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Mein Leipzig

Fotos und Notizen aus der Stadt, in der ich geboren wurde und in die ich immer gern zurückkehre.

Fotos und Notizen aus der Stadt, in der ich geboren wurde und in die ich immer gern zurückkehre.

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Holm Roch<br />

<strong>Mein</strong><br />

<strong>Leipzig</strong><br />

- 1 -


E<br />

inem Löwen kann man in <strong>Leipzig</strong> an<br />

den unmöglichsten Stellen begegnen.<br />

Das liegt am Stadtwappen und am Zoo. Im<br />

<strong>Leipzig</strong>er Wappen ist ein großer Löwe zu sehen.<br />

Von da gerät er auf Andenken oder<br />

macht sich als bunt bemalte Figur der Stadtwerbung<br />

in der Innenstadt breit. In der Größe<br />

genau richtig, um sich damit fotografieren zu<br />

lassen. Auch auf den Deckeln der Kanalisation<br />

ist ein prächtiges Exemplar zu sehen.<br />

Durch seine Löwenzucht ist der <strong>Leipzig</strong>er Zoo<br />

weltberühmt geworden. Löwen aus <strong>Leipzig</strong><br />

wurden sogar in Nordafrika ausgewildert. Dazu<br />

erzählt man sich in <strong>Leipzig</strong> folgende Geschichte:<br />

So ein <strong>Leipzig</strong>er Löwe hatte große<br />

Angst, was passieren würde, wenn er zum ersten<br />

Mal einem "richtigen" Löwen begegnet.<br />

Eines Tages taucht vor ihm tatsächlich ein<br />

fremder Löwe auf. Groß, stark und mit eindrucksvoller<br />

Mähne. Der neue sucht sein Heil in der Flucht, aber der andere ist schneller<br />

und holt ihn ein. Jetzt ist alles aus, denkt der Kleine. Aber der andere sagt nur: "Da<br />

mussde doch nich wegrenn, ich bin doch ooch aus Leebdzsch". -<br />

<strong>Mein</strong> eindrucksvollstes Erlebnis mit einem <strong>Leipzig</strong>er Löwen hatte ich vor etlichen Jahren<br />

in einer vollbesetzten Straßenbahn. Da ging plötzlich ein lautes Gejammere los und<br />

in einer Reisetasche bewegte sich etwas. Die Besitzerin der Tasche öffnete den Reißverschluss,<br />

der Kopf eines Löwenbabys schaute heraus und verlangte nach seiner Nukkelflasche.<br />

Die Frau war Tierpflegerin im Zoo und nahm den kleinen Löwen nach der<br />

Arbeit mit nach Hause, damit er regelmäßig sein Futter bekommt. Wie gesagt: einem<br />

Löwen kann man in <strong>Leipzig</strong> an den unmöglichsten Stellen begegnen.<br />

- 2 -


S<br />

traßenmusikanten gehören heute zu jeder größeren Stadt. Meist kommen sie<br />

aus östlichen Ländern, fahren nach ein paar Wochen wieder zurück und können<br />

mit dem hier in Hut oder Dose gesammelten "Einkommen" zu Hause ein einigermaßen<br />

passables Leben führen. Manche sind wirkliche Könner auf ihren Instrumenten,<br />

akademisch ausgebildete Virtuosen, zu Hause jedoch arbeitlos und deshalb darauf<br />

angewiesen, als kulturelle Wanderarbeiter etwas dazu zu verdienen. Bach oder<br />

Mozart auf dem Akkordeon - das ist gar nicht so selten.<br />

Diese beiden habe ich<br />

vor der Mädler-Passage<br />

getroffen. Ganz versunken<br />

sind sie in ihr<br />

Zusammenspiel. Natürlich<br />

steht da auch irgendwo<br />

noch eine auf<br />

Münzen wartende Dose,<br />

aber die scheint<br />

ziemlich nebensächlich.<br />

Jetzt wird erst einmal<br />

Musik gemacht<br />

und dies mit soviel<br />

Lust am Spiel, dass die<br />

Zuhörer ganz begeistert<br />

sind.<br />

- 3 -


D<br />

a hat jemand auf einer Plakatsäule eine Mitteilung hinterlassen. Vielleicht<br />

eine Aufforderung zur Weltrevolution – in vietnamesischer Sprache. Oder<br />

handelt es sich um eine Botschaft von Außerirdischen, die Zukunft der Erde betreffend?<br />

Schriften und grafische<br />

Zeichen haben mich immer<br />

fasziniert. Ganz in<br />

der Nähe dieser Plakatsäule<br />

liegt die Hochschule<br />

für Grafik und<br />

Buchkunst. Dort habe<br />

ich mich 1956 um einen<br />

Studienplatz in der Fachrichtung<br />

Fotografik beworben.<br />

Für etwa 400<br />

Bewerber gab es 20 Plätze.<br />

Da hatte ich keine<br />

Chance. <strong>Mein</strong>e eingereichten<br />

Arbeiten waren<br />

auch nur mittelmäßig.<br />

Statt dessen bin ich dann<br />

auf der "Ingenieurschule<br />

Otto Grotewohl" gelandet, der früheren "Meisterschule für das Grafische Gewerbe".<br />

Nebenbei ging ich zu einem Künstler, der eine Art private Kunstschule unterhielt.<br />

Herbert Hauschild hieß der Mann. Er hatte auch ein Buch über die Geschichte der<br />

Schrift geschrieben. In seiner großen Wohnung saßen immer ein paar Eleven, die sich<br />

in der Kunst des Schreibens übten: Goetheworte, Schillerworte, LaoTse ...<br />

Eins lernte man bei Hauschild und im ganzen grafischen Gewerbe: Die Ehrfurcht vor<br />

Geschriebenem und vor Gedrucktem. Diese Einstellung ist mir geblieben, auch wenn<br />

inzwischen über 60 Jahre vergangen sind und ich schließlich einen ganz anderen Beruf<br />

ergriffen habe. Ein Buch wegzuwerfen - das bringe ich kaum übers Herz.<br />

- 4 -


G<br />

ehen zwei Nähnadeln spazieren. Sagt die eine: "Ich muß dir unbedingt etwas<br />

erzählen". Sagt die andere: "Nicht so laut, hinter uns geht eine Sicherheitsnadel!"<br />

Dieser "Witz" aus DDR-Zeiten trifft sehr genau die Stimmung in einem Land,<br />

in dem zuletzt jeder auf jeden aufpasste und man nicht sicher sein konnte, ob nicht sogar<br />

der eigene Ehepartner<br />

mit der Stasi<br />

im Bunde war.<br />

Wenn ich zu DDR-<br />

Zeiten Freunde in<br />

<strong>Leipzig</strong> besuchte, fiel<br />

mir auf, wie wenig<br />

öffentliches Leben es<br />

dort gab. Im Anschluss<br />

an eine Veranstaltung<br />

ging man<br />

nicht in die nächste<br />

Kneipe um noch eine<br />

Weile über das Erlebte<br />

zu sprechen, man<br />

ging auf dem kürzesten<br />

Weg nach Hause.<br />

Nur dort, in den eigenen<br />

vier Wänden,<br />

konnte man einigermaßen<br />

sicher sein, dass kein fremdes Ohr mithört. Und selbst zu Hause war es üblich,<br />

bei Gesprächen über kritische Themen eine Kaffeemütze übers Telefon zu stülpen -<br />

vielleicht war ja eine "Wanze" eingebaut.<br />

In einem solchen Klima gedeiht die Kunst des Verstellens, wie sie der Mann mit der<br />

Maske in der Grimmaischen Straße demonstriert. Vordergründig ein harmloses, friedfertiges<br />

Schaf - hinter der Maske ein Mensch, oder ein Wolf oder beides?<br />

- 5 -


W<br />

enn ich in <strong>Leipzig</strong> bin, schaue ich gern bei McDonalds vorbei. Einfach<br />

um mich zu vergewissern, dass der Kapitalismus tatsächlich auf der ganzen<br />

Linie gesiegt hat.<br />

Aber vielleicht hat ja auch der Sozialismus, als Kapitalismus getarnt, gewonnen. Billige<br />

Fleischgerichte für alle Werktätigen, ohne dass man lange danach anstehen muss.<br />

Das war es doch, was man letztlich wollte!<br />

McDonalds treibt die<br />

"sozialistische Gleichmacherei"<br />

auf die Spitze,<br />

denn hier bekommt<br />

niemand ein zweites Salatblatt<br />

auf seine Boulette<br />

oder zehn Pommes<br />

mehr als sein Nebenmann.<br />

Die klassischen<br />

Ideale der französischen<br />

Revolution, hier sind sie<br />

verwirklicht. Freiheit<br />

(frei wählen zwischen<br />

BigMac und Cheeseburger),<br />

Gleichheit<br />

(gleiche Portionen für<br />

alle), Brüderlichkeit (als<br />

große Konsumentenfamilie<br />

vereint unter einem<br />

goldgelben „M“).<br />

Dazu noch das Ketchup: ein Rot wie es sozialistischer nicht sein kann! Und auch der<br />

Gedanke des sozialistischen Internationalismus ist mit der weltumspannenden McDonalds-Philosophie<br />

zum Ziel gekommen. Der gleiche, ernährungsphysiologisch einwandfreie,<br />

zu völlig gleichartigen Klopsen geformte Speisebrei, für den Kumpel in<br />

Krasnojarsk wie für den Dockarbeiter in Liverpool und den Baumwollpflücker in Alabama.<br />

Das ist keine Utopie mehr, das ist Realität. "Guten Appetit also, allerseits!"<br />

- 6 -


D<br />

ie auf den vorigen Seiten zusammengestellten Fotos sind alle am 11. Mai<br />

2003 entstanden. Ich war zum Klassentreffen nach <strong>Leipzig</strong> gefahren. Vor<br />

der Rückfahrt blieben mir noch ein paar Stunden Zeit, um mich in der Innenstadt ein<br />

wenig umzuschauen. Ich hatte eine kleine Digitalkamera eingesteckt, ausreichend für<br />

Schnappschüsse, aber ziemlich ungeeignet für großformatige Aufnahmen. Besondere<br />

Ansprüche an die Qualität der Bilder kann man unter diesen Umständen nicht stellen.<br />

Es sind fotografische Notizen, ein Versuch, Erinnerungen skizzenhaft festzuhalten -<br />

mehr nicht.<br />

Auch die Texte, die mir später dazu einfielen, sind eher Randnotizen. Aber vielleicht<br />

machen sie ja Lust auf diese Stadt, in der ich geboren bin, in der ich meine ersten<br />

zwanzig Lebensjahre verbrachte und die mir viel bedeutet: <strong>Mein</strong> <strong>Leipzig</strong>.<br />

Inzwischen sind 16 Jahre vergangen. Nach wie vor fahre ich jedes Jahr zum Klassentreffen<br />

nach <strong>Leipzig</strong> und freue mich daran, wie die Stadt immer mehr aufblüht. Natürlich<br />

habe ich weiterhin eine Kamera dabei, um diesen oder jenen Anblick festzuhalten.<br />

Die Kameratechnik hat in diesen wenigen Jahren gewaltige Fortschritte gemacht, die<br />

Bilder wurden feinkörniger, lassen sich besser anschauen und bei Bedarf auch großformatig<br />

ausdrucken. Nach wie vor hat es seinen eigenen Reiz, sie nicht in Farbe sondern<br />

in Schwarz-Weiß zu betrachten, auch wenn sie ursprünglich farbig aufgenommen wurden.<br />

Nun habe ich meine ursprüngliche Bildersammlung um weitere Fotos, die in den letzten<br />

sechzehn Jahren entstanden sind und um weitere kurze Kommentare ergänzt - einfach<br />

um meine Geschichte mit dieser Stadt, in der ich meine Wurzeln habe, fortzuschreiben.<br />

So langsam wird ein höchst individueller Bildband daraus, an dem auch andere<br />

Freunde meiner Heimatstadt Vergnügen haben könnten. Ich wünsche es mir jedenfalls.<br />

Iserlohn, im Sommer 2019<br />

- 7 -


W<br />

as anderswo Sinfonieorchester genannt wird, heißt in <strong>Leipzig</strong> Gewandhausorchester.<br />

Ganz einfach weil sich die Musiker anfangs in den Räumen<br />

der Gewand- und Tuchhändler trafen. Und noch etwas ist anders: Das <strong>Leipzig</strong>er<br />

Gewandhausorchester ist mit seinen 180 Musikern eins der größten Orchester der<br />

Welt. Die Stadt hat nämlich nur dieses eine Orchester und stellt daraus dann jeweils<br />

die passende Formation zusammen.<br />

Das heutige Gewandhausgebäude ist noch zu DDR-Zeiten gebaut worden. Für dieses<br />

akustische Meisterwerk (der Klang ist immer gleich, egal ob Zuhörer darin sitzen<br />

oder die Sessel leer sind) hat der Staat tief in die Tasche gegriffen und sogar dunkle<br />

Wege beschritten. Die Lichtleiterkabel für die Verbindung der riesigen Konzertorgel<br />

mit dem Spieltisch fielen unter das NATO-Embargo und mussten auf Schleichwegen<br />

besorgt werden.<br />

Kein Wunder, dass die <strong>Leipzig</strong>er ihr Gewandhaus lieben. Dort ein Konzertabonnement<br />

zu besitzen, gehört zumindest unter Intellektuellen zum guten Ton. Ich habe oft<br />

erlebt wie bei einer Geburtstagseinladung nicht über Gesundheit, Wetter oder Enkelkinder<br />

debattiert wurde, sondern darüber, wie gut oder schlecht Kurt Masuhr kürzlich<br />

dirigiert hat.<br />

Blick durch die Fensterfront des Gewandhauses auf den Augustusplatz und die Oper<br />

- 8 -


F<br />

elix Mendelssohn-Bartholdy (1809 bis 1847) war der Mann, der <strong>Leipzig</strong>s Gewandhausorchester<br />

berühmt gemacht hat. Vor der Thomaskirche hat man ihm<br />

ein Denkmal mit üppigen Musenfiguren gesetzt.<br />

Mendelssohn kam, wie der Name verdeutlicht, aus einer jüdischen Familie. Er war<br />

einer jener „assimilierten“ Juden, die im deutschen Bürgertum des 20. Jahrhunderts<br />

die geistige Elite bildeten. In der Zeit des Nationalsozialismus sah man das nicht so<br />

gern. Eine alte Dame, die damals in einem Chor sang, hat mir erzählt, dass sie, wenn<br />

eines der Chorwerke Mendelssohns aufgeführt wurde, immer den Vornamen und den<br />

ersten Teil des Namens weggelassen haben und einfach sagten: Wir singen Bartholdy.<br />

Ein Model posiert vor dem Mendelssohn-Denkmal<br />

- 9 -


N<br />

ach Bach und Mendelssohn ist Richard Wagner der dritte große Musikus<br />

aus <strong>Leipzig</strong>. Er hat aber nur vorübergehend dort gelebt, ging auch ein Jahr<br />

lang in „meine“ Schule und ist dann in Richtung Dresden entschwunden.<br />

Vor einigen Jahren hat ihn das <strong>Leipzig</strong>er Kunstmuseum unter der Überschrift „Weltenschöpfer“<br />

zusammen mit Karl May und Max Klinger eine große Ausstellung gewidmet.<br />

Mittelpunkt dieser Ausstellung war das originale (!) Bett in dem sich Richard mit<br />

seiner Geliebten Mathilde Wesendonck vergnügte. In das großformatige Bettgestell<br />

hatte man ein paar hundert knallrote Klatschmohnpflanzen gesetzt. Ein üppiger Anblick<br />

und eine Idee, die von Wagner selbst hätte stammen können.<br />

Stadtwerbung mit Wagner<br />

- 10 -


W<br />

eil die Nationalsozialisten Wagner besonders mochten, wollten sie<br />

ihm einen großen Ehrenhain errichten. Dafür hat der <strong>Leipzig</strong>er Bildhauer<br />

Max Klinger, berühmt durch seine Beethoven-Skulptur, einen riesigen Denkmalssockel<br />

angefertigt. Der stand dann lange Zeit irgendwo herum, bis der Künstler<br />

Stephan Balkenhol, der schon die Salzburger mit einer ähnlichen Figur verschreckte,<br />

kürzlich daraus doch noch ein Wagnerdenkmal<br />

machte. Er stellte einfach<br />

eine bunte, etwas geckig wirkende Wagnerfigur<br />

auf den Sockel und dahinter<br />

„Wagners Schatten“ in Form einer riesigen<br />

Stahlplatte. Dass dieses Denkmal<br />

ausgerechnet vor der früheren Stasizentrale<br />

steht, ist vielleicht auch nicht ganz<br />

zufällig.<br />

Richard und sein Schatten<br />

- 11 -


G<br />

emalt wurde lange Zeit nur in Dresden, denn dort war die Königliche Kunstakademie.<br />

Später gab es in <strong>Leipzig</strong> die „Hochschule für Grafik und Buchkunst“<br />

(an der auch ich mich in jungen Jahren einmal vergeblich beworben habe). Die<br />

legte sich später auch Malklassen zu und begann rasch, die Dresdner Akademie zu<br />

überflügeln. Selbst als in der DDR der sog. „Sozialistische Realismus“ blühte, wurde<br />

in <strong>Leipzig</strong> einigermaßen modern gemalt. Beispielsweise auf den riesigen Wandflächen<br />

im Foyer des neu errichteten Gewandhauses.<br />

Später war die „<strong>Leipzig</strong>er Schule“ in aller Munde. Noch heute ist sie ein richtiger Markenartikel,<br />

während man aus Dresden in Sachen Malerei so gut wie gar nichts mehr<br />

hört.<br />

Wandgemälde im Foyer des Gewandhauses<br />

- 12 -


W<br />

enn Kunst wertgeschätzt werden soll, muss man die Leute geschickt zu<br />

ihr hinführen. So wie hier auf einem Bauzaun am <strong>Leipzig</strong>er Kunstmuseum.<br />

Die darauf dargestellten Figuren sind allesamt aus Bildern, die im Museum<br />

hängen, genommen. Das macht Lust darauf, sich auch einmal die Originale anzuschauen.<br />

Kunst am Bauzaun des Kunstmuseums<br />

- 13 -


I<br />

m Jahre 2013 hat das <strong>Leipzig</strong>er Kunstmuseum unter der Überschrift „Weltenschöpfer“<br />

drei Personen geehrt, die auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu<br />

tun haben: Karl May, Max Klinger und Richard Wagner. Klinger war ein berühmter<br />

<strong>Leipzig</strong>er Bildhauer. Wagner stammte aus <strong>Leipzig</strong>. Aber Karl May? Was hat der eigentlich<br />

mit <strong>Leipzig</strong> zu tun? Außer, dass ihn viele <strong>Leipzig</strong>er begeistert gelesen haben.<br />

Auch ich - und das war in der DDR gar nicht so einfach. In der Stadtbücherei hatten<br />

sie ihn nur im „Giftschrank“. Man musste also jemanden finden, der noch Vorkriegsexemplare<br />

besaß. „Winnetou“ zu bekommen war kein Problem, aber wer besaß schon<br />

den autobiografischen Band mit dem genialen Titel „Ich“? Immerhin: Von den damals<br />

bekannten 64 Bänden habe ich 52 gelesen.<br />

Eingang zur Ausstellung Weltenschöpfer (Karl May, Max Klinger, Richard Wagner)<br />

- 14 -


N<br />

ein, das ist kein neues Werk aus den Ateliers der <strong>Leipzig</strong>er „Hochschule für<br />

Grafik und Buchkunst“ sondern einfach eine Spanplatte am S-Bahnhof<br />

Slevogtstraße, aber hineinlesen kann man in diese Durcheinander von Linien<br />

und Flächen eine ganze Menge. Und ein Titel ließe sich auch finden. <strong>Mein</strong><br />

Vorschlag: „Apokalypse II“.<br />

Moderne Kunst?<br />

- 15 -


D<br />

er sächsische Humor ist etwas völlig anderes als das Gewiehere, das man aus<br />

bayerischen Bierzelten kennt. Der sächsische Humor ist feinsinniger. Er<br />

macht sich nicht über andere lustig, sondern will andere zum Lachen oder<br />

doch zum Schmunzeln bringen wie bei diesem von Besuchern umgestalteten<br />

Warnschild am Völkerschlachtdenkmal.<br />

- 16 -


S<br />

achsen sind pfiffige Leute (fiffsche Gärlchn). Wenn sie ein paar Buchstaben<br />

einsparen können, tun sie das. Wäre diese S-Bahn, die ständig zwischen Halle<br />

und <strong>Leipzig</strong> pendelt, schon zu DDR-Zeiten gefahren, wäre der sparsame Beschrifter<br />

vielleicht „Aktivist“ oder „Held der Arbeit“ geworden. Immerhin hat er geholfen, eine<br />

Menge Farbe einzusparen, die man anderswo für den Aufbau des Sozialismus hätte<br />

einsetzen können.<br />

Sachsen sind sparsam<br />

- 17 -


D<br />

ie <strong>Leipzig</strong>er Universität ist eine der ältesten Deutschlands. Vor einigen Jahren<br />

hat sie ihren 600. Geburtstag gefeiert. Weil sich viele ihrer Einrichtungen<br />

in der Innenstadt befinden, ist dort überall auf Straßen und Plätzen studentisches<br />

Leben zu beobachten. Die Studenten tragen auch erheblich dazu bei, dass die Bevölkerung<br />

<strong>Leipzig</strong>s - anders als in vielen anderen Städten - von Jahr zu Jahr zunimmt.<br />

Studenten beleben die <strong>Leipzig</strong>er Innenstadt<br />

- 18 -


W<br />

erbung an der <strong>Leipzig</strong>er Universitätsbuchhandlung - zu der Zeit als gerade<br />

der Spruch „Geiz ist geil“ in Mode kam.<br />

Zu dieser Buchhandlung habe ich eine besondere Beziehung. <strong>Mein</strong>e Mutter<br />

arbeitete in jungen Jahren im Haushalt des damaligen Besitzers. In jener Familie<br />

gab es einen kleinen Jungen, Holm Arnst. Weil ihn meine Mutter besonders ins Herz<br />

geschlossen hatte, bekam ich seinen Vornamen.<br />

- 19 -


B<br />

uchstadt <strong>Leipzig</strong> - hier einmal nicht so ernst genommen und mit dem Bild des<br />

Völkerschlachtdenkmals verbunden. Ein Plakat in einer Buchhandlung. Noch<br />

immer zieht die Buchmesse Tausende von Besuchern in die Stadt, auch wenn<br />

ihr zur Zeit des kalten Krieges in Frankfurt eine ernst zu nehmende Konkurrenz<br />

erwachsen ist und zu DDR Zeiten viele alteingesessene Verlage in den Westen<br />

gingen.<br />

Plakat im Schaufenster einer Buchhandlung<br />

- 20 -


R<br />

adfahren ist in einer Stadt wie <strong>Leipzig</strong>, wo es keine nennenswerten Berge<br />

gibt, kein Problem. Bis hierhin reichten nämlich die Gletscher der Eiszeit<br />

und die haben die Gegend ziemlich flach gehobelt. Da findet man allenfalls<br />

einige kleine Hügel, die sich während der Völkerschlacht (1813) als sogenannte<br />

Feldherren-Hügel hervorragend zur Beobachtung des Geschehens eigneten.<br />

Fürs Radfahren muss man in dieser Stadt eigentlich nicht noch extra Werbung machen.<br />

Trotzdem macht sich so ein Fahrrad gut, wenn damit ein ansonsten ziemlich<br />

langweiliger Schaltschrank geschmückt wird.<br />

- 21 -


N<br />

eben der intellektuellen Seite war <strong>Leipzig</strong> immer auch eine Arbeiterstadt.<br />

Hier hat August Bebel gelebt und hier ist 1863 der „Allgemeine Deutsche<br />

Arbeiterverein“, die erste deutsche Arbeiterpartei aus der später die SPD hervorging,<br />

gegründet worden. In so einer Stadt ist die <strong>Mein</strong>ung des Volkes gefragt und Parolen<br />

und Losungen „von unten“ prägen das Straßenbild, manchmal auch in kuriosen Formen.<br />

Volkes Stimme<br />

- 22 -


K<br />

unst am Bau kann auch ganz unterhaltsam sein. Diesen Gitarre spielenden<br />

Jungen habe ich an einer Hauswand im <strong>Leipzig</strong>er Süden gefunden. Beinahe<br />

hätte es diese südlichen Stadtteile nicht mehr gegeben. Hier steht alles auf Braunkohle<br />

und nach den Zerstörungen des Bombenkrieges hat man tatsächlich überlegt, ob man<br />

die Wohngebäude wieder aufbauen soll oder ob man besser einen weiteren Braunkohlentagebau<br />

anlegt.<br />

Wandgemälde<br />

- 23 -


H<br />

eute geht die Braunkohle-Ära zu Ende. Es gibt nur noch ein großes Kraftwerk<br />

bei Lippendorf südlich von <strong>Leipzig</strong>, dessen gewaltige 175 Meter hohen<br />

Kühltürme, dem Kölner Dom vergleichbar, von überall her zu sehen sind. Die alten<br />

Tagebaue lässt man mit Wasser voll laufen und so entsteht, das „Neuseenland“ mit<br />

vielen neuen Eigenheimen, in denen „grüne Witwen“ wohnen, weshalb die Fernsehkrimis<br />

aus <strong>Leipzig</strong> gern in dieser Gegend spielen.<br />

Gefluteter Tagebau mit Kraftwerk Lippendorf<br />

- 24 -


B<br />

is zur Hitlerzeit lebten in <strong>Leipzig</strong> viele Juden - einfach weil <strong>Leipzig</strong> eine<br />

bedeutende Handelsstadt war. An der Kreuzung zweier Fernhandelsstraßen<br />

gelegen und als Messeplatz begünstigt, wurde hier mit ziemlich allem, vor allem aber<br />

mit Büchern und mit Pelzen gehandelt. Wer einen Nerz oder einen Zobel brauchte,<br />

kam um <strong>Leipzig</strong> nicht herum.<br />

Heue leben kaum noch Juden in der Stadt. An der Stelle, an welcher bis zur Pogromnacht<br />

die größte Synagoge stand, hat ihnen die Stadt ein ungewöhnliches Mahnmal<br />

errichtet: Eine Vielzahl leeren Stühle, auf denen niemand mehr sitzt. Kinder, die mit<br />

ihren Eltern hier vorüber gehen, fragen: „Wo sind eigentlich die Menschen geblieben,<br />

die einmal auf diesen Stühlen gesessen haben? Die Antwort: „Die meisten wurden<br />

auf grausame Weise umgebracht, einige wenige konnten nach Israel fliehen. Deshalb<br />

sind diese Stühle jetzt alle leer.“<br />

Was uns leere Stühle sagen<br />

- 25 -


E<br />

in weiteres dunkles Kapitel in der Geschichte dieser Stadt ist die Zeit der<br />

SED-Herrschaft und der Stasi-Spitzelei. Aus der <strong>Leipzig</strong>er Stasi-Zentrale<br />

hat ein Künstler bei deren Auflösung Aktendeckel beiseite geschafft und daraus<br />

Kunstwerke gemacht.<br />

Schicksale zwischen Aktendeckeln<br />

- 26 -


Z<br />

wei große mittelalterliche Kirchen beherrschen die <strong>Leipzig</strong>er Innenstadt: Die<br />

Thomaskirche, an welcher der weltbekannte Thomanerchor zu Hause ist, und<br />

die Nikolaikirche, an der die Montagsdemonstrationen ihren Ausgang nahmen. Viele<br />

tausend Menschen finden in dieser Nikolaikirche Platz. Imposant ist die Orgel (die<br />

größte Kirchenorgel der Stadt) und die riesigen Pfeiler, deren Kapitelle in Palmenzweige<br />

auslaufen. Eine solche Säule steht jetzt unmittelbar neben der Kirche, auf dem<br />

Nikolaikirchhof, um an den gewaltlosen Protest der <strong>Leipzig</strong>er Bürger gegen die SED-<br />

Herrschaft zu erinnern.<br />

In der Nikolaikirche<br />

- 27 -


S<br />

chauen wir noch kurz in die Thomaskirche hinein. Da gibt gerade der Thomanerchor<br />

ein Konzert. Hier ist auch Johann Sebastian Bach beerdigt. Allerdings<br />

ist er auf Umwegen an diesen Ort gekommen. Zunächst wurde Bach auf dem<br />

Johannisfriedhof beigesetzt. Später hatte man seine Grabstelle völlig vergessen und<br />

erst als im vorletzten Jahrhundert Bach wieder Mode wurde, begann man, seine sterblichen<br />

Überreste zu suchen. Da gab es nun eine ganze Reihe von ausgegrabenen<br />

Schädeln zur Auswahl und man entschied anhand von Messungen an Bach-<br />

Gemälden, welcher der Richtige sein könnte. Der kam dann in die Johanniskirche.<br />

Die wurde aber im Krieg zerstört. Als dann 1950 die DDR Bachs 200. Todestag feiern<br />

wollte, bekam er sein repräsentatives Grab in der Thomaskirche. Da möge er nun<br />

für alle Zeiten in Frieden ruhen!<br />

Der Thomanerchor in der Thomaskirche<br />

- 28 -


L<br />

eipzig war einmal eine durch und durch protestantische Stadt. In meiner<br />

Kindheit hatte ich kaum mit Katholiken zu tun. Wenn sie ihre<br />

Fronleichnamsprozession feierten, kam uns das wie die seltsamen Riten ferner<br />

Völker vor. Inzwischen ist die Bevölkerung gemischt und die Katholiken beanspruchen<br />

auch mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Gerade haben<br />

sie in bevorzugter Lage am Rande der Innenstadt eine Kirche und ein großes<br />

Gemeindezentrum errichtet. Dabei ergab sich ein Problem: Das Grundstück<br />

liegt ausgerechnet am Martin-Luther-Ring. Das wollte man den katholischen<br />

Brüdern und Schwestern nun doch nicht zumuten. Deshalb wurde der Hintereingang<br />

für die Adresse gewählt: Nonnenmühlgasse. Das passt schon eher.<br />

Marienfigur in der neuen Propsteikirche<br />

St. Trinitatis<br />

- 29 -


G<br />

roßzügige Passagen gehören zur <strong>Leipzig</strong>er Innenstadt. Das ist praktisch,<br />

denn bei Regen kommt man (fast) ohne Schirm aus. Eine der bekanntesten<br />

ist die Mädlerpassage, benannt nach der Koffer– und Taschenfirma Mädler. Sie hat<br />

gerade ihren hundertsten Geburtstag gefeiert. Ihr architektonisches Vorbild steht in<br />

Mailand. Wo sich solche Passagen kreuzen gibt es meist einen großzügigen Lichthof.<br />

Lichtkuppel über der Mädlerpassage - ein Mandala<br />

- 30 -


U<br />

m die zur Universität gehörende Paulinerkirche hat es schon viel Streit gegeben.<br />

Bekannt wurde sie durch ihre Sprengung im Jahre 1968. Das wurde<br />

damals weltweit als barbarischer Akt verurteilt. Allerdings ranken sich auch einige<br />

unzutreffende Gerüchte um dieses Ereignis. Es war nicht so, dass der Staat die Kirche<br />

den Christen weggenommen und dann zerstört hätte. Die Kirche gehörte der Stadt<br />

und die wollte Baugelände für die Erweiterung der Universität gewinnen. Im Rat der<br />

Stadt haben damals auch CDU-Abgeordnete für den Abriss gestimmt.<br />

Nach der Wende wurde dann schnell der Wunsch laut, die Kirche wieder aufzubauen.<br />

Aber in welcher Form? Als getreuen Nachbau der zerstörten mittelalterlichen Kirche<br />

oder als modernen Neubau? Die Entscheidung fiel zugunsten eines Neubaus und nun<br />

steht an Stelle der alten Hallenkirche ein lichtdurchflutetes postmodernes Gebäude.<br />

In der neuen Paulinerkirche<br />

- 31 -


I<br />

n <strong>Leipzig</strong> steht noch vieles herum, was nicht mehr gebraucht wird, aber schön aussieht.<br />

Beispielsweise das Gerippe des Gasometers an der Richard-Lehmann-Straße.<br />

In dem nach oben offenen Gebäude befindet sich heute eine Freilichtbühne. Gleich daneben<br />

steht ein zweiter Gasometer, der noch völlig intakt ist. Darin zeigt Yadegar Asisi seine<br />

spektakulären Panoramabilder, zuletzt das der Völkerschlacht von 1813.<br />

Gasometergerippe<br />

- 32 -


S<br />

o könnte es gewesen sein, im Jahr 1813, als auf den Äckern vor der Stadt und<br />

auch in der Stadt selbst die sogenannte Völkerschlacht tobte: Brennende Häuser,<br />

überall Verwundete und Sterbende, Soldaten aus „aller Herren Länder“ plündernd<br />

durch die Straßen ziehend. Es war die größte Massenschlacht der Neuzeit.<br />

Mehr als 600 000 Soldaten waren daran beteiligt.<br />

Das kriegerische Durcheinander in der Stadt hat Yadegar Asisi zum 200. Jahrestag<br />

der Völkerschlacht in seinem riesigen Panoramagemälde wieder zum Leben erweckt.<br />

Ausgehend von tausenden Fotos mit Einzelszenen entstand ein Gemälde, das auf<br />

breite Stoffbahnen gedruckt, die Wand eines ehemaligen Gasometers bedeckt. Von<br />

einer Plattform in der Mitte des Raumes aus hat man einen eindrucksvollen Rundumblick.<br />

Man steht „mittendrin“ im historischen Geschehen. Akustische Effekte wie das<br />

Knistern brennender Häuser, ferner Kanonendonner und das Krächzen von Krähen<br />

machen den Eindruck noch realistischer.<br />

<strong>Leipzig</strong> , Oktober 1813<br />

- 33 -


U<br />

m die Erinnerung wach zu halten wird in <strong>Leipzig</strong> in jedem Jahr die Völkerschlacht<br />

nachgespielt. Dazu gibt es historische Vereine, deren Mitglieder<br />

sich als Franzosen, Russen oder Preußen verkleiden, alte Vorderlader und historische<br />

Kanonen hervorholen und auf den Rübenäckern vor der Stadt „Europa gegen Napoleon“<br />

spielen. In der Eingangshalle des Völkerschlachtdenkmals kann man dieses Ereignis<br />

als Video sehen. Eins wird dabei gern überschlagen: Die Sachsen kämpften in<br />

der Völkerschlacht auf der Seite Napoleons!<br />

Als ich kurz nach der Wende die Kassiererin im Völkerschlachtdenkmal darauf ansprach,<br />

dass wir Sachsen damals auf der falschen Seite standen, sagte sie im schönsten<br />

Sächsisch: „Mier ham uns ähm bländn lassn. Das is uns doch ähm och grade<br />

widdr bassierd.“<br />

Auf zur Völkerschlacht<br />

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F<br />

ür die Erinnerung an die historische Völkerschlacht ist auch das Völkerschlachtdenkmal<br />

zuständig. Hundert Jahre danach wurde es eingeweiht und<br />

zum 200. Jahrestag hat man es noch einmal neu hergerichtet. Ein Gebäude von gewaltigen<br />

Ausmaßen im Stil der Kaiser-Wilhelm-Türme. Innen eine große Gedenkhalle mit<br />

Kolossalfiguren. Sie hat eine besondere Akustik und es gibt einen eigenen Denkmalchor,<br />

der darin spezielle Werke aufführt. Angenehm: Hier wird nirgends Kriegsverherrlichung<br />

betrieben, es geht ausschließlich um Trauer - Trauer um die etwa 92000<br />

Toten und Verwundeten aus ganz Europa.<br />

Trauernde Krieger im Völkerschlachtdenkmal<br />

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N<br />

ein, dieses Foto stammt nicht von Wim Wenders. Es zeigt auch nicht eine<br />

verrottete Geisterstadt in Arizona, sondern führt uns in einen <strong>Leipzig</strong>er Vorort,<br />

über den die erste Welle des Kapitalismus hinweg gegangen ist. In den „blühenden<br />

Landschaften“ lassen die Blüten die Köpfe hängen. Es gibt Leerstände, die Sprayer finden<br />

reichlich leere Flächen und die Unterhaltungsindustrie muntert die Menschen wieder<br />

auf.<br />

Verblühende Landschaften<br />

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D<br />

rei Ecken weiter herrscht noch Goldgräberstimmung. Hier werden verkommene<br />

Kasernengebäude zu Luxuswohnungen umgebaut. Willkommen<br />

im „Parc du Soleil!“<br />

<strong>Leipzig</strong> blüht auf<br />

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D<br />

ieser Mann - Jürgen Hart - war zu DDR-Zeiten ein erfolgreicher Bühnenkünstler.<br />

Ihm verdanken wir das herrliche Lied „Sing mei Sachse sing“.<br />

Nach der Wende durfte er sich sein Geld als Werbefigur fürs Lottospiel verdienen<br />

und sich mit dessen Gewinn-Slogan selbst auf den Arm nehmen. Ist er nun ein Gewinner<br />

oder ein Verlierer der Wiedervereinigung?<br />

Gewinner oder Verlierer?<br />

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B<br />

ei unseren Klassentreffen zeigen uns die im Osten verbliebenen Schulkameraden<br />

gern die Schönheiten unserer früheren Heimatstadt. Ein wenig<br />

schwingt dabei wohl auch die <strong>Mein</strong>ung mit, wir sollten doch endlich einsehen, dass<br />

wir besser dort geblieben wären, statt in den Westen „abzuhauen“.<br />

2015 haben wir den Südfriedhof besichtigt, den (nach Hamburg Ohlsdorf) zweitgrößten<br />

Friedhof Deutschlands. Die Größe dieser Parkanlage wird deutlich, wenn man<br />

erfährt, dass früher, als es noch keine motorbetriebenen Gartengeräte gab, achtzig<br />

Gärtner damit beschäftigt waren, die ausgedehnten Anlagen zu pflegen. Überall gibt<br />

es eindrucksvolle Grabmale, alte Mausoleen in denen vermögende Familien ihre Verstorbenen<br />

beigesetzt haben, aber auch die großen gleichförmigen Grabflächen, auf<br />

denen die Opfer der Bombenangriffe (darunter auch eine Tante von mir) beerdigt<br />

wurden. Besonders angesprochen hat mich die lebensgroße Majolika-Figur einer jungen<br />

Frau, die auf ihrem Grab Platz genommen hat, als wäre sie beim Picknick.<br />

Frauenfigur von Robert Metzkes<br />

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E<br />

benfalls ungewöhnlich: Dieser Grabstein für „meine Dicke“. Die Dicke ist<br />

immerhin 88 Jahre alt geworden und ruht nun hier in diesem vorbildlich gepflegten<br />

Grab. Wenn das nicht wahre Liebe ist?<br />

Wahre Liebe auf dem Südfriedhof<br />

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M<br />

itten in der Innenstadt steht das „Alte Rathaus“ mit seinem bedenkenswerten<br />

um die Fassade laufenden Bibeltext: “WO DER HERR DIE STADT<br />

NICHT BAUET SO ARBEITEN UMSONST DIE DARAN BAUEN.“ Ein Spruch<br />

der sogar zur Zeit der SED-Herrschaft unangetastet blieb und korrekt restauriert<br />

wurde, obwohl er den Herrschenden nicht so recht ins Konzept passte.<br />

Davor der alte Marktplatz, unter dem sich zur Zeit meiner Kindheit das sogenannte<br />

“Untergrundmessehaus“ befand. Heute ist dort ein Bahnhof, als Teil der neuen Innenstadtunterquerung.<br />

Rolltreppen führen hinunter und bilden bei Nacht einen herrlichen<br />

Kontrast zu dem Rathausgebäude aus dem 16. Jahrhundert<br />

Neu unter alt<br />

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L<br />

eipzig besitzt einen der größten Bahnhöfe Europas. Leider ist es ein Kopfbahnhof.<br />

Wer beispielsweise aus Berlin kommend nach München möchte,<br />

fährt in die Stadt hinein, bekommt eine neue Lok vorgespannt, fährt auf dem gleichen<br />

Wege wieder aus der Stadt heraus, im großen Bogen um die halbe Stadt herum und<br />

kann dann endlich Richtung Süden „abdampfen“.<br />

Schon lange schmieden die <strong>Leipzig</strong>er deshalb Pläne, ihre Innenstadt zu untertunneln<br />

um so aus dem Kopfbahnhof einen Durchgangsbahnhof zu machen. Kurz vor dem<br />

zweiten Weltkrieg hat man schon einmal mit dem Buddeln angefangen. Vor einigen<br />

Jahren ging es dann wieder los. Heute ist der Tunnel fertig. Weil ihn auch lange Intercitys<br />

befahren, sind die Bahnhöfe unter der Innenstadt entsprechend großzügig bemessen.<br />

Da können sich die Stuttgarter eine Scheibe von abschneiden!<br />

Eine Etage tiefer: Der neue Bahnhof unter dem Marktplatz.<br />

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T<br />

agsüber rollern Touristen auf dem Marktplatz herum Zukunftsweisend werden<br />

sie elektrisch angetrieben. Aber auch die klassische Antriebsmethode<br />

kommt in <strong>Leipzig</strong> zum Zuge. Dafür sorgt das neue Porsche-Werk im Norden<br />

der Stadt. Stararchitektin Zaha Hadid hat es entworfen und dabei eine alte<br />

Idee verwirklicht: Wer in so einer Fabrik arbeitet, soll immer vor Augen haben, wofür<br />

er letztlich arbeitet. Deshalb gleiten die halbfertigen Autos an Fließbändern hängend<br />

nicht nur durch die Produktionshallen, sondern auch durch die Büroabteilungen.<br />

Touristen vor dem alten Rathaus<br />

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M<br />

ein Vermächtnis für die Stadt meiner Kindheit: Ein Spitzahorn. Im Rahmen<br />

der Aktion „Baumstarke Stadt“ wurde es in der Landsberger Straße<br />

unweit meiner früheren Wohnung gepflanzt. Ein kleines Schild daneben<br />

erklärt „Dr. Holm Roch in Iserlohn denkt gern an seine Kindheit hier in<br />

Gohlis.“<br />

Gohlis, der Name des Vorortes, bedeutet soviel wie „Heide“. Da ich seit über 20 Jahren<br />

in der Iserlohner Heide lebe, schließt sich mit dieser Baumspende auch der Kreis<br />

meines Lebens. In der Heide hat es begonnen, in der Heide wird es voraussichtlich<br />

enden.<br />

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O<br />

hne Selfie geht es nicht und so will ich mich am Ende dieses Büchleins in<br />

dieser Form den Leserinnen und Lesern vorstellen, auch wenn ich darauf<br />

genau wie andere auf anderen Selfies ziemlich dämlich aussehe. Das Foto<br />

zeigt mich vor dem „Kunstkraftwerk“ in <strong>Leipzig</strong> Lindenau. Dort werden in<br />

einem alten Fabrikgebäude bekannte Gemälde wie zum Beispiel Mona Lisa an Decken<br />

und Wände projiziert. Ein völlig neues Kunsterlebnis - sehenswert!<br />

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Über den Verfasser:<br />

Holm Roch wurde 1938 in <strong>Leipzig</strong> geboren. Er machte 1956 Abitur an der Nikolaioberschule,<br />

studierte an der Ingenieurschule Otto Grotewohl Reproduktionsfotografie,<br />

ging 1958 in der Westen, studierte Evangelische Theologie, promovierte an der neuen<br />

Ruhr-Universität in Bochum mit einer Arbeit über naive Frömmigkeit und religiösen<br />

Kitsch, wurde Pfarrer in einem Neubaugebiet in Essen-Steele, ging dann als Studentenpfarrer<br />

nach Koblenz und war danach für die Familienbildung in der Westfälischen<br />

Kirche zuständig. Eine Zeit lang hat er auch einen Lehrauftrag für Sozialphilosophie<br />

und Sozialethik an einer Fachhochschule wahrgenommen.<br />

Neben seinem Beruf baute er Drachen und war damit an großen Drachenfesten in China<br />

und Neuseeland beteiligt.<br />

Seit ihm der sog. Ruhestand mehr Zeit dafür lässt, schreibt er ironische getönte Kurzgeschichten,<br />

betätigt sich als Blogger und zeichnet Cartoons, die regelmäßig in der<br />

Tagespresse erscheinen. Außerdem hat er zahlreiche Rundfunksendungen produziert.<br />

Holm Roch lebt seit 1986 mit seiner Familie in Iserlohn. Nach <strong>Leipzig</strong> kommt er immer<br />

einmal im Jahr zum Wiedersehen mit den Klassenkameraden aus der Nikolai-<br />

Oberschule.<br />

Holm Roch: <strong>Mein</strong> <strong>Leipzig</strong><br />

Erweitere Fassung, Iserlohn 2019<br />

© Alle Rechte an Text und Fotos beim Autor<br />

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