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zeitwissen_2020_05_full

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wir sie sehen. Dabei sind sie womöglich auch anders.<br />

Der Buddhismus lehrt, das Eigene nur als eine Option<br />

zu sehen. Dafür müssen wir uns öffnen, oft schmerzlich,<br />

und versuchen, die andere Sichtweise zu erkennen und<br />

anzunehmen. Weil das so schwer ist, empfiehlt Eckhard<br />

Roediger eine spezielle Gesprächstechnik: Beide Gesprächspartner<br />

wiederholen jeweils das, was das Gegenüber<br />

sagt. Zum Perspektivwechsel rät Roediger aber<br />

nicht nur bei der Aus ein an der set zung mit anderen,<br />

sondern auch bei der Bewertung der beruflichen und<br />

privaten Beziehungen. Wir seien auf der Suche nach der<br />

Eier legenden Wollmilchsau: einem Job, der aufregend<br />

und lehrreich ist und doch nicht zu anstrengend – und<br />

nach einem Partner, der alle<br />

Bedürfnisse befriedigt. »Es gibt<br />

Paare, die teilen alles: Sexualität,<br />

Wohnen, Kindererziehung,<br />

Sport, Theater und sogar denselben<br />

Musikgeschmack«, sagt<br />

Roediger. »Aber man kann das<br />

nicht einklagen.« Ein langweiliger<br />

Partner wird nicht unbedingt<br />

aufregend durch eine<br />

neue Perspektive. Vielleicht ist<br />

er jedoch genau der Richtige<br />

für die Person, die Karriere<br />

machen, ein Haus bauen und<br />

Kinder großziehen will. Weil er<br />

gern zu Hause ist und das Kind<br />

versorgt. Manchmal, sagt Roediger,<br />

mache es glücklicher,<br />

wenn man flexibler wird in<br />

dem, was man erwartet. Und<br />

dann mit ein an der verhandelt,<br />

welche Freiheiten man sich<br />

lässt. »Es ist ein bürgerliches Ideal, nicht viel älter als 200<br />

Jahre, das uns denken lässt, wir müssten eine Person<br />

finden, mit der wir alles teilen können.«<br />

Zweitens: zu gehen versuchen. In diesem Punkt<br />

steckt viel Spielraum – und eine starke Abhängigkeit von<br />

räumlichen, emotionalen und finanziellen Möglichkeiten.<br />

Aber es lohnt sich, diese auszuloten. Sutton<br />

schreibt, manchmal würden schon ein paar Meter Abstand<br />

helfen, damit Menschen uns weniger schaden: in<br />

der Konferenz weiter weg sitzen, am Esstisch so, dass<br />

man den anderen nicht vor sich hat, auf einer Party in<br />

einen anderen Raum gehen. Bei gemeinen Mails oder<br />

Anrufen: nicht gleich antworten, den Takt verlangsamen.<br />

»Schaffen Sie sich Atempausen«, schreibt Sutton. Kurz<br />

rausgehen sei bei schlimmen Besprechungen, Streit,<br />

Familienfeiern, Mobbingattacken wie Erste Hilfe. Wer<br />

wenig Macht zur Veränderung hat, darf sich auch mal<br />

innerlich distanzieren: Versuchen Sie nicht, von Menschen<br />

verstanden oder gesehen zu werden, die nicht gut zu<br />

Ihnen sind (sie werden es eh nicht tun). Nutzen Sie, statt<br />

zu kämpfen, Ihre Kraft für das wirklich Wichtige: dass<br />

die Dinge, die mit diesen Menschen geregelt werden<br />

müssen, geregelt werden. Und passen Sie auf, dass Sie<br />

nicht von der Bosheit angesteckt werden. Auf Dauer<br />

reicht es allerdings oft nicht aus, zu verharren. Dann<br />

muss der Job gekündigt werden, der Partner verlassen,<br />

die Schule gewechselt. »Unsere Gesellschaft ist durchlässiger<br />

geworden, wir können gehen, wir wissen es oft<br />

nur noch nicht«, sagt Roediger und erzählt die Geschichte<br />

vom kleinen Elefanten, der an einen Pflock<br />

gekettet ist. Er versucht sich loszureißen, schafft es aber<br />

nicht. Irgendwann hört er auf, es zu versuchen, wird<br />

erwachsen und hängt als mächtiger Elefant immer noch<br />

am Pflock und glaubt, er sei zu schwach, sich zu lösen.<br />

Auch wenn diese Vorschläge<br />

im Grunde für alle Beziehungen<br />

gelten, gibt es einen<br />

Spezialfall: die Eltern. Weil wir<br />

sie so sehr in uns tragen. »Eltern,<br />

die einem nicht guttun, muss<br />

man differenzierter sehen«, sagt<br />

Heinz Weiss, Psycho analytiker<br />

am Sigmund-Freud-Institut in<br />

Frankfurt. Wenn man zu viele<br />

Groll- und Rachegefühle gegenüber<br />

den Eltern hege, könne<br />

man zwar versuchen, sich<br />

äußerlich von ihnen abzuwenden.<br />

Dann aber werde man die<br />

gleichen Beziehungen mit anderen<br />

Menschen immer wiederholen.<br />

»Letztlich muss eine<br />

Wiedergutmachung mit den<br />

inneren Eltern stattfinden, die<br />

wir in uns tragen und die wir nie<br />

loswerden können.« Es gehe<br />

darum, auch zwiespältige und gegensätzliche Gefühle<br />

aushalten zu können. Wer sich selbst mit all seinen guten<br />

und schwierigen Seiten akzeptieren könne, der könne<br />

auch andere besser mit ihren verschiedenen Seiten<br />

akzeptieren. Und meist hängen die eigenen schwierigen<br />

Seiten und die der Eltern ja auch zusammen.<br />

Dass Gut und Böse nicht so weit von ein an der entfernt<br />

liegen, weiß auch Nicholas Christakis. Bevor man<br />

allzu streng die Menschen um sich herum aussortiert,<br />

empfiehlt er ein altes japanisches Konzept der Ästhetik,<br />

das Wabi-Sabi. Es bedeutet, nicht nur offenkundige<br />

Schönheit zu sehen, sondern auch gebrochene, verhüllte.<br />

Den bemoosten Fels, den verrosteten Teekessel. Es ist<br />

die Wertschätzung der Schönheit trotz Unvollkommenheit.<br />

Wabi-Sabi können wir auch anwenden auf<br />

Menschen, die uns umgeben. Und auf uns selbst. —<br />

DIE SERIE IN ZEIT WISSEN<br />

Das tut jetzt gut<br />

1. TEIL:<br />

DANN BLEIB ICH HALT ZU HAUSE<br />

Sich selbst verwöhnen und neu entdecken<br />

(nachbestellbar unter zeit.de/zw-archiv)<br />

2. TEIL:<br />

WIE ICH VOM REDEN<br />

INS HANDELN KOMME<br />

Dem Alltag neue Impulse geben<br />

(nachbestellbar unter zeit.de/zw-archiv)<br />

3. TEIL:<br />

WER TUT MIR GUT, WER NICHT?<br />

Die Beziehungen neu sortieren<br />

(in dieser Ausgabe)<br />

Katrin Zeug findet, es kann auch manchmal zu viel<br />

darum gehen, wer wem wie und wann guttut oder schadet:<br />

In manchen Situationen würde es helfen, wenn es einfach nur<br />

um die Sache an sich ginge.

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