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Ende gut, alles gut!

Wie unterschiedliche Charaktertypen ihr Lebensende erleben

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Holm Roch<br />

<strong>Ende</strong> <strong>gut</strong> - <strong>alles</strong> <strong>gut</strong>!<br />

Gedanken über das Älterwerden<br />

2


Holm Roch: <strong>Ende</strong> <strong>gut</strong> - <strong>alles</strong> <strong>gut</strong>!<br />

Gedanken übers Älterwerden.<br />

© Alle Rechte an Text und Zeichnungen beim Autor.<br />

3


Vorwort<br />

Älterwerden ist ein lebenslanger Vorgang. Wir<br />

altern ab unserer Geburt, vielleicht sogar<br />

schon vorher. Am Anfang des Lebens steht<br />

das Altern ganz im Zeichen des Voranschreitens,<br />

am <strong>Ende</strong> steht es eher im Zeichen des<br />

Rückschrittes. In der ersten Phase benutzen<br />

wir gern das Wort „schon“. Tina kann schon<br />

stehen, Fritz kann schon sprechen, Fred kann<br />

schon mit dem Fahrrad fahren.<br />

Nach der Lebensmitte kommt dann zunehmend<br />

das Wörtlein “noch“ ins Spiel ich. Ich<br />

kann noch die Treppe in die erste Etage hochsteigen<br />

(bald aber kann ich es nicht mehr), ich<br />

komme noch ohne Hörgerät aus (aber bald<br />

werde ich eins brauchen), ich kann noch mit<br />

dem Auto fahren (wer weiß, wie lange noch).<br />

Die zunehmenden Einschränkungen auf körperlichem<br />

Gebiet schließen jedoch ein Weiterkommen<br />

in anderen Lebensbereichen nicht<br />

aus. Ich kann zwar körperlich unbeweglicher<br />

werden, aber gleichzeitig geistig beweglich<br />

bleiben und Neues hinzugewinnen.<br />

4


Wann wir von der einen Phase in die andere<br />

umsteigen, wann also die Lebensmitte erreicht<br />

wird, ist von Person zu Person verschieden. Es<br />

bleibt aber keiner vom Altern verschont, das<br />

„Forever Young“ ist eine Wunschvorstellung<br />

und wenn wir versuchen, beispielsweise durch<br />

Kleidung und bestimmte Verhaltensweisen<br />

jünger zu erscheinen als wir sind, kann dies<br />

peinlich wirken.<br />

Jugend und Alter zeichnen sich durch unterschiedliche<br />

Lebensgefühle aus. Junge Menschen<br />

haben das Leben noch vor sich und wollen<br />

hinaus in die große weite Welt. Alte Menschen<br />

blicken gern zurück und neigen dazu,<br />

Kindheit und Jugend zu verklären nach dem<br />

Motto: Früher war <strong>alles</strong> besser.<br />

5


6


Jeder altert anders.<br />

Wir alle altern, aber wir tun es auf sehr unterschiedliche<br />

Weise. Das hat mich auf die Idee<br />

gebracht, diesen Prozess einmal typisierend zu<br />

beschreiben. Typologien, also Versuche, Menschen<br />

in bestimmte Gruppierungen einzuteilen,<br />

hat es immer gegeben. Lange Zeit unterschied<br />

man zwischen cholerischen, melancholischen,<br />

sanguinischen und phlegmatischen<br />

Charakteren. Heute sind ganz unterschiedliche<br />

Typologien im Gebrauch. Die meisten versuchen,<br />

die Fülle der Möglichkeiten auf vier<br />

Grundtypen zu reduzieren. Bekannt sind beispielsweise<br />

die von dem Psychologen Fritz<br />

Riemann in seinem Buch „Grundformen der<br />

Angst“ als schizoid, depressiv, zwanghaft und<br />

hysterisch bezeichneten Typen. Riemanns Bezeichnungen<br />

sind allerdings stark auf Belastungen<br />

und mögliche Erkrankungen hin ausgerichtet.<br />

Deshalb verwende ich lieber eine<br />

Einteilung, die mehr das Positive, also die besonderen<br />

Stärken, hervorhebt: Denker, Fühlender,<br />

Arbeiter und Spieler.<br />

Die folgenden Kapitel fragen danach, wie diese<br />

vier Typen ihr Altern erleben und wie man<br />

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die jeweiligen Grenzen erweitern kann. Die<br />

Beschreibung der einzelnen Typen habe ich<br />

noch durch Vorschläge für passende typgerechte<br />

Traueranzeigen ergänzt. Dabei handelt<br />

es sich um reine Phantasieprodukte mit satirischem<br />

Unterton. Außerdem sind noch ein<br />

paar Cartoons zum Thema Älterwerden beigefügt.<br />

Weil ich lange in der Kirche gearbeitet habe<br />

und mich dort zu Hause fühle, frage ich auch,<br />

was Religion und Kirche für die einzelnen<br />

Typen bedeuten.<br />

1. Wie der Denker altert<br />

Er sieht sich als Mittelpunkt der Welt, losgelöst<br />

von Beziehungen. Diese erlebt er als bedrohlich<br />

und bezeichnet sie gern als "Gefühlsduselei".<br />

So etwas hat er nicht nötig, denn er<br />

ist sich selbst genug, ein Einzelkämpfer, der<br />

es auch mit Alter Krankheit und Tod aufnimmt.<br />

Der Denker mag keine Widersprüche, er hat<br />

immer recht. Er streitet sich gern, aber nur um<br />

8


seine Überlegenheit zu beweisen. Seine Rechthaberei<br />

bewirkt dass andere sich von ihm abwenden,<br />

was seine Einsamkeit verstärkt, aber<br />

sein Selbstbewusstsein hebt. Er ist eben immer<br />

„einsame Klasse“, in der doppelten Bedeutung<br />

dieses Wortes. Manchmal fällt der Denker<br />

auch auf eine Verschwörungstheorie herein,<br />

weil sie überzeugend klingt und sein Bedürfnis<br />

nach Erklärungen befriedigt.<br />

Wer auf sich selbst bezogen ist, hat logischerweise<br />

Probleme mit allem, was ihn selbst bedroht<br />

oder verändert. Am liebsten wäre es ihm,<br />

wenn es kein Älterwerden gäbe. Sterben zu<br />

müssen ist für den Denker eigentlich eine Unverschämtheit,<br />

weil es ihm das Wichtigste, was<br />

es auf Erden gibt, nämlich sein Ich wegnimmt.<br />

Damit muss man sich leider abfinden, aber es<br />

bleibt wenigstens noch die heroische Haltung<br />

und dass man tapfer gekämpft hat. Typisch für<br />

den Denker könnte der folgende Satz von Bazon<br />

Brock sein: "Der Tod muss abgeschafft<br />

werden. Diese verdammte Schweinerei muss<br />

aufhören!" Leider ist es noch nicht soweit, aber<br />

die pharmazeutische Industrie wird schon bald<br />

ein Mittel gegen den Tod bereitstellen. Einstweilen<br />

hilft nur, deutliche Spuren zu hinterlas-<br />

9


sen, ein großes Erbe beispielsweise, eigene<br />

Werke wie z.B. Bücher, erfolgreiche Nachkommen<br />

und ein eindrucksvolles Grabmal.<br />

Zugewinnchancen<br />

Kontakt zu anderen suchen, sich selbst relativieren<br />

indem man sich nicht so wichtig<br />

nimmt, sich aus der Sicht von anderen wahrnehmen<br />

und vor allem: Kontakt, Kontakt,<br />

Kontakt. Also auf ins nächste Bürgerhaus, in<br />

den Seniorenclub oder in die Dorfkneipe.<br />

Dort dann aber nicht die eigenen Weisheiten<br />

verkünden, die ohnehin jeder schon kennt,<br />

sondern zuhören und abwägen. Und vor allem:<br />

Sich auch mal knuddeln lassen.<br />

Und die Religion<br />

Der Denker erlebt sich als Gott-ähnlich (allwissend<br />

und allmächtig) und neigt dazu, sich<br />

mit ihm zu verbünden. Gern definiert er sich<br />

auch als “Stellvertreter Gottes auf Erden“, der<br />

keine andere Sichtweise neben sich duldet.<br />

Berufe wie Lehrer, Pfarrer oder Priester kommen<br />

dieser Einstellung entgegen. Manchmal<br />

wird er auch zum überzeugten Atheisten, der<br />

wissenschaftlich beweisen kann, dass jede<br />

Religion schädlich ist.<br />

10


Wir trauern um<br />

Prof. Dr. Manfred Brainius<br />

* 12.7.1949 + 24.3.2020<br />

Begründer des Instituts<br />

für aktivitätszentrierte Vitaldynamik<br />

an der Ernst-Hamann-Universität Bochum<br />

zugleich mehrfacher deutscher Meister<br />

im Einer-Kajak<br />

Rektor und Senat der Ernst-Hamann-Universität<br />

Traueranzeige für einen Denker (Entwurf)<br />

11


2. Wie der Fühlende altert<br />

Wie die Bezeichnung sagt, lebt der Fühlende<br />

gefühlsbetont. In eine mitfühlende Gemeinschaft<br />

eingebettet zu sein, ist ihm ein Grundbedürfnis.<br />

Allein zu sein oder allein gelassen<br />

zu werden, ist ihm ein Graus. Deswegen stürzt<br />

er sich in immer neue Beziehungen, betätigt<br />

sich als Helfer in allen Notlagen, erwartet aber<br />

auch, dass andere sich ständig um ihn kümmern<br />

und ihn nicht allein lassen<br />

Fühlende genießen gefühlvolle Bilder und Geschichten.<br />

Sie sind begeisterte Abnehmer von<br />

Kitschprodukten, Fernsehgeschichten, Romanen<br />

und Schlagern in denen am <strong>Ende</strong> <strong>alles</strong> <strong>gut</strong><br />

ausgeht.<br />

Schwierig wird für Fühlende vor allem die<br />

drohende Einsamkeit, der Rückgang von Kontakten,<br />

der Verlust liebgewordener Menschen.<br />

Da kann dann auch schnell eine Jammerstimmung<br />

aufkommen nach dem Motto: Warum<br />

kümmert sich niemand um mich und womit<br />

habe ich das verdient. Mein Enkelkind hat<br />

mich nun schon drei Wochen lang nicht mehr<br />

besucht, obwohl ich ihm doch jahrelang jeden<br />

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Wunsch von den Augen abgelesen habe.<br />

Schrecklich!<br />

Zugewinnchancen<br />

Sich mit der zunehmenden Einsamkeit abfinden,<br />

sie nach Möglichkeit genießen. In einer<br />

stillen Ecke ein Buch lesen, ein Bild betrachten<br />

oder Musik hören, ohne sich gleich wieder<br />

ins Beziehungsgewühl zu stürzen.<br />

Und die Religion<br />

Sie kommt den Fühlenden entgegen indem sie<br />

Trost in der Einsamkeit anbietet und das auf<br />

Erden erlittene Ungemach im Jenseits auszugleichen<br />

verspricht. Vom Jammertal zum<br />

Freudensaal! Es ist sicher kein Zufall, dass<br />

sich in kirchlichen Gruppen und Kreisen überdurchschnittlich<br />

viele Fühlende und Mitfühlende<br />

antreffen lassen.<br />

Im Sonntagsgottesdienst erlebe ich oft, wie<br />

immer nur das eine verkündet wird: Gott hilft<br />

den Mühseligen und Beladenen. Das ist nicht<br />

falsch und hat seinen historischen Grund in der<br />

Hinwendung Jesu zu den Ausgestossenen und<br />

Verachteten seiner Zeit, aber was ist mit den<br />

Großkotzigen, den Großmäulern und Trump-<br />

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Aus übervollem Herzen<br />

rinnen unsre Tränen.<br />

Ach, wärst Du noch bei uns<br />

und stilltest unser Sehnen!<br />

In tiefer Trauer nehmen wir Abschied von unserer Tanzschwester<br />

Josefine Hinterhuber<br />

2.3.1934 + 12.12.2019<br />

Die Mitglieder<br />

der Senioren-Tanzgruppe „Abendfrieden“<br />

im Maria-Magdalena Altersheim zu Neustadt/Saale<br />

Traueranzeige für ein Fühlende (Entwurf)<br />

14


Typen? Müsste denen nicht endlich einmal gesagt<br />

werden, dass sie die Klappe halten und<br />

Bescheidenheit lernen sollten? Aber nein, Kirche<br />

– wie ich sie erlebe - definiert sich eher<br />

einseitig als eine Wohlfühlgemeinschaft.<br />

Viele Fühlende finden auch in religiösen Sondergemeinschaften<br />

und bei Esoterikern ein Zuhause.<br />

Da verbindet sich die Gefühlsebene mit<br />

der Überzeugung zu den Auserwählten zu gehören<br />

und etwas ganz Besonderes zu sein. Das<br />

tut <strong>gut</strong>!<br />

3. Wie der Arbeiter altert<br />

Anders als der Denker ist der Arbeiter eher<br />

zielorientiert. Er ist ein Macher und kein Doktor<br />

Allwissend. Dabei kann er durchaus kooperativ<br />

sein, Hauptsache es wird etwas erreicht.<br />

Veränderungen jeder Art sind für ihn ein<br />

Graus. Am besten wäre es, wenn immer <strong>alles</strong><br />

beim Alten bliebe, denn das hat sich bewährt.<br />

So ist der Arbeiter durch und durch ein Traditionalist,<br />

skeptisch gegenüber allen Neuerungen<br />

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vor allem wenn sie von jüngeren Menschen<br />

aufgebracht werden. Früher war nun einmal<br />

<strong>alles</strong> besser und das Herumgefingere auf den<br />

Smartphones kann einem ganz schön auf die<br />

Nerven gehen.<br />

Das Altern bringt ständig neue Herausforderungen<br />

und neue Aufgaben mit sich. Die müssen<br />

tatkräftig angepackt werden. Man braucht eine<br />

Brille, ein Gebiss oder ein Hörgerät, aber für<br />

welches Modell soll man sich entscheiden? Angesichts<br />

zu vieler Möglichkeiten hilft es, sich<br />

an Bewährtes zu klammern und allen neumodischen<br />

Kram von sich zu weisen.<br />

Meist ist der Arbeiter aus Angst vor dem Chaos<br />

sehr ordnungsliebend. Alles muss deutlich geregelt<br />

sein. Da hat das Testament und die Patientenverfügung<br />

ihren festen Platz im Notfallkoffer<br />

und wird auch ständig an die aktuelle<br />

Situation angepasst. Auch der Ablauf der eigenen<br />

Bestattung ist bereits <strong>gut</strong> durchdacht und<br />

der Ablauf der Trauerfeier wurde vorsorglich<br />

genau festgelegt. Da kann eigentlich nichts<br />

mehr schief gehen und man kann - wenn es<br />

sich schon nicht vermeiden lässt - diese Welt in<br />

Anstand und Würde verlassen<br />

16


Am 1. April verstarb nach langer,<br />

schwerer Krankheit Herr<br />

Dipl. Ing. Theodor-Alexander Festus<br />

1943 - 2020<br />

Mit sicherem Blick und ordnender Hand hat er mehr<br />

als 50 Jahre lang unseren mittelständischen Familienbetrieb<br />

durch alle Krisen geführt und in seiner<br />

führenden Weltmarktposition erhalten.<br />

Dafür danken ihm Belegschaft und Angehörige.<br />

Hürzenicher Metallwerke GmbH<br />

Traueranzeige für einen Arbeiter (Entwurf)<br />

17


Zugewinnchancen<br />

Neues ausprobieren, das Spielerische lieben<br />

lernen, auch mal Blödsinn machen, sich verstellen,<br />

Theater spielen. Das Kind in sich aufleben<br />

lassen. Nicht <strong>alles</strong> ernst nehmen.<br />

Und die Religion<br />

Sie bietet mit ihren Ritualen und Formalitäten<br />

eine gewisse Hilfe, sorgt sie doch für Ordnung<br />

und Beständigkeit. Aber bitte keine neuen<br />

Gottesdienstformen oder gar neue Kirchenlieder!<br />

Am besten bilden wir gleich mal eine Arbeitsgruppe,<br />

die allen neumodischen Kram aus<br />

dem Gesangbuch entfernt.<br />

Denker und Arbeiter können leicht verwechselt<br />

werden. Sie haben jedoch einen unterschiedlichen<br />

Blickwinkel. Der Denker blickt<br />

in die Tiefe. er will wissen „was die Welt im<br />

Innersten zusammenhält“. Der Arbeiter blickt<br />

nach vorn. Er will ein Ziel erreichen, er ist<br />

kein Theoretiker sondern ein Praktiker. Als<br />

solcher kann er auch <strong>gut</strong> mit anderen zusammenarbeiten<br />

Hauptsache man hat ein gemeinsames<br />

Ziel. Für den Denker ist Kooperation<br />

dagegen immer schwierig weil ja immer nur<br />

einer recht haben kann, nämlich er selbst.<br />

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Zugewinnchancen<br />

Das Spielerische lieben lernen, auch mal Blödsinn<br />

machen, sich verstellen, Theater spielen.<br />

Das Kind in sich aufleben lassen. Nicht <strong>alles</strong><br />

ernst nehmen.<br />

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4. Wie der Spieler altert<br />

Der Spieler liebt die Abwechslung. Wie ist die<br />

Welt doch neu und schön, jeden Tag anders<br />

und niemals langweilig! Man muss sich nur<br />

einfach hineinstürzen in dieses bunte Treiben.<br />

Was gestern war, ist heute längst vorbei - was<br />

geht mich also mein Geschwätz von gestern<br />

an?<br />

Andere haben mit solch flatterhaften Typen<br />

Probleme. Sie rechnen damit, dass immer derselbe<br />

Mensch vor ihnen steht, aber der Spieler<br />

ist jeden Tag ein anderer.<br />

Der Spieler hat mit dem Älterwerden kaum<br />

Probleme, denn für ihn ist das Leben ohnehin<br />

eine abenteuerliche Reise, die ständig neue<br />

Überraschung bereit hält. Neugierig wie er<br />

nun mal ist, lässt er sich von jeder neuen Wendung<br />

überraschen und findet sein Vergnügen<br />

daran. Natürlich ist es schmerzhaft, dass er<br />

gestern von Leiter gestürzt ist, aber dafür hat<br />

er nach dem Arztbesuch die neue Apothekerin<br />

kennengelernt. Sie kommt aus Vietnam und<br />

hat ihm einiges über ihre Heimat erzählt. Da<br />

könnte er demnächst einmal hinfahren.<br />

20


Und die Religion<br />

Weil man so vieles ausprobieren kann, hat der<br />

Spieler meist eine bunte religiöse Biografie.<br />

Von frommen oder unfrommen Eltern geboren,<br />

findet er später links oder rechts weitab<br />

der Mitte eine weltanschauliche Heimat, interessiert<br />

sich eine Zeit lang für Anthroposophie<br />

oder für buddhistische Meditationsformen,<br />

heiratet eine Veganerin und beendet sein Leben<br />

schließlich im katholischen Seniorenheim<br />

St. Antonius. Nach dem Tod erwarten ihn voraussichtlich<br />

neue Abenteuer, auf die er sich<br />

schon jetzt freuen kann.<br />

Als kürzlich hier in der Nähe eine Pfarrerin<br />

starb, schrieb eine Kollegin in einem Nachruf,<br />

die Verstorbene würde jetzt im Himmel mit<br />

Jesus tanzen. Tanzen mit Jesus? Das ist doch<br />

was - vielleicht sogar Tango!<br />

Zugewinnchancen<br />

Innehalten, sich besinnen, zur Ruhe kommen,<br />

die eigenen Grenzen akzeptieren.<br />

21


Fürchte den Tod nicht,<br />

das Leben geht weiter.<br />

Der „Bunte Harry“<br />

ist von uns gegangen<br />

1962 - 2019<br />

Sein irdisches Leben war farbig und heiter.<br />

Jetzt geht es woanders weiter.<br />

Wir wünschen eine <strong>gut</strong>e Reise.<br />

Lucy mit Hund Peggy<br />

Traueranzeige für einen Spieler (Entwurf)<br />

22


Das Problematische an jeder Typologie ist: Es<br />

gibt nur eine bestimmte Anzahl Schubladen,<br />

in welche die Menschen gesteckt werden. Das<br />

führt immer zu Verallgemeinerungen, weil ja<br />

letztlich jeder ein Original ist und seine eigene<br />

Schublade bräuchte. Schwierig ist auch, dass<br />

man auf einen Typ festgelegt wird und Veränderungen<br />

kaum im Blick sind. Ein Schizoider<br />

(um bei einer Kategorie aus Riemanns Typenlehre<br />

zu bleiben) ist nun einmal schizoid und<br />

nicht montags schizoid und dienstags zwanghaft.<br />

Auch das ist eine Vereinfachung.<br />

In diesem Büchlein kommt hinzu, dass ich aus<br />

der Sicht eines Mannes schreibe. Frauen würden<br />

wahrscheinlich ganz andere „Schubladen“<br />

benutzen. Ich rate also dazu, meine Beobachtungen<br />

mit Vorsicht zu genießen und einfach<br />

mal zu schauen, wie andere mit dem unvermeidlichen<br />

Alterungsprozess umgehen. Vielleicht<br />

tauchen dabei noch ganz neue Typen<br />

auf.<br />

Spannend wird es, wenn verschiedene Typen<br />

aufeinander stoßen. Das gibt reichlich Stoff<br />

für Filme und Romane. Einerseits ergänzen<br />

sich die verschiedenen Typen, andererseits<br />

23


meint jeder erst einmal die einzig richtige<br />

Sicht der Dinge zu haben.<br />

Hier zwei Beispiele wie so ein Zusammentreffen<br />

aussehen könnte:<br />

Ein Denker und eine Fühlerin gehen im<br />

Wald spazieren. Es ist Frühling.<br />

Er: „Das Gras da vorne ist jetzt schon mindestens<br />

doppelt so hoch wie vergangene Woche.<br />

Es ist auch deutlich wärmer geworden, mindestens<br />

16 Grad. Gleich mal nachschauen." Er<br />

kramt sein Smartphone hervor und verkündet:<br />

"Nein, es sind sogar 17 Grad. Das liegt sicher<br />

an dem Zwischenhoch, in dessen Einflussbereich<br />

wir uns seit voriger Woche befinden."<br />

Sie: „Schau mal die Blumen da vorn. Toll! Ich<br />

könnte sie alle umarmen. Dass wir das erleben<br />

dürfen! (Sie versucht, ihn zu umarmen, wird<br />

aber sanft zurückgewiesen). Nur der Holzstapel<br />

links gefällt mir nicht. Die armen Bäume,<br />

musste man die wirklich alle absägen?“<br />

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Ein Arbeiter und eine Spielerin gehen im<br />

Wald spazieren. Es ist Frühling.<br />

Er: „Schau mal, die abgesägten Baumstämme<br />

da, wie korrekt die gestapelt sind. Das ist wichtig.<br />

Es darf ja keiner herunterrutschen. Die<br />

Kennzeichnung machen sie leider immer noch<br />

mit der Sprühdose. Würde man stattdessen<br />

Mikrochips einsetzen, wüsste die Zentrale jederzeit,<br />

welcher Stamm sich gerade wo befindet.<br />

Das würde die Ablaufplanung ungemein<br />

erleichtern.“<br />

Sie: „Da oben der Vogel, was für ein buntes<br />

Federkleid der hat? Fast die gleichen Farben<br />

wie mein letztes Faschingskostüm. Das werde<br />

ich übrigens im kommenden Jahr nicht mehr<br />

anziehen. Vielleicht gehe ich das nächste Mal<br />

als Clown, vielleicht auch als Kanzlerin.“<br />

Wer mag, kann sich noch andere derartige Situationen<br />

ausdenken. Die Beteiligten werden sie<br />

entweder als Bereicherung oder als Infragestellung<br />

erleben. Wenn man darauf verzichtet, andere<br />

Lebensstile zu bekämpfen, gibt es die<br />

Chance, einen persönlichen Zugewinn zu erzielen.<br />

Warum soll sich der Arbeiter nicht einiges-<br />

25


vom Spieler und der Denker vom Fühlenden<br />

abgucken.<br />

Dass wir ins totale Gegenteil unserer bisherigen<br />

Einstellungen verfallen, ist dabei kaum zu<br />

erwarten. Auch dass wir alle möglichen Eigenheiten<br />

gleichstark vertreten, dürfte kaum eintreten.<br />

Es wäre auch ziemlich langweilig, unter<br />

lauter Gleichen zu leben.<br />

So wird wohl jeder auch weiterhin die mit dem<br />

Alter anfallenden Veränderungen und Aufgaben<br />

auf eigene Weise angehen. Wahrzunehmen<br />

wie es andere machen, erweitert die eigenen<br />

Möglichkeiten. Das Ergebnis könnte so etwas<br />

wie Altersweisheit oder Altersmilde sein und<br />

das ist das Höchste, was wir Menschen im Leben<br />

erreichen können.<br />

26


Über die Altersmilde<br />

Junge Menschen gebärden sich oft radikal. Das<br />

müssen sie auch, denn sie wollen selbst Erwachsene<br />

werden und dazu müssen sie sich<br />

von ihren Eltern und von deren Ansichten lösen.<br />

Das geht selten ohne Streit. Ich habe damals<br />

meinen Eltern immer wieder vorgehalten,<br />

dass sie Adolf Hitler gewählt haben. Diesen<br />

Vorwurf wollten sie nicht stehen lassen und<br />

sagten einfach: “Was hätten wir denn sonst tun<br />

sollen?“ Abgenommen habe ich Ihnen das damals<br />

nicht, denn für mich war völlig klar, dass<br />

kein vernünftiger Mensch diesen Hitler hätte<br />

wählen dürfen.<br />

Im Laufe meines Lebens habe ich dann doch<br />

eine etwas mildere Einstellung gegenüber meinen<br />

Eltern entwickelt. Dass ihre Entscheidung<br />

falsch war, davon bin ich nach wie vor überzeugt.<br />

Aber ich sehe heute deutlicher ihren begrenzten<br />

Handlungsspielraum. Im deutschen<br />

Kaiserreich aufgewachsen, autoritär erzogen<br />

und an Gehorsam gewohnt – mein Vater war<br />

Postbeamter – waren sie “untertan der Obrigkeit".<br />

Dass man diese Obrigkeit abwählen oder<br />

auf andere Weise beseitigen könne, war ihnen<br />

27


völlig fremd. So etwas machte man nicht! Wer<br />

ihnen vorhält, sie hätten doch auch Widerstandskämpfer<br />

werden können, übersieht, dass<br />

sie diese Möglichkeit nicht im Blick hatten.<br />

(Umso gewichtiger ist es, dass andere trotzdem<br />

diesen Weg eingeschlagen haben). Aber<br />

hätte ich mich anstelle meiner Eltern wirklich<br />

anders verhalten? Wer sich solchen Fragen<br />

stellt, wird wohl auch gegenüber politischen<br />

Irrtümern vergangener Zeiten zurückhaltender<br />

urteilen. Allerdings: Alles zu verstehen suchen<br />

bedeutet nicht <strong>alles</strong> zu verzeihen! Fehler muss<br />

man nicht wiederholen, man kann daraus lernen.<br />

Altersmilde scheint mir eine Schwester von<br />

Altersweisheit zu sein. Sie ist das Gegenteil<br />

von „früher war <strong>alles</strong> besser“ und von starrem<br />

Beharren auf Vergangenem. Wir lernen täglich<br />

etwas dazu und diese stete Weiterentwicklung<br />

gibt es auch, wenn gleichzeitig andere Lebensprozesse<br />

in umgekehrte Richtung verlaufen,<br />

wenn wir z.B. gebrechlicher werden.<br />

28


29


Altersmilde braucht man auch gegenüber sich<br />

selbst. Im Laufe meines langen Lebens habe<br />

ich manches falsch gemacht, habe andere Menschen<br />

unnötig verletzt, habe ihnen nicht zugehört<br />

und ihnen gegenüber wenig Verständnis<br />

gezeigt. Das tut mir leid, ist aber nicht mehr<br />

rückgängig zu machen. Ich kann nur mein Bedauern<br />

äußern und auf Vergebung hoffen. Das<br />

zuzugeben ist schon ein wichtiger Schritt in<br />

Richtung Altersweisheit. Oft gelingt dieser<br />

Schritt leider erst, wenn die anderen nicht mehr<br />

erreichbar sind, weil sie nicht mehr leben.<br />

Dann ist er Teil der Trauerarbeit und die kann<br />

richtig anstrengend sein.<br />

Wenn im Alter Grenzen verschwimmen, benötigt<br />

man unbedingt Elemente von Standhaftigkeit.<br />

Werte und Einstellungen, die für mich<br />

grundlegend sind, werde ich auch als alter<br />

Mensch nicht verleugnen. Schon gar nicht nach<br />

dem Motto, dass jeder auf seine Weise schon<br />

irgendwie recht hat. Wenn letztlich <strong>alles</strong> egal<br />

ist, wofür hätte ich dann so und nicht anders<br />

gelebt?<br />

30


In Sachen Toleranz mag es von Person zu Person<br />

eine mehr oder weniger große Bandbreite<br />

geben, aber es gibt eben auch Überzeugungen<br />

und Einstellungen, die ich ablehne und gegen<br />

die ich mich zur Wehr setze.<br />

Als Student bin ich 1962 in Israel gewesen und<br />

habe dort in einem Kibbuz in der Nähe des<br />

Gazastreifens Wasserleitungen verlegt. Als ich<br />

zurück kam, war aus mir ein totaler Israel-Fan<br />

geworden. Wie die Menschen dort aus einer<br />

Halbwüste Ackerland machten, hatte mich total<br />

begeistert. Immer wenn ich vor unserem<br />

Studentenwohnheim in Mainz den Rasen mähen<br />

musste, habe ich als erstes einen David-<br />

Stern hineingemäht und dann ein paar Stunden<br />

gewartet, bevor ich weiter mähte. Der Stern<br />

war noch wochenlang zu sehen und meine arabischen<br />

Mitstudenten waren darüber nicht gerade<br />

erfreut.<br />

Heute verurteile ich die israelische Siedlungspolitik.<br />

Kein Land darf sich ein Nachbarland,<br />

aneignen. Das gilt für die Krim ebenso wie für<br />

das Westjordanland. Ich kritisiere also nicht<br />

Israel, ein Land das ich nach wie vor schätze<br />

und zu dem ich als Deutscher eine besondere<br />

31


Beziehung habe, ich kritisiere aber die israelische<br />

Siedlungspolitik und lasse mich daran<br />

auch nicht irre machen, wenn meine Position<br />

als antisemitisch bezeichnet wird.<br />

Seit vielen Jahren unterstütze ich eine Hilfsorganisation,<br />

die unter der Überschrift „Ferien<br />

vom Krieg“ gemeinsame Ferienlager von arabischen<br />

und israelischen Kindern organisiert.<br />

Ein kleiner Schritt hin zu mehr Verständigung!<br />

Von solch einer Position möchte ich auch im<br />

Alter nicht abrücken. Sie ist einfach ein Teil<br />

von mir.<br />

Wenn Lebenskreise enger werden<br />

Mit zunehmenden Alter wird der eigene Aktionsradius<br />

wieder kleiner. Eben noch stand uns<br />

die ganze Welt offen, aber jetzt machen wir<br />

nur noch im eigenen Land Urlaub, weil sich<br />

beim Bergwandern in Südtirol gezeigt hat,<br />

dass ich nicht mehr trittsicher genug bin, um<br />

über Geröll zu steigen. Es wäre eine große<br />

Dummheit, es trotzdem zu versuchen. Auch<br />

die Gefahr eines Schlaganf<strong>alles</strong> fern der Hei-<br />

32


mat hält mich davon ab, vor dem Heuschnupfen<br />

an die türkische Südküste zu fliehen, wie<br />

ich das zehnmal hintereinander getan habe.<br />

Mit Sicherheit wird sich der Aktionsradius mit<br />

zunehmendem Alter weiter verringern bis er<br />

sich am Schluss auf die eigene Wohnung, das<br />

eigene Zimmer und am <strong>Ende</strong> auf ein Pflegeoder<br />

Krankenbett beschränkt. Vielleicht kommen<br />

auch noch körperliche Behinderungen<br />

oder permanente Schmerzen hinzu. Wie das<br />

sein, wird kann ich jetzt noch nicht beurteilen,<br />

denn ich bin – Gott sei Dank – bis jetzt davon<br />

verschont geblieben.<br />

Dies <strong>alles</strong> müssen wir ertragen weil es zum<br />

Leben dazu gehört und weil die angenehmen<br />

Seiten desselben recht ungleich verteilt sind.<br />

Alt und Jung in der Gesellschaft<br />

Über Jahrtausende hinweg kam den Alten ein<br />

besonderes Gewicht zu. Dies lag hauptsächlich<br />

daran, dass Wissen von den Alten an die<br />

Jungen weitergegeben wurde. Wie man ein<br />

Pferd anschirrt und wie man einen Pflug bedient,<br />

konnte ein Heranwachsender nur von<br />

einem Älteren erfahren. Heute verläuft der<br />

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Wissenstransfer in umgekehrter Richtung.<br />

Wenn Opa nicht weiß, wie man ein Smartphone<br />

auf die Werkseinstellungen zurücksetzt,<br />

muss er seinen Enkel fragen.<br />

Hinzu kommt, dass Wissen heute freier zugänglich<br />

ist, während es früher sorgsam gehütet<br />

wurde. Ein typisches Beispiel dafür ist die<br />

sexuelle Aufklärung. Wenn ich als Fünfjähriger<br />

meine Eltern fragte, wie denn die Babys in<br />

den Bauch ihrer Mutter kommen, bekam ich<br />

die Antwort: „Das brauchst du noch nicht zu<br />

wissen!“ Ich musste mir also die gewünschten<br />

Informationen klammheimlich aus einem Gesundheitslexikon<br />

besorgen. Heute können<br />

Kinder im Internet irgendeine Pornoseite aufrufen<br />

und sehen wie sich Erwachsene miteinander<br />

vergnügen.<br />

Wenn Wissen von Alten an Junge weitergegeben<br />

wird, haben alte Menschen eine hervorragende<br />

Position in der Gesellschaft. Ihnen wird<br />

Weisheit zugeschrieben und manchmal werden<br />

sie deswegen sogar kultisch verehrt. Von<br />

den Jüngeren wird Ehrerbietung gegenüber<br />

den Alten erwartet. Man denke nur an das biblische<br />

Gebot, dass man die Eltern ehren soll.<br />

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Dieses Gebot richtete sich ja - anders als uns<br />

im Kindergottesdienst gesagt wurde - nicht an<br />

Kinder. Die Zehn Gebote waren für Erwachsene<br />

bestimmt und wenn diesen Ehrerbietung<br />

gegenüber ihren Eltern nahegelegt wurde, waren<br />

damit die eigenen Eltern, also die Großeltern<br />

der Kinder, gemeint.<br />

Zu der Hochachtung die man über lange Zeit<br />

alten Menschen gegenüber schuldete, trug natürlich<br />

auch die Tatsache bei, dass es nur wenige<br />

Alte gab. Weil die Kindersterblichkeit<br />

viel höher war als heute, erreichten nur wenige<br />

ein hohes Alter. Ausnahmen hat es natürlich<br />

immer gegeben. Ich habe selbst in Tansania<br />

einen sehr alten Mann kennengelernt, der in<br />

seiner Jugend noch bei den deutschen Kolonialtruppen<br />

“gedient“ hatte. Das war aber im<br />

ganzen Dorf nur einer und der war von einer<br />

großen Kinderschar umgeben.<br />

Vieles von dem, was wir Älteren in der Kindheit<br />

gelernt haben, ist heute für uns völlig<br />

nutzlos. Beispielsweise habe ich in der Schule<br />

die Sütterlin-Schreibschrift gelernt. Sie ist heute<br />

völlig aus der Mode gekommen und ich<br />

kann sie - weil mir die Übung fehlt - auch<br />

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nicht mehr schreiben. Nur lesen kann ich sie<br />

noch. Aber was soll ich damit anfangen? Vielleicht<br />

könnte ich beim Stadtarchiv noch alte<br />

Dokumente in heutiges Deutsch übertragen,<br />

ehrenamtlich versteht sich. Geld lässt sich jedenfalls<br />

damit nicht verdienen.<br />

Weil viele von diesem Funktionsverlust betroffen<br />

sind, müsste das Gewicht der Alten in unserer<br />

Gesellschaft eigentlich abnehmen, auch<br />

wenn ihre Zahl weiter zunimmt. Die Sache ist<br />

aber nicht ganz so einfach, denn die Alten geben<br />

ihre Positionen nur ungern an Jüngere ab.<br />

Mit 30 Jahren schon Aufsichtsratsvorsitzender<br />

eines Dax-Unternehmens oder Vorsitzender<br />

einer Partei zu sein, ist auch heute noch kaum<br />

vorstellbar, selbst wenn genügend junge Kandidaten<br />

für solche Positionen zur Verfügung stehen<br />

würden. So sind die meisten Gremien in<br />

der Wirtschaft, im Staat und auch bei den Kirchen<br />

„überaltert“. Ihre altersmäßige Zusammensetzung<br />

entspricht nicht dem Altersdurchschnitt<br />

der Bevölkerung. Das wird sich nur<br />

langsam ändern, auch wenn die Jungen sich<br />

jetzt deutlicher zu Wort melden und auf Mitsprache<br />

drängen. Im Zuge dieses Prozesses<br />

wird es für uns Ältere immer schwieriger wer-<br />

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den, eine wichtige Rolle in der Gesellschaft zu<br />

spielen. Hart gesagt: Wir werden immer überflüssiger!<br />

Natürlich können wir uns ein schönes Leben<br />

machen, aber wer fragt uns noch nach unserer<br />

Meinung? Mit diesem Funktionsverlust werden<br />

wir leben müssen und es wird zunehmend<br />

schwieriger werden einen Interessensausgleich<br />

zwischen Alt und Jung zu organisieren.<br />

Wissen ist nicht <strong>alles</strong>. Es gibt auch jede Menge<br />

Erfahrungen, die über reines Wissen hinausreichen.<br />

Natürlich haben ältere Menschen<br />

den jungen einen größeren Erfahrungsschatz<br />

voraus. Wer wie ich noch den letzten Krieg<br />

miterlebt hat, weiß wie es ist, stundenlang im<br />

Luftschutzkeller zu sitzen während draußen<br />

Bomben fallen und die Nachbarhäuser brennend<br />

zusammenstürzen. Noch heute erschrecke<br />

ich, wenn ich bei Nacht mit dem Zug den<br />

Rhein entlang fahre und die rötlich angestrahlten<br />

Burgen sehe. Da denke ich automatisch an<br />

brennende Städte. Leider lassen sich solche<br />

Erfahrungen aber nicht einfach auf Kinder und<br />

Enkel übertragen. Ich kann zwar davon erzählen,<br />

aber ob sie das dazu bringt, kriegerische<br />

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Auseinandersetzungen abzulehnen, bleibt offen.<br />

Als ich einmal meinen Sohn fragte, ob ich ihm<br />

nicht mal erzählen solle wie ich in seinem Alter<br />

gelebt habe sagte er nur:“ Das kenne ich<br />

doch <strong>alles</strong> aus dem Fernsehen.“<br />

Vorbei ist vorbei - oder?<br />

In jedem Leben gibt es eine Menge verpasste<br />

Gelegenheiten. Im Alter hätten wir Zeit und<br />

vielleicht auch Geld genug, um das versäumte<br />

nachzuholen. Aber soll man sich das wirklich<br />

antun?<br />

Vor vielen Jahren habe ich einen Freund in<br />

Tansania besucht. Wochenlang lebte ich am<br />

Hang des Kilimandscharo, bin aber nicht auf<br />

die Idee gekommen, auf den Gipfel zu steigen.<br />

Nicht zu fassen! Beinahe ein Sechstausender,<br />

den man ohne komplizierte Kletterei besteigen<br />

kann und ich lasse ihn einfach “links liegen“.<br />

Wenn ich daran denke, könnte ich mich immer<br />

noch selbst ohrfeigen.<br />

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Natürlich könnte ich als Rentner jederzeit hinfahren<br />

und das Versäumte nachholen, aber es<br />

wäre ja gar nicht das Versäumte sondern ein<br />

neues Erlebnis. Es wird dort auch <strong>alles</strong> ganz<br />

anders aussehen als damals, weil die typische<br />

Schneekappe des Gipfels inzwischen deutlich<br />

abgeschmolzen ist. Also "lassen wir es lieber".<br />

Im Freundes- und Bekanntenkreis erlebe ich<br />

manchmal Menschen, die geradezu von einem<br />

Zwang besessen sind, Versäumtes nachholen<br />

zu müssen. Das löst in mir unterschiedliche Gefühle<br />

aus. Einerseits gönne ich ihnen diese Erlebnisse,<br />

andererseits wirkt es aber auch recht<br />

skurril und ließe sich <strong>gut</strong> zu einem Roman, in<br />

welchem jemand sein gesamtes Leben noch<br />

mal von vorn anfängt verarbeiten. Natürlich<br />

möchte jemand, der im Gefängnis saß, nach<br />

seiner Entlassung unbedingt einiges nachholen.<br />

Und es ist auch verständlich, dass Menschen<br />

die als Bürger der DDR nicht reisen konnten<br />

wohin sie wollten, das nachholen möchten.<br />

Ich werde aber nicht mehr nach Japan reisen,<br />

obwohl ich mir das lange gewünscht habe, weil<br />

ich mir die dortige Mischung aus Mittelalter<br />

und modernste Technik selbst anschauen woll-<br />

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te. Ich werde auch nicht nach Neuseeland fliegen<br />

und von dort aus über Hawaii nach<br />

Deutschland zurückkehren, nur weil ich einmal<br />

den Fehler gemacht habe, den Rückflug<br />

wie den Hinflug zu planen und damit das Erlebnis,<br />

den Globus vollständig zu umrunden,<br />

verpasste.<br />

Zum Schluss nochmal die Religion<br />

Nach christlicher Überzeugung gleicht Gott<br />

einem alten Mann, der – anders als die unbeweglichen<br />

Götter vieler anderer Religionen –<br />

im Lauf der Zeit manches falsch gemacht und<br />

folglich viel dazugelernt hat. Ein sympathischer<br />

älterer Herr also - fast schon ein Vorbild<br />

fürs Älterwerden. *<br />

* Dass ausgerechnet mir diese Idee kommt, könnte natürlich<br />

auch daran liegen, dass ich dem Typus des Denkers<br />

zuneige.<br />

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Über den Verfasser<br />

Holm Roch wurde 1938 in Leipzig geboren. Der<br />

promovierte Theologe und gelernte Pfarrer arbeitete<br />

lange Zeit im Bildungsbereich der evangelischen<br />

Kirche. Auch hat er einen Lehrauftrag für<br />

Sozialphilosophie und Sozialethik an einer Fachhochschule<br />

wahrgenommen.<br />

Seit ihm der sogenannte Ruhestand mehr Zeit dafür<br />

lässt, schreibt er Kurzgeschichten und zeichnet<br />

Cartoons, die regelmäßig in der Tagespresse veröffentlich<br />

werden. Daneben hat er zahlreiche Rundfunksendungen<br />

produziert.<br />

Seit 1996 lebt Holm Roch in Iserlohn. Zehn Jahre<br />

lang gehörte er dem Seniorenbeirat der Stadt an,<br />

zuletzt als dessen Vorsitzender. Er ist Mitglied im<br />

Iserlohner „Literaturkreis Franzosenhohl“.<br />

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