann Textnachweis Zweig, Stefan: <strong>Marie</strong> <strong>Antoinette</strong>. Bildnis eines mittleren Charakters.<br />

In: Ebd. <strong>Marie</strong> <strong>Antoinette</strong>. Bildnis eines mittleren Charakters / Maria Stuart. Fischer Taschenbuch<br />

Verlag, Frankfurt a. M. 1997, S. 6-576.; Christoph, Paul (Hg.): Maria Theresia & <strong>Marie</strong> <strong>Antoinette</strong>.<br />

Der geheime Briefwechsel. Lambert Schneider Verlag, Darmstadt 2017.; Berg, Karolin: Gummizelle<br />

royal, Ein ungleiches Paar, Madame Deficit, „Es sind heute viele Leute in Versailles“ und „Dann sollen<br />

sie doch <strong>Kuchen</strong> essen!“ sind Originalbeiträge <strong>für</strong> dieses <strong>Programmheft</strong>.<br />

Gefördert mit Mitteln des Ministeriums<br />

<strong>für</strong> Wissenschaft, Forschung und Kultur<br />

des Landes Brandenburg.


„ICH BIN KÖNIG LUDWIG XVI.! KÖNIG VON FRANKREICH!<br />

ICH BEFEHLE EUCH; VOLK VON FRANKREICH; DIESES<br />

AUFRÜHRERISCHE VERHALTEN EINZUSTELLEN<br />

UND DAS ZU TUN, WAS DAS VOLK FRANK-<br />

REICHS SEIT JAHRHUNDERTEN TUT,<br />

WENN DER MONARCH ES BE-<br />

FIEHLT: ZU GEHORCHEN!<br />

----------------------<br />

Keiner mehr da.<br />

Wo sind denn<br />

<strong>alle</strong> hin<br />

?“

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!