zeitwissen_2020_05_full
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Warum ist das so kompliziert?<br />
Der englische Psychoanalytiker Roger Money-Kyrle hat<br />
einmal gesagt, dass es ein Zeichen von seelischer Gesundheit<br />
sei, den Unterschied erkennen zu können<br />
zwischen dem, was wir uns wünschen, und dem, was<br />
wir brauchen. Das trifft auch auf Verliebte zu. »Das<br />
Fatale an der Partnerwahl ist, dass die Entscheidungen<br />
nicht im Frontalhirn getroffen werden, sondern auf einer<br />
emotional gefärbten Ebene im limbischen System«,<br />
sagt Eckhard Roediger, Neurologe, Paartherapeut und<br />
Leiter des Instituts für Schematherapie in Frankfurt. In<br />
uns herrsche ein Codierungssystem, das blitzschnell<br />
sortiert: Freund, Feind, mag ich, mag ich nicht, kann<br />
ich riechen oder nicht. »Die emotionale und körperliche<br />
Anziehung ist sehr animalisch. Sie sagt allerdings nichts<br />
darüber, wer einem wirklich guttut.«<br />
Was uns anzieht, lernen wir oft sehr früh. Um all<br />
die sozialen Prozesse gleich parat zu haben, die uns als<br />
Mensch später ausmachen, bräuchten wir ein so großes<br />
Gehirn, dass unser Kopf nicht mehr durch den Geburtskanal<br />
passen würde. Wir kommen also zu früh auf die<br />
Welt, unfertig und verletzlich. Dann saugen wir wie ein<br />
Schwamm alles auf, was uns umgibt. Was unser Umfeld<br />
– oft die Mutter, der Vater – denkt, wie es lebt und liebt,<br />
bildet sich direkt in uns ab, gräbt sich ein in unser junges<br />
Hirn: Haben wir uns aufgehoben gefühlt? Wurde uns<br />
die Panik genommen vor dem plötzlichen Ausgeliefertsein<br />
in der Welt? Was wir in dieser Phase kennenlernen,<br />
wird unsere erste Vorstellung von Liebe prägen. Auch<br />
wenn das nicht immer gut für uns ist.<br />
Um im späteren Leben zu erkennen, wer uns wirklich<br />
guttut, müssen wir eine Lektion von Eckhard Roediger<br />
lernen: »Auch das Gegenteil von Guttun kann stimulieren<br />
und reizen. Damit müssen wir leben. Das ist Teil<br />
unserer Existenz.« Wenn Wollen und Brauchen immer<br />
dasselbe wären, dann gäbe es viel weniger Menschen<br />
mit Übergewicht oder Drogenproblemen. Und seltener<br />
Beziehungsdramen. Sein nüchterner Rat: »Wir müssen<br />
lernen, einen Ausgleich zu finden zwischen dem, was<br />
der Kopf gut findet, und dem, was der Bauch will.«<br />
Was ist das eigentlich: guttun?<br />
Mäeutik heißt eine Gesprächstechnik, deren Entwicklung<br />
Platon seinem Lehrer Sokrates zuschreibt. Bei<br />
dieser Technik erläutert nicht ein Redner einem anderen<br />
eine Erkenntnis, sondern er bringt das Gegenüber<br />
durch Fragen dazu, selbst auf den Gedanken zu kommen.<br />
Den Namen Mäeutik soll Sokrates’ Mutter vorgeschlagen<br />
haben, die Hebamme war. Sie verglich die<br />
Technik mit einer Geburt: Mithilfe des Lehrers werde<br />
die Einsicht vom Lernenden selbst geboren. Mäeutik<br />
ist das altgriechische Wort für die Hebammenkunst.<br />
Ulrike Geppert-Orthofer sagt: »Menschen, die einen<br />
dazu bringen, aus sich heraus zu erkennen, was einem<br />
guttut, das sind auch die, die einem guttun. Das sind die,<br />
die einen ernst nehmen und die einen so sein lassen, wie<br />
man ist.« Geppert-Orthofer ist Präsidentin des Deutschen<br />
Hebammenverbands und hat jahrelang selbst Frauen bei<br />
der Geburt begleitet. Eine Geburt sei natürlich eine<br />
Grenzsituation. Im Laufe dieses elementaren Ereignisses