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Leseprobe Babas Schweigen

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<strong>Schweigen</strong><br />

<strong>Babas</strong><br />

Özlem Çimen<br />

Roman<br />

Limmat Verlag<br />

Zürich


7 hêkete — Geschichten, 2022<br />

12 cirestiş — Ankunft, 1990<br />

15 babuko — Anatolisches Fondue, 2013<br />

20 çimeyê cuyena bêdawîye — Die Quelle des ewigen<br />

Lebens, 1990<br />

24 ko — Berg, 2013<br />

27 nanê tendure — Fladenbrot, 1990<br />

30 nêasaye — Die Unsichtbaren, 2013<br />

35 têşanîye — Durst, 1990<br />

38 çarnayene — Drehen, 2013<br />

41 pîyê Tirkan pêroyine — Atatürk,<br />

Vater aller Türken, 1990<br />

47 amayox — Zukunft, 2013<br />

50 qerpuze — Wassermelone, 1990<br />

57 rawuştene — Aufwachen, 2013<br />

65 Firado sur — Der rote Fırat, 1990<br />

71 firokexane — Flughafen, 2013<br />

74 wela sîyaye — Schwarze Erde, 1990<br />

82 o taw — Damals, 2021<br />

91 bîrîye — Sehnsucht, 1990<br />

94 Ay Dîlberê — Ach Schönheit, 2021<br />

101 dara zerdalîye — Aprikosenbaum, 2022<br />

107 Glossar<br />

109 Überblick zur Geschichte Dersims<br />

111 Weiterführende Literatur<br />

113 Dank


Für A. und Z.<br />

Und für alle anderen, in deren Brust<br />

eine weiche Aprikose schlägt.


hêkete<br />

Geschichten<br />

2022<br />

«Mami, wann zeigst du uns endlich die Aprikosenbäume<br />

in eurem Garten?», fragt mich meine vierjährige Tochter<br />

am Tisch, während ich gedankenversunken meinen morgendlichen<br />

Kaffee schlürfe. Ausnahmsweise trinke ich<br />

ihn heute mit Hafermilch. Er schmeckt jedoch wie Müsli<br />

mit Kaffeearoma. Eigentlich wollte ich etwas Gutes tun<br />

für die Umwelt, aber ich kann mich mit dem Geschmack<br />

nicht anfreunden.<br />

Die Frage meiner Tochter irritiert mich. Wie kommt<br />

sie plötzlich auf die Aprikosenbäume? Ich erzähle meinen<br />

Kindern manchmal vom Dorf meines Vaters und meiner<br />

Großeltern. Es sind Geschichten, in denen ich als<br />

kleines Mädchen mit meinen Eltern zu meinen Großeltern<br />

väterlicherseits in die Ferien fahre. Meist kamen<br />

Cousinen und Cousins von überall angereist ins Dorf.<br />

Wir trafen uns jedes Jahr im Sommer und verbrachten<br />

7


viel Zeit mit einander. Im Wissen, dass man uns vertrauen<br />

konnte, durften wir den ganzen Tag tun und lassen, was<br />

wir wollten. Vielleicht waren wir aus heutiger Sicht vielen<br />

Gefahren ausgesetzt. Aber niemandem ist je etwas zugestoßen.<br />

Es gab viele Geschichten, die uns vor Gefahren bewahren<br />

sollten. Zu jeder gefährlichen Situation existierte eine<br />

abschreckende Anekdote von einer Tochter oder einem<br />

Sohn aus einer Familie, die ich nicht kannte, denen etwas<br />

Schlimmes passiert war. Sie hielten uns davon ab, uns über<br />

die Grenzen hinauszuwagen. Im Nachhinein frage ich<br />

mich, ob es diese Töchter und Söhne je gegeben hat. Ich<br />

habe auf jeden Fall an sie geglaubt.<br />

Ich war nie allein unterwegs. Auch wenn wir uns unbeobachtet<br />

fühlten, wusste immer jemand, wo wir waren.<br />

Die meiste Zeit verbrachte ich mit Dilek und Emre. Sie<br />

sind die Kinder meines Amca, des einzigen Bruders meines<br />

Vaters, und lebten in Istanbul. Im Sommer hielten sie<br />

sich wie wir im Haus unserer Großeltern auf. Manchmal<br />

kamen andere Cousins und Cousinen dazu. Einige lebten<br />

das ganze Jahr über im Dorf. Die Einheimischen kannten<br />

jeden Winkel, jedes Versteck, jeden Fluchtweg, was sehr<br />

praktisch war, insbesondere wenn Dede, mein Großvater,<br />

hinter uns her war, weil wir aus seinem Garten Früchte<br />

hatten mitgehen lassen.<br />

Obwohl ich nicht an diesem Ort aufgewachsen bin,<br />

entwickelte sich über die Jahre hinweg eine emotionale<br />

Bindung, die mich geprägt hat. Warum das so ist, kann ich<br />

nicht erklären. Nach dem Tod meiner Großeltern Ende<br />

der Neun zigerjahre war ich mindestens zehn Jahre nicht<br />

mehr da. Nicht nur wegen der weiten Reise – als Kind kam<br />

8


mir die Fahrt unendlich lang vor –, vielleicht auch deswegen,<br />

weil immer etwas in der Luft hing, das die Stimmung<br />

der Menschen trübte. Was das genau war, konnte<br />

ich nie wirklich fassen. Über die eigentlichen Probleme<br />

wurde nie gesprochen. Als Kind habe ich damals nicht verstanden,<br />

worum es ging. Doch gespürt habe ich es.<br />

Es gab auch Momente, in denen wir ausgelassen sein<br />

konnten. Gründe zum Feiern gab es viele. Dann wurden<br />

ein paar Gläser Rakı gekippt und Lieder gesungen. Man<br />

erzählte einander Geschichten von früher. Doch am nächsten<br />

Tag war die Melancholie wieder da, wenn die Erwachsenen<br />

Pause machten, erschöpft von ihrer Arbeit. Die<br />

älteren Frauen sangen ein ağıt, ein Klagelied über die vielen<br />

Toten. Aber über welche?<br />

Meine Kinder sind inzwischen acht und vier Jahre alt,<br />

und sie lieben die Erzählungen von meiner Kindheit. So<br />

bitten sie mich immer wieder die gleichen Geschichten zu<br />

erzählen. Gerne würde ich in ihre Köpfe schauen, um zu<br />

sehen, wie sie sich die Aprikosenbäume vorstellen.<br />

Erst als erwachsene Frau musste ich feststellen, dass<br />

nicht nur die schönen Geschichten existieren, die von<br />

Fröh lichkeit und Freiheit geprägt sind. Nach und nach<br />

entdeckte ich, dass die Menschen in diesem Dorf schreckliche<br />

Dinge gesehen und erlebt hatten, über die zu sprechen<br />

sie nicht in der Lage waren.<br />

Als ich zum ersten Mal schwanger war, beschlossen<br />

mein Mann und ich, in das Dorf meiner Großeltern zu<br />

reisen. Über dreißig Jahre lebte ich in der Annahme, dass<br />

meine Großeltern und ihre Vorfahren schon immer dort<br />

gelebt hatten. Auf dieser Reise erfuhr ich zum ersten Mal,<br />

dass das nicht stimmte. Es fühlte sich an, als ob ich aus<br />

9


einem tiefen Schlaf erwachen würde. Seither beschäftigen<br />

mich viele Fragen.<br />

Über die Geschichte, wie meine Großeltern in dieses<br />

Dorf kamen, wird seit Generationen geschwiegen. Oder<br />

wurde darüber gesprochen, aber ich verstand die Zusammenhänge<br />

nicht? So verschieden die Menschen im Dorf<br />

sind, so verschieden sind auch ihre Erzählungen, und die<br />

einzigen Zeitzeugen, die davon berichten könnten, sind<br />

längst nicht mehr am Leben.<br />

Es hat Zeit gebraucht, bis ich das Ganze fassen konnte.<br />

Ich musste sehr viel darüber recherchieren. Erst als ich das<br />

Gefühl hatte, das Geschehene zu verstehen, nahm ich mir<br />

vor, Baba, meinen Vater, damit zu konfrontieren. Es fiel<br />

mir schwer, abzuschätzen, wie er darauf reagieren würde.<br />

Würde er das Geschehene verleugnen? Mich als Lügnerin<br />

hinstellen?<br />

Im Nachhinein war es für uns beide, auch wenn es verspätet<br />

kam, sehr befreiend, darüber zu sprechen. Wir teilen<br />

uns diese schwere Last. Das hat uns nochmals ein<br />

Stück nähergebracht. Nun ist es mir ein Anliegen, diese<br />

tragische Geschichte an die nächste Generation weiterzugeben,<br />

damit sie nie vergessen geht. Das jahrzehntelange<br />

<strong>Schweigen</strong> hat dazu beigetragen, dass wir ein großes<br />

Stück unserer Identität und Kultur verloren haben. Selbst<br />

wenn wir die schrecklichen Dinge nicht am eigenen Leib<br />

erleben mussten.<br />

Natürlich wollte ich von Baba wissen, warum er nie mit<br />

uns darüber gesprochen hatte. Er habe nicht gewusst, wie.<br />

«Ich schäme mich, wenn ich darüber spreche. Wenn ich<br />

damals gelebt hätte, dann hätte ich mich dafür eingesetzt,<br />

dass es nie so weit gekommen wäre.»<br />

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So ähnlich ist es auch mir ergangen. Erst schämte ich<br />

mich. Dann fragte ich mich, warum niemand etwas dagegen<br />

unternommen hat.


cirestiş<br />

Ankunft<br />

1990<br />

Wenn die Straße zwölf Kilometer nach der großen Stadt<br />

Erzincan über die Brücke führt, rechts und links hohe<br />

Pappeln in die Luft ragen und dazwischen den Blick auf<br />

das stolze Munzur­Gebirge freigeben, weiß ich, dass wir<br />

bald ankommen. Wie eine hohe Mauer liegt der Berg vor<br />

uns. Keine Frage, dass die Welt hier aufhören muss.<br />

Der Munzur wirkt karg in seinem braunen Mantel.<br />

Nur Nene kennt die versteckten Ecken, wo Blumen und<br />

Kräuter aus dem Boden sprießen. So pflückt sie im Spätsommer<br />

Blumen in allen Farben, deren Blütenblätter sie<br />

isst. Als ich noch jünger war, schaute ich ihr mit einer<br />

Mischung aus Bewunderung und Respekt zu. Wie sie<br />

dasaß mit ihrem farbigen Strauß in der Hand. Mit ihren<br />

braunen, ledrigen Fingern rupfte sie die Blüten von den<br />

Stielen und schob sie in den Mund. Das Bild hatte etwas<br />

Hexenartiges. Aus ihrem dreieckigen Kopftuch, das den<br />

12


weißen Haaransatz freigab, ragten unten die hennagefärbten<br />

orangen Haarsträhnen raus. Dabei nannte sie die<br />

Namen der Blumen: «Das ist peygamber düğmesi.» Und<br />

schon verschwand die Blüte in ihrem Mund. «Die heißt<br />

karahindiba.» Sie zupfte an einem gelben Blütenkopf, der<br />

aussah wie Löwenzahn. «Die da nennen wir civan percemi.»<br />

Wir schauten ihr dabei wortlos zu und wussten nicht<br />

so recht, ob wir auch mal kosten sollten, als sie uns den<br />

Strauß zum Probieren hinstreckte. So mutig waren wir<br />

nicht. Ich war noch eine junge Hexe, die erst einmal alles<br />

beobachten musste.<br />

Rechts strömt der Fırat still und gemächlich an uns vorbei.<br />

Aus dem Fenster unseres in die Jahre gekommenen<br />

silbernen Mercedes erblicke ich ab und zu einzelne Lehmhäuser<br />

im gleichen Farbton wie die Berge. Auf den ersten<br />

Blick wirken sie verlassen. Niemand käme auf die Idee,<br />

dass am Ende dieser Straße ein kleines Dörfchen liegen<br />

könnte. Doch führt der Weg unweigerlich zum roten Haus<br />

mit den blauen Fensterläden. Es ist das einzige farbige<br />

Haus im ganzen Dorf.<br />

Nach vierundzwanzigstündiger Fahrt sind wir endlich<br />

da. Vor dem Haus steht schon erwartungsvoll und mit<br />

Tränen gefüllten Augen Nene. Leicht gebeugt, in einem<br />

geblümten Rock, nimmt sie uns herzlich in die Arme und<br />

gibt uns unzählige Küsse. Hinter ihr erscheint ein ebenfalls<br />

leicht gebückter und magerer Mann. Dede kommt<br />

weinend auf uns zu, und ehe er uns küsst, nimmt er sein<br />

cremefarbenes Béret ab. Mit dem Handrücken wischt er<br />

sich die Tränen ab. Unser Dede ist ein Meister im Fluchen.<br />

Vor Baba stehend beginnt er draufloszuschimpfen, dass<br />

er sie im Stich gelassen habe. Nachdem der Schwall von<br />

13


Vorwürfen beendet ist, nehmen sich Vater und Sohn in die<br />

Arme.<br />

Auf einmal sind alle Verwandten und Freunde da und<br />

umarmen und küssen uns. Yunus Emmi steht vorsichtig<br />

von der Bank auf, um uns zu begrüßen. Sein zahnloser<br />

Mund öffnet sich, um uns willkommen zu heißen. Ich weiß<br />

nicht, ob es daran liegt, dass er keine Zähne hat; gut möglich,<br />

dass er eine andere Sprache spricht – auf jeden Fall<br />

verstehe ich ihn kaum. Er gehört als treuer Geselle meines<br />

Dede zur Familie, obwohl er nicht mit uns verwandt ist.<br />

Seit ich denken kann, sitzen Yunus Emmi und Dede Seite<br />

an Seite auf derselben Bank im Schatten des Aprikosenbaumes.<br />

Sie hören gemeinsam die Nachrichten im Radio<br />

oder lachen über Dedes Witze.<br />

Drinnen wurde bereits auf einem silbernen runden<br />

Tablett für uns gedeckt. Wir setzen uns rundherum und<br />

bedecken unsere Beine mit einem Tuch. Es gibt kalte Joghurtsuppe<br />

und Fladenbrot dazu. Zwischen mir und<br />

meinen Cousinen und Cousins ist es wie immer. Wir gewöhnen<br />

uns so schnell aneinander, als ob kaum ein Jahr<br />

vergangen wäre. Wir werden zwar jedes Jahr älter und entwickeln<br />

uns weiter, aber die Beziehung zwischen uns bleibt<br />

unverändert. Voller Elan stürzen wir nach dem Essen hinaus<br />

ins Freie.<br />

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abuko<br />

Anatolisches Fondue<br />

2013<br />

Wir kommen am Flughafen in Erzincan an. Hier wartet<br />

Amca auf uns, um uns abzuholen. Für Felix ist es das erste<br />

Mal in Erzincan. Er weiß aber viel mehr über die Stadt<br />

als ich, jedenfalls, wenn es um Zahlen geht. Zum Beispiel<br />

erzählt er mir, dass Erzincan 145 859 Einwohner hat. «Das<br />

muss eine große Stadt sein.»<br />

Ich nahm Erzincan nie als eine Großstadt wahr. Ich definiere<br />

große Städte nicht über die Einwohnerzahl, sie<br />

müssen sich auch anfühlen wie eine Großstadt. Die Luft,<br />

die Menschen, das Essen sind in einer Großstadt anders.<br />

Ständig kommen sich Menschen zu nahe, rempeln einander<br />

an, und doch ist man einsam. Die Zeit scheint immer<br />

knapp zu sein. In Erzincan hingegen kann man umherschweifen,<br />

ohne jemanden anzustoßen. Vor den Geschäften<br />

trinken Ladenbesitzer gemütlich ihren çay. Warteschlangen<br />

existieren hier nur vor Banken.<br />

15


Felix verrät mir auch, dass Erzincan 1185 Meter über<br />

dem Meer liegt. «Das ist ziemlich hoch, und es herrscht<br />

ein kontinentales Klima.» Mir kam es nie so hoch gelegen<br />

vor. Vermutlich sind die Höhe und das kontinentale Klima<br />

schuld daran, dass die Menschen hier an einer chronischen<br />

Melancholie leiden, denke ich jetzt.<br />

Amca, fast zwei Meter groß, aber immer noch ein bisschen<br />

kleiner als mein Vater, steht im Eingangsbereich<br />

des Flughafens und hält Ausschau nach uns. Ich stelle<br />

mich dicht vor ihn und winke, um auf uns aufmerksam zu<br />

machen. Amca hat sich kaum verändert. Abgesehen von<br />

seinen ergrauten Haaren sieht er aus wie vor fünfzehn Jahren,<br />

als ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Es dauert eine<br />

Weile, bis er realisiert, wer wir sind. Wir nehmen uns<br />

schließlich in die Arme, und ich stelle ihm meinen Mann<br />

vor: «Das ist Felix.»<br />

Meine Familie hat die Begabung, ausländische Namen<br />

so auszusprechen, dass die Laute komplett verdreht sind.<br />

Von der Schreibweise ganz zu schweigen. Baba zum Beispiel<br />

hat meinen Mann auf seinem Handy als Fhelihx<br />

gespeichert. Wie er auf diese Schreibweise kam, ist mir bis<br />

heute ein Rätsel. Im Zweifelsfall setzt er lieber mal ein unnötiges<br />

h vor oder hinter einen Konsonanten. Amca hingegen<br />

spricht den Namen meines Mannes wie «Filiz» aus<br />

und gibt ihm zur Begrüßung zwei Küsse auf die Wangen.<br />

Als wir uns ins Auto setzen, ich auf den Beifahrersitz und<br />

Felix hinten, gibt dieser mir nebenbei zu verstehen, dass<br />

er nicht gerne von Männern geküsst werde. Nur bei Baba<br />

mache er eine Ausnahme.<br />

Im Auto planen wir, was wir in der Zeit, die wir hier verbringen<br />

werden, alles ansehen wollen. In den nächsten<br />

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Tagen wird Amca uns herumführen. Zuerst aber bringt er<br />

uns in die Wohnung meiner Eltern, die gerade in Izmir<br />

sind. Wir stellen unsere Sachen ab und gehen einen Stock<br />

tiefer. Meine Hala Nummer eins begrüßt uns an der Tür.<br />

Sie ist die älteste Schwester meines Vaters und seit dem<br />

Tod unserer Großmutter so etwas wie die Mutter für<br />

alle. Hala ist groß und schlank. Ihr weißes Haar hat sie zu<br />

einem Zopf geflochten. Als sie uns sieht, strahlen ihre<br />

blauen Augen. Aus Respekt küsse ich ihr die Hand und<br />

drücke sie an meine Stirn.<br />

«Oh, dein Bauch ist aber schon sehr groß. Es wird ein<br />

Mädchen, du hast einen runden Bauch. Wann ist es so<br />

weit?»<br />

«Das Baby kommt im Dezember.»<br />

Auch ihr stelle ich meinen Mann vor. Sie will wissen,<br />

was er beruflich macht.<br />

«Er ist Anwalt», antworte ich.<br />

«Arbeitet er für den Staat?», fragt sie.<br />

«Er arbeitet am Gericht. Also für den Staat.»<br />

«Ja, dann ist er ein anständiger Mann.»<br />

Ich bin froh, dass Felix als ein für den Staat tätiger und<br />

deshalb anständiger Mann den Test bei Hala besteht. Sie<br />

versucht, mit ihm zu kommunizieren, indem sie einfach<br />

weiterhin Türkisch spricht. Ob er sie versteht, kümmert<br />

sie nicht. Mit Händen und Füßen zeigt sie auf den Herd<br />

und fragt, ob er einen çay möchte. Ihre Schwiegertochter<br />

sei gerade beim Einkaufen, und wenn sie zurückkomme,<br />

werde sie für uns etwas zu essen kochen. Felix versucht,<br />

ihre Kommentare mit ein paar wenigen türkischen Wörtern<br />

zu erwidern, die vollkommen zu reichen scheinen.<br />

Ihre beiden Enkelinnen kommen dazu. Eine der beiden<br />

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lebt mit ihrer Familie in Istanbul und spricht sehr gut<br />

Englisch. So stellt sie sich und ihre Cousine auf Englisch<br />

vor. Endlich jemand, der mir die Übersetzerrolle abnimmt.<br />

Die beiden sind fünfzehn und achtzehn Jahre alt und knabbern<br />

gerade geröstete und gesalzene Sonnenblumenkerne.<br />

Das Knabbern von Sonnenblumenkernen ist so etwas<br />

wie ein Nationalsport. Die Schalen werden auf einen Haufen<br />

gespuckt. Dabei geht es darum, den größeren Haufen<br />

zu produzieren als die anderen.<br />

Es erinnert mich an meine Kindheit. Damals schaute<br />

ich den Erwachsenen stundenlang dabei zu, wie sie mit<br />

ihren Zähnen die Sonnenblumenkerne knackten. Das Innere<br />

wurde blitzschnell mit der Zunge herausgelöst und<br />

verzehrt. Die Schale wurde gespickt oder gespuckt. Mit<br />

Milchzähnen war das schwierig zu bewältigen. Aber als ich<br />

älter wurde, übte ich eifrig, um mithalten zu können. Zu<br />

Hause stand auf dem Salontisch jeweils eine Schale voll<br />

gerösteter Sonnenblumenkerne.<br />

Während die Mädchen fröhlich Sonnenblumenkerne<br />

knacken, ruft Hala ihnen zu, dass sie den Gästen auch welche<br />

anbieten sollen. Also hält die Ältere Felix die Schale<br />

hin. Er schaut ein bisschen misstrauisch, nimmt dann aber<br />

anstandshalber ein paar Kerne in die Hand. Da er noch nie<br />

zuvor welche gegessen hat, wirft er sie sich samt Schale in<br />

den Mund und kaut umständlich darauf herum. Die Mädchen<br />

sind schockiert und starren ihn mit offenem Mund<br />

an, als ob er von einem fremden Planeten kommen würde.<br />

Dann beginnen sie zu kichern, so sehr amüsiert es sie,<br />

dass ein Mensch nicht weiß, wie man Sonnenblumenkerne<br />

isst. Ich greife ein, indem ich vormache, wie man die<br />

Kerne zwischen den Zähnen knackt.<br />

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«Essen», ertönt es von innen. Der Sohn von Hala hat<br />

kelle besorgt. Entweder liegt es an der Schwangerschaft<br />

oder ich bin schon zu europäisch geworden, aber den Anblick<br />

des Schafskopfs ertrage ich schlecht. Früher aß ich<br />

mit Nene gelegentlich kelle. Besonders das Gehirn, das<br />

wir mit einem Teelöffel vorsichtig rauslöffelten, soll sehr<br />

gesund sein. Wir sind erleichtert, als wir die Alternative<br />

sehen.<br />

«Für euch gibt es babuko!», sagt Hala und lächelt uns<br />

dabei an.<br />

«Babuko ist anatolisches Fondue», erkläre ich Felix.<br />

«Und wo ist der Käse?»<br />

«Kein Käse. Die Brotstücke schwimmen in einer Joghurtsauce<br />

mit extra viel Knoblauch und geschmolzener<br />

Butter.»<br />

Während wir die Brotstücke aus dem ausgehöhlten<br />

Brotlaib fischen, denke ich an Ricola­Werbung und muss<br />

schmunzeln. «Wer hat’s erfunden? Die Anatolier.»<br />

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