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im Alleingang darüber, wie viel sie einer zweiten Person<br />

abgab. Beim Ultimatum-Spiel wiederum konnte die<br />

erste Person der zweiten vorschlagen, wie sie die 100<br />

Dollar aufteilen wollten. Lehnte die zweite Person ab,<br />

bekamen beide gar nichts. Nach der neoklassischen<br />

Theorie würde jene Person rational handeln, wenn sie<br />

der anderen nichts abgibt – und ihren Nutzen somit<br />

maximiert, sprich: die 100 Dollar für sich behält.<br />

In den Versuchsanordnungen taten aber die wenigsten<br />

Menschen genau dies. Stattdessen teilten sie mit<br />

der anderen Person. Im Durchschnitt gaben sie 10 bis<br />

30 Prozent ab. Und in Folgestudien stellte sich heraus:<br />

Der Anteil, den die erste Person abgibt, wird größer,<br />

wenn im Versuchsraum im Hintergrund menschliche<br />

Stimmen zu hören sind oder scheinbar zufällig in Sichtweite<br />

ein Augenpaar als Poster an der Wand hängt. Auch<br />

Gespräche zwischen den Personen führten zu einer<br />

großzügigeren Aufteilung.<br />

Überraschen sollte dies nicht. Der Homo sapiens<br />

ist ein Gemeinschaftstier, er kann nicht allein überleben.<br />

In seiner Frühgeschichte hat er deshalb auch kooperative<br />

Verhaltenszüge entwickelt, die nicht nur seinen Platz in<br />

der Gemeinschaft stärken, sondern auch die Überlebensfähigkeit<br />

der Gemeinschaft insgesamt. Das großzügige<br />

Geben gehört dazu – und macht sogar glücklich.<br />

Akte der Großzügigkeit aktivieren im Gehirn dieselben<br />

Belohnungsmechanismen wie Sex und Essen.<br />

Gehirnscans zeigten, dass bei Menschen in dem Moment,<br />

in dem sie eine wohltätige Spende geben, eine<br />

spezielle Region im Großhirn aktiviert wird (das sogenannte<br />

Brodmann-Areal 25 der Gürtelwindung). Diese<br />

Region hat besonders viele Rezeptoren für das Hormon<br />

Oxytocin, das bei einer emotionalen Bindung zwischen<br />

Menschen erzeugt wird. Dockt Oxytocin an die Rezeptoren<br />

an, wird wiederum verstärkt das »Glückshormon«<br />

Dopamin ausgeschüttet. Dazu passt, dass die Versuchspersonen<br />

deutlich großzügiger wurden, wenn man ihnene<br />

mittels Nasenspray eine Dosis Oxytocin verabreichte.<br />

Im Vergleich mit Versuchspersonen, die nur ein Placebo<br />

bekommen hatten, gaben sie fast doppelt so viel ab.<br />

»Großzügigkeit ist nicht einfach ein kulturelles<br />

Konstrukt«, stellt deshalb Summer Allen vom Greater<br />

Good Science Center an der Universität Berkeley fest.<br />

Sie ist entwicklungsgeschichtlich eine Zuwendung zu<br />

anderen Menschen der eigenen Gemeinschaft, sei es in<br />

Form von körperlicher Nähe, sei es in Form von Nahrung.<br />

Diese Zuwendung hat in den Anfängen des Homo<br />

sapiens wohl ohne ein bewusstes Kalkulieren dessen<br />

stattgefunden, was die anderen einem zurückgeben<br />

könnten. Erst indem differenziertere Kulturen entstanden,<br />

schlich sich auch eine Berechnung ein: Wenn ich<br />

dir in meiner Großzügigkeit dies gebe, bist du mir später<br />

etwas anderes schuldig. Verhaltenspsychologische Untersuchungen<br />

mit Kleinkindern ergaben, dass dieser<br />

entwicklungsgeschichtliche Übergang auch beim einzelnen<br />

Menschen stattfindet – zwischen dem dritten<br />

und dem fünften Lebensjahr. Während Dreijährige<br />

noch gewissermaßen absichtslos großzügig sind, kalkulieren<br />

Fünfjährige bereits ein, ob eine andere Person<br />

diese Großzügigkeit eigentlich verdient hat.<br />

Der Wandel der Großzügigkeit lässt sich auch in<br />

der Kulturgeschichte beobachten. In Asien kam sie ihrem<br />

biologischen Ursprung noch am nächsten. Denn im<br />

Hinduismus und in dem aus diesem heraus entstandenen<br />

Buddhismus wird sie als Dana praktiziert. Dana<br />

meint eine Gabe, die sowohl materiell als auch spirituell<br />

ist. »Die Nahrung bildet den Le bens atem aller Menschen.<br />

Denn alles ist auf Nahrung gegründet«, heißt es<br />

im indischen Epos Mahabharata, und weiter: »Wer<br />

Nahrung gibt, der gibt auch Leben, und wer Leben gibt,<br />

der gibt alles.« Der junge Mann in Aleppo handelte eindeutig<br />

nach dieser Maxime. Dana steht nicht für Almosen,<br />

sondern für die Einsicht, dass alles, was das Leben<br />

ermöglicht, geteilt werden muss. Ein, wenn man so will,<br />

sehr früher Ausdruck von Open- Source- Logik.<br />

Im Judentum wiederum gab es den Begriff Tzedaka,<br />

der auch eine gerechte Verteilung und eine Fürsorge<br />

für die Bedürftigen meint. Tzedaka war keine Option,<br />

sondern eine Verpflichtung, die sich im Islam später als<br />

Fünfjährige denken<br />

bereits darüber nach,<br />

ob eine andere Person<br />

ihre Großzügigkeit<br />

wirklich verdient hat<br />

Zakat wiederfindet. Von Jesus, der ja selbst aus der<br />

jüdischen Tradition des Tzedaka kam, ist in der Bergpredigt<br />

überliefert: »Wenn du Almosen gibst, lass es<br />

also nicht vor dir herposaunen.«<br />

Weiter westlich ging die Unmittelbarkeit und Bescheidenheit<br />

des Gebens weitgehend verloren. Aristoteles<br />

verwendete in seiner Nikomachischen Ethik den Begriff<br />

»Freigebigkeit« (griechisch: eleutheriotes). Die<br />

griechisch-römische Antike war die erste Zivilisation,<br />

die – bereits zu Aristoteles’ Zeiten – eine entwickelte<br />

Geldwirtschaft hatte. Der Freigebige werde, so Aristoteles,<br />

für seine Art gelobt, »Vermögensobjekte hinzugeben«.<br />

Ein Vermögensobjekt ist laut Aristoteles »alles, dessen<br />

Wert nach Geld bemessen wird«.<br />

Diese Form der Großzügigkeit hatte mit der Wohltätigkeit<br />

des Tzedaka oder der Spiritualität des Dana<br />

nichts zu tun. Denn sie habe nicht den Armen der damaligen<br />

Gesellschaft, sondern immer der eigenen Familie<br />

gegolten, der eigenen Sippe oder Gästen, wie der Theologe<br />

Pieter van der Horst schreibt. Wenn ein reicher<br />

Bürger in Athen oder Rom etwa den Stadtbewohnern<br />

Essen spendete, dann bekamen es alle – nicht nur die<br />

Bedürftigen. So diente die Großzügigkeit schließlich<br />

dazu, den eigenen Status zu erhöhen.<br />

Illustration Nishant Choksi

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