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❤NR. <strong>05</strong><br />

September / Oktober <strong>2020</strong><br />

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Großzügigkeit<br />

gegen<br />

Kleinlichkeit<br />

Mit welcher Haltung kommen wir weiter?<br />

In der Gesellschaft,<br />

in Beziehungen, im Beruf<br />

<strong>05</strong><br />

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Titelillustration Wiebke Hansen/ZEIT Wissen Foto Vera Tammen; Selina Oberpriller; Privat<br />

EDITORIAL<br />

GEH MIR AUS DER SONNE<br />

Dieser Baum war höher als die anderen, vermutlich war er älter.<br />

Er war eine Föhre am Rande eines Föhrenwaldes, gleich bei<br />

unserer Wohnsiedlung. Föhren sind knorrige, windschiefe<br />

Nadelbäume, die immer ein bisschen so aus sehen wie alte Männer<br />

mit Hexenschuss. Aber die »große Föhre«, wie wir Kinder sie<br />

nannten, hatte einen relativ geraden Stamm und weit oben eine<br />

Gabel aus drei waagrechten Ästen – ein idealer Platz für ein Baumhaus. Die Bretter und<br />

Nägel klauten wir von Baustellen in der Nähe. Man gelangte in das Baumhaus durch<br />

eine Luke von unten. Ich bilde mir ein, dass meine Hände und Füße heute noch blind<br />

die Anordnung der Äste für den Aufstieg wüssten. Eines Tages war die große Föhre<br />

verschwunden. Ich erinnere das genau: wie ich dastand und auf den Boden blickte,<br />

wo nur noch ein kreisrunder Holzteller zu sehen war – und frische Sägespäne im Gras.<br />

So klein war dieser Teller, viel zu klein für die große Föhre. Der zersägte Stamm war<br />

aufgeschichtet zu einem kleinen Stapel, der nach Harz roch, abholbereit. Und weiter<br />

hinten lag ein Haufen zersplitterter Bretter, aus denen Nägel ragten. Es hieß, der Baum<br />

habe dem Dr. Ebner die Sonne für seine Terrasse genommen. Es hieß auch: Da kann<br />

man nichts machen. Liebe Leserin, lieber Leser, was halten Sie davon, dass ein Baum<br />

oder ein Fluss auch vor Gericht ziehen können? Im ZEIT WISSEN-Gespräch (S. 36)<br />

wird diese Idee diskutiert. Ich jedenfalls würde der großen Föhre dann posthum einen<br />

Anwalt besorgen und durch alle Instanzen gehen.<br />

AUS DER REDAKTION<br />

Clara Rauschendorfer hat im letzten Jahr in vier<br />

Großstädten gelebt. Sie hält es wie Vincent van Gogh:<br />

Wenn man die Natur wahrhaft liebt, so findet man<br />

es überall schön. Auch in der Stadt. Im ZEIT WISSEN-<br />

Gespräch unterhält sie sich mit den Naturliebhabern<br />

Dirk Steffens und Fritz Habekuß (S. 36).<br />

Wiebke Hansen, unsere Artdirektorin, wunderte sich<br />

schon als Kind über die unberechenbare Koexistenz<br />

von Großzügigkeit und Kleinlichkeit in jedem Menschen<br />

und schlug dieses Titelthema vor. Das Interview mit<br />

dem Psychologen Wolfgang Schmidbauer (S. 25)<br />

brachte sie auf die Idee der Cover-Illustration.<br />

3<br />

Andreas Lebert, Chefredakteur<br />

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4<br />

INHALT<br />

Wo gibt’s das beste Bier? S. 56 Wer darf mir nahe kommen? S. 44 Wie kann der Mensch überleben? S. 36<br />

6 AM ANFANG DREI FRAGEN<br />

1. Was können wir von Ameisen<br />

lernen? 2. Wie entscheidend<br />

ist der erste Blick? 3. Wo ist<br />

das Wetter besser – am Meer<br />

oder in den Bergen?<br />

12 DER OPTIMIST<br />

Schluss mit dem Lästern:<br />

E-Scooter sind eine Chance<br />

14 GEORDNETE VERHÄLTNISSE<br />

Die Infografik, diesmal: Fehler<br />

16 JUNGES WISSEN, ALTES WISSEN<br />

Anneke Schwarck und Michael<br />

Krüger über Gedichte<br />

36 »DER MISSISSIPPI SOLLTE VOR<br />

GERICHT ZIEHEN KÖNNEN«<br />

Das ZEIT WISSEN-Gespräch<br />

mit den Bestsellerautoren Fritz<br />

Habekuß und Dirk Steffens<br />

44 WER TUT MIR GUT, WER NICHT?<br />

Gar nicht so einfach, das rauszufinden.<br />

Und dann zu handeln<br />

52 DIE GROSSEN DREI<br />

Hula-Hoop, Springseil und<br />

Schaukel – diese Klassiker<br />

machen glücklich und fit<br />

56 SCHENKT EIN, TRINKT AUS!<br />

Das Bier ist einer der ältesten<br />

Freunde des Menschen. Es geht<br />

mit ihm durch dick und dünn<br />

62 ZUM MITMACHEN<br />

Ein Citizen-Science-Projekt<br />

erforscht die Bedeutung des<br />

Kinos in der DDR<br />

64 GEBRAUCHSANLEITUNG FÜR<br />

EIN GEFÜHL<br />

In dieser Folge unserer Reihe:<br />

Fomo (»fear of missing out«).<br />

Die Angst, etwas zu versäumen,<br />

greift immer mehr um sich<br />

68 WOHNUNGSBESICHTIGUNG<br />

Nie zuvor ist eine Technik so<br />

schnell in unser Zuhause eingedrungen<br />

wie die Videokonferenz,<br />

das hat Konsequenzen<br />

75 DIE ZUMUTUNG<br />

Endlich genau erklärt: Die Miete.<br />

War längst fällig<br />

80 JETZT GEHT’S UMS GELD<br />

Was ist es uns wirklich wert?<br />

Bilder aus Papua-Neuguinea<br />

und eine Bilanz aus Hamburg<br />

90 HILDEGARD VON BINGEN<br />

Die großen Denkschulen – wie<br />

sie uns heute weiterbringen<br />

94 WAS IST DENN DAS FÜR EINER?<br />

Rassismus versteckt sich oft<br />

sehr gut. Manchmal auch in<br />

einem selbst. Teil 1 der Mini-Serie<br />

98 BUCHTIPPS / APPS<br />

102 IMPRESSUM / DIE BESTE FRAGE<br />

104 EINWURF:<br />

VERLETZUNGSANFÄLLIGKEIT<br />

106 DIE WELT AUS DER SICHT<br />

DES BALKONS<br />

Fotos Getty Images; Loredana Nemes; Zack Seckler/Gallery Stock Illustration Eiko Ojala


5<br />

18<br />

GROSSZÜGIGKEIT GEGEN KLEINLICHKEIT<br />

Schon klar, wer bei diesem Wettstreit gewinnt? Täuschen Sie sich nicht:<br />

Eine von beiden hat nur die bessere Propaganda.<br />

Bericht aus einem menschlichen Spannungsfeld mit hilfreichen Erkenntnissen<br />

+ Test: Wann sind Sie großzügig? Und wann nicht? (Seite 30)<br />

Unsere Recherchequellen: Studien, Bücher, Fachartikel und Dokumente, die wir für unsere journalistische Arbeit genutzt haben, finden<br />

Sie online unter www.zeit-wissen.de/<strong>05</strong>20quellen. Zu diesen Texten: Großzügigkeit gegen Kleinlichkeit, Wer tut mir gut, wer nicht?,<br />

Die großen 3, Schenkt ein, trinkt aus!, Die Zumutung


6<br />

AM ANFANG DREI FRAGEN<br />

1. Was können wir<br />

von Ameisen lernen?<br />

Die Ameise arbeitet emsig, wenn sie muss. Doch sie ist<br />

bei Weitem kein Workaholic. Weil sie seit Millionen von<br />

Jahren etwas macht, das wir gar nicht von ihr erwarten<br />

Text Clara Rauschendorfer<br />

Foto Jon Attenborough<br />

S<br />

ich trotz Fieber und Husten zur Arbeit zu<br />

schleppen ist nicht gesund für einen selbst<br />

und nicht für andere, die sich im schlimmsten<br />

Falle anstecken – das weiß spätestens seit<br />

diesem Frühjahr jeder Mensch. Ameisen<br />

haben das seit 130 Millionen Jahren verinnerlicht,<br />

da lebten noch die Dinosaurier. Seitdem isolieren<br />

sie sich, wenn sie krank sind. Und seitdem meiden<br />

Ameisen im Außendienst, die einem höheren<br />

Infektionsrisiko ausgesetzt sind, den Kontakt zu ihren<br />

Kolleginnen im Innendienst, zur Brut und zur Königin.<br />

Wer heute durch einen Wald geht, wird keinem<br />

Dinosaurier begegnen – Ameisen schon. Sie verstehen<br />

also etwas vom Überleben. Das sichern die kleinen Tiere,<br />

indem sie einem ähnlichen Credo folgen wie die Musketiere:<br />

Einer für alle, alle für die Kolonie. Und: Keine<br />

Geheimnisse, niemals. »Ameisen tauschen ihre Informationen<br />

ganz effizient aus«, sagt die Insektenforscherin<br />

Sylvia Cremer vom Institute of Science and Technology<br />

im österreichischen Klosterneuburg, »denn es ist für jedes<br />

Koloniemitglied von Vorteil, alle eigenen Informationen<br />

mit den anderen zu teilen.« Trifft eine Ameise auf andere<br />

Ameisen, sagen ihr deren Anzahl und Verhalten und<br />

Geruch, was gerade zu tun ist. Gibt es Futter zu transportieren,<br />

kommen viele Ameisen mit Nahrung zurück.<br />

Die Ameise im Bau registriert das und macht sich selbst<br />

auf den Weg. Ameisen brauchen also keinen Chef, der<br />

ihnen Arbeit zuweist. Sie organisieren sich, indem sie einan<br />

der »zuhören«. »Eine offene Kommunikation ist die<br />

Grundlage für all ihre Erfolge«, sagt Cremer.<br />

Was für die Tiere selbstverständlich ist, führt zu<br />

einer Erkenntnis, die in diesem Jahr auch in den menschlichen<br />

Blick geraten ist: Was alle tun, hat Auswirkungen<br />

auf mich – was ich mache (oder nicht), hat Auswirkungen<br />

auf alle. »Zu Beginn der Pandemie war es interessant<br />

zu sehen, wie manche Menschen erst lernen mussten,<br />

dass individuelles Verhalten kollektive Konsequenzen<br />

hat und umgekehrt«, sagt die Ameisenforscherin Deborah<br />

Gordon von der Stanford University. »Wie sich jeder<br />

Mensch verhielt, konnte das Risiko jedes Einzelnen<br />

beeinflussen. Deshalb haben wir uns im Frühjahr fast<br />

überall in Quarantäne begeben – denn je weniger man<br />

sich selbst bewegte, desto geringer war das Risiko einer<br />

In fek tion für alle», sagt sie. »Das gilt auch umgekehrt:<br />

Wenn viele Menschen sich wieder in Bars treffen, erhöht<br />

das sogar das Risiko für die, die da nicht hingehen.«<br />

Wir können also von Ameisen lernen, mehr aufein<br />

an der zu achten. Wobei das Resultat all der Aufmerksamkeit<br />

zu sein scheint, dass die Insekten den ganzen<br />

Tag ohne Pause hin und her wuseln. Von einem Job zum<br />

nächsten quasi – und das so ausdauernd, dass im Deutschen<br />

die Wörter »emsig« und »Ameise« sogar sprachlich<br />

verwandt sind. Dass der Schein trügt, fanden Forscher<br />

der University of Arizona heraus. Sie markierten für ein<br />

Experiment rund 200 Ameisen mit winzigen Farbmustern,<br />

damit sie die Tiere unterscheiden konnten.<br />

Dann beobachteten sie die Ameisen drei Wochen lang.<br />

Und was taten 40 Prozent der Insekten während des<br />

Forschungszeitraums die meiste Zeit? Absolut nichts.<br />

Warum? Waren es Arbeitsverweigerer? Rebellen? Burnout-Ameisen?<br />

Ahnten sie, dass sie beobachtet wurden?<br />

Das wissen die Forscher noch nicht. Und natürlich<br />

versuchen sie emsig, es zu klären. Eine gute Idee hat der<br />

Autor Florian Werner (Die Weisheit der Trottellumme):<br />

»Vielleicht ist die Tätigkeit, der die Ameisen sich widmen,<br />

die hehrste und schwerste überhaupt: nämlich dem<br />

Menschen, diesem unverbesserlichen Arbeitstier, zu<br />

zeigen, dass man selbst im Angesicht von Millionen<br />

zappeliger Konkurrenten und eines Ameisenhaufens<br />

von Aufgaben einfach ruhig sitzen bleiben kann.« —


8


AM ANFANG DREI FRAGEN<br />

9<br />

2. Wie entscheidend<br />

ist der erste Blick?<br />

Wenn zwei Menschen sich ansehen, erfinden<br />

ihre Augen blitzschnell eine Geschichte – ob<br />

sie wahr ist oder falsch, ist erst einmal egal<br />

Text Rebekka Gottl<br />

Foto Tadao Cern<br />

N<br />

och ist ihr Kopf gesenkt, und die Augen<br />

sind geschlossen, während ihr gegenüber<br />

eine ihr fremde Person Platz<br />

nimmt. Marina Abramović atmet tief<br />

durch, dann öffnet sie die Augen. Lange<br />

Minuten werden dann beide schweigen,<br />

sie werden sich nur ansehen. Gut 600 Stunden saß die<br />

Künstlerin 2010 für ihre Aktion The Artist Is Present im<br />

Atrium des New Yorker Museum of Modern Art. In<br />

1545 Augenpaare hat sie geschaut – 1545 erste Blicke,<br />

und jeder einzelne auf eigene Weise bedeutsam.<br />

Der Philosoph Arthur Schopenhauer war überzeugt<br />

vom Gewicht des ersten Blicks. »Wie Gerüche uns<br />

nur bei ihrem Eintritt affizieren [reizen], so machen<br />

auch Gesichter ihren vollen Eindruck nur das erste<br />

Mal«, schreibt er in seinem Essay Zur Physiognomik. Wie<br />

schnell wir uns ein Urteil über unser Gegenüber bilden,<br />

haben Psychologen der Prince ton University untersucht.<br />

Dafür legten sie Probanden nur einen Wimpernschlag<br />

lang Fotos ihnen unbekannter Gesichter vor und<br />

fragten sie nach den Charaktereigenschaften der abgebildeten<br />

Personen. Das Ergebnis: Die Zehntelsekunde<br />

reichte für einen ersten Eindruck. Die Versuchsteilnehmer<br />

hatten bereits entschieden, ob die Unbekannten<br />

etwa kompetent, aggressiv oder zugänglich wirkten.<br />

Worauf wir beim schnellen ersten Blick besonders<br />

achten, haben Wissenschaftler der University of York<br />

herausgefunden. Es sind vier Merkmale: die Größe der<br />

Augen, die Breite der Augenbrauen, die Form des Mundes<br />

und die Höhe der Wangenknochen.<br />

»Sehen wir jemanden zum ersten Mal, schreibt das<br />

Gehirn dem Unbekannten augenblicklich und unbewusst<br />

bestimmte Eigenschaften zu«, sagt Hans-Peter<br />

Erb, Professor für Sozialpsychologie an der Helmut-<br />

Schmidt-Universität Hamburg. Evolutionsbiologisch<br />

sei diese Einschätzung lebenswichtig. In der Steinzeit<br />

musste blitzschnell zwischen Freund und Feind unterschieden<br />

werden – ein Reflex, den wir bis heute nicht<br />

abgelegt haben. Hirnscans zeigen, dass beim Betrachten<br />

von Fotos fremder Gesichter zwei Hirnregionen sehr<br />

aktiv sind: die Amygdala, die unser soziales und emotionales<br />

Verhalten kontrolliert, und der hintere cinguläre<br />

Cortex, der auch für die Bewertung von Objekten zuständig<br />

ist – zum Beispiel ihrer Vertrauenswürdigkeit.<br />

»Das intuitive Gefühl, das wir beim ersten Blick<br />

entwickeln, kann uns leicht täuschen«, sagt Erb. Dennoch<br />

zeigt eine Studie der Cornell University: Der erste Eindruck<br />

beeinflusst die folgende Begegnung maßgeblich. So<br />

ordneten Probanden einer Unbekannten, von der sie<br />

zuvor ein Foto gesehen und bewertet hatten, auch nach<br />

einem persönlichen Treffen noch dieselben Eigenschaften<br />

zu, obwohl sie sich mehr als 20 Minuten mit ihr unterhalten<br />

hatten. Das Gehirn veranlasst uns also, stets auf<br />

den ersten Eindruck – ob richtig oder nicht – zu vertrauen.<br />

Grund dafür ist der Halo-Effekt: Wir schließen<br />

von oberflächlichen Merkmalen unserer Mitmenschen<br />

auf deren Persönlichkeit. Finden wir jemanden etwa<br />

attraktiv, setzen wir der Person sozusagen den Heiligenschein<br />

auf und ordnen ihr ausschließlich positive Charakterzüge<br />

zu. Hans-Peter Erb spricht vom confirmation<br />

bias, dem Bestätigungsfehler: »Sobald wir uns ein erstes<br />

Bild von unserem Gegenüber gemacht haben, suchen<br />

wir gezielt Infos, die unsere These bestätigen, und ignorieren<br />

solche, die sie widerlegen.«<br />

Gänzlich umgehen können wir den Mechanismus<br />

nicht. Aber wir können uns des eigenen Blicks und seiner<br />

Macht zumindest bewusst werden. Wer sich das nächste<br />

Mal also dabei erwischt, vom Äußeren einer Person auf<br />

deren Charakter geschlossen zu haben, dem rät Erb:<br />

»Erwägen Sie doch einfach mal das Gegenteil.« —


10<br />

AM ANFANG DREI FRAGEN<br />

3. Wo ist das Wetter<br />

besser – am Meer oder<br />

in den Bergen?<br />

Mit den Füßen im Sand oder dem Kopf in den Wolken:<br />

Überall lässt es sich aushalten, wenn das Wetter stimmt.<br />

Und die Chancen auf Sonne lassen sich sogar erhöhen<br />

Text Sven Stillich<br />

Foto Iveta Gabaliņa<br />

G<br />

utes Wetter ist schlecht zu fassen: Die<br />

einen lieben es knallig heiß, andere<br />

wünschen es sich kühler. Surfer sehnen<br />

sich nach Wind – und scheint die Sonne<br />

zu lange, erhitzen sich die Landwirte.<br />

Dennoch würden die meisten Mitteleuropäer<br />

wohl zustimmen, wenn man »gutes Wetter«<br />

definieren würde als: blauer Himmel, angenehm warm,<br />

trocken. Die Sonne scheint also lange, und man freut<br />

sich auf ein Eis in der Waffel. Zur Sonnenscheindauer<br />

gibt es zum Glück Statistiken, und die sagen: Der Ort,<br />

auf den weltweit am ausdauerndsten die Sonne brutzelt,<br />

heißt Yuma und liegt in Arizona, USA, an der<br />

Grenze zu Mexiko. 4040 Stunden im Jahr scheint dort<br />

durchschnittlich die Sonne, umgerechnet 340 Tage<br />

lang. Das Städtchen mit dem Wüstenklima liegt am<br />

Colorado River – also weder in den Bergen noch an der<br />

Küste. Von Meer umgeben ist immerhin der Ort mit<br />

der kürzesten mittleren jährlichen Sonnenscheindauer<br />

– und dessen Küste ist vereist: Auf den Südlichen Orkneyinseln<br />

nahe der Antarktis scheint nämlich durchschnittlich<br />

von Neujahr bis Silvester nur 478 Stunden<br />

die Sonne, der kälteste Monat ist der Juli mit minus 8,5<br />

Grad Celsius. Zu kalt zum Baden.<br />

Und in Deutschland? Da findet sich die Gegend<br />

mit der meisten Sonne auf dem höchsten Berg – es ist<br />

die Zugspitze mit 1873 Sonnenstunden im Jahresmittel.<br />

Knapp dahinter kommen dann aber schon Orte mit<br />

Küste, nämlich Hiddensee und Fehmarn mit 1771 und<br />

1756 Stunden Sonne. Doch Andreas Friedrich vom<br />

Deutschen Wetterdienst geht die Sache komplexer an:<br />

Entscheidend sei, wann man dorthin reisen wolle. »Im<br />

Sommer sieht es auf der Zugspitze gar nicht gut aus mit<br />

Sonnenschein«, sagt er, »da ist es eher im Herbst oder<br />

im Winter schön, wenn der Gipfel über dem Nebel und<br />

den Wolken liegt.« An der Küste scheine dagegen eher<br />

im Sommer die Sonne, »und dann vor allem auf den<br />

Inseln, weil dort durch die relativ kühle Nord- oder<br />

Ostsee die Wolkenbildung etwas unterdrückt wird«,<br />

sagt Friedrich. »Oft ist es an der Küste noch sonnig,<br />

während sich im Land bereits die Wolken auftürmen.«<br />

Abseits der Mittelwerte gibt es auch hierzulande<br />

Orte mit extrem viel Sonne. Den deutschen Rekord für<br />

die meiste Sonne im Jahr hält das Klip pen eck, ein Berg<br />

am Rande der Schwäbischen Alb. 2329 Stunden hat dort<br />

die Sonne geschienen, allerdings war das 1959 – wer also<br />

seitdem voller Hoffnung auf Sonnengarantie immer<br />

wieder hingefahren ist, wurde enttäuscht. Was man aber<br />

zumindest für Mitteleuropa verlässlich sagen kann: »An<br />

der Küste erlebt man schnellere Wetterwechsel. Man hat<br />

öfter mal einen sonnigen Vormittag und einen regnerischen<br />

Nachmittag oder umgekehrt«, sagt Friedrich.<br />

»Wenn man in den Bergen Pech hat und die Wetterlage<br />

schlecht ist, regnet es auch mal eine Woche lang.«<br />

Einen Tipp hat er trotzdem: Früh aufstehen lohnt<br />

sich immer. »In den Bergen geht es oft am Vormittag<br />

sonnig los, und im Laufe des Tages werden die Quellwolken<br />

immer mächtiger, bis sich am Nachmittag die<br />

Gewitter entladen«, sagt Friedrich. »Man sollte bei<br />

Sonnenaufgang los oder sogar schon auf dem Berg sein.<br />

Wenn man dann auf 2000 Metern auf dem Gipfel steht,<br />

hat man eine fantastische Fernsicht.« Und an der Küste?<br />

»Zum Beispiel an der Nord- und Ostsee gibt es Land-<br />

Seewind-Systeme. Da ist es gern so, dass am Vormittag<br />

der Seewind nicht so ausgeprägt und das Meer noch<br />

relativ ruhig ist«, sagt er. »Dann sind die Temperaturen<br />

am späten Vormittag am höchsten, bevor gegen Mittag<br />

der Seewind einsetzt und es spürbar kühler wird. Der<br />

Surfer wartet also eher auf den Nachmittag.« Und dann<br />

sind ja bis auf die Landwirte wieder alle zufrieden. —


Foto Iveta Gabaliņa / Gallery Stock<br />

11


12<br />

OPTIMIST<br />

Eine Zukunft für zwei Räder<br />

Sind E-Scooter unfallträchtig? Nicht nachhaltig? Stehen im Weg rum? Nachdem<br />

alle jetzt mal abgelästert haben, kann der Ausbau der Mikromobilität beginnen<br />

Text Vivien Valentiner<br />

Weiterlesen<br />

Der Fachartikel<br />

»Why Cities Need<br />

to Take Road<br />

Space from Cars«<br />

von Stefan Gössling:<br />

bit.ly/goessling<br />

Die Studie »Safe<br />

Micromobility« des<br />

Weltverkehrsforums<br />

der OECD:<br />

bit.ly/mikromobil<br />

Florence Norman war nicht nur politisch<br />

ihrer Zeit voraus. Im Jahr 1916 fuhr die<br />

britische Frauenrechtlerin mit wehenden<br />

Kleidern auf einem Autoped zur Arbeit,<br />

einem motorisierten Stehroller, der stark an<br />

heutige E-Scooter erinnert. Als diese ersten<br />

Stehroller Anfang des 20. Jahrhunderts aufkamen, war<br />

die öffentliche Meinung gespalten. Hersteller warben,<br />

man könne mit dem neuen Transportmittel über den<br />

Boden fliegen. Die Autopeds seien lächerlich, gefährlich<br />

und lästig, hieß es hingegen in amerikanischen<br />

Zeitungen. Kommt Ihnen dieser Streit bekannt vor?<br />

Im vergangenen Sommer waren E-Scooter hierzulande<br />

wegen zahlreicher Unfälle in den Schlagzeilen.<br />

Ärzte sorgten sich um die Gesundheit der Rollerfahrer.<br />

Nett gemeint, das ist ihr Job. Aber: Laut einer Studie<br />

des Weltverkehrsforums der OECD ist Elektrorollerfahren<br />

ebenso gefährlich oder ungefährlich wie Radfahren.<br />

Wie das bei neuartigen Fortbewegungsmitteln<br />

(Hoverboard, Inline skates) nun mal der Fall ist, muss die<br />

richtige Handhabung erst einmal gelernt werden. Statt<br />

über Verbote sollten wir über Fahr trainings diskutieren,<br />

zum Beispiel an Schulen. Und ja, die Roller stehen im<br />

öffentlichen Raum herum – bei Autos haben wir uns mit<br />

der Zeit an den Anblick gewöhnt und ihnen viele Privilegien<br />

gewährt. Parkhäuser, Parkbuchten, Tiefgaragen.<br />

Warum sind wir bei E-Scootern so einfallslos?<br />

E-Scooter könnten Bewegung in die Stadtplanung<br />

bringen, schreibt der Verkehrsforscher Stefan Gössling<br />

von der Universität Lund in einer Analyse für das Journal<br />

of Urban Design. »Sie geben der Stadtplanung ein neues<br />

Argument an die Hand, den öffentlichen Raum umzuverteilen.«<br />

Auch wenn noch unklar sei, welche Wege<br />

die Roller ersetzen (im Ideal fall solche, die sonst motorisiert<br />

zurückgelegt werden): »In den engen und verstopften<br />

europäischen Städten lassen sich ganze Straßen<br />

einfach und kostengünstig in Wege für Mikromobilität<br />

umwandeln.« Das würde den Verkehr für alle Beteiligten<br />

sicherer machen, auch für Fußgänger und Autofahrer.<br />

Aus Angst vor dem Coronavirus meiden Menschen<br />

derzeit die U-Bahnen, Busse und S-Bahnen. Eine kluge<br />

Stadtplanung könnte dafür sorgen, dass sie stattdessen<br />

nicht wieder das Auto nehmen, sondern E-Bikes, Fahrräder<br />

und E-Scooter nutzen. Vor hundert Jahren floppten<br />

Autopeds zum einen wegen ihres Preises – nur die<br />

bürgerliche Elite konnte sich das teure Gefährt leisten.<br />

Vor allem scheiterten sie an miserablen Straßenverhältnissen.<br />

Das ist heute keine Entschuldigung mehr. —<br />

Fotos Manfred Neubauer / SZ Photo; Gordon Welters / laif; Caroline Paux / epd-bild; Frédéric Cirou / laif


Die digitale<br />

Themenwoche<br />

14.–18. September<br />

<strong>2020</strong><br />

Grundlagenforschung trifft angewandte Forschung: Wie lösen wir die Weltprobleme?<br />

Und wie bleibt der Wissensstandort Deutschland wettbewerbsfähig?<br />

Unter diesen Leitfragen laden wir führende Forscher und Wissenschaftler,<br />

Wirtschaftsvertreter und Politiker ein, um gemeinsam der Frage<br />

nach zu gehen, wie Wissenschaft & Forschung an der Lösung der dring -<br />

lichen Weltprobleme arbeiten, und welche Rolle die Digitalisierung –<br />

von Quantencomputing bis zu Künstlicher Intelligenz – hier bei spielt.<br />

Wir wollen diskutieren, wie sich der Blick auf die Wissen schaft im<br />

Auszug Sprecher*innen<br />

Kontext von Corona verändert hat und den Stand der Corona-Impfstoffforschung<br />

reflektieren; wir wollen herausfinden, wie wir eine stetig<br />

wachsende Zahl von Menschen ressourcenschonend ernähren können<br />

und ob Wasserstoff Teil unserer Energiestrategie sein kann. Und<br />

welche Rolle spielt die Wissenschaft beim Kampf gegen den Klimawandel<br />

überhaupt, auch in Unternehmen?<br />

Prof. Dr. Sandra Ciesek<br />

Direktorin, Institut für<br />

Medizinische Virologie,<br />

Universitätsklinikum<br />

Frankfurt<br />

Prof. Dr. Maja Göpel<br />

Generalsekretärin, Wissenschaftlicher<br />

Beirat der<br />

Bundesregierung Globale<br />

Umweltveränderungen<br />

Anja Karliczek<br />

Bundesministerin für<br />

Bildung und Forschung<br />

Prof. Dr.-Ing. Matthias Kleiner<br />

Präsident,<br />

Leibniz-Gemeinschaft<br />

Rafael Laguna<br />

Direktor der Bundesagentur<br />

für Sprunginnovationen SPRIND<br />

Annette Maier<br />

Managing Director,<br />

Google Cloud DACH<br />

Prof. Dr. Katja Matthes<br />

Leiterin des Forschungsbereiches<br />

Ozeanzirkulation und<br />

Klimadynamik, GEOMAR<br />

Helmholtz-Zentrum für<br />

Ozeanforschung Kiel<br />

Prof. Dr. Reimund Neugebauer<br />

Präsident,<br />

Fraunhofer-Gesellschaft<br />

Prof. Dr. Claudia Peus<br />

Geschäftsführende Vize -<br />

präsidentin für Talentmanagement<br />

und Diversity,<br />

Technische Universität München<br />

Richard Socher<br />

CEO, Start-up<br />

Prof. Dr. Martin Stratmann<br />

Präsident,<br />

Max-Planck-Gesellschaft<br />

Weitere Informationen und Anmeldung unter: www.wissenfuerdiewelt.de<br />

Prof. Dr. Otmar D. Wiestler<br />

Präsident,<br />

Helmholtz-Gemeinschaft<br />

Veranstalter:<br />

Premium-Partner:<br />

Anja Karliczek: © BMBF/Laurence Chaperon | Prof. Dr.-Ing. Matthias Kleiner: © Leibniz-Gemeinschaft, Oliver Lang | Rafael Laguna: © SPRIND<br />

Prof. Dr. Reimund Neugebauer: © Fraunhofer, Bernhard Huber | Prof. Dr. Martin Stratmann: © Alex Griesch | Prof. Dr. Otmar D. Wiestler: © Gesine Born


14<br />

GEORDNETE VERHÄLTNISSE<br />

Fehler<br />

62 %<br />

Missgeschicke, Ausrutscher, Schnitzer: Nicht alle<br />

Fehler sind groß und bedeutend – es kommt wie<br />

immer im Leben auf die richtige Mischung an<br />

1993<br />

Rund 20 Jahre nach der ersten<br />

digitalen Rechtschreibprüfung:<br />

Die Geburt der Autokorrektur<br />

9 %<br />

Mann<br />

gegenüber<br />

Mann<br />

17 %<br />

Mann<br />

gegenüber<br />

Frau<br />

Mit welcher Wahrscheinlichkeit<br />

Männer und Frauen einander<br />

um Entschuldigung bitten<br />

13<br />

Tippfehler pro 100 Wörter<br />

machen wir durchschnittlich in<br />

E-Mails (Social Media: 39/100)<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

18 %<br />

Frau<br />

gegenüber<br />

Mann<br />

Baden-Württemberg<br />

Bayern<br />

Berlin<br />

Brandenburg<br />

56 %<br />

Frau<br />

gegenüber<br />

Frau<br />

ID10T<br />

»Fehlercode« unter IT-Nerds<br />

für »Fehler des Benutzers«: Die<br />

Kennung sieht aus wie »Idiot«<br />

%<br />

60<br />

Griechenland<br />

Deutschland<br />

Groß britannien<br />

USA<br />

Kein Führerschein: Nicht bestandene Prüfungen zur Erlangung<br />

der Fahrerlaubnis 2019 nach Bundesländern (in Prozent)<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

Nicht bestandene theoretische Prüfungen<br />

Nicht bestandene praktische Prüfungen<br />

Bremen<br />

Hamburg<br />

Hessen<br />

Mecklenburg-Vorpommern<br />

45 %<br />

... der deutschen Firmen würden<br />

menschliche Fehler gern mittels<br />

künstlicher Intelligenz gänzlich<br />

ausschließen<br />

2001 2003 20<strong>05</strong> 2007 2009 2011 2013 2015 2017 2019<br />

»Und wenn es ein Fehler ist?«: Anteil der 18- bis 64-Jährigen<br />

in ausgewählten Ländern, die gern ein Unternehmen gründen<br />

würden – aber durch ihre Angst vor dem Scheitern davon<br />

abgehalten werden. Der Fachbegriff: »Fear of Failure Rate«<br />

Niedersachsen<br />

Nordrhein-Westfalen<br />

Rheinland-Pfalz<br />

Saarland<br />

Sachsen<br />

Sachsen-Anhalt<br />

Schleswig-Holstein<br />

Thüringen<br />

Mir ist korrekte Rechtschreibung<br />

nicht wichtig,<br />

ich achte auch selbst nicht<br />

immer so genau drauf<br />

26 %<br />

Korrekte Rechtschreibung<br />

in Nach-<br />

12 %<br />

richten ist für mich<br />

sehr wichtig und ein<br />

Zeichen von Respekt<br />

gegenüber dem Empfänger.<br />

Wer sich hier<br />

schon keine Mühe<br />

gibt, scheidet für<br />

mich als Partner aus<br />

11 %<br />

Viele Jüngere drücken sich<br />

davor, Fehler zuzugeben. Dabei<br />

ist der größte Beziehungsfehler:<br />

Nicht zu sagen, was los ist<br />

43.750 £<br />

Erlös für eine Erstausgabe von<br />

»Harry Potter und der Stein<br />

der Weisen«, auf der »Weisen«<br />

falsch geschrieben war<br />

Eigentore<br />

Fortuna Düsseldorf<br />

Borussia Dortmund<br />

SV Werder Bremen<br />

FC Augsburg<br />

Pfosten-/Lattenschüsse<br />

Bayern München<br />

Bundesliga: Fehlleistungen und<br />

Missgeschicke, Saison 19/20<br />

3 % Frauen<br />

Männer<br />

77 %<br />

71 %<br />

Ich achte<br />

zwar auf<br />

richtige<br />

Rechtschreibung,<br />

im Eifer des<br />

Gefechts<br />

verzeihe ich<br />

jedoch den<br />

einen oder<br />

anderen<br />

Flüchtigkeitsfehler<br />

Wenn man beim Online-Dating zum ersten Mal eine Nachricht<br />

erhält, ist korrekte Rechtschreibung und Zeichensetzung nicht<br />

ausschlaggebend – schadet aber im weiteren Verlauf auch nicht<br />

14–29 Jahre<br />

29 %<br />

30–39 J.<br />

38 %<br />

40–49 J.<br />

TSG 1899 Hoffenheim<br />

37 %<br />

50–59 J.<br />

Borussia Mönchengladbach<br />

41 %<br />

60 und älter<br />

4<br />

3<br />

3<br />

3<br />

19<br />

16<br />

14<br />

Infografik Mirko Merkel Quellen Bitkom, bundesliga.de, ElitePartner, Guardian, Kantar Emnid, KBA, NYT, Parship, University of Waterloo, Victoria University of Wellington, World Bank


Wir gratulieren den<br />

Preisträgern <strong>2020</strong>!<br />

Für den ZEIT WISSEN-Preis Mut zur Nachhaltigkeit <strong>2020</strong> wurden wieder herausragende Personen, Projekte,<br />

Initiativen und Unternehmen in den Kategorien WISSEN, HANDELN und DURCHSTARTEN ausgewählt.<br />

Der Preis ist mit jeweils 10.000 Euro dotiert und soll mit den ausgezeichneten Projekten Impulse für<br />

Nachhaltigkeitsinitiativen in Wissenschaft und Wirtschaft geben. Die drei Preisträger und ihre Projekte sind<br />

Vorzeigebeispiele, wie nachhaltige und zukunftsorientierte Ideen in die Tat umgesetzt werden können.<br />

Prof. Maja Göpel<br />

Wir gratulieren der Transformationsforscherin Prof. Maja Göpel als<br />

Preisträgerin in der Kategorie WISSEN. Sie macht sich für neue<br />

Wohlstandsmodelle und entsprechende Veränderungen in politischer und<br />

ökonomischer Hinsicht stark. Die Generalsekretärin des Wissenschaftlichen<br />

Beirats der Bundesregierung und Honorarprofessorin der Leuphana<br />

Universität Lüneburg ist eine der Vordenkerinnen in Richtung nachhaltige<br />

Gesellschaften und der dafür notwendigen Innovationen.<br />

Regionalwert AG<br />

In der Kategorie HANDELN gratulieren wir der Regionalwert AG als diesjährigem<br />

Preisträger. Die Regionalwert AG wurde 2006 in Freiburg von Christian Hiß<br />

als Bürgeraktiengesellschaft ins Leben gerufen. Ziel ist es, regionale Betriebe<br />

und Betriebsgründungen der ökologischen Land- und Ernährungswirtschaft<br />

durch Eigenkapitalfinanzierung und Support zu fördern. Eine regionale<br />

Wertschöpfungskette sorgt dabei für eine ganzheitliche Problemlösung.<br />

Peer Sachteleben<br />

Weitere Informationen finden Sie unter: www.zeitfuerklima.de<br />

Der diesjährige Preisträger der Kategorie DURCHSTARTEN heißt Peer<br />

Sachteleben. Der Osnabrücker Jungbauer hat ein neues Konzept zur<br />

Schweinehaltung entwickelt. Die Tiere werden in mobilen Ställen gehalten, die<br />

gleichzeitig Schutz und genug Auslauf bieten. Davon profitieren neben den<br />

Tieren auch der Boden sowie die Kulturpflanzen und ermöglichen ein geschlossenes<br />

System zur nachhaltigen Bewirtschaftung von Landwirtschaftsbetrieben.<br />

Foto v. o. u.: © Andree Kaiser | © Baptiste Schmitt | © Patrick Slesiona | Anbieter: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Hamburg<br />

Mut zur Nachhaltigkeit


16<br />

JUNGES WISSEN<br />

ÜBER<br />

GEDICHTE<br />

Unsere Expertin:<br />

Anneke Schwarck,<br />

18, lebt in Kiel und<br />

macht nächstes<br />

Jahr Abitur. Beim<br />

U20-Poetry-Slam in<br />

Schleswig-Holstein<br />

wurde sie Zweite.<br />

Hier schreibt sie<br />

über die Entstehung<br />

von Lyrik live beim<br />

Slammen<br />

Z<br />

uerst ist da ganz wenig, ja fast<br />

gar nichts. Ein leises Knistern,<br />

hier ein Räuspern, da ein Wispern<br />

– dann wieder gespannte<br />

Stille. Augen schließen, und<br />

Mundwinkel heben sich, wir<br />

atmen tief ein, tief aus – Vorhang auf.<br />

Wir sehen eine leere Bühne und ein<br />

leeres Blatt. Ein erster Buchstabe erscheint,<br />

wird zu einem Wort, wird zu einem Satz.<br />

Plötzlich Zeilen,<br />

formen Strophen,<br />

gefüllt mit großen Emotionen, bis der<br />

Worte Wellen Woge an des Hörers Ufer<br />

bricht. Es spricht: das Ich, das hier niemand<br />

sehen, aber jeder sein kann. Hat weder<br />

Körper noch Geist, doch die Menschen fest<br />

in seinem Bann.<br />

Wenn es erzählt, wird gelauscht und<br />

gerunzelt, geschluchzt und geschmunzelt<br />

und manch einer munkelt, was das wohl sein<br />

könnte. Ein Gedicht. Fast wie ein Gemälde,<br />

das vor dem inneren Auge entsteht, wenn<br />

die Lider geschlossen sind.<br />

Ein Gedicht.<br />

Dessen Worte wie Töne erklingen.<br />

Ein Gedicht.<br />

Das in dieser Form noch keiner kennt.<br />

Ein Gedicht.<br />

Aber nicht nur über die Liebe.<br />

Ein Gedicht, wohl nicht wie einer der<br />

Großen es schriebe, nein, Zeilen wie diese<br />

finden sich nicht hinter Buchrücken verborgen.<br />

Zeilen wie diese sind wie Filme aus<br />

Worten. Auf Leinwänden aus Schatten und<br />

Licht werden hier Szenen in Klangfarben<br />

lebendig, dicht drängen sich Reime und<br />

Metaphern, zwischen Tränen und Lachern<br />

werden Gefühle geschaffen, die Spuren und<br />

Menschen sprachlos hinterlassen.<br />

Sätze brennen sich in Trommelfelle, bebende<br />

Atemzüge, Gänsehaut breitet sich<br />

auf Körpern aus.<br />

Eine letzte Pause – tosender Applaus.<br />

Was in früheren Zeiten gang und<br />

gäbe, ist heute eine eigene Szene. Lyrik wird<br />

hier gelebt, nicht nur gelesen, eng verwebt<br />

mit raumgreifenden Blicken und Gesten<br />

wird aus einem Gedicht ein Schauspiel, das<br />

keiner großen Bühne bedarf, weil es auch<br />

auf kleinstem Raum Emotionen schafft.<br />

Ein Blick, der mehr als gesagt wird –<br />

verrät. Eine Stimme, die sich durch den<br />

ganzen Raum bewegt. Hände, die Sätze<br />

modellieren, um nicht den Faden zu verlieren<br />

und das Gesprochene in die Höhe zu<br />

heben. Hier erwachen die Zeilen zum Leben.<br />

Denn wenn Gedichte beginnen, durch<br />

die Luft zu tanzen, dann hört das Zuhören<br />

auf – und das Träumen fängt an. —<br />

Foto Hanna Lenz, aufgenommen im Kulturzentrum hansa48, Kiel


ALTES WISSEN<br />

17<br />

Fotos<br />

Hanna Lenz<br />

Andreas Müller<br />

Unser Experte:<br />

Michael Krüger, 76,<br />

hat lange die Carl<br />

Hanser Literaturverlage<br />

geleitet und<br />

war Präsident der<br />

Bayerischen Akademie<br />

der Schönen<br />

Künste. Er schreibt<br />

Lyrik, Novellen,<br />

Romane – und hier<br />

über Gedichte<br />

Foto Andreas Müller / Visum<br />

D<br />

er russische Dichter Joseph<br />

Brodsky hat einmal gesagt,<br />

neunzig Prozent aller Gedichte<br />

seien Liebesgedichte,<br />

die entweder vor oder<br />

nach der Liebe geschrieben<br />

würden. Vor der Liebe, um bei der Angebeteten<br />

Eindruck zu machen (was selten<br />

gelingt, weil die meisten Mädchen dichtende<br />

Verehrer eher peinlich finden). Nach der<br />

Liebe, um dem schönen Gefühl hinterherzutrauern.<br />

Offenbar geht während der großen<br />

Liebe die Energie in andere Projekte.<br />

Aber nach einer großen Liebe sieht die Welt<br />

eben anders aus, man nimmt sie anders<br />

wahr, wenn auch nicht immer von ihrer<br />

besten Seite. Alles Leben führt unweigerlich<br />

zum Tod, das spürt man am schmerzhaftesten,<br />

wenn eine große Liebe vorbei ist.<br />

Diese Erfahrung hat viele Dichter inspiriert.<br />

Gedichte kann man nicht auf Befehl<br />

schreiben. Wenn sich jemand vornimmt,<br />

das schönste Liebesgedicht aller Zeiten oder<br />

das anrührendste Gedicht über ein Schaf<br />

oder eine Ode auf den Pflaumenbaum zu<br />

schreiben, geht es meistens schief. Es muss<br />

aber nicht schiefgehen. Gedichte brauchen<br />

Glück! Und Gedichte brauchen Zeit. Sie<br />

wachsen in einem auf eine sehr vertrackte<br />

Weise heran und sind plötzlich da. Man<br />

braucht also viel Geduld und wenig Wollen.<br />

Am besten, man macht lange Spaziergänge<br />

allein, um den eigenen Rhythmus zu finden.<br />

Der Hamburger Dichter Peter Rühmkorf<br />

hat seine Gedichte immer wieder abgeschrieben,<br />

mit der Hand, hundertmal, und<br />

sie immer wieder ein wenig verändert, bis sie<br />

»saßen«. Und oft wollten dann die Gedichte<br />

in eine andere Richtung gehen als die vom<br />

Dichter eingeschlagene. Denn Gedichte<br />

sind sehr eigensinnig. Am besten ist es,<br />

wenn man jeden Tag ein Gedicht liest oder<br />

mehrere. Laut am Küchentisch, noch vor<br />

dem Frühstück. Oder in der Straßenbahn.<br />

Man muss das ausprobieren, auch wenn die<br />

andern denken, der hat nicht mehr alle<br />

Tassen im Schrank. Im Großraumbüro<br />

Goethes Marienbader Elegie, damit macht<br />

man sich wenige, aber verlässliche Freunde.<br />

Oder Ottos Mops von Jandl. Vorteil der Gedichte:<br />

Sie sind kurz. Wenn sie einem nicht<br />

gefallen, kann man das nächste lesen. Bei<br />

Romanen ist das schwieriger, weil man denkt,<br />

es kommt noch was, also muss ich dranbleiben,<br />

obwohl es mich zu Tode langweilt.<br />

Gute Gedichte bleiben einem ein Leben<br />

lang. Der Ehrgeiz, ein gutes Gedicht geschrieben<br />

zu haben, ist auch ein lebenslanger.<br />

Aber das sollen die andern herausfinden,<br />

wenn möglich vor dem Tod des Dichters. —


18<br />

GROSSZÜGIGKEIT<br />

DIE NEUE SERIE<br />

Welche Haltung bringt uns<br />

eigentlich weiter? In der Liebe,<br />

in der Kindererziehung,<br />

im Beruf, in der Gesellschaft?<br />

Jede kann förderlich oder hinderlich<br />

sein, krank machen oder gesund<br />

Artwork Noma Bar, Monique Bröring,<br />

Nishant Choksi, Eiko Ojala, Saša Ostoja<br />

KLEINLICHKEIT


19


20


21<br />

Der Strich durch<br />

die Rechnung<br />

Großzügigkeit hat einen hervorragenden Ruf. Aber ein Statiker,<br />

der eine Brücke berechnet, sollte möglichst kleinlich sein, oder?<br />

Bericht aus einem menschlichen Spannungsfeld<br />

Text Niels Boeing<br />

Illustration Noma Bar (vorige Seite), Monique Bröring<br />

Wir waren auf dem Weg ins damals<br />

noch unzerstörte Aleppo im Transit<br />

gelandet. Den türkischen Grenzposten<br />

hatten wir bereits passiert,<br />

den syrischen durften wir ohne Mitfahrgelegenheit<br />

nicht durchqueren.<br />

Die Sonne war längst untergegangen, ein Bus fahre<br />

nicht mehr, hieß es. Irgendwann näherte sich ein Taxi,<br />

drei junge Syrer saßen darin. Sie erklärten uns, dass wir<br />

mit einsteigen sollten, es sei die allerletzte Möglichkeit<br />

für heute, nach Aleppo zu kommen. Wir quetschten<br />

uns auf die Rückbank und fuhren los. Nach einer halben<br />

Stunde hielt der Fahrer an einer Tankstelle, auch die<br />

jungen Männer stiegen aus und kauften ein paar Kleinigkeiten.<br />

Als sie wieder zurückkamen, reichte uns einer<br />

von ihnen zwei kleine Tetrapaks Orangensaft. In unseren<br />

Gesichtern las er sofort die Frage, was er dafür haben<br />

wolle. Er lächelte nur. Ein Geschenk.<br />

Wir haben den jungen Mann, nachdem wir uns in<br />

Aleppo verabschiedet hatten, nie wiedergesehen. Nach<br />

der Logik der heute geltenden Wirtschaftstheorie war<br />

seine Geste unsinnig, ja irrational: Er hatte uns etwas<br />

gegeben, obwohl er sicher sein konnte, dass wir uns nie<br />

würden revanchieren können. Die Geste des jungen<br />

Mannes entsprang einer anderen, älteren Logik: Da<br />

waren zwei Reisende in der Nacht gestrandet, an einem<br />

Ort, an den sich außer Grenzpendlern selten Reisende<br />

verirren. Für ihn war es ein Akt der Gastfreundschaft<br />

– willkommen in Syrien!<br />

Gastfreundschaft ist eine Form der Großzügigkeit,<br />

die Menschen überall auf dem Globus seit Jahrtausenden<br />

praktizieren. Sie bieten Fremden Essen und Getränke an,<br />

manchmal auch ein Dach über dem Kopf, und erwarten<br />

nichts dafür außer vielleicht einem Lächeln, das mit<br />

einem Lächeln erwidert wird. Großzügigkeit wärmt die<br />

Herzen, sie knüpft unsichtbare Bande zwischen Menschen,<br />

die sich nicht kennen, und verstärkt sie zwischen<br />

Freunden. Sie ereignet sich täglich an unzähligen Orten<br />

auf der Welt. Im Obstladen einer Großstadt, in dem die<br />

Verkäuferin ein Körbchen Erdbeeren »obendrauf«<br />

packt. In der Mittagspause, in der eine Kollegin die<br />

andere zum Lunch einlädt. Im Büro, wenn ein Kollege<br />

dem anderen Arbeit abnimmt, weil dieser sonst zu spät<br />

zur Geburtstagsparty seines Kindes käme.<br />

Die Großzügigkeit hat einen hervorragenden Ruf.<br />

Ihr Gegenstück, die Kleinlichkeit, wird in aller Welt verachtet.<br />

Doch auch die Kleinlichen sind allgegenwärtig:<br />

Die Geizhälse, die nie einen ausgeben und selbst einen<br />

gemeinsamen Ausflug auf den Cent genau in Excel-<br />

Tabellen abrechnen. Die Pedanten, die überall einen<br />

Fehler finden, und sei er auch noch so gering. Die Prinzipienreiter,<br />

die nicht fünfe gerade sein lassen können<br />

und jeden Spaß im Keim ersticken. Vor allem die englische<br />

Literatur war fasziniert von Geizhälsen wie dem<br />

steinreichen Adligen John Elwes aus dem 18. Jahrhundert,<br />

der zeitlebens denselben abgewetzten Gehrock<br />

trug und vor Einbruch der Dunkelheit zu Bett ging, um<br />

Kerzen zu sparen. Charles Dickens setzte ihm in der<br />

Figur des Ebenezer Scrooge ein zweifelhaftes Denkmal,<br />

Carl Barks formte daraus die Figur des Dagobert Duck.<br />

Die westliche Welt hat seit Beginn der Aufklärung<br />

den wahren Charakter des Menschen sogar zunehmend<br />

im Egoisten gesehen, der nur auf seinen Vorteil bedacht<br />

ist. Der englische Aufklärer Thomas Hobbes beschrieb<br />

im 16. Jahrhundert den Naturzustand der Menschheit<br />

als einen Krieg aller gegen alle, angetrieben von der<br />

Angst vor einem gewaltsamen Tod. Nur ein starker Staat<br />

sei imstande, den Menschen zu zivilisieren. Die neoklassische<br />

Wirtschaftstheorie des 19. Jahrhunderts erhob<br />

den mutmaßlichen Egoisten zum wissenschaftlichen<br />

Konzept des rationalen Individuums, das alle Handlungen<br />

daraufhin überprüft, ob sie seinen Nutzen maximieren.<br />

Folglich wurde der Wettbewerb zum Normalzustand<br />

des menschlichen Mit ein an ders ausgerufen.<br />

Umso größer war das Erstaunen, als Experimente<br />

von Verhaltensökonomen Ende des 20. Jahrhunderts<br />

ein anderes Bild zeichneten: Großzügigkeit ist ein Verhalten,<br />

das tief in der Evolution des Menschen verankert<br />

ist. Eines der Experimente war das Diktator-Spiel: Eine<br />

Person bekam beispielsweise 100 Dollar und entschied


22<br />

im Alleingang darüber, wie viel sie einer zweiten Person<br />

abgab. Beim Ultimatum-Spiel wiederum konnte die<br />

erste Person der zweiten vorschlagen, wie sie die 100<br />

Dollar aufteilen wollten. Lehnte die zweite Person ab,<br />

bekamen beide gar nichts. Nach der neoklassischen<br />

Theorie würde jene Person rational handeln, wenn sie<br />

der anderen nichts abgibt – und ihren Nutzen somit<br />

maximiert, sprich: die 100 Dollar für sich behält.<br />

In den Versuchsanordnungen taten aber die wenigsten<br />

Menschen genau dies. Stattdessen teilten sie mit<br />

der anderen Person. Im Durchschnitt gaben sie 10 bis<br />

30 Prozent ab. Und in Folgestudien stellte sich heraus:<br />

Der Anteil, den die erste Person abgibt, wird größer,<br />

wenn im Versuchsraum im Hintergrund menschliche<br />

Stimmen zu hören sind oder scheinbar zufällig in Sichtweite<br />

ein Augenpaar als Poster an der Wand hängt. Auch<br />

Gespräche zwischen den Personen führten zu einer<br />

großzügigeren Aufteilung.<br />

Überraschen sollte dies nicht. Der Homo sapiens<br />

ist ein Gemeinschaftstier, er kann nicht allein überleben.<br />

In seiner Frühgeschichte hat er deshalb auch kooperative<br />

Verhaltenszüge entwickelt, die nicht nur seinen Platz in<br />

der Gemeinschaft stärken, sondern auch die Überlebensfähigkeit<br />

der Gemeinschaft insgesamt. Das großzügige<br />

Geben gehört dazu – und macht sogar glücklich.<br />

Akte der Großzügigkeit aktivieren im Gehirn dieselben<br />

Belohnungsmechanismen wie Sex und Essen.<br />

Gehirnscans zeigten, dass bei Menschen in dem Moment,<br />

in dem sie eine wohltätige Spende geben, eine<br />

spezielle Region im Großhirn aktiviert wird (das sogenannte<br />

Brodmann-Areal 25 der Gürtelwindung). Diese<br />

Region hat besonders viele Rezeptoren für das Hormon<br />

Oxytocin, das bei einer emotionalen Bindung zwischen<br />

Menschen erzeugt wird. Dockt Oxytocin an die Rezeptoren<br />

an, wird wiederum verstärkt das »Glückshormon«<br />

Dopamin ausgeschüttet. Dazu passt, dass die Versuchspersonen<br />

deutlich großzügiger wurden, wenn man ihnene<br />

mittels Nasenspray eine Dosis Oxytocin verabreichte.<br />

Im Vergleich mit Versuchspersonen, die nur ein Placebo<br />

bekommen hatten, gaben sie fast doppelt so viel ab.<br />

»Großzügigkeit ist nicht einfach ein kulturelles<br />

Konstrukt«, stellt deshalb Summer Allen vom Greater<br />

Good Science Center an der Universität Berkeley fest.<br />

Sie ist entwicklungsgeschichtlich eine Zuwendung zu<br />

anderen Menschen der eigenen Gemeinschaft, sei es in<br />

Form von körperlicher Nähe, sei es in Form von Nahrung.<br />

Diese Zuwendung hat in den Anfängen des Homo<br />

sapiens wohl ohne ein bewusstes Kalkulieren dessen<br />

stattgefunden, was die anderen einem zurückgeben<br />

könnten. Erst indem differenziertere Kulturen entstanden,<br />

schlich sich auch eine Berechnung ein: Wenn ich<br />

dir in meiner Großzügigkeit dies gebe, bist du mir später<br />

etwas anderes schuldig. Verhaltenspsychologische Untersuchungen<br />

mit Kleinkindern ergaben, dass dieser<br />

entwicklungsgeschichtliche Übergang auch beim einzelnen<br />

Menschen stattfindet – zwischen dem dritten<br />

und dem fünften Lebensjahr. Während Dreijährige<br />

noch gewissermaßen absichtslos großzügig sind, kalkulieren<br />

Fünfjährige bereits ein, ob eine andere Person<br />

diese Großzügigkeit eigentlich verdient hat.<br />

Der Wandel der Großzügigkeit lässt sich auch in<br />

der Kulturgeschichte beobachten. In Asien kam sie ihrem<br />

biologischen Ursprung noch am nächsten. Denn im<br />

Hinduismus und in dem aus diesem heraus entstandenen<br />

Buddhismus wird sie als Dana praktiziert. Dana<br />

meint eine Gabe, die sowohl materiell als auch spirituell<br />

ist. »Die Nahrung bildet den Le bens atem aller Menschen.<br />

Denn alles ist auf Nahrung gegründet«, heißt es<br />

im indischen Epos Mahabharata, und weiter: »Wer<br />

Nahrung gibt, der gibt auch Leben, und wer Leben gibt,<br />

der gibt alles.« Der junge Mann in Aleppo handelte eindeutig<br />

nach dieser Maxime. Dana steht nicht für Almosen,<br />

sondern für die Einsicht, dass alles, was das Leben<br />

ermöglicht, geteilt werden muss. Ein, wenn man so will,<br />

sehr früher Ausdruck von Open- Source- Logik.<br />

Im Judentum wiederum gab es den Begriff Tzedaka,<br />

der auch eine gerechte Verteilung und eine Fürsorge<br />

für die Bedürftigen meint. Tzedaka war keine Option,<br />

sondern eine Verpflichtung, die sich im Islam später als<br />

Fünfjährige denken<br />

bereits darüber nach,<br />

ob eine andere Person<br />

ihre Großzügigkeit<br />

wirklich verdient hat<br />

Zakat wiederfindet. Von Jesus, der ja selbst aus der<br />

jüdischen Tradition des Tzedaka kam, ist in der Bergpredigt<br />

überliefert: »Wenn du Almosen gibst, lass es<br />

also nicht vor dir herposaunen.«<br />

Weiter westlich ging die Unmittelbarkeit und Bescheidenheit<br />

des Gebens weitgehend verloren. Aristoteles<br />

verwendete in seiner Nikomachischen Ethik den Begriff<br />

»Freigebigkeit« (griechisch: eleutheriotes). Die<br />

griechisch-römische Antike war die erste Zivilisation,<br />

die – bereits zu Aristoteles’ Zeiten – eine entwickelte<br />

Geldwirtschaft hatte. Der Freigebige werde, so Aristoteles,<br />

für seine Art gelobt, »Vermögensobjekte hinzugeben«.<br />

Ein Vermögensobjekt ist laut Aristoteles »alles, dessen<br />

Wert nach Geld bemessen wird«.<br />

Diese Form der Großzügigkeit hatte mit der Wohltätigkeit<br />

des Tzedaka oder der Spiritualität des Dana<br />

nichts zu tun. Denn sie habe nicht den Armen der damaligen<br />

Gesellschaft, sondern immer der eigenen Familie<br />

gegolten, der eigenen Sippe oder Gästen, wie der Theologe<br />

Pieter van der Horst schreibt. Wenn ein reicher<br />

Bürger in Athen oder Rom etwa den Stadtbewohnern<br />

Essen spendete, dann bekamen es alle – nicht nur die<br />

Bedürftigen. So diente die Großzügigkeit schließlich<br />

dazu, den eigenen Status zu erhöhen.<br />

Illustration Nishant Choksi


»Großzügigkeit gegen Kleinlichkeit«:<br />

Dieses Thema hat in unserer Redaktion<br />

das Tor zu allerlei Gedanken, Thesen<br />

und persönlichen Erinnerungen geöffnet.<br />

Die Vielfalt der Assoziationen wollten<br />

wir auch optisch umsetzen. Deshalb<br />

baten wir gleich fünf Illustratorinnen<br />

und Illustratoren um ihren Blick auf<br />

den Wettstreit der Haltungen<br />

23


24<br />

Am Ende der Römischen Republik war der Begriff bereits<br />

in Verruf geraten. Für den Dichter Catull war die<br />

Freigebigkeit Cäsars geradezu »niederträchtig«, weil er<br />

in ihr nur eine politische Manipulation der öffentlichen<br />

Meinung erblickte. Der schmale Grat zwischen echter<br />

Großzügigkeit und manipulativer Großkotzigkeit wurde<br />

bereits vor über 2000 Jahren überschritten.<br />

Ab dem 14. Jahrhundert hielt dann in Europa ein<br />

aus dem Lateinischen entlehnter Begriff Einzug: Generosität.<br />

Ursprünglich bezeichnete diese eine Person,<br />

die von edler Abstammung (lat.: genus) ist – und die<br />

hatte nicht einmal etwas mit der wohlmeinenden Freigebigkeit<br />

nach Aristoteles am Hut. Noch im 18. Jahrhundert<br />

warf der generöse Adel am Ende eines Festbanketts<br />

»Ochsenzungen, Cervelatwürste, das Brot und<br />

Truthahnteile von den Buffets in die Luft«, wie es der<br />

Historiker Jean Starobinski einmal beschrieben hat, und<br />

ergötzte sich am einfachen Volk, das verzweifelt eine der<br />

fliegenden Wohltaten zu erhaschen hoffte.<br />

Die an Vermögen geknüpfte Generosität hat nicht<br />

nur einen herrschaftlichen Beigeschmack, sie ist auch<br />

unzuverlässig. Eine groß angelegte Untersuchung von<br />

Soziologen aus Toronto und Stanford fand 2015 heraus,<br />

dass Menschen mit niedrigerem Einkommen im Verhältnis<br />

mehr spenden als Gutbetuchte. Das kann fast<br />

Mit Großzügigkeit<br />

baut man keine<br />

Kraftwerke oder<br />

Autos. Da glänzt<br />

die Kleinlichkeit<br />

jeder bestätigen, der in einem Dienstleistungsberuf gearbeitet<br />

hat, etwa im Taxi-Gewerbe oder in der Gastronomie.<br />

Mehr noch: Die Wohlhabenden erwiesen sich<br />

als umso knauseriger, je größer die Einkommensungleichheit<br />

in dem US-Bundesstaat war, in dem sie lebten.<br />

Im Angesicht deutlich ärmerer Bevölkerungsschichten<br />

empfanden sie ihren Wohlstand stärker als<br />

eigenes Verdienst und sahen eine entsprechend geringere<br />

moralische Verpflichtung, etwas abzugeben.<br />

Großzügigkeit kann also vieles sein: freigebig, ein<br />

Ausdruck von Nähe, gönnerhaft, protzig. Und die<br />

Kleinlichkeit? In deren sprachlichem Kern versteckt sich<br />

auch eine positive Deutung. Das Wort ist – im Gegensatz<br />

zur »Großzügigkeit«, die im Deutschen erst im<br />

19. Jahrhundert als Begriff auftaucht – bereits sehr alt.<br />

Im Althochdeutschen hieß «kleinlich« noch kleinlihho<br />

und meinte »fein, genau, scharf, zierlich«. Und genau<br />

dort beginnt das verschmähte Wort zu leuchten.<br />

Denn ist es nicht gerade die Exzellenz zum Beispiel<br />

des Ingenieurs, vielleicht der Inbegriff trockener, sachlicher<br />

Kleinlichkeit, dass er genau ist und fein und<br />

scharf, um all die technischen Errungenschaften der<br />

Moderne zu realisieren? Man könnte auch sagen: Mit<br />

Großzügigkeit baut man keine Kraftwerke, Autos oder<br />

Raketen. Da muss jede Schraube, jedes Ventil sitzen und<br />

zuverlässig arbeiten. Was passiert, wenn man bei den<br />

Berechnungen nicht absolut pingelig ist, zeigt schön<br />

das Beispiel des Mars Climate Orbiter. Die Nasa-Ingenieure<br />

hatten bei der Marssonde sowohl mit dem internationalen,<br />

dezimalen Einheitensystem als auch mit<br />

dem angloamerikanischen Maßsystem gearbeitet. Daraus<br />

entstand eine Unstimmigkeit, die die Sonde am 23. September<br />

1999 zu niedrig in die Mars-Atmosphäre eintreten<br />

ließ – sie verglühte, noch bevor sie die Oberfläche<br />

des Roten Planeten erreichte.<br />

Der deutsche Begriff Großzügigkeit erweitert die<br />

Generosität auch um eine neue, räumliche Dimension,<br />

die sich im 20. Jahrhundert in der Architektur wiederfindet.<br />

In baulich großen Zügen versuchen die Architekten<br />

ab den 1920er-Jahren, die Enge der Arbeitersiedlungen<br />

und Gründerzeitquartiere zu überwinden. Die<br />

Hufeisensiedlung von Bruno Taut in Berlin oder der<br />

Karl-Marx-Hof in Wien, der längste zusammenhängende<br />

Wohnbau der Welt, enthielten ausgedehnte Gartenund<br />

Grünflächen, um ihren Bewohnern mehr Luft und<br />

Sonne zu verschaffen. Auch die Großwohnsiedlungen<br />

der Nachkriegszeit folgten dieser Idee, doch entpuppte<br />

sich die Großzügigkeit der auf weite Flächen hingestreuten<br />

Wohnblocks oft als verstörende Leere. »Großzügigkeit<br />

kann nicht auf einem großen, leeren, offenen Feld<br />

entstehen«, sagt der italienische Architekt Silvio Carta.<br />

Vielmehr wird Architektur da großzügig, wo sie in<br />

der Dichte der Städte für die Bewohner neue Räume und<br />

damit auch neue Möglichkeiten eröffnet, die Architekten<br />

womöglich nicht einmal selbst vorhergesehen haben.<br />

Ausgerechnet der Corona-Shutdown hat nun in der Welt<br />

der Architektur eine neue Debatte entfacht, ob Städte<br />

und ihre Bauten in Zukunft nicht großzügiger – und<br />

damit Pandemie-tauglicher – gedacht werden müssten.<br />

Den Trend der vergangenen Jahre zu immer kompakterer<br />

Bebauung mit durchaus kleinlichen Grundrissen<br />

bei hohen, sagen wir ruhig: großzügigen Mieten hält die<br />

britische Architektin Alison Brooks für einen Irrweg.<br />

»Die wahre Großzügigkeit der Zukunft gegenüber<br />

besteht darin, in der Gegenwart alles zu geben«, schrieb<br />

Albert Camus in Der Mensch in der Revolte. Vielleicht ist<br />

die Corona-Pandemie genau dafür gut: Großzügigkeit<br />

neu zu denken und von jeglicher Berechnung und Überheblichkeit<br />

zu befreien, die sich über die Jahrtausende<br />

eingeschlichen haben. Und die Kleinlichkeit insofern zu<br />

rehabilitieren, als ohne Sorgfalt und Genauigkeit, da,<br />

wo sie vonnöten sind, Großzügigkeit zur Verantwortungslosigkeit<br />

herabsinken könnte. —<br />

Niels Boeing war auf Reisen immer wieder angetan, wie<br />

großzügig die Leute in aller Welt in Alltagssituationen sind.<br />

Dass der Mensch des Menschen Wolf ist, wie der Philosoph<br />

Thomas Hobbes annahm, hält er für einen Irrglauben.


25<br />

»Seien Sie nie sparsam<br />

mit kleinen Gesten«<br />

Ein Euro zu viel Trinkgeld, und plötzlich fliegen Funken: Großzügigkeit<br />

und Kleinlichkeit können unter Paaren wie Brandbeschleuniger wirken.<br />

Der Psychologe Wolfgang Schmidbauer weiß Rat<br />

Interview Wiebke Hansen und Sven Stillich<br />

Wir leben in einer Gesellschaft,<br />

die Großzügigkeit<br />

zwar schätzt, aber nicht<br />

unbedingt belohnt. Zudem<br />

sind die widerstreitenden<br />

Konzepte von<br />

Großzügigkeit und Kleinlichkeit biologisch<br />

tief in uns verwurzelt – und in jedem Menschen<br />

gewichtet. Da stellen sich zwei Fragen:<br />

Wie wirken sich diese Spannungen auf Beziehungen<br />

aus? Und wie können Partnerschaften<br />

zwischen Großzügigen und Kleinlichen<br />

gelingen? Ein Gespräch mit dem<br />

Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer.<br />

In der Öffentlichkeit erlebt man oft eine<br />

verführerisch-berechnende Großzügigkeit.<br />

Etwa wenn die Verkäuferin auf dem Wochenmarkt<br />

sagt: »Ich lege Ihnen noch zwei<br />

leckere Äpfel obendrauf.« Kann man so<br />

etwas auf Beziehungen übertragen?<br />

Das wäre eine gute Idee. Es entsteht dabei<br />

ja der Eindruck, dass man bevorzugt wird<br />

– und dem Partner zu vermitteln, dass er<br />

wichtiger ist als alle anderen, schadet in<br />

keiner Beziehung. Man darf auf dem Wochenmarkt<br />

natürlich nicht so genau hingucken,<br />

denn der Nächste bekommt ja auch<br />

zwei Äpfel. Aber man sollte nicht allzu<br />

kleinlich sein bei seinen Forderungen an die<br />

menschliche Großzügigkeit. Manche stören<br />

sich dann auch noch daran, dass so eine<br />

Geste ihr Gegenüber ja nichts kostet. Dabei<br />

macht vieles, was gratis ist, das Leben doch<br />

viel schöner – darunter wichtige Dinge wie<br />

Freundlichkeit, Witz oder Entgegenkommen.<br />

Das sind ja alles kleine Gesten, die<br />

eine Beziehung fördern. Mit denen sollte<br />

man auf keinen Fall sparsam sein.<br />

Man muss also nicht unbedingt ein reicher<br />

Mensch sein, um großzügig zu sein?<br />

Nein, überhaupt nicht. Man muss nur eine<br />

Freude daran haben, zu teilen.<br />

Setzt Großzügigkeit Überfluss voraus?<br />

Er erleichtert sie auf jeden Fall. Aber das<br />

Problem ist ja, die Großzügigkeit durchzuhalten.<br />

Bei Paaren zum Beispiel ist es oft so,<br />

dass zuerst der Bessersituierte großzügig ist,<br />

der aber irgendwann anfängt zu rechnen –<br />

und damit beginnen teils heftige Konflikte.<br />

Ich sage dann immer etwas ironisch, dass<br />

man nicht gleichzeitig Schwabe und Neapolitaner<br />

sein kann.<br />

Sind Bessersituierte stets die Großzügigen?<br />

Nein, das ist sehr stark von der Familientradition<br />

geprägt. Und es ist auch ein Generationenthema:<br />

Einstellungen wie »Man<br />

wirft kein Brot weg« sind bei Kriegs- oder<br />

Nachkriegskindern stärker ausgeprägt, während<br />

in der Konsumgesellschaft aufgewachsene<br />

Kinder bedenkenloser sind. Analysiert<br />

man Großzügigkeit und Kleinlichkeit<br />

psychologisch, dann kommt man auf den<br />

Aspekt der Angst. Biografisch betrachtet<br />

ist es so, dass großzügige Menschen als<br />

Kinder wohl weniger Angst haben mussten.<br />

Wenn ich bereits in der Kindheit ein Gefühl<br />

von Sicherheit mitbekomme, kann ich später<br />

oft gut unterscheiden, was jetzt wirklich<br />

wichtig ist und was nicht so. Eine wichtige<br />

Komponente von Großzügigkeit ist der reife<br />

Narzissmus: Man kann verzeihen und verliert<br />

das Gute an einer Beziehung nicht aus<br />

dem Blick, wenn man gekränkt ist. Eine<br />

andere ist Empathie. Dass man überhaupt<br />

sieht, was ein anderer braucht, und man es<br />

ihm ohne viel Aufhebens gibt. Dass man<br />

ein Kompliment macht zum Beispiel – und<br />

eines, das der andere annehmen kann. Das<br />

setzt die Bereitschaft voraus, ein Geschenk<br />

herzugeben. Und es anzunehmen kann<br />

auch eine Form von Großzügigkeit sein.<br />

Die Angst, von der Sie sprachen, entsteht<br />

somit in der Kindheit?<br />

Wie so vieles, ja. Es setzt sich eine Kette von<br />

Rückkopplungsprozessen in Gang. Hat jemand<br />

in der Kindheit vorwiegend gute Beziehungserfahrungen<br />

gemacht, dann ist es<br />

für ihn natürlich viel leichter, großzügig zu<br />

sein, weil er dann eher davon ausgeht, dass<br />

Menschen im Prinzip freundlich sind:<br />

Wenn er jemandem etwas gibt, wird er das<br />

schon irgendwie wiederbekommen – und<br />

wenn nicht direkt, dann später von jemand<br />

anderem. Wenn man davon ausgeht, dass<br />

Beziehungen positiv sind und man von anderen<br />

Menschen vorwiegend Unterstützung<br />

erwarten kann, dann ist man auch<br />

selbst geneigt, andere zu unterstützen.<br />

Und wenn das Misstrauen dominiert?<br />

Dann schaut man die anderen schon so an,<br />

als ob sie einen ausnützen wollen, und der<br />

Austausch funktioniert dann weniger. Das<br />

führt oft dazu, dass man unbedingt darauf<br />

achtet, dass man nicht benachteiligt wird,<br />

und dabei wird man kleinlich. Ich erinnere<br />

mich an einen Patienten, der sehr traumatisiert<br />

war. Der hatte eine sehr impulsive<br />

Mutter, bei der er nie sicher sein konnte:<br />

Versteht sie mich, oder schlägt sie mich? Bei<br />

ihm war ganz deutlich, dass er immer dann<br />

Angst bekommen hat, wenn er sich auch<br />

nur ein bisschen ungerecht behandelt fühlte<br />

– und dann wurde er kleinlich.<br />

Wie großzügig sollten Eltern denn mit<br />

ihren Kindern sein?<br />

Man sollte unbedingt großzügig sein, auch<br />

weil man vielleicht etwas davon zurückbekommt.<br />

Ich erinnere mich etwa daran, wie<br />

meine mittlere Tochter eine Flugreise machen<br />

wollte und ihr auf dem Flughafen das<br />

Portemonnaie gestohlen wurde. Sie kam<br />

ganz betrübt und heulend nach Hause. Da


26


27<br />

Illustration Eiko Ojala Foto Peter Rigaud/laif<br />

ist ihre acht Jahre jüngere Schwester in ihr<br />

Zimmer gelaufen und hat ihr Sparschwein<br />

geholt. Ihre Schwester hatte ihr Geld verloren,<br />

und sie wollte Hilfe bringen. Das<br />

fanden wir unglaublich rührend. Bei der<br />

Erziehung gibt es eine gute Regel, denke<br />

ich: Wenn mein heranwachsendes Kind das<br />

erste Mal volltrunken von einer Party nach<br />

Hause kommt, dann kann ich fürchten,<br />

dass es ein Alkoholproblem hat und ich<br />

jetzt unbedingt was tun muss – oder ich<br />

denke mir: »Ach Gott, das machen ja alle<br />

mal.« Wenn das aber immer und immer<br />

wieder geschieht, ist diese Art von Großzügigkeit<br />

nicht gut. Man muss ein Konzept<br />

haben. Es ist ganz wichtig, Räume zu<br />

schaffen, in denen Kinder ihre eigenen Erfahrungen<br />

machen können – diese Räume<br />

sollten aber kleinlich genau umgrenzt sein.<br />

Denn immer großzügig zu sein ist in der Erziehung<br />

genauso problematisch, wie immer<br />

kleinlich zu sein. Dabei ist Verantwortung<br />

der Schlüsselbegriff: Jeder in der Familie<br />

sollte versuchen, Großzügigkeit und Kleinlichkeit<br />

verantwortungsvoll zu handhaben.<br />

Wenn man älter wird, übernimmt man<br />

Verantwortung für das eigene Leben – und<br />

ist vielleicht in der Lage, sich zu ändern.<br />

Natürlich. Die kindlichen Ängste können<br />

durch die Erfahrungen, die man macht,<br />

kompensiert oder verstärkt werden. Das<br />

hängt auch viel mit Glück zusammen, mit<br />

Zufall. Wenn jemand eigentlich misstrauisch<br />

ist, sich aber mit 18 Jahren in jemanden<br />

verliebt, der empathisch und gelassen ist,<br />

dann kann es gut sein, dass er das übernimmt<br />

und mehr so wird wie dieser stabilere<br />

Partner. Aber es kann auch das Gegenteil<br />

passieren. Ich denke, dass gerade Liebesbeziehungen<br />

Resonanzräume sind für frühe<br />

Prägungen. In denen entscheidet sich, wie<br />

das Paar mit ein an der umgeht. Ob die als<br />

Paar kleinlich sind oder großzügig. Da passt<br />

diese Geschichte von Kleist, der eine Zeit<br />

lang mit seiner Schwester zusammengelebt<br />

hat. Sie war das, was man eine gute Haushälterin<br />

nennt, und Kleist war einer, der<br />

überhaupt nicht wirtschaften konnte, der<br />

gespielt hat und absolut liederlich mit Geld<br />

umgegangen ist. In diesem Zusammenleben<br />

ist die Schwester immer geiziger geworden,<br />

und bevor sie getrennte Wege gegangen<br />

sind, war sie zum richtigen Knicker geworden,<br />

sie hat ihm alles vorgezählt. Das ist oft<br />

so: Wenn in einer Beziehung einer zur<br />

überbordenden Großzügigkeit neigt, wird<br />

der andere immer kleinlicher und schaut<br />

immer genauer aufs Geld.<br />

Gelingen Beziehungen besser, wenn dasselbe<br />

zusammenkommt – wenn also ein<br />

großzügiger mit einem großzügigen<br />

Menschen anbandelt oder sich ein Kleinlicher<br />

in eine Kleinliche verliebt?<br />

Ich denke schon. Kleinlich mit kleinlich,<br />

das ist sehr viel stabiler. Und bei der Großzügigkeit<br />

kommt es darauf an, wie vernünftig<br />

sie gesteuert wird. Es gibt eine vernünftige<br />

Form, und es gibt natürlich das Risiko der<br />

Entgleisung: Verschwendung, Schulden<br />

machen. Aber wenn sie gut austariert ist,<br />

dann lebt man nicht über seine Verhältnisse<br />

und teilt, was man hat, nach seinen Möglichkeiten<br />

mit anderen. Das setzt eine gute<br />

Mischung voraus zwischen gutem Wirtschaften<br />

– dazu gehört die Sparsamkeit –<br />

und dem Lockerlassen. Wenn ich das Geld<br />

nur ausgebe, dann habe ich am Ende nichts<br />

mehr, was ich teilen kann ...<br />

... weil ich es verprasst habe. <br />

Genau. Das erinnert mich an eine sehr sprechende<br />

Geschichte von Machiavelli, der das<br />

Risiko der übertriebenen Großzügigkeit gut<br />

beschrieben hat. Was er schildert, kann man<br />

Wolfgang Schmidbauer, geboren<br />

1941, arbeitet als Psychoanalytiker<br />

und Autor. Neben erfolgreichen<br />

Sachbüchern veröffentlicht er<br />

auch Erzählungen, Romane und<br />

Artikel in Zeitschriften. Jüngst<br />

erschienen ist von ihm das Buch<br />

»Kaltes Denken, warmes Denken.<br />

Über den Gegensatz von Macht<br />

und Empathie«. Schmidbauer ist<br />

unter anderem Mitbegründer der<br />

Gesellschaft für analytische Gruppendynamik.<br />

Er lebt in München<br />

und in Dießen am Ammersee und<br />

hat drei erwachsene Töchter.<br />

oft beobachten, sowohl in Beziehungen als<br />

auch bei der Arbeit, etwa wenn jemand ein<br />

Team übernimmt. Machiavelli sagt: Der<br />

törichte Fürst gibt zu Beginn seiner Herrschaft<br />

den Untertanen alles, was er entbehren<br />

kann, weil er denkt, dass sie ihm<br />

dann dankbar sind und ihn lieben und ihm<br />

gehorchen werden. Aber so wie die Menschen<br />

beschaffen sind, werden sie im<br />

nächsten Jahr wiederkommen und neue<br />

Gaben erwarten, er jedoch hat nichts mehr<br />

zu geben. Worauf sie ihn verfluchen und als<br />

knauserigen Herrscher in Erinnerung behalten.<br />

Der kluge Fürst hingegen nimmt zu<br />

Beginn seiner Herrschaft den Untertanen so<br />

viel ab, wie er ihnen mit Anstand wegnehmen<br />

kann. Das gibt er ihnen über die Jahre nach<br />

ihren Verdiensten wieder zurück – und sie<br />

werden ihn als weise und großzügig verehren.<br />

Wenn man das wiederum auf seine Beziehung<br />

überträgt: Sollte ich dann dem Partner<br />

erst einmal etwas nehmen?<br />

Sie sollen nicht immer parat stehen, wenn<br />

er das von Ihnen verlangt, sondern mit Ihrer<br />

Zeit durchaus sparsam umgehen und aufpassen,<br />

dass Sie genauso viel kriegen von<br />

ihm wie er von Ihnen – und ihm erst nach<br />

Maßgabe seiner Verdienste allmählich mehr<br />

und mehr einräumen. Doch oft läuft es so:<br />

Ein Paar beschließt, sich die Hausarbeit zu<br />

teilen, aber ein Partner ist stinkfaul und<br />

macht nichts, und der andere macht alles.<br />

Weil er denkt, dass der Faule das schon irgendwann<br />

merken und mehr machen wird.<br />

Doch solche Rechnungen gehen nie auf.<br />

Das sind die Machiavelli-Fehler: wenn jemand<br />

am Anfang schon alles hergibt, sich<br />

maximal zur Verfügung stellt und dann<br />

nichts mehr zusetzen kann – sich aber erhofft,<br />

dass irgendwann die Gegenleistung<br />

kommt. Dass irgendwann das Gegenüber<br />

Schuldgefühle bekommt, so viel erhalten zu<br />

haben, ohne dass es etwas zurückgegeben<br />

hat. Auf diese Schuldgefühle wartet man<br />

aber meistens lange und vergeblich.<br />

In Ihren Worten erscheint gute Großzügigkeit<br />

immer sehr vernunftgesteuert, wie<br />

ein rational begründetes Geben und Nehmen,<br />

eine Art Deal.<br />

Gerade in der bürgerlichen Gesellschaft, in<br />

der eigentlich ziemlich genau gerechnet<br />

wird, tut man oft so, als ob man nicht<br />

rechnen würde. Es gehört zum guten Ton,<br />

das zu verleugnen, aber man rechnet natürlich<br />

dennoch. Auch weil Kapitalismus<br />

und Großzügigkeit sich ausschließen. Und


28<br />

auch in Paarbeziehungen finde ich es immer<br />

besser, das Ökonomische kleinlich zu<br />

klären. Um dann auf dieser Grundlage<br />

auch großzügig sein zu können. Folgt man<br />

Idealen wie »Wir rechnen untereinander<br />

nicht« oder »Es gehört alles allen«, dann ist<br />

der Streit später oft umso erbitterter. Weil<br />

gar keine Struktur da ist. Die Italiener sagen:<br />

Amici cari, conti chiari, »Je lieber die Freunde,<br />

desto klarer sollten die Rechnungen<br />

sein«. Wenn man einem Freund Geld leiht,<br />

dann sollte man unbedingt einen Vertrag<br />

machen. Dann entsteht auch in keinem der<br />

beiden das Gefühl, er sei dem anderen<br />

etwas über den Vertrag hinaus schuldig.<br />

Das heißt: Großzügigkeit aufgrund einer<br />

kleinlichen Basis.<br />

Aufgrund einer realistischen Basis. Wenn<br />

jemand über den Geiz eines Partners<br />

klagt, finde ich das unerfreulich. Denn es<br />

geht nicht um Geiz, sondern darum, dass<br />

manche Menschen mehr Angst vor Armut<br />

und Not haben als andere. Und in Beziehungen<br />

ist es ja oft so: Wenn einer viel<br />

Angst hat, zu verarmen, dann kann der<br />

andere natürlich seine eigene Angst verlässlich<br />

an den einen delegieren und so<br />

tun, als ob er selbst überhaupt keine Angst<br />

hätte. Das ist eine schlechte Basis. Es geht<br />

doch darum, Fantasien von gutem Austausch<br />

– also etwa von Großzügigkeit – so<br />

zu gestalten, dass sie ein Fundament in der<br />

Realität haben und nicht zu heftigen Enttäuschungen<br />

führen. Dann kann sich das<br />

Ganze stabilisieren. In guten Partnerschaften<br />

hat jeder das Gefühl: Ich bekomme das in<br />

unserer Beziehung, was ich möchte – und<br />

der andere auch.<br />

Welche negativen und welche positiven<br />

Eigenschaften hat Kleinlichkeit?<br />

Kleinlichkeit ist eine Filiale des Perfektionismus.<br />

Und Perfektionismus ist in bestimmten<br />

Feldern absolut angebracht. Um<br />

ihn zu trösten, habe ich neulich einem<br />

Chirurgen mit Eheproblemen gesagt: Im<br />

OP-Saal ist Perfektionismus eine Tugend,<br />

Sie müssen kleinlich sein und auf jedes<br />

Detail achten – in Ihrer Ehe aber kommen<br />

Sie damit nicht weit. Da geht es nicht um<br />

Perfektion. In einer guten und stabilen<br />

Beziehung erträgt man sich in seinen Unvollkommenheiten<br />

und findet sie vielleicht<br />

sogar irgendwann liebenswert. Auf jeden<br />

Fall ist es kleinlich, den anderen immer<br />

wieder darauf hinzuweisen, dass er etwas<br />

nicht richtig gemacht hat.<br />

Was aber natürlich oft passiert.<br />

Ein beliebtes Schlachtfeld in Beziehungen<br />

ist der Kampf zwischen den Menschen des<br />

Zwischenlagers und den Menschen des<br />

Endlagers. Die Zwischenlagerer machen sich<br />

zum Beispiel ein Butterbrot in der Küche,<br />

und dann liegt das Papier da und der Käse,<br />

während sie zufrieden vor dem Fernseher<br />

sitzen. Dann kommen die Endlagerer und<br />

sagen: »Warum kannst du nicht die Küche<br />

aufräumen, das vergammelt doch?!« Wenn<br />

DIE SERIE IN ZEIT WISSEN<br />

Großzügigkeit gegen<br />

Kleinlichkeit<br />

Welche Haltung uns<br />

wirklich weiter bringt<br />

In den folgenden Ausgaben<br />

2. TEIL:<br />

ERZIEHUNG<br />

Nicht alles ist möglich: Wie kleinliche Regeln<br />

große Freiräume zur Entfaltung schaffen<br />

3. TEIL:<br />

SCHENKEN<br />

Großzügige Gaben: Wie bereichernd es ist,<br />

Geschenke auch annehmen zu können<br />

die das einfach wegräumen würden, wäre<br />

das ein Beispiel für Großzügigkeit in einer<br />

Beziehung, das heißt: Ich bestehe nicht<br />

ständig darauf, dass mein Partner sich genauso<br />

optimal verhält wie ich. Wenn es<br />

mich nicht viel Aufwand kostet, dann<br />

schenke ich ihm meine Zeit und mache<br />

sauber. Die Beziehung bleibt dann in einem<br />

liebevollen Bereich. Es ist oft hilfreich für<br />

Paare, wenn sie das lernen.<br />

Diese Art von Großzügigkeit berührt den<br />

Bereich von Regeln und deren Übertretung<br />

– und damit sind wir beim Verzicht<br />

und bei der Milde. Inwieweit hat Verzeihen<br />

bei Paaren oder Freunden mit Großzügigkeit<br />

zu tun?<br />

Das Prinzip »Gnade vor Recht« – oder: Verzicht<br />

auf Rechthaberei – ist sehr wichtig,<br />

leidet aber in Beziehungen oft unter dem<br />

Druck von Stolz. Großzügig wäre, auf die<br />

Befriedigung meines gekränkten Stolzes zu<br />

verzichten, indem ich nicht immer wieder<br />

einen Vorwurf erneuere, mit dem ich ihr<br />

und mir das Leben vermiese. Doch ich befürchte,<br />

nicht mehr ich selbst zu sein, wenn<br />

ich den Vorwurf weglassen würde, dass der<br />

andere mich zum Beispiel betrogen hat.<br />

Dabei hätte die Akzeptanz – das Verzeihen<br />

– etwas sehr Lebensfreundliches, eine Art<br />

Großzügigkeit auch mit sich selbst. Da<br />

kommt natürlich auch der Humor ins Spiel.<br />

Die menschlichen Liebesbeziehungen sind<br />

schließlich so reich an Widersprüchen, dass<br />

man ohne Humor überhaupt nicht klarkommt.<br />

Letztlich hilft mir die Großzügigkeit,<br />

dass ich die Enttäuschung wegstecke.<br />

Dass ich sehen kann, dass noch viel Gutes<br />

da ist, statt zu sagen: »Damit ist auch der<br />

Rest vernichtet.« Das ist die destruktive<br />

Form von Kleinlichkeit, bei der es nur das<br />

perfekte Liebesobjekt gibt. Dabei besteht<br />

auch ein glückliches Paar doch immer<br />

nur aus zwei Menschen, die allmählich<br />

lernen können, sich mit ihren für ein an der<br />

richtigen und falschen Seiten gut zu verstehen<br />

und zu vertragen.<br />

Glauben Sie, dass Menschen sich grundsätzlich<br />

falsch einschätzen können? Dass<br />

sie sich selbst für generell großzügig<br />

halten, alle anderen denken jedoch: Das<br />

ist aber wirklich ein Geizhals?<br />

Ja, auf jeden Fall. Die menschliche Selbsteinschätzung,<br />

das hat schon der Philosoph<br />

Friedrich Nietzsche sehr schön gesagt, ist<br />

einfach dem Stolz unterworfen. Wenn<br />

mein Stolz mir gebietet, ein großzügiger<br />

Mensch zu sein, dann kann ich noch so<br />

geizige Dinge treiben, aber in der Bilanz<br />

halte ich mich für großzügig.<br />

Wenn Sie ein Bild malen würden, das Sie<br />

»Großzügigkeit gegen Kleinlichkeit« nennen<br />

möchten: Wie würde das aussehen?<br />

Oh. Großzügigkeit würde ich wohl ein bisschen<br />

malen wie Chagall, mit bunten Farben<br />

und fließenden Übergängen. Die Kleinlichkeit<br />

sähe eher aus wie ein Wimmelbild, wie<br />

ein Gemälde von Albrecht Altdorfer vielleicht,<br />

auf dem viele kleine Figuren penibel<br />

gemalt sind. Oder Dürer wäre eher kleinlich<br />

und Rubens großzügig: barock, dramatisch,<br />

bewegt. Großzügigkeit und Kleinlichkeit:<br />

Beides ist an sich etwas Gutes. Und<br />

beides ist im Übermaß problematisch. —<br />

Wiebke Hansen und Sven Stillich freuten<br />

sich sehr über die Großzügigkeit ihrer Videokonferenz-Software.<br />

Die hob mitten im Interview die<br />

eingebaute Zeitbeschränkung von 40 Minuten für<br />

die Gratis-Version einfach auf. Danke vielmals.<br />

Illustration Saša Ostoja


29


30<br />

Wann sind Sie<br />

großzügig?<br />

Warum sind<br />

Sie kleinlich?


31<br />

PSYCHOTEST<br />

Wo immer unser Schwerpunkt vom Naturell her liegen mag:<br />

Wir alle haben nicht nur eine großzügige, sondern auch<br />

eine kleinliche Seite, die je nach Situation zum Vorschein<br />

kommt. So schauen wir etwa einerseits kaum aufs Geld,<br />

während wir andererseits erbittert feilschen. Mal sind wir<br />

perfektionistisch, dann wieder lassen wir fünfe gerade sein.<br />

Hier verzeihen wir, dort sind wir nachtragend.<br />

Die Frage ist: Was steckt jeweils hinter unserer<br />

Großzügigkeit und Kleinlichkeit? Mit diesem Test<br />

kommen Sie Ihren Motiven für beides auf die Spur<br />

Test Dr. Eva Wlodarek<br />

KREUZEN SIE IMMER DIE ANTWORT AN,<br />

DIE AUF SIE AM EHESTEN ZUTRIFFT.<br />

1.<br />

Im Restaurant bekommen Sie mit, dass<br />

der unfreundliche Kellner von einem<br />

Gast ein dickes Trinkgeld bekommt.<br />

Sie vermuten, dass …<br />

… dieser hier Stammgast ist. (A)<br />

… ihn das Verhalten nicht besonders<br />

stört. (C)<br />

… er sich sagt, dass jeder mal<br />

einen schlechten Tag hat. (B)<br />

Eine Kollegin möchte früher gehen,<br />

weil sie ein Date hat. Sie sagen: »Kein<br />

Problem, ich nehme inzwischen deine<br />

Anrufe entgegen. Viel Spaß!« (A)<br />

3.<br />

Sie erfahren, dass eine Bekannte negativ<br />

über Sie geredet hat. Statt sich darüber<br />

aufzuregen, sagen Sie sich souverän:<br />

Was kümmert es den Mond, wenn<br />

ihn ein Hund anbellt. (C)<br />

Für mich ist wichtiger, was meine<br />

Freunde von mir halten. (A)<br />

»Großzügigkeit ist der natürlichste<br />

äußere Ausdruck einer inneren Haltung<br />

von Mitgefühl und liebender Güte.«<br />

Dalai Lama XIV. (B)<br />

5.<br />

Sie nehmen an einem Charity-Event der<br />

Stiftung »Kinder in Not« teil. Mit welchen<br />

Worten kann man Sie am ehesten zu<br />

einer Spende bewegen?<br />

»Sie wissen ja, dass gerade die<br />

Kleinsten und Schwächsten in der<br />

Gesellschaft unserer besonderen<br />

Fürsorge bedürfen.« (B)<br />

Illustration Noma Bar<br />

2.<br />

Welche kleine Großzügigkeit liegt<br />

Ihnen am meisten?<br />

An der Kasse im Supermarkt fehlt einer<br />

Frau ein Euro zu ihrem Einkauf. Sie<br />

schenken ihr spontan die Münze. (C)<br />

Ein kleiner Junge sitzt weinend vor der<br />

Haustür. »Meine Mutter ist nur kurz<br />

zum Bäcker«, sagt er. Sie bleiben ein<br />

paar Minuten bei ihm und trösten ihn,<br />

bis sie zurückkommt. (B)<br />

Was andere über mich sagen, sagt<br />

mehr über sie aus als über mich. (B)<br />

4.<br />

Welches Zitat über Großzügigkeit spricht<br />

Sie am meisten an?<br />

»Der Wert eines Menschen liegt in dem,<br />

was er gibt, und nicht in dem, was er<br />

empfangen kann.« Albert Einstein (A)<br />

»Wer Gutes tun will, muss es verschwenderisch<br />

tun.« Martin Luther (C)<br />

»Wir, die wir hier sind, leben im<br />

Überfluss. Was für ein gutes Gefühl<br />

macht es doch, davon abzugeben!« (C)<br />

»Die Kleinen werden es Ihnen von Herzen<br />

danken, Sie werden in strahlende<br />

Kinderaugen schauen.« (A)<br />

6.<br />

Der alte Conte überlegt, welchem seiner<br />

drei Söhne er sein Weingut vererben soll.<br />

Die dort tätigen Arbeiter liegen ihm am<br />

Herzen. Also entscheidet er sich für …


32<br />

Luigi. Der hat immer ein offenes Ohr<br />

für die Sorgen anderer und bemüht<br />

sich, ihnen zu helfen. (B)<br />

Paolo. Er setzt sich vor allem für die<br />

Belange der Familie ein, hat aber auch<br />

diejenigen im Auge, die mit ihr zu tun<br />

haben. (A)<br />

Graziano. Er ist unkompliziert und verbindlich<br />

und begegnet auch den einfachen<br />

Menschen auf Augenhöhe. (C)<br />

7.<br />

Beim Klassentreffen sehen Sie nach<br />

Jahren wieder Bruno, der Sie damals<br />

so fies gemobbt hat. Er scheint es nicht<br />

weit gebracht zu haben. Sie …<br />

… weisen lässig darauf hin, was Sie<br />

inzwischen alles erreicht haben. (E)<br />

… denken: »Gott sei Dank muss ich<br />

mit solchen Menschen heute nichts<br />

mehr zu tun haben.« (D)<br />

… fragen extra genau nach, was er<br />

denn jetzt so macht. (F)<br />

8.<br />

In der Diskussion mit einem Freund sind<br />

Sie sicher, dass Sie recht haben. Trotzdem<br />

verzichten Sie darauf, ihm das unter<br />

die Nase zu reiben, weil Sie …<br />

… keine Lust haben, sich wegen<br />

Peanuts zu streiten. (C)<br />

… wissen, dass er auf Kritik immer<br />

empfindlich reagiert. (B)<br />

… die gute Beziehung zu ihm wichtiger<br />

finden, als recht zu behalten. (A)<br />

9.<br />

Sie warten bereits seit 20 Minuten im<br />

Café auf eine Freundin. Als sie endlich<br />

kommt, sagt sie lässig: »Tut mir leid, ich<br />

habe unterwegs jemand getroffen.« Sie …<br />

… sagen vorwurfsvoll: »Ich habe mir<br />

schon Gedanken gemacht, ob ich mich<br />

vielleicht im Datum vertan habe.« (D)<br />

… weisen sie darauf hin, dass es ziemlich<br />

unangenehm ist, wie bestellt und<br />

nicht abgeholt im Lokal zu sitzen. Da<br />

sind 20 Minuten lang. (F)<br />

… sagen: »Ist schon okay«, verhalten<br />

sich dann aber recht reserviert. (E)<br />

10.<br />

Sie haben sich Hoffnung auf die Teamleitung<br />

gemacht. Aber die bekommt ein<br />

intriganter Kollege, der Ihnen fachlich<br />

nicht das Wasser reichen kann. Wütend<br />

und enttäuscht …<br />

… äußern Sie sich besorgt an höherer<br />

Stelle über seine Inkompetenz. (D)<br />

… halten Sie wichtige Informationen<br />

zurück. Soll der doch sehen, wie er<br />

da rankommt. (E)<br />

… führen Sie ein Protokoll über seine<br />

Fehler und falschen Entscheidungen.<br />

Irgendwann können Sie das nutzen. (F)<br />

11.<br />

Jemand hat Sie gekränkt, nun tut es ihm<br />

leid. Welche Entschuldigung nehmen Sie<br />

am ehesten an?<br />

»Ich konnte die ganze Nacht nicht<br />

schlafen. Mich hat so bedrückt, dass<br />

du verletzt bist.« (B)<br />

»Es tut mir so leid. Ich verstehe gar<br />

nicht, wie ich so etwas sagen konnte.<br />

Glaub mir, ich wollte dich wirklich nicht<br />

kränken.« (C)<br />

»Bitte verzeih mir. Mir liegt wirklich viel<br />

an dir, und ich halte es nicht aus, wenn<br />

du mir böse bist.« (A)<br />

12.<br />

Ihr Nachbar beschwert sich ständig<br />

darüber, dass ein kleiner Ast aus Ihrem<br />

Garten auf sein Grundstück ragt.<br />

Genervt sagen Sie:<br />

»Messen Sie doch nach, und gehen<br />

Sie damit vor Gericht!« (F)<br />

»Stellen Sie sich nicht so an. Ich beschwere<br />

mich ja auch nicht, wenn Sie<br />

mich mit Ihrem Grill vollräuchern.« (E)<br />

»Sonst haben Sie keine Sorgen?« (D)<br />

13.<br />

Über welche Großzügigkeit freuen Sie<br />

sich am meisten?<br />

Sie entdecken auf einem Flohmarkt<br />

einen schönen kleinen Gegenstand.<br />

Nachdem Sie mit dem Besitzer ein<br />

wenig geplaudert haben, sagt er:<br />

»Den schenke ich Ihnen.« (C)<br />

Ihre Nachbarin steht mit einem Teller<br />

vor der Tür: »Ich habe gerade mein<br />

Spezialgericht gekocht und dachte,<br />

Sie mögen vielleicht probieren«. (A)<br />

Es war ein harter Tag, Sie sind erschöpft.<br />

Offenbar sieht man es Ihnen<br />

an: Im voll besetzten Bus steht ein<br />

junger Mann auf und bietet Ihnen<br />

seinen Platz an. (B)<br />

14.<br />

Drei von sieben Todsünden – zu welcher<br />

neigen Sie am ehesten?<br />

Zorn (E)<br />

Geiz (F)<br />

Habgier (D)<br />

15.<br />

Manche Menschen sind mit einem<br />

goldenen Löffel im Mund geboren:<br />

Geld wie Heu, prominente Familie, beste<br />

Beziehungen. Mit welcher Überlegung<br />

bezähmen Sie Ihren Neid?<br />

Die sind ständig von Bodyguards<br />

umgeben, weil sie Angst vor einer<br />

Entführung haben. (D)<br />

Die leiden genauso unter Krankheiten,<br />

Liebeskummer und Versagen wie<br />

unsereins. (F)<br />

Die wissen doch nie, ob man nur<br />

wegen ihres Geldes und ihrer<br />

Prominenz nett zu ihnen ist. (E)<br />

16.<br />

Was könnte Sie wohl dazu bringen,<br />

jemandem zum Geburtstag ein billiges<br />

Geschenk mitzubringen?<br />

Sie haben von ihm ein ähnliches<br />

Geschenk bekommen. (E)<br />

Sie sind pleite. (D)<br />

Sie hatten absolut keine Zeit, etwas<br />

anderes zu besorgen. (F)


33<br />

17.<br />

Der Duke of Lancaster ist mit der<br />

schönen Georgia verheiratet. Er<br />

vermutet, dass sie ihn betrügt.<br />

Schreiben Sie die Geschichte weiter:<br />

Rasend vor Eifersucht …<br />

… ändert er sein Testament<br />

zu ihren Ungunsten. (E)<br />

… verfolgt er sie heimlich auf Schritt<br />

und Tritt. (F)<br />

… fleht er sie an, ihm die Wahrheit<br />

zu sagen. (D)<br />

18.<br />

Sie haben jemandem einen Gefallen<br />

getan, und der hat sich nicht einmal bei<br />

Ihnen bedankt. Verärgert denken Sie:<br />

Der braucht sich bei mir nicht mehr<br />

zu melden! (E)<br />

Undank ist der Welten Lohn. (D)<br />

Kein Benehmen, so ein Verhalten<br />

ist unmöglich. (F)<br />

19.<br />

Sie gehen mit drei Bekannten zum<br />

Italiener. Die anderen bestellen ein<br />

Hauptgericht, Sie nur einen Salat. Am<br />

Ende heißt es: Lasst uns die Rechnung<br />

durch vier teilen. Sie wollen nicht<br />

knauserig erscheinen und zahlen, aber …<br />

… nehmen sich zähneknirschend vor:<br />

Nächstes Mal bestelle ich ein Drei-<br />

Gänge-Menü. (E)<br />

… ärgern sich über jeden Euro, den Sie<br />

zu viel bezahlt haben. (F)<br />

… mit solchen Leuten gehen Sie<br />

bestimmt nicht wieder essen. (D)<br />

TESTAUSWERTUNG<br />

1. Zählen Sie bitte zusammen, wie oft Sie im Test jeweils<br />

A, B und C angekreuzt haben. Der Buchstabe,<br />

den Sie am häufigsten gewählt haben, verrät Ihnen Ihr<br />

Motiv für Großzügigkeit.<br />

2. Bitte zählen Sie jeweils zusammen, wie oft Sie auf<br />

den vorigen Seiten D, E und F angekreuzt haben. Der<br />

Buchstabe, den Sie am häufigsten gewählt haben,<br />

verrät Ihnen Ihr Motiv für Kleinlichkeit.<br />

Sind mehrere Buchstaben gleich häufig, dann werden<br />

Sie je nach Situation von unterschiedlichen – vielleicht<br />

sogar widersprüchlichen – Motiven bestimmt. Welche<br />

das sind, lesen Sie bitte unter den entsprechenden<br />

Buchstaben nach.<br />

DAS STECKT HINTER IHRER GROSSZÜGIGKEIT:<br />

A<br />

Ihr Motiv: Beliebtheit<br />

Wir haben uns bei Ihren Freunden und Ihrer Familie<br />

sowie bei Ihren Kolleginnen und Kollegen umgehört.<br />

Die bestätigen unisono, dass Sie sehr oft großzügig<br />

sind. Für Menschen, die Ihnen nahestehen, ist Ihnen<br />

jedenfalls selten etwas zu viel. Sie sind bereit, einiges zu<br />

geben – sei es Ihre Zeit, ein finanzieller Beitrag, Ihre<br />

Arbeitsleistung oder sonstige Unterstützung. Das gilt<br />

privat wie beruflich. Kein Wunder, dass man es Ihnen<br />

dankt und anerkennend über Sie spricht. Und das ist<br />

auch genau das, was Sie – vielleicht unbewusst – dazu<br />

bewegt, großzügig zu sein.<br />

Ihr Gewinn: Auf diese Weise erreichen Sie, dass Sie<br />

von Ihrer Umgebung geliebt oder geschätzt werden.<br />

Die Gefahr: Sie geben anderen zu oft zu viel, um sympathisch<br />

zu sein.<br />

Tipp: Verteilen Sie Ihre Großzügigkeit nicht mit der<br />

Gießkanne, sondern differenzieren Sie, wer sie verdient<br />

hat. Sie müssen nicht everybody’s darling sein.<br />

20.<br />

Wo spüren Sie es in Ihrem Körper, wenn<br />

Sie so richtig großzügig gewesen sind?<br />

Im Kopf. Ich denke immer wieder<br />

mit Freude daran. (A)<br />

Im Bauch. Es ist ein warmes<br />

Glücksgefühl. (C)<br />

Im Herzen. Es fühlt sich lebendig an. (B)<br />

B<br />

Ihr Motiv: Empathie<br />

Erinnern Sie sich an Grimms Märchen Die Sterntaler?<br />

Da gibt das Mädchen am Ende sein letztes Hemd her.<br />

Das ist ein passendes Bild für Ihre Großzügigkeit. Die<br />

wird vor allem von Ihrem Herzen bestimmt. Sie können<br />

niemanden darben sehen, weder körperlich noch seelisch<br />

oder geistig. Sogleich verspüren Sie den Impuls,<br />

ihm beizuspringen und die Lücke mit Ihren Mitteln zu<br />

schließen. Sie geben etwa eine hilfreiche Adresse weiter,


34<br />

unterstützen mit Ihrem Know-how bei schwierigen<br />

Aufgaben oder spenden für Menschen in Not.<br />

Ihr Gewinn: Sie haben das beruhigende Gefühl, das<br />

Richtige getan zu haben, und sind mit sich im Reinen.<br />

Die Gefahr: Es besteht das Risiko, dass Ihre Großzügigkeit<br />

von anderen ausgenutzt wird.<br />

Tipp: Geben Sie nicht automatisch. Bevor Sie das<br />

nächste Mal großzügig sind, fragen Sie sich: Will ich<br />

das wirklich? Üben Sie, gelegentlich Nein zu sagen.<br />

C<br />

Ihr Motiv: Lässigkeit<br />

In Ihrem Schulzeugnis stand bestimmt der Zusatz:<br />

»… ist intelligent, aber muss sich mehr anstrengen.« Sie<br />

halten es gern mit dem Motto »Man lebt nur einmal«.<br />

Entsprechend zeigt sich Ihre Großzügigkeit im Alltag:<br />

Alle um sie herum hecheln der Selbstoptimierung hinterher?<br />

Wozu der Stress, man ist halt, wie man ist. Es<br />

sind Freunde in der Stadt? Die müssen doch nicht ins<br />

Hotel, die können gerne bei Ihnen übernachten. Jemand<br />

hat sich danebenbenommen? Schwamm drüber,<br />

das kann doch jedem mal passieren.<br />

Ihr Gewinn: Sie gehen leichtfüßiger als andere durch<br />

den Tag und gewinnen Sympathien.<br />

Die Gefahr: Zu wenig Disziplin hindert Sie daran, Ihr<br />

volles Potenzial zu entfalten. Wenn Sie wichtige Arbeiten<br />

allzu unbekümmert erledigen, kann das unter Umständen<br />

eine Fehlerquelle sein.<br />

Tipp: Erlauben Sie, dass Menschen mit einer präziseren<br />

Lebenseinstellung überprüfen, wo Ihre Großzügigkeit<br />

zu weit geht. Hören Sie dann darauf.<br />

DAS STECKT HINTER IHRER KLEINLICHKEIT:<br />

D<br />

Ihr Motiv: Sorge<br />

Was ist, wenn Sie krank werden? Wenn demnächst<br />

vielleicht teure Reparaturen fällig sind? Wenn die große<br />

Liebe erstirbt oder sich die Geschäftsidee als Flop erweisen<br />

sollte? Was passiert, wenn Sie das wichtige Projekt<br />

in den Sand setzen? Sich über solche Fragen Gedanken<br />

zu machen ist durchaus berechtigt. Schließlich ist es<br />

klug, Eventualitäten nicht zu verdrängen und dafür<br />

einen Plan B in der Tasche zu haben. Doch Sie neigen<br />

dazu, Unwägbarkeiten und Ängsten mit Kleinlichkeit<br />

zu begegnen. Das ist Ihre Art, sich dagegen zu wappnen.<br />

Vielleicht halten Sie deswegen eisern Ihr Geld zusammen<br />

und verkneifen sich jeden Luxus. Oder Sie<br />

gehen vorsorglich zurückhaltend mit Ihren Gefühlen<br />

um, damit Sie nicht enttäuscht werden können.<br />

Ihr Gewinn: Sie schützen sich weitgehend vor unliebsamen<br />

Überraschungen.<br />

Die Gefahr: Sie verpassen Chancen, weil Sie sich in<br />

einem Schneckenhaus eingerichtet haben.<br />

Tipp: Nichts gegen Vorsorge. Aber lernen Sie, auch in<br />

puncto Zukunft dem Leben zu vertrauen. Es ist großzügiger,<br />

als Sie denken.<br />

E<br />

Ihr Motiv: Vergeltung<br />

Jemand trifft Ihren wunden Punkt – und ist für Sie erledigt!<br />

Die Kellnerin knallt Ihnen das Essen lieblos auf<br />

den Tisch: Das wird sie am Trinkgeld merken. In Ihrem<br />

Team gibt es Leute, die wenig tun, aber die Lorbeeren<br />

ernten wollen – da sind Sie zurückhaltend mit Informationen.<br />

Sobald Sie das Gefühl haben, Geben und<br />

Nehmen seien nicht ausgeglichen, können Sie ganz<br />

schön kleinlich sein. Dazu besitzen Sie eine innere<br />

Waage, die das genau austariert und deren Motor Gerechtigkeit<br />

ist. Wenn jemand Sie übervorteilen will,<br />

wehren Sie sich mit Kleinlichkeit. Und das geschieht<br />

dann meist sehr deutlich, damit Ihr Gegenüber auch<br />

merkt, dass es hier um Ausgleich geht.<br />

Ihr Gewinn: Sie sind zufrieden, weil der Gerechtigkeit<br />

Genüge getan ist.<br />

Die Gefahr: Das kann in kleinliche Rache ausarten, bei<br />

der man sich gegenseitig hochschaukelt.<br />

Tipp: Versuchen Sie erst einmal, sich in den anderen<br />

einzufühlen. Vielleicht fällt Ihr Urteil dann weniger<br />

streng aus.<br />

F<br />

Ihr Motiv: Stress<br />

Wenn Sie sich unter Druck fühlen, können Sie ziemlich<br />

kleinlich werden. Dann ist da nichts mehr von der<br />

ursprünglichen Großzügigkeit – plötzlich reagieren Sie<br />

gereizt und ungeduldig. Oft fallen Ihnen dann in Ihrer<br />

Umgebung Details ins Auge, die Sie vorher nicht beachtet<br />

haben. Sie bemängeln, dass ein Bild schief hängt<br />

oder das Besteck auf dem Esstisch nicht parallel liegt.<br />

Im Job weisen Sie Kollegen auf Rechtschreibfehler in<br />

einer unwichtigen E-Mail hin oder prüfen eine Abrechnung<br />

Punkt für Punkt bis auf den Cent. Meist<br />

leiden Sie selbst darunter, dass Sie so pingelig reagieren,<br />

können das aber kaum abstellen.<br />

Ihr Gewinn: Die penible Kontrolle über eine Situation<br />

gibt Ihnen Sicherheit.<br />

Die Gefahr: Andere fühlen sich von Ihnen kritisiert<br />

oder bevormundet. Hinter vorgehaltener Hand bezeichnet<br />

man Sie als »Krämer« oder »Erbsenzählerin«.<br />

Tipp: Nehmen Sie auftauchende Kleinlichkeit als Indikator<br />

dafür, dass Sie sich entspannen sollten.


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36<br />

DAS ZEIT WISSEN GESPRÄCH<br />

»Der Mississippi sollte vor<br />

Gericht ziehen können«<br />

Müssen die Menschen ihr Weltbild auf den Kopf stellen,<br />

um sich zu retten? Ein Gespräch mit Fritz Habekuß und<br />

Dirk Steffens – zwei Experten des Überlebens<br />

Interview Andrea Böhnke und Clara Rauschendorfer


37


38<br />

D<br />

irk Steffens und Fritz Habekuß<br />

kriechen berufsbedingt<br />

normalerweise durch<br />

Höhlen, beobachten Elefanten<br />

in Afrika oder stapfen<br />

an Gletschern entlang.<br />

Doch die Corona-Pandemie hat auch die<br />

Wissenschaftsjournalisten »gegroundet«, wie<br />

die beiden selbst sagen. Wir treffen uns für<br />

das Gespräch daher in einem Konferenzraum<br />

der ZEIT in Hamburg. Nach dem<br />

Interview wollen Steffens und Habekuß<br />

endlich auf das Buch anstoßen, das sie miteinander<br />

geschrieben haben. Es geht darin<br />

um nichts Geringeres als die Rettung der<br />

Menschheit – daher der Titel: Über Leben.<br />

Herr Steffens, Herr Habekuß, Sie berichten<br />

regelmäßig über die Probleme, die wir der<br />

Natur bereiten. Wer von Ihnen ist der größere<br />

Menschenfreund?<br />

Dirk Steffens: Ganz klar Fritz.<br />

Fritz Habekuß: (erstaunt) Warum?<br />

Steffens: Du reagierst verständnisvoller auf<br />

Fehlverhalten als ich und fragst dich eher,<br />

warum wir so handeln, wie wir es tun.<br />

Machen wir den Menschen doch mal im<br />

Namen der Natur den Gerichtsprozess.<br />

Herr Steffens, Sie sind der Staatsanwalt.<br />

Welche Zeugen rufen Sie auf?<br />

Steffens: Ich könnte neun Millionen Arten<br />

einzeln in den Zeugenstand rufen, und jede<br />

könnte eine Geschichte von sinnloser Zerstörung<br />

durch den Homo sapiens erzählen<br />

und belegen. Es gibt auch Menschen, die zu<br />

den Opfern zählen, vor allem indigene Völker,<br />

die von Naturzerstörung betroffen sind.<br />

Nennen Sie uns bitte konkrete Zeugen.<br />

Steffens: Gehen auch ausgestorbene Arten?<br />

Ja, das geht auch.<br />

Steffens: Dann rufe ich den Riesenalk auf.<br />

Das letzte lebende Pärchen wurde im 19.<br />

Jahrhundert auf Island gesichtet. Ein<br />

Sammler hat damals drei Männer damit<br />

beauftragt, die beiden Riesenalke zu fangen<br />

und für seine Sammlung auszustopfen. Die<br />

Männer haben die Tiere mit bloßen Händen<br />

erwürgt und nebenbei auch noch das<br />

letzte Ei zertreten. Einfach so, weil’s ging.<br />

Es gehörte gar nicht zu ihrem Auftrag. Zwei<br />

Charakterzüge des Menschen führen immer<br />

unweigerlich zur Zerstörung: seine Gier,<br />

die eigenen Lebensumstände einfach und<br />

schnell zu verbessern, und seine Gedankenlosigkeit,<br />

was das für Folgen hat.<br />

Herr Habekuß, wenn Sie den Menschen in<br />

dem Prozess verteidigen müssten, welche<br />

Zeugen würden Sie aufrufen?<br />

Habekuß: Die Nachtigall. Dieser Vogel, der<br />

früher nur im Wald vorgekommen ist, fühlt<br />

sich heute in Berlin so wohl wie an keinem<br />

anderen Ort. So schlecht können wir also<br />

für die Natur nicht sein, wenn es sogar die<br />

ehemals so scheue Nachtigall in der deutschen<br />

Hauptstadt aushält.<br />

Steffens: Einspruch! Das ist kein Entlastungsgrund,<br />

weil es nicht absichtsvoll geschehen<br />

ist. Das Wohlergehen der Nachtigall<br />

ist nur ein zufälliges Nebenprodukt<br />

menschlichen Verhaltens. Der Riesenalk<br />

wurde in vollem Bewusstsein ausgerottet.<br />

Einspruch stattgegeben. Herr Habekuß?<br />

Habekuß: Weltweit betreiben Menschen<br />

wahnsinnigen Aufwand, um Arten zu retten.<br />

Der Kranich, der Seeadler und der Wolf<br />

sind in Deutschland Erfolgsbeispiele. Wenn<br />

wir Menschen wollen, können wir durchaus<br />

Arten erhalten und investieren auch viel<br />

Geld in ihren Schutz.<br />

Steffens: Nochmals Einspruch! Dass wir<br />

einzelne Arten retten und es einzelne Menschen<br />

gibt, die bis zur Selbstaufopferung für<br />

sie kämpfen, macht unsere Vergehen nicht<br />

besser. Wir rotten viel mehr Arten aus, als<br />

wir retten. Das große Bemühen einzelner<br />

Menschen wird immer wieder dadurch konterkariert,<br />

dass die Masse egoistisch handelt.<br />

Habekuß: In einem Gerichtsprozess kann<br />

man aber nur Personen anklagen. Und die<br />

wenigsten von uns fällen doch Bäume im<br />

Amazonas oder fangen Fische aus überfischten<br />

Meeren. Das heißt, die Verantwortlichkeit<br />

ist gar nicht so leicht festzustellen.<br />

Steffens: Wer von uns weiß denn heute<br />

nicht, dass billiges Fleisch mit der Abholzung<br />

des Regenwalds in Brasilien verbunden<br />

ist? Aber ich muss jetzt mal eine Sache<br />

sagen: Ich spüre, wie Fritz leidet. Wir würden<br />

ja eigentlich gerne zusammen den<br />

Richter belangen, der solche Dinge nicht<br />

verurteilt. (lacht)<br />

Wie können wir den Menschen denn zur<br />

Verantwortung ziehen?<br />

Habekuß: Es gibt überall auf der Welt<br />

Menschen, die der Natur Rechte verleihen<br />

wollen. Eine Bewegung in den USA will<br />

zum Beispiel erwirken, dass der Mississippi<br />

vor Gericht ziehen kann. In den letzten<br />

Jahrzehnten hat der Mensch dessen Ufer begradigt<br />

und verbaut, sein Wasser ist verdreckt,<br />

und er wird ausgebeutet. Die konventionellen<br />

Umweltgesetze definieren nur,<br />

wie sehr man einen Fluss nutzen, verschmutzen<br />

und verbauen darf. Aber wenn eine Aktiengesellschaft<br />

Rechte besitzt, warum nicht<br />

auch ein Fluss? Warum darf ein Wald nicht<br />

dagegen klagen, dass er abgeholzt wird?<br />

Steffens: Naturzerstörung müsste im Grunde<br />

wie ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit<br />

geahndet werden. Seit dem Philosophen<br />

Jean-Jacques Rousseau sagen wir: Die<br />

individuelle Freiheit endet dort, wo sie die<br />

Freiheit des Nächsten einschränkt. Die Idee<br />

von Gesetzen ist doch, das gemeinschaftliche<br />

Glück möglichst hochzuhalten. Aber Glück<br />

ist nur innerhalb funktionierender Natursysteme<br />

möglich. An deren Zerstörung ist<br />

die Naturwissenschaft, die heute als Kronzeugin<br />

von Arten- und Klimaschützern auftritt,<br />

mitschuldig. Für sie war die Natur irgendwann<br />

nur noch ein Gegenstand von<br />

Untersuchungen. Etwas, das man in Schubladen<br />

stecken, kategorisieren, in Rubriken<br />

einteilen kann. Und sie hat so getan, als<br />

seien wir Menschen nicht Teil der Natur,<br />

zumindest kein emotionaler. Wir betrachten<br />

alles nur als Kausalkonzept, Ursache hier,<br />

Wirkung dort. Das funktioniert gut für<br />

kleine Alltagsprobleme, aber schlecht für<br />

große Zusammenhänge.<br />

Warum sind wir überhaupt so viele Jahrhunderte<br />

damit durchgekommen?<br />

Steffens: Bis zur Industrialisierung konnte<br />

der Mensch Natur verbrauchen, ohne<br />

grundsätzlich in die Naturkreisläufe einzugreifen.<br />

Nun sind wir zum ersten Mal so<br />

viele, und unser Einfluss ist so groß, dass<br />

diese alte Erfahrung nicht mehr gilt. Das ist<br />

ein neues Problem, dessen wir uns jetzt zum<br />

ersten Mal wirklich gewahr werden können.<br />

Als Staatsanwalt würde ich sagen: Der<br />

Mensch kommt aus schwierigen sozialen<br />

Verhältnissen. Das können wir strafmildernd<br />

geltend machen. Aber das geht eben<br />

nur bis zu einem gewissen Punkt. Jetzt, da<br />

wir diese Zusammenhänge kennen, sind<br />

wir auch nicht mehr im Jugendstrafrecht,<br />

sondern wir sind voll verantwortlich für<br />

das, was wir tun. Und es ist eigentlich ganz<br />

einfach: Auf einem begrenzten Planeten ist<br />

unbegrenztes Wachstum nicht möglich.<br />

Wie kommt es, dass wir der Natur so etwas<br />

antun? Wir haben Gesetze, die verbieten,<br />

zu stehlen oder Menschen zu töten. Dem<br />

Fluss aber entwenden wir einfach sein Bett.<br />

Habekuß: Wir ziehen zwischen uns und der<br />

Natur eine Grenze und leben in der Illu sion,<br />

dass wir außerhalb von Naturzusammen-


39


40<br />

»Alle großen Umweltgutachten fordern heute längst eine radikale gesamtgesellschaftliche Transformation.<br />

Wir müssen unsere komplette Art, zu leben und zu wirtschaften, umstellen.«<br />

hängen existieren könnten. Dabei gibt es<br />

zwischen Mensch und Natur eine uralte<br />

Verbindung; sie steckt in jedem von uns.<br />

Das zeigt sich auch daran, dass Kinder nicht<br />

zwischen einem belebten und einem unbelebten<br />

Wesen und einem Menschen unterscheiden.<br />

Doch in den letzten zehn Generationen<br />

haben wir uns aus dieser Verbindung<br />

herausentwickelt.<br />

Steffens: Wir brauchen ein anderes Naturverständnis<br />

und auch wieder mehr von unserem<br />

alten Gemeinsinn: Die Luft gehört<br />

uns allen, das Wasser gehört uns allen, ein<br />

gesundes Leben muss für alle möglich sein.<br />

Dennoch sterben jährlich etwa neun Millionen<br />

Menschen an Folgen von Umweltverschmutzung.<br />

Mehr Gemeinsinn hört<br />

sich vielleicht heutzutage ein wenig weltfremd<br />

an, aber die meiste Zeit in der Geschichte<br />

unserer Art haben die Menschen<br />

doch nach diesen Grundsätzen gelebt.<br />

Wie ist uns das Naturverständnis und<br />

dieser Gemeinsinn abhandengekommen?<br />

Steffens: Als in der neolithischen Re vo lu tion<br />

aus Jägern und Sammlern Bauern wurden,<br />

sind die Motive entstanden, die uns heute so<br />

quälen: Egoismus und Habgier. Für die<br />

Nomaden war es sinnlos, Reichtum anzuhäufen,<br />

weil man ihn gar nicht mitschleppen<br />

konnte. Es hat erst einen Sinn bekommen,<br />

als wir begonnen haben, Zäune zu ziehen,<br />

Grund und Boden zu Privateigentum zu erklären<br />

und andere auszugrenzen.<br />

Welche Weichen hätten damals anders gestellt<br />

werden müssen?<br />

Steffens: Die Frauen hätten früher auf den<br />

Plan treten müssen. Die Gleichberechtigung<br />

der Frau ist aus meiner Sicht die beste<br />

Umweltschutzmaßnahme. Ich denke da<br />

auch an eine Freundin, die Verhaltensforscherin<br />

Jane Goodall. Sie hat manches<br />

nur entdecken können, weil sie jede Regel,<br />

die ihre männlichen Kollegen aufgestellt<br />

hatten, gebrochen hat: Sie ist zu den<br />

Schimpansen hingegangen und hat sich<br />

mit ihnen angefreundet. Nur deshalb hat sie<br />

herausgefunden, dass der Mensch nicht die<br />

einzige Art ist, die Werkzeuge benutzt.<br />

Durch eine weibliche, emotionale Sicht auf<br />

Natur können wir alle etwas lernen. Und<br />

aus der Bevölkerungswissenschaft wissen<br />

wir auch: Wenn mehr Frauen Zugang zu<br />

Bildung haben, fällt das Bevölkerungswachstum<br />

auf ein nachhaltiges Niveau.<br />

Und welche Rolle spielt unsere Gier nach<br />

immer mehr Besitz?<br />

Habekuß: Man sieht seit dem Mittelalter<br />

eine gigantische Verschiebung von Gemeinschaftseigentum<br />

in Privatbesitz. Was früher<br />

gemeinschaftlich nach klaren Regeln organisiert<br />

wurde, wurde plötzlich nach Einzelinteressen<br />

genutzt. Dass man überhaupt<br />

Boden besitzen kann, ist in anderen Kulturen<br />

übrigens ein völlig abwegiger Gedanke. In<br />

Grönland zum Beispiel gibt es keine Zäune,<br />

weil dieses Konzept von Grundeigentum<br />

nicht funktioniert. In Deutschland kann<br />

man Boden kaufen, und das führt dazu,<br />

dass er total übernutzt wird. Es lohnt sich


41<br />

für das Individuum, aus Privatgrund maximal<br />

viel herauszuholen.<br />

Steffens: Wir sind besoffen vom Erfolg des<br />

Kapitalismus und haben ihn in Lebens- und<br />

Gesellschaftsbereiche übertragen, in die er<br />

nicht gehört: in unsere Verteidigung, in<br />

Krankenhäuser, in Schulen, in Universitäten<br />

und eben auch in die Umweltpolitik. Andererseits<br />

sollten wir in den richtigen Bereichen<br />

viel mehr Kapitalismus wagen. Jemand, der<br />

die Umwelt zerstört, muss dafür auch zahlen.<br />

Wir müssen aufhören, Kosten auszulagern,<br />

und echte Umweltkosten berechnen, Preiswahrheit<br />

herstellen. Eine solche Art von<br />

Kapitalismus bedeutet Eigenverantwortung:<br />

Wenn du etwas kaputt machst, musst du es<br />

auch wieder reparieren.<br />

Muss man denn ansonsten zwingend gegen<br />

Wirtschaftswachstum sein, wenn man sich<br />

für die Umwelt einsetzen will?<br />

Habekuß: Solange wir dieses Wachstum<br />

mit Verbrauch von Natur und der Verschmutzung<br />

der Atmosphäre gleichsetzen,<br />

muss man gegen Wachstum sein. Aber es<br />

gibt ja andere Möglichkeiten, Wachstum zu<br />

definieren. Jeder will gesund sein, will Zeit<br />

haben, sich um seine Liebsten zu kümmern,<br />

will genügend zu essen haben und in sicheren<br />

Zusammenhängen leben. Die Kurven von<br />

Wohlstand und Lebensqualität verlaufen<br />

eine Zeit lang parallel. Irgendwann verdient<br />

man mehr, aber das Wohlbefinden bleibt<br />

auf dem gleichen Niveau.<br />

Steffens: Seit dem Jahr 1970 ist der Durchschnittsdeutsche<br />

schätzungsweise fünfmal<br />

wohlhabender geworden, aber kein bisschen<br />

glücklicher. Warum also wollen wir noch<br />

wohlhabender werden? Wir brauchen eine<br />

neue Idee von Wachstum.<br />

Wie könnte eine solche Idee aussehen?<br />

Steffens: Wachstum kann auch bedeuten,<br />

dass wir nicht mehr Nahrungsmittel produzieren<br />

als jetzt, sondern genauso viele – aber<br />

dabei keine Natur zerstören. Ich war gerade<br />

in Hallstatt in Österreich. Seit 7000 Jahren<br />

wird dort ununterbrochen Salz abgebaut.<br />

Wenn man heute vor dem Bergwerk steht,<br />

sieht man davon nichts. Weil vor Ort Vorschriften<br />

tradiert werden, wie man mit der<br />

Natur umzugehen hat, damit der Schaden<br />

nicht größer ist als der Nutzen des Bergbaus:<br />

Man darf nicht zu viele Bäume abholzen,<br />

sonst kommen Lawinen herunter.<br />

Man darf die Stollen nicht zu weit treiben,<br />

sonst brechen darüber die Hänge ein. Das<br />

sind einfache Gedanken. Uralte Einsichten.<br />

Habekuß: Wachstum ist auch eine Frage<br />

der Metrik. Wenn jemand Stunden im Stau<br />

verbracht hat, aber vorher getankt hat, ist<br />

das nach unserem heutigen Verständnis<br />

Wirtschaftswachstum. Dieser Mensch hat<br />

etwas verbraucht. Aber ist das dabei entstandene<br />

Wirtschaftswachstum gut für ihn?<br />

Am Ende geht es doch um Glück und Zufriedenheit<br />

und darum, dass man ein Teil<br />

der Natur ist und so lebt, dass wir als Art<br />

langfristig überleben können. Das ist ein<br />

Wert. Ihn muss man messbar machen, damit<br />

die Politik sich daran ausrichten kann.<br />

Steffens: Apropos Politik: Die Ökologie<br />

wird zur entscheidenden machtpolitischen<br />

Frage dieses Jahrhunderts werden. Die<br />

Staaten, die es schaffen, nachhaltig zu wirtschaften,<br />

die nachhaltig arbeitende Energieund<br />

Mobilitätstechnologien entwickeln,<br />

werden künftig Führungsnationen sein. Es<br />

geht doch beim Umweltschutz nicht darum,<br />

Bäume zu umarmen. Und wir dürfen<br />

ihn hier bei uns nicht mehr in politische<br />

Lager schieben, weil er da nicht hingehört.<br />

Umweltschutz ist unsere Lebensgrundlage<br />

– und diese darf niemals Gegenstand politischer<br />

Richtungskämpfe sein.<br />

Wie stoppen wir das Wachstum, das für<br />

unseren Planeten schädlich ist? Sollten wir<br />

alle weniger Auto fahren?<br />

Habekuß: Während der Corona-Hochphase<br />

sind an einzelnen Tagen die Emissionen<br />

weltweit um bis zu 18 Prozent zurückgegangen.<br />

Auf das Jahr gemittelt, werden wir<br />

wahrscheinlich acht Prozent CO₂ eingespart<br />

haben. Für uns persönlich war der Konsumverzicht<br />

während Corona zwar massiv –<br />

aber er hatte relativ geringe Auswirkungen<br />

auf die Umwelt. Das zeigt, dass die richtig<br />

fetten Räder, an denen wir jetzt in relativ<br />

kurzer Zeit drehen müssen, bei der Industrie<br />

und der Politik zu finden sind. Nur dort<br />

können wir den Klimawandel und die<br />

Zerstörung der Ökosphäre aufhalten.<br />

Ist die Corona-Pandemie ein guter Zeitpunkt,<br />

um ein Umdenken anzustoßen?<br />

Habekuß: Wir können zwei Erkenntnisse<br />

aus der Corona-Krise ziehen. Erstens: Wir<br />

sind ein Teil der Natur, und wir können uns<br />

nicht von Naturzusammenhängen befreien.<br />

Umweltschutz ist Seuchenschutz. Zweitens:<br />

Können und Wollen ist dasselbe. Vor der<br />

Krise hieß es immer, man könne nicht alle<br />

Flugzeuge am Boden lassen und man könne<br />

nicht aufhören zu wachsen und den Konsum<br />

stark einschränken. Aber es ging doch.<br />

Wenn wir wissen, warum wir bestimmte<br />

Dinge tun oder lassen sollen, sind wir<br />

durchaus bereit zu handeln – auch wenn das<br />

zulasten unserer persönlichen Freiheiten<br />

geht. Der Weg ist immer noch weit, aber<br />

weiter als jetzt war die Debatte noch nie.<br />

Steffens: Dass Umweltzerstörungen Epidemien<br />

auslösen, war schon lange vor Corona<br />

bekannt. Solange die Wissenschaft aber nur<br />

gewarnt hat, haben wir nicht gehandelt.<br />

Erst als Corona vor unserer Tür stand, hat<br />

sich etwas bewegt.<br />

Und wann können wir das Artensterben<br />

nicht mehr ignorieren?<br />

Steffens: Ich befürchte, dass wir erst handeln,<br />

wenn die Landwirtschaft Ernteausfälle von<br />

katastrophalem Ausmaß hat. Wenn die<br />

Nahrungsmittelversorgung auch in den<br />

westlichen Ländern wieder ein Problem<br />

wird. Wenn Wassermangel, Dürren und<br />

Missernten dazu führen, dass wir Flüchtlingswellen<br />

erleben, wie wir sie noch nicht<br />

erlebt haben. Verteilungskriege, Hungersnöte,<br />

neue Seuchen: Das sind die apokalyptischen<br />

Reiter, die von der Umweltzerstörung<br />

abhängen. Erst wenn die durch unsere<br />

Straßen galoppieren, werden wir handeln.<br />

Habekuß: Und das ist eine sehr westliche<br />

Perspektive. Wir sind so reich, dass wir uns<br />

davon freikaufen können, den apokalyptischen<br />

Reitern zu begegnen. Woanders hat<br />

die Apokalypse längst begonnen.<br />

Ist es dann schon zu spät, um zu handeln?<br />

Steffens: Jede Art und jede menschliche<br />

Population hat in früheren Zeiten bis in die<br />

Krise hinein expandiert. Das gilt für Elefanten<br />

genauso wie für die Aborigines in<br />

Australien, die ersten Siedler in Neuseeland<br />

oder für uns. Expansion ist ein biologisches<br />

Grundgesetz. Manche Menschenpopulationen<br />

haben nach der Krise in einer Balance<br />

mit der Natur gelebt, zum Beispiel Naturvölker<br />

wie die Yanomami oder die San.<br />

Wenn die das konnten, haben wir vielleicht<br />

auch eine Chance. Aber wir können es auch<br />

verbocken: Manche Völker sind schließlich<br />

verschwunden. Weil sie nicht schnell genug<br />

gelernt haben. Das Rennen ist offen.<br />

Habekuß: Die Warnzeichen der Katastrophe<br />

sind mittlerweile auch in einem so reichen<br />

Land wie Deutschland nicht mehr zu ignorieren.<br />

Und ich hoffe, dass das zu einem<br />

Umdenken führen wird.<br />

Steffens: Ich befürchte, dass wir tatsächlich<br />

durch eine große Krise gehen müssen, bevor<br />

wir als Art einen Weg finden, nachhaltig


42


43<br />

Fotos[M] Michael Breitung/Gallery Stock; Zack Seckler/Gallery Stock; H & D Zielske/Gallery Stock; Jenna Gang/Gallery Stock Foto Markus Tedeskino (r.)<br />

mit den Ressourcen des Planeten zu leben.<br />

Habekuß: Auf der anderen Seite wussten<br />

wir noch nie so viel wie heute. Wir haben es<br />

geschafft, zum Mond zu fliegen und zurückzukommen.<br />

Wir haben Nasenhaarschneider<br />

entwickelt, die leuchten. Wir können Elektroautos<br />

bauen mit 600 PS. Und wir haben<br />

es geschafft, nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

zumindest in Europa wieder einen verhältnismäßig<br />

stabilen Frieden herzustellen. Warum<br />

soll es uns nicht gelingen, einen Ausweg<br />

aus der Ökokrise zu finden?<br />

Warum werden die Warnungen der Wissenschaft<br />

in der Ökokrise anscheinend<br />

weniger ernst genommen als zum Beispiel<br />

in der Corona-Krise?<br />

Habekuß: Bei der Ökokrise macht die Wissenschaft<br />

die Leitplanken sichtbar, innerhalb<br />

derer wir uns bewegen können, wenn<br />

wir das planetare System vernünftig nutzen<br />

wollen. Alle großen Umweltgutachten fordern<br />

heute längst eine radikale gesamtgesellschaftliche<br />

Transformation. Wir müssen<br />

unsere komplette Art, zu leben und zu wirtschaften,<br />

umstellen. Im Bundestag wird<br />

aber nur über Tempolimits für Autos und<br />

Gütesiegel für Fleisch verhandelt. Die Radikalität,<br />

die sich aus den Forderungen der<br />

Forscher ergibt, findet keine Entsprechung<br />

im politischen Mainstream. Die Debatte<br />

bildet nicht ab, wie ernst die Lage ist.<br />

Steffens: Die Folgen der Ökokrise sind zwar<br />

radikal, aber sie sind auch so vielgestaltig<br />

und vielschichtig, dass wir sie oft nicht als<br />

konkrete Bedrohung empfinden. Anders als<br />

in der Corona-Krise. Hier gab es irgendwann<br />

im Fernsehen Bilder von Leichentransporten<br />

in Italien und von Massengräbern<br />

in Brasilien zu sehen. Die Bedrohung<br />

wurde dort sinnlich und konkret erfahrbar.<br />

Die Ökokrise bleibt zu abstrakt.<br />

Kann der Wissenschaftsjournalismus hier<br />

etwas anders machen?<br />

Steffens: Wir berichten oft über negative<br />

Ereignisse. Wir sprechen über Verzicht,<br />

Verbote und Zerstörung. Total demotivierend,<br />

abschreckend. Vielleicht sollten wir<br />

den Blick öfter mal darauf lenken, was wir<br />

gewinnen, wenn wir die Umwelt schützen.<br />

Wir gewinnen ökonomisch, emotional,<br />

gesundheitlich und an Sicherheit. Wir gewinnen<br />

die bessere Zukunft.<br />

Kehren wir noch einmal zum Beginn des<br />

Interviews zurück. Welches Urteil fordern<br />

Sie als Staatsanwalt im Prozess gegen den<br />

Menschen, Herr Steffens?<br />

Steffens: Ich plädiere für eine lange Bewährungsstrafe<br />

mit strengen Auflagen. Wir<br />

müssen auch mit einer langfristigen Resozialisierungsmaßnahme<br />

rechnen. Die großen<br />

Systeme, die Wirtschaft und die Politik,<br />

müssen sich ändern. Hier müssen die Leitplanken,<br />

die die Naturwissenschaft definiert<br />

hat, in Handlungsanweisungen umgesetzt<br />

werden.<br />

Wirtschaft und Politik müssen sich resozialisieren<br />

– und was kann der Einzelne<br />

ändern? Müssen wir uns wieder in die<br />

Natur verlieben?<br />

Habekuß: Wenn wir von Liebe zur Natur<br />

sprechen, meinen wir damit, dass wir die<br />

uralte Verbindung zu ihr wiederentdecken<br />

müssen, aus der wir uns in den vergangenen<br />

Jahrzehnten herausgelöst haben. Und, ja,<br />

das ist dringend notwendig.<br />

Steffens: Wir müssen uns wieder mehr als<br />

Teil der Natur fühlen und öfter mal spüren,<br />

dass wir eigentlich kleine Wichte sind.<br />

Dirk Steffens moderiert die<br />

ZDF-Dokureihe »Terra X« und<br />

engagiert sich für den Artenschutz.<br />

Er wurde mehrfach<br />

ausgezeichnet, unter anderem<br />

mit dem Deutschen Fernsehpreis.<br />

Steffens ist zudem UN-<br />

Botschafter für die Dekade der<br />

biologischen Vielfalt sowie nationaler<br />

Botschafter des World<br />

Wide Fund For Nature (WWF)<br />

und des Jane-Goodall-Instituts.<br />

Fritz Habekuß schreibt als<br />

Redakteur im Ressort Wissen<br />

der ZEIT vor allem über das<br />

Verhältnis von Mensch und<br />

Natur. Vor zwei Jahren erhielt<br />

Habekuß den Holtzbrinck-Preis<br />

für Wissenschaftsjournalismus.<br />

Sie sind beide viel unterwegs. Wann haben<br />

Sie sich zuletzt gegenüber der Natur so<br />

richtig wie ein Zwerg gefühlt?<br />

Steffens: Ich war neulich in einer der längsten<br />

Höhlen Deutschlands, dem Hölloch.<br />

Wir haben dort in 80 Meter Tiefe in einem<br />

Biwak übernachtet. Durch die Höhle geht<br />

ein reißender Bach, ab und zu knallt das<br />

Gestein, der Berg arbeitet. Und jedes Mal,<br />

wenn man die Taschenlampe ausmacht,<br />

herrscht absolute Finsternis. Die Sinne sind<br />

vollkommen irritiert, und man beginnt auf<br />

einmal zwischen dem Tropfen, dem Gurgeln<br />

der Wasserfälle und dem Knacken der Steine<br />

menschliche Stimmen herauszuhören. Der<br />

Berg spricht zu einem. Solche Natureindrücke<br />

machen einen demütig. Alle großen<br />

Naturlandschaften – ob Berge, Küsten oder<br />

Vulkane – vermögen Riesenegos schrumpfen<br />

zu lassen. Demut ist ein schönes Gefühl,<br />

das wir öfter erleben sollten.<br />

Habekuß: Ich war zuletzt in Österreich am<br />

Berg Großglockner. In den Siebzigerjahren<br />

wurde dort eine Seilbahn gebaut, die einen<br />

damals direkt bis zum Gletscher gebracht<br />

hat. Die Seilbahn gibt es zwar immer noch,<br />

aber man muss inzwischen anderthalb<br />

Stunden laufen, bis man tatsächlich am<br />

Gletscher ist. Alle paar Kilometer steht ein<br />

Schild mit einer Jahreszahl, das die Stelle<br />

markiert, bis wohin das Eis zu dieser Zeit<br />

reichte. Man geht diesem sterbenden Gletscher<br />

hinterher und sieht quasi Naturgeschichte<br />

in Echtzeit. Ich solchen Momenten<br />

spüre ich Demut, und ich spüre sie gerne.<br />

Was ist es, was uns an der Natur so bewegt?<br />

Habekuß: Das fragen sich Wissenschaftler<br />

schon seit Jahrhunderten, ohne eine abschließende<br />

Antwort zu haben. Ich finde es<br />

aber eigentlich auch ganz schön, dass es<br />

einen Bereich gibt, der dem Verstand nicht<br />

direkt zugänglich ist.<br />

Steffens: Das Interessante ist ja, dass es unser<br />

Beruf ist, Wunder wissenschaftlich zu erklären.<br />

Als meine Eltern mir irgendwann<br />

eröffnet haben, dass es den Weihnachtsmann<br />

nicht gibt, hat das viel von der Faszination<br />

Weihnachten weggenommen. Die<br />

Natur aber verliert nichts von ihrem Zauber,<br />

wenn man sie versteht – im Gegenteil. —<br />

Andrea Böhnke und Clara Rauschendorfer<br />

wussten schon vor dem Interview, dass der Mensch<br />

für das Artensterben verantwortlich ist. Aber erst<br />

nach dem Gespräch ist ihnen bewusst geworden,<br />

dass vor dem Büro täglich eine Amsel singt.


44<br />

WER TUT MIR GUT?<br />

UND WER NICHT?


45<br />

Es ist gar nicht so einfach rauszufinden, welche Menschen<br />

das eigene Leben wirklich bereichern und welche nicht.<br />

Die Stinktiere tarnen sich nämlich oft ziemlich gut<br />

Text Katrin Zeug<br />

Fotos Loredana Nemes


46<br />

Kann es sein, dass ein paar Meter und die<br />

Laune eines anderen Menschen darüber<br />

entscheiden, wie es uns geht? Nicht die<br />

eigene Vergangenheit, nicht das Einkommen?<br />

Nicht die Gesundheit, die Glücksspiele,<br />

politischen Enttäuschungen oder<br />

Zukunftschancen? Nicholas Christakis, Soziologe und<br />

Direktor des Human Nature Lab der Yale University,<br />

hat die Daten einer ganzen Kleinstadt untersucht, gesammelt<br />

über Jahre. Er hat sich die sozialen Verstrickungen<br />

angesehen, die Krankheiten und Launen der<br />

Leute, hat die Winkel und Nischen in deren sozialen<br />

Netzen durchsucht – um herauszufinden, wo sich das<br />

Glück ansammelt und wo es fehlt. Und dann hat er<br />

eine interessante Entdeckung gemacht: Ob reich oder<br />

arm, gesund oder nicht – glücklich sind diejenigen, die<br />

von Glücklichen umgeben sind. Ganz direkt, Tür an<br />

Tür. Nicht nur weil sich Glückliche mit Glücklichen<br />

zusammentun, sondern weil sich Glück ausbreitet.<br />

Glück und Unglück sind ansteckend wie Viren. Besonders<br />

wichtig für die Übertragung: physische Nähe<br />

und regelmäßiger Kontakt. Je näher man wohnt, desto<br />

höher ist die Ansteckungsrate, vor allem zwischen<br />

gleichen Geschlechtern. Sein dringender Rat: Achten<br />

Sie darauf, mit wem Sie Ihre Zeit verbringen!<br />

»Das Schicksal des Menschen ist der Mensch«<br />

(Bertolt Brecht, »Die Mutter«)<br />

Die menschliche Existenz ist darauf ausgelegt, sich mit<br />

anderen zusammenzutun. Als Einzelkämpfer hätte sich<br />

der Homo sapiens nicht durchgesetzt. Er war vermutlich<br />

weder der Schlaueste noch der Stärkste unter den<br />

Menschenarten, und seine Babys kommen so unreif<br />

auf die Welt, dass sie sterben würden, wenn sich nicht<br />

jahrelang andere um sie kümmern – sein Vorteil ist die<br />

Kooperation. Jeder Einzelne wird fest in das Netz der<br />

Menschheit eingewoben, in das große Mit ein an der.<br />

Wobei die meisten bestimmt schon festgestellt haben:<br />

Das Zusammensein ist nicht immer leicht. Und egal ob<br />

durch Job, Liebe, Wohnraum, Geburt oder andere<br />

Spielarten des Schicksals: Nicht mit jedem will man im<br />

Leben verbunden sein, vorsichtig ausgedrückt.<br />

Aber kann man die Stinktiere einfach aussortieren?<br />

Die Jammerer, Bremser, Kleinmacher? Die Schlechtgelaunten,<br />

Immerbesorgten und Besserwisser? Die Gemeinen<br />

und Hinterhältigen? Bei manchen geht das bestimmt,<br />

und wenn man jemanden kennenlernt, kann<br />

man darauf achten, sich kein Stinktier ans Bein zu<br />

binden – doch die Realität zeigt: Schon das ist nicht so<br />

leicht. Gerade wenn es darauf ankommt, zum Beispiel<br />

in der Liebe, tarnen sie sich nämlich. Und wieder andere,<br />

wie Eltern, Kinder, Nachbarn oder Kollegen, kann man<br />

sich gar nicht aussuchen und somit auch nicht so leicht<br />

loswerden. Der Mensch hat zwar keine natürlichen<br />

Feinde. Aber er hat die anderen Menschen. »Wir sind<br />

unsere schlimmsten Raubtiere«, sagt Christakis.<br />

Warum ist es so kompliziert zu erkennen, wer uns<br />

wirklich guttut? Wie gehen wir am besten mit denen<br />

um, die es nicht tun – aber nun mal in unserem Leben<br />

vorhanden sind? Und was ist das überhaupt: guttun?


47<br />

Warum ist das so kompliziert?<br />

Der englische Psychoanalytiker Roger Money-Kyrle hat<br />

einmal gesagt, dass es ein Zeichen von seelischer Gesundheit<br />

sei, den Unterschied erkennen zu können<br />

zwischen dem, was wir uns wünschen, und dem, was<br />

wir brauchen. Das trifft auch auf Verliebte zu. »Das<br />

Fatale an der Partnerwahl ist, dass die Entscheidungen<br />

nicht im Frontalhirn getroffen werden, sondern auf einer<br />

emotional gefärbten Ebene im limbischen System«,<br />

sagt Eckhard Roediger, Neurologe, Paartherapeut und<br />

Leiter des Instituts für Schematherapie in Frankfurt. In<br />

uns herrsche ein Codierungssystem, das blitzschnell<br />

sortiert: Freund, Feind, mag ich, mag ich nicht, kann<br />

ich riechen oder nicht. »Die emotionale und körperliche<br />

Anziehung ist sehr animalisch. Sie sagt allerdings nichts<br />

darüber, wer einem wirklich guttut.«<br />

Was uns anzieht, lernen wir oft sehr früh. Um all<br />

die sozialen Prozesse gleich parat zu haben, die uns als<br />

Mensch später ausmachen, bräuchten wir ein so großes<br />

Gehirn, dass unser Kopf nicht mehr durch den Geburtskanal<br />

passen würde. Wir kommen also zu früh auf die<br />

Welt, unfertig und verletzlich. Dann saugen wir wie ein<br />

Schwamm alles auf, was uns umgibt. Was unser Umfeld<br />

– oft die Mutter, der Vater – denkt, wie es lebt und liebt,<br />

bildet sich direkt in uns ab, gräbt sich ein in unser junges<br />

Hirn: Haben wir uns aufgehoben gefühlt? Wurde uns<br />

die Panik genommen vor dem plötzlichen Ausgeliefertsein<br />

in der Welt? Was wir in dieser Phase kennenlernen,<br />

wird unsere erste Vorstellung von Liebe prägen. Auch<br />

wenn das nicht immer gut für uns ist.<br />

Um im späteren Leben zu erkennen, wer uns wirklich<br />

guttut, müssen wir eine Lektion von Eckhard Roediger<br />

lernen: »Auch das Gegenteil von Guttun kann stimulieren<br />

und reizen. Damit müssen wir leben. Das ist Teil<br />

unserer Existenz.« Wenn Wollen und Brauchen immer<br />

dasselbe wären, dann gäbe es viel weniger Menschen<br />

mit Übergewicht oder Drogenproblemen. Und seltener<br />

Beziehungsdramen. Sein nüchterner Rat: »Wir müssen<br />

lernen, einen Ausgleich zu finden zwischen dem, was<br />

der Kopf gut findet, und dem, was der Bauch will.«<br />

Was ist das eigentlich: guttun?<br />

Mäeutik heißt eine Gesprächstechnik, deren Entwicklung<br />

Platon seinem Lehrer Sokrates zuschreibt. Bei<br />

dieser Technik erläutert nicht ein Redner einem anderen<br />

eine Erkenntnis, sondern er bringt das Gegenüber<br />

durch Fragen dazu, selbst auf den Gedanken zu kommen.<br />

Den Namen Mäeutik soll Sokrates’ Mutter vorgeschlagen<br />

haben, die Hebamme war. Sie verglich die<br />

Technik mit einer Geburt: Mithilfe des Lehrers werde<br />

die Einsicht vom Lernenden selbst geboren. Mäeutik<br />

ist das altgriechische Wort für die Hebammenkunst.<br />

Ulrike Geppert-Orthofer sagt: »Menschen, die einen<br />

dazu bringen, aus sich heraus zu erkennen, was einem<br />

guttut, das sind auch die, die einem guttun. Das sind die,<br />

die einen ernst nehmen und die einen so sein lassen, wie<br />

man ist.« Geppert-Orthofer ist Präsidentin des Deutschen<br />

Hebammenverbands und hat jahrelang selbst Frauen bei<br />

der Geburt begleitet. Eine Geburt sei natürlich eine<br />

Grenzsituation. Im Laufe dieses elementaren Ereignisses


48


49


50<br />

verlieren sich die guten Manieren, man schwitzt, schreit,<br />

scheidet aus. »Die Frauen sind dann ganz pur und<br />

spüren sehr klar, was sie brauchen und was nicht.« Auch<br />

wenn es die erste Geburt der Gebärenden ist und die<br />

dreihundertste der Hebamme – die Haltung müsse<br />

immer sein: Die Frau ist die Expertin für ihren Körper.<br />

Geppert-Orthofer sagt, das gelte eigentlich für jedes<br />

gute Mit ein an der: zugewandt sein, Zutrauen geben und<br />

bei dem unterstützen, was das Gegenüber allein nicht<br />

kann. »Das klingt so selbstverständlich, aber ich glaube,<br />

es ist trotzdem sehr selten.«<br />

Mit dem Moment der Geburt beginnt ein lebenslanges<br />

Ringen zweier Pole in uns: des Bedürfnisses nach<br />

einem Wir und des Bedürfnisses nach dem Ich. Ganz<br />

am Anfang ist die Beziehung zwischen Mutter und Kind<br />

sehr eng und hingebungsvoll. In dieser Form von Beziehung<br />

fühlt das Kind sich sicher. Aber bald fängt es an,<br />

sich von der Mutter zu lösen. Erst nur ein paar Meter,<br />

robbend. Später immer weiter, sowohl physisch als auch<br />

emotional. Es will sich selbst entwickeln und Kontrolle<br />

haben. In dieser fundamentalen Polarität leben wir fortwährend:<br />

Man kann nicht voll beim anderen sein und<br />

gleichzeitig ganz bei sich. Wir wollen uns ganz angenommen<br />

fühlen und wollen doch den Kitzel des Fremden,<br />

der Herausforderung, der Freiheit, in der wir uns<br />

selbst spüren. In Beziehungen, in denen wir uns wohlfühlen,<br />

findet beides statt. Es geht hin und her. Der eine<br />

führt, der andere folgt. Dann wechselt es wieder, wie<br />

beim Tanz. Das gilt besonders für die Liebe, aber nicht<br />

nur. Auch im Job läuft es am besten, wenn es Freiräume<br />

gibt, sich auszuprobieren, Verantwortung zu übernehmen<br />

– und ein Auffangnetz, wenn es mal schiefgeht.<br />

Was tun mit denen, die uns nicht guttun?<br />

Es gibt jemanden, der sich in den vergangenen Jahren<br />

zu einem Experten für Menschen entwickelt hat, die uns<br />

nicht guttun: Robert Sutton, Management-Professor an<br />

der Stanford Business School und Berater vieler weltweit<br />

tätiger Unternehmen. Er bezeichnet sie geradeheraus<br />

als Arschlöcher, seine Bücher zum Umgang mit<br />

ihnen sind Bestseller. Dabei ist solch ein Urteil natürlich<br />

höchst subjektiv: Wer wen schlecht behandelt, ist<br />

nicht immer eindeutig, das Gewirr aus Gefühlen,<br />

Macht und Zwängen wird von den Beteiligten sehr<br />

unterschiedlich eingeschätzt. Sutton zitiert eine Studie<br />

aus den USA, in der die Hälfte der Befragten angab,<br />

unter dauerndem Mobbing am Arbeitsplatz zu leiden<br />

oder Zeuge davon zu sein – aber nicht mal ein Prozent<br />

zugab, andere wiederholt mies behandelt zu haben.<br />

Eine Sache ist also wichtig zu bedenken: Wer mit<br />

Arschlöchern konfrontiert ist, könnte auch eines sein.<br />

So vorsichtig man bei der Beurteilung anderer<br />

Menschen sein muss, so eindeutig kann schlechtes Verhalten<br />

benannt werden. Mies ist: Manipulation und der<br />

Versuch, andere dazu zu bringen, etwas zu tun, zu denken<br />

oder zu fühlen, was sie nicht wollen. Das Verwenden<br />

von etwas Anvertrautem gegen jemanden. Das eigene<br />

Leid wichtiger zu nehmen als das der anderen und nicht<br />

zu eigenen Taten und Fehlern zu stehen. Misstrauen zu<br />

hegen gegenüber denen, die sich weiterentwickeln. Und<br />

besser zu wissen, was gut für andere ist, als diese selbst.<br />

Solche Eigenschaften braucht niemand. Doch gerade in<br />

der Arbeitswelt hält sich leider das Gerücht, dass sie<br />

dabei helfen, mehr zu erreichen und mehr zu verdienen.<br />

Dass gerade Chefs sie bräuchten. Aber auch im Privaten<br />

wird schlechtes Benehmen oft damit gerechtfertigt, man<br />

wolle die Kinder, die Partnerin nur vor deren Fehlern<br />

bewahren. Das Schreien, die Rügen und die Lügen<br />

seien also leider Gottes nötige Erziehungsmaßnahmen.<br />

Studien zeigen dagegen deutlich: Wer schlecht behandelt<br />

wird, wird unproduktiv, macht mehr Fehler,<br />

verliert den Elan und wird langsamer und schlechter<br />

darin, Entscheidungen zu fällen – egal, ob schikanierte<br />

Ärztinnen und Krankenpfleger, gemobbte Kinder, Büroangestellte,<br />

Gemeindemitglieder oder unterdrückte<br />

Beziehungspartner. Nicht nur Glück ist ansteckend.<br />

Wenn uns jemand<br />

schadet, haben wir<br />

zwei Möglichkeiten:<br />

Etwas zu ändern –<br />

oder wegzugehen<br />

Auch Unhöflichkeit und Respektlosigkeit verbreiten<br />

sich viral. Zu Hause, am Arbeitsplatz, online, in der<br />

Schule und in Sportvereinen. Sie beeinflussen Gefühle,<br />

Hirnleistung, Motivation und Aufmerksamkeit negativ.<br />

Ganz grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten für den<br />

Umgang mit Menschen, die uns nicht guttun. Erstens:<br />

Man kann versuchen, etwas zu ändern. Zweitens: Man<br />

kann versuchen, wegzugehen. Beides muss man selbst<br />

tun. Beides ist mit Schmerzen verbunden. Es ist ein<br />

natürlicher und verbreiteter Reflex, sich davor schützen<br />

zu wollen und darum lieber erst mal gar nichts zu tun.<br />

Sutton nennt das »Arschloch-Blindheit«: Wir reden<br />

uns ein, es sei alles gar nicht so schlimm oder wir hätten<br />

keine Wahl – und manchmal kann das auch ein Teil der<br />

Wahrheit sein. Der Druck zu handeln und die Möglichkeiten<br />

dazu hängen nicht nur am individuellen<br />

Leid, sondern auch an äußeren Faktoren wie Geld,<br />

Macht und der Dauer, die man dem Ganzen ausgesetzt<br />

ist. Sutton warnt aber eindringlich davor, dauerhaft<br />

auszuharren. Besser sei es, sich Unterstützung zu suchen<br />

bei anderen Kollegen, Freunden oder einer Chefin, die<br />

einen schützt. Bei den Eltern. Bei allen, die hinter einem<br />

stehen. Um dann loszulegen.<br />

Erstens: versuchen, etwas zu ändern. Wir sitzen<br />

physiologisch und damit ganz grundsätzlich in einer<br />

Subjektivitätsfalle. Unser Gehirn ist so aufgebaut, dass<br />

wir denken, die Welt und deren Geschöpfe seien so, wie


51<br />

wir sie sehen. Dabei sind sie womöglich auch anders.<br />

Der Buddhismus lehrt, das Eigene nur als eine Option<br />

zu sehen. Dafür müssen wir uns öffnen, oft schmerzlich,<br />

und versuchen, die andere Sichtweise zu erkennen und<br />

anzunehmen. Weil das so schwer ist, empfiehlt Eckhard<br />

Roediger eine spezielle Gesprächstechnik: Beide Gesprächspartner<br />

wiederholen jeweils das, was das Gegenüber<br />

sagt. Zum Perspektivwechsel rät Roediger aber<br />

nicht nur bei der Aus ein an der set zung mit anderen,<br />

sondern auch bei der Bewertung der beruflichen und<br />

privaten Beziehungen. Wir seien auf der Suche nach der<br />

Eier legenden Wollmilchsau: einem Job, der aufregend<br />

und lehrreich ist und doch nicht zu anstrengend – und<br />

nach einem Partner, der alle<br />

Bedürfnisse befriedigt. »Es gibt<br />

Paare, die teilen alles: Sexualität,<br />

Wohnen, Kindererziehung,<br />

Sport, Theater und sogar denselben<br />

Musikgeschmack«, sagt<br />

Roediger. »Aber man kann das<br />

nicht einklagen.« Ein langweiliger<br />

Partner wird nicht unbedingt<br />

aufregend durch eine<br />

neue Perspektive. Vielleicht ist<br />

er jedoch genau der Richtige<br />

für die Person, die Karriere<br />

machen, ein Haus bauen und<br />

Kinder großziehen will. Weil er<br />

gern zu Hause ist und das Kind<br />

versorgt. Manchmal, sagt Roediger,<br />

mache es glücklicher,<br />

wenn man flexibler wird in<br />

dem, was man erwartet. Und<br />

dann mit ein an der verhandelt,<br />

welche Freiheiten man sich<br />

lässt. »Es ist ein bürgerliches Ideal, nicht viel älter als 200<br />

Jahre, das uns denken lässt, wir müssten eine Person<br />

finden, mit der wir alles teilen können.«<br />

Zweitens: zu gehen versuchen. In diesem Punkt<br />

steckt viel Spielraum – und eine starke Abhängigkeit von<br />

räumlichen, emotionalen und finanziellen Möglichkeiten.<br />

Aber es lohnt sich, diese auszuloten. Sutton<br />

schreibt, manchmal würden schon ein paar Meter Abstand<br />

helfen, damit Menschen uns weniger schaden: in<br />

der Konferenz weiter weg sitzen, am Esstisch so, dass<br />

man den anderen nicht vor sich hat, auf einer Party in<br />

einen anderen Raum gehen. Bei gemeinen Mails oder<br />

Anrufen: nicht gleich antworten, den Takt verlangsamen.<br />

»Schaffen Sie sich Atempausen«, schreibt Sutton. Kurz<br />

rausgehen sei bei schlimmen Besprechungen, Streit,<br />

Familienfeiern, Mobbingattacken wie Erste Hilfe. Wer<br />

wenig Macht zur Veränderung hat, darf sich auch mal<br />

innerlich distanzieren: Versuchen Sie nicht, von Menschen<br />

verstanden oder gesehen zu werden, die nicht gut zu<br />

Ihnen sind (sie werden es eh nicht tun). Nutzen Sie, statt<br />

zu kämpfen, Ihre Kraft für das wirklich Wichtige: dass<br />

die Dinge, die mit diesen Menschen geregelt werden<br />

müssen, geregelt werden. Und passen Sie auf, dass Sie<br />

nicht von der Bosheit angesteckt werden. Auf Dauer<br />

reicht es allerdings oft nicht aus, zu verharren. Dann<br />

muss der Job gekündigt werden, der Partner verlassen,<br />

die Schule gewechselt. »Unsere Gesellschaft ist durchlässiger<br />

geworden, wir können gehen, wir wissen es oft<br />

nur noch nicht«, sagt Roediger und erzählt die Geschichte<br />

vom kleinen Elefanten, der an einen Pflock<br />

gekettet ist. Er versucht sich loszureißen, schafft es aber<br />

nicht. Irgendwann hört er auf, es zu versuchen, wird<br />

erwachsen und hängt als mächtiger Elefant immer noch<br />

am Pflock und glaubt, er sei zu schwach, sich zu lösen.<br />

Auch wenn diese Vorschläge<br />

im Grunde für alle Beziehungen<br />

gelten, gibt es einen<br />

Spezialfall: die Eltern. Weil wir<br />

sie so sehr in uns tragen. »Eltern,<br />

die einem nicht guttun, muss<br />

man differenzierter sehen«, sagt<br />

Heinz Weiss, Psycho analytiker<br />

am Sigmund-Freud-Institut in<br />

Frankfurt. Wenn man zu viele<br />

Groll- und Rachegefühle gegenüber<br />

den Eltern hege, könne<br />

man zwar versuchen, sich<br />

äußerlich von ihnen abzuwenden.<br />

Dann aber werde man die<br />

gleichen Beziehungen mit anderen<br />

Menschen immer wiederholen.<br />

»Letztlich muss eine<br />

Wiedergutmachung mit den<br />

inneren Eltern stattfinden, die<br />

wir in uns tragen und die wir nie<br />

loswerden können.« Es gehe<br />

darum, auch zwiespältige und gegensätzliche Gefühle<br />

aushalten zu können. Wer sich selbst mit all seinen guten<br />

und schwierigen Seiten akzeptieren könne, der könne<br />

auch andere besser mit ihren verschiedenen Seiten<br />

akzeptieren. Und meist hängen die eigenen schwierigen<br />

Seiten und die der Eltern ja auch zusammen.<br />

Dass Gut und Böse nicht so weit von ein an der entfernt<br />

liegen, weiß auch Nicholas Christakis. Bevor man<br />

allzu streng die Menschen um sich herum aussortiert,<br />

empfiehlt er ein altes japanisches Konzept der Ästhetik,<br />

das Wabi-Sabi. Es bedeutet, nicht nur offenkundige<br />

Schönheit zu sehen, sondern auch gebrochene, verhüllte.<br />

Den bemoosten Fels, den verrosteten Teekessel. Es ist<br />

die Wertschätzung der Schönheit trotz Unvollkommenheit.<br />

Wabi-Sabi können wir auch anwenden auf<br />

Menschen, die uns umgeben. Und auf uns selbst. —<br />

DIE SERIE IN ZEIT WISSEN<br />

Das tut jetzt gut<br />

1. TEIL:<br />

DANN BLEIB ICH HALT ZU HAUSE<br />

Sich selbst verwöhnen und neu entdecken<br />

(nachbestellbar unter zeit.de/zw-archiv)<br />

2. TEIL:<br />

WIE ICH VOM REDEN<br />

INS HANDELN KOMME<br />

Dem Alltag neue Impulse geben<br />

(nachbestellbar unter zeit.de/zw-archiv)<br />

3. TEIL:<br />

WER TUT MIR GUT, WER NICHT?<br />

Die Beziehungen neu sortieren<br />

(in dieser Ausgabe)<br />

Katrin Zeug findet, es kann auch manchmal zu viel<br />

darum gehen, wer wem wie und wann guttut oder schadet:<br />

In manchen Situationen würde es helfen, wenn es einfach nur<br />

um die Sache an sich ginge.


52<br />

DIE GROSSEN<br />

3<br />

Hula-Hoop-Reifen, Schaukel und Springseil: Die Veteranen<br />

der Turnhalle treten zum Kräftemessen an.<br />

Moderne Fitnessgeräte dürfen schon mal nervös werden<br />

Text Hella Kemper<br />

Mitte des 16. Jahrhunderts malte Pieter<br />

Bruegel der Ältere im Vordergrund<br />

des Gemäldes Die Kinderspiele zwei<br />

Reifenspieler. Die beiden treiben ihre<br />

Reifen mit einem Stöckchen voran.<br />

Tüdelreifen, wie sie genannt wurden,<br />

waren aus Weidenholz – oder gar aus Eisen, wenn sie<br />

zuvor als Halteringe von Holzfässern gedient hatten.<br />

»Alles, was rund ist, fasziniert«, sagt Karin Schmidt-<br />

Ruhland, Professorin für Spiel- und Lerndesign an der<br />

Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle. Bunt beklebt<br />

– fertig ist das Spielzeug: der Hula-Hoop-Reifen.<br />

Die Amerikaner Arthur Melin und Richard Knerr bastelten<br />

den ersten in einer Garage in Kalifornien aus einem<br />

leichten, aber stabilen Plastik. Im Sommer 1958<br />

verkauften sich 40 Millionen Stück – seither gilt der<br />

Plastikreifen als eins der erfolgreichsten Sportgeräte.<br />

»Eigentlich ist Jonglage eine ur alte Kunst«, sagt der<br />

Sporthistoriker Ansgar Molzberger von der Deutschen<br />

Sporthochschule Köln, »aber Melin und Knerr ist es<br />

gelungen, eine Trade mark zu entwickeln, ein Markenzeichen.«<br />

Doch der Hula- Hoop- Hype hielt in den USA<br />

nicht lange an: Nach dem Sommer 1958 verschwanden<br />

die Reifen. Dafür wurden jetzt in Deutschland die Hüften<br />

geschwungen. »Eine klassische Wirtschaftswundergeschichte«,<br />

sagt Molzberger. »Nach dem Ende des Zweiten<br />

Weltkriegs war der erste Aufschwung erreicht, man<br />

konnte es sich leisten, wieder albern zu sein.« Hula-<br />

Hoop, das klang außerdem exotisch und erotisch. Seinen<br />

Ursprung hat der Name in einem hawaiianischen Tanz,<br />

hoop ist das englische Wort für Reifen. Das sexy Hüftkreisen<br />

rief Moralwächter auf den Plan. In Japan wurde<br />

Hula-Hoop in der Öffentlichkeit sogar verboten.<br />

Ein typischer Reifen wiegt zwischen 200 und 500<br />

Gramm und verhält sich ähnlich wie ein Ball. »Durch<br />

seinen großen Durchmesser hat er trotz seines geringen<br />

Gewichts eine gewisse Trägheit«, sagt Stefan Kwast von<br />

der Universität Leipzig. Das erleichtert das Spiel – denn


53<br />

er stabilisiert sich durch seine Massenträgheit selbst. Ein<br />

leichterer Reifen wird durch falsche Bewegungen aus<br />

seiner Bahn geworfen. Große Reifen mit einem Durchmesser<br />

von bis zu 120 Zentimetern drehen sich langsamer<br />

– »und man muss nicht so schnell kreisen«, sagt<br />

der Trainingswissenschaftler Patrick Berndt von der<br />

Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement<br />

in Saarbrücken. »Der Nachteil ist, dass ein schwerer<br />

Reifen mehr Kraft braucht, um geschwungen zu<br />

werden.« Der Australierin Marawa Ibrahim gelang es,<br />

200 Reifen gleichzeitig um ihre Hüfte kreisen zu lassen.<br />

Um den Hals geht es auch, der Rekord: zehn Reifen.<br />

Was müssen wir tun, damit der Reifen nicht herunterfällt?<br />

»Dafür braucht es eine möglichst rhythmische,<br />

kreisende Bewegung in einer Geschwindigkeit, die<br />

ausreicht, um die Masse des Reifens so stark zu beschleunigen,<br />

dass die Kraft nach außen größer ist als die<br />

Gravitation nach unten«, sagt Berndt. Da arbeitet ein<br />

kompletter Muskel-Gelenk-Verbund: die wirbelsäulenstabilisierende<br />

Muskulatur, die Bauch-, Gesäß- und die<br />

hüftumgebende Muskulatur. »Wenn diese in der richtigen<br />

Reihenfolge angesteuert werden, kommt es zu einer<br />

kreisenden Bewegung des Beckens«, so Berndt. Muskulär<br />

sei dazu so gut wie jeder Mensch in der Lage. »Die<br />

eigentliche Schwierigkeit ist die Koordination. Die<br />

kreisende Bewegung muss gleichbleibend rhythmisch<br />

erfolgen.« Je länger man schwingt, desto beanspruchender<br />

wird es. Zwischen 110- und 140-mal umrundet der<br />

Reifen in einer Minute den Körper. Hula-Hoop fördert<br />

die Ausdauer, der Trainingswissenschaftler nennt es Ermüdungswiderstandsfähigkeit.<br />

Und weil man sich bei<br />

alldem konzentrieren muss, schaltet man beim Hüftkreisen<br />

gedanklich ab. Die perfekte Auszeit. Hinzu<br />

kommt: Die Verbindung zwischen linker und rechter<br />

Hirnhälfte nimmt durch motorische Stimulation an<br />

Volumen zu. »Und weil die Motorik zentral eta bliert ist«,<br />

so der Sportmediziner Kwast, »lassen sich motorische<br />

Lerneffekte auf andere Bereiche des Gehirns ausweiten.«<br />

Für Anfänger: Reicht ein Reifen auf dem Boden stehend<br />

bis zum Bauchnabel, hat er die richtige Größe.<br />

So geht’s: »Mit Anleitung üben«, sagt Ingo Froböse<br />

von der Deutschen Sporthochschule Köln. Dann:<br />

kreisen, kreisen, kreisen. Keine ruckhaften Bewegungen.<br />

Für Fortgeschrittene: Hat man Hula-Hoop gelernt,<br />

kann man Größe und Gewicht des Reifens reduzieren,<br />

um immer schneller zu werden.<br />

Das stimmt nicht: Wer seine Körpermitte trainiert,<br />

verliert in dieser Region auch Fett.<br />

Schaukeln heißt: das Leben spielen«, hat der<br />

Kunsthistoriker Jürgen von der Wense gesagt.<br />

Wer schaukelt, fühlt sich schwerelos.<br />

Der Höhenflug lässt uns die Erdanziehungskraft<br />

vergessen, wir schwingen dem<br />

Himmel entgegen, jauchzen und jubeln,<br />

fühlen uns frei und lebendig. Die Schaukel ist unsere<br />

Verbindung zur Erde. Ein Überschlag geht nicht (mit<br />

menschlicher Kraft), wenn das Schaukelbrett an Seilen<br />

oder Ketten befestigt ist. Sobald man damit über die<br />

Horizontale hinausschwingt, endet die Kreisbahn, die<br />

Schaukelketten erschlaffen, und man fällt senkrecht ab.<br />

Hängt die Schaukel dagegen an Stangen, kann sie 360<br />

Grad rund um die Achse der Aufhängung fliegen.<br />

7,38 Meter waren die Stangen lang, mit denen der Este<br />

Sven Saarpere geschaukelt ist – Weltrekord. In Estland<br />

ist Schaukeln jahrhundertealte Tradition: Beim Kiiking<br />

an Mittsommer loten die Schaukelsportler ihre Grenzen<br />

aus – und das verstehen die über Jahrzehnte von anderen<br />

Ländern besetzten Esten auch politisch.<br />

Unsere erste Schaukel ist der Mutterleib. Es folgt<br />

die Wiege, im Tragetuch oder Kinderwagen geht es<br />

weiter, dann aufs Schaukelpferd und raus auf den Spielplatz.<br />

Die dortigen Schaukelgeräte müssen der Europa-<br />

Norm EN1176 entsprechen. Im öffentlichen Raum<br />

entstehen immer spektakulärere Schaukellandschaften,<br />

wie die in Amsterdam mit dem Namen »Over the Edge«:<br />

Europas höchste Schaukel, mit der man über die Kante<br />

eines Hochhauses schwingt, steht in hundert Meter<br />

Höhe über dem Nordseekanal.<br />

Auf der Schaukel erleben wir, dass wir uns aus<br />

eigener Kraft Erdanziehung und Zentrifugalkraft zunutze<br />

machen können. Wenn man während der Passage<br />

des tiefsten Punktes seinen Schwerpunkt nach oben verlagert<br />

und am höchsten Punkt nach unten, gewinnt man<br />

Energie, die die Geschwindigkeit erhöht und die Pendelbewegung<br />

antreibt, also die Amplitude der Schwingung<br />

vergrößert. Während wir schwingen, verlagern wir<br />

dafür unseren Körper in der Vorwärtsbewegung in die<br />

Rückenlage, während der Gegenbewegung beugen wir<br />

uns nach vorn. Kinder machen das intuitiv richtig.<br />

»Diese Abläufe übertragen wir unbewusst auf andere<br />

Bewegungen. Je jünger man ist, desto besser gelingt der<br />

Transfer«, sagt Stefan Kwast von der Universität Leipzig.<br />

Der Spielplatzschaukel entwachsen, suchen wir das<br />

beschwingte Hin und Her in der Schiffsschaukel auf<br />

dem Jahrmarkt oder beim Bungee-Jumping, in Schaukelkissen<br />

und hängenden Sitzhalbkugeln, dem Wohlfühlinterieur<br />

der Möbelindustrie. Im besten Fall endet<br />

das lebenslange Gewiege im Schaukelstuhl. Denn


54<br />

Schaukeln macht gute Laune. »Körper und Welt durch<br />

das eigene Tun in Gang zu bringen macht Freude«, sagt<br />

die Spiel- und Lerndesign-Professorin Karin Schmidt-<br />

Ruhland. Schaukeln als dynamische Form des Sitzens<br />

wirke beruhigend. Das liegt an unserem Gleichgewichtsorgan,<br />

dem Vestibularapparat, der seinen Sitz im Innenohr<br />

hat. Er informiert das Gehirn über die Lage des<br />

Körpers im Raum, über Beschleunigung und Abbremsen.<br />

Werden durch das Schaukeln die Sinneswahrnehmungen<br />

angeregt, wird das Gleichgewichtsorgan aktiviert.<br />

Die Körperhaltung stabilisiert sich, der<br />

Muskeltonus normalisiert sich. Sanft schwingend, erinnert<br />

sich der Körper an das Wohlgefühl im Mutterleib.<br />

Manchen Menschen wird auf der Schaukel aber<br />

schwindelig. Das geschieht dann, wenn die Botschaften<br />

der Sinnesorgane nicht übereinstimmen: Meldet also<br />

das Gleichgewichtsorgan eine Beschleunigung, die das<br />

Auge nicht wahrnimmt, etwa weil die Schaukelamplitude<br />

zu groß ist, ist das Gehirn überfordert, man fühlt sich<br />

des orien tiert. Kommen aus dem Innenohr nicht genügend<br />

Reize, verkümmert der Vestibularapparat. »Aber<br />

wir können unser Gleichgewichtsorgan reaktivieren. Wir<br />

müssen es nur regelmäßig trainieren«, sagt Stefan Kwast.<br />

Nicht aufhalten können wir dagegen den Alterungsprozess<br />

des Vestibularsystems. Es kann degenerieren: Die<br />

Haarzellen, die für die Wahrnehmung der Bewegungen<br />

verantwortlich sind, verkalken, oder die Zahl der Sinneszellen<br />

nimmt ab. Aus ist der Traum vom Fliegen.<br />

Für Anfänger: Wem beim Schaukeln schwindelig wird,<br />

der sollte sich langsam an die ungewohnte Bewegung<br />

gewöhnen. Fünf Minuten reichen für den Anfang.<br />

So geht’s: Ingo Froböse rät: »Lass dich nicht anschubsen,<br />

initiiere die Bewegungen selbst, und kontrolliere sie.<br />

Lass locker, schwinge frei.«<br />

Mehr, mehr, mehr!<br />

Schaukeln ist<br />

wie Fliegen mit<br />

Bodenhaftung<br />

Es ist ein ganz einfaches Sportgerät und bereitet<br />

doch auf alle Sportarten vor, die auf<br />

beiden Beinen stattfinden. Früher schwangen<br />

vor allem Mädchen auf Gehwegen<br />

und Schülerinnen auf Pausenhöfen die<br />

Hanfseile und sangen im Rhythmus des<br />

Seils. Heute ist es nicht nur eins von vier Geräten in der<br />

rhythmischen Sportgymnastik, sondern das Springen<br />

auch Teil der Prüfung für das Deutsche Sportabzeichen<br />

und als »Rope- Skip ping« Trendsport. Aus dem harmlosen<br />

Zeitvertreib sind eine Fitnessübung und ein akrobatischer<br />

Show- und Hochleistungssport erwachsen –<br />

»was an der vielseitigen Verwendbarkeit des Seils liegt«,<br />

wie Karin Schmidt-Ruhland von der Kunsthochschule<br />

Halle sagt: »Es ist höchst interpretationsfähig.«<br />

Die Renaissance des Seilspringens ist einem Lehrer<br />

aus Kaiserslautern zu verdanken. Mitte der 1980er-<br />

Jahre brachte Wolfgang Westrich Rope- Skip ping als<br />

neue Sportart aus den USA mit. Dort war es durch eine<br />

Kampagne der American Heart Association bekannt<br />

geworden. Aber eigentlich ist Rope- Skip ping nichts<br />

anderes als Seilspringen – nur schneller, präziser, spektakulärer.<br />

Könner schaffen 160 Sprünge pro Minute. Was<br />

früher Hanf war, ist heute Kunststoff. Seile aus Draht<br />

sind schwerer und behalten beim Schwingen ihre Form.<br />

Fotos Stockbyte/Getty Images (S. 12, 13); Lillagunga Grand; Eyem/Getty Images


55<br />

Die Griffe sind hohl, damit das Seil mit weniger Kraftaufwand<br />

schneller gedreht werden kann. Sitzen im Griff<br />

zudem Kugellager, rast das Seil noch schneller. Entscheidend<br />

für die besten Flugeigenschaften ist aber vor<br />

allem das Verhältnis von Gewicht und Durchmesser.<br />

Das klassische Springseil trainiert eigentlich alles,<br />

»vor allem aber das kardiovaskuläre System, also die Ausdauerleistungsfähigkeit«,<br />

sagt der Trainigswissenschaftler<br />

Patrick Berndt. »Je mehr Muskulatur man einsetzt,<br />

desto mehr Blut muss zirkulieren, um die Muskulatur<br />

zu versorgen, und desto größer ist der Trainingseffekt<br />

auf das Herz-Kreislauf-System.« Zusätzlich habe es<br />

einen positiven Einfluss auf den gesamten Bewegungsapparat,<br />

sagt Stefan Kwast von der Universität Leipzig.<br />

»Die Nährstoffversorgung wird gefördert, Sehnen und<br />

Knorpel werden belastungsfähiger.« Die Stoßbelastung<br />

beim Seilspringen schade dem Knorpel nicht, sondern<br />

sei gerade so groß, um ihn anzuregen, sich der Belastung<br />

anzupassen. »Die Gelenke werden widerstandsfähiger<br />

und stabiler«, so Kwast. Außerdem regeneriert ein trainierter<br />

gesunder Knorpel nach einer Belastung schneller.<br />

Hinzu kommt: Wer über das Seil springt, verbindet die<br />

Sinneseindrücke mit dem motorischen Zentrum »und<br />

erfährt die Fähigkeit zur Rhythmisierung«.<br />

Für Anfänger: Je größer die Schwungmasse, also je<br />

schwerer das Seil ist, desto leichter ist Seilspringen zu<br />

lernen. Der Grund: Die Masse, die rotiert, gibt dem<br />

Springer Rückmeldungen über die Hand, er kann die<br />

Rotation nachempfinden. Der Nachteil: Durch das höhere<br />

Gewicht des Seils ermüden die Schultern schneller.<br />

Grundlagenausdauer: Über längere Zeit weniger intensiv<br />

springen – nicht so schnell und nicht so hoch,<br />

aber konstant. Fünf Minuten täglich reichen, um die<br />

kardiovaskuläre Leistungsfähigkeit zu verbessern.<br />

Für Fortgeschrittene: Trainierte können barfuß springen.<br />

Das fördert die sogenannte Propriozeption, also<br />

die Wahrnehmung des eigenen Körpers. Um die anaero<br />

be Ausdauer zu trainieren, springt man intensiver,<br />

höher und schneller, mit doppeltem Seilschlag in einem<br />

Sprung. Der Belastungsphase von 30 bis 60 Sekunden<br />

folgt eine ebenso lange Ruhepause.<br />

Jetzt reicht’s: Wer ein paarmal am Seil hängen bleibt,<br />

ist müde oder erschöpft. Genug gehüpft! —<br />

Hella Kemper taucht in das Glück der Erinnerung ein,<br />

wenn sie an die Schaukel im großelterlichen Garten zurückdenkt.<br />

Auf deren breitem Holzbrett flog sie mithilfe der<br />

Zentrifugalkraft hoch in die Zweige einer alten Trauerbirke.<br />

© arche noVa/Axel Fassio<br />

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56<br />

SCHENKT EIN,<br />

TRINKT AUS!<br />

Text Filippa Lessing


57<br />

Das Bier ist einer der besten Freunde des Menschen,<br />

es geht mit ihm seit Jahrtausenden durch dick und dünn.<br />

Eine prickelnde Liebesgeschichte<br />

C<br />

ountdown für den SpaceX-<br />

Raumfrachter: »3 ... 2 ... 1 ...<br />

Zündung – Start!« Donnernd<br />

hebt am 5. Dezember<br />

2019 im US-amerikanischen<br />

Cape Canaveral die Rakete<br />

Dragon ab. An Bord hat sie: Versorgungsnachschub<br />

für die Crew der Internationalen<br />

Raumstation ISS, wissenschaftliche Experimente<br />

– und Zutaten zum Bierbrauen.<br />

Mit einer Mini-Mälzerei und einigen<br />

Körnern Gerste soll geklärt werden, ob das<br />

Getreide auch in der Schwerelosigkeit durch<br />

kontrolliertes Keimen zu einer Grundzutat<br />

von Bier werden kann, zu Malz.<br />

Bier im All? Das Experiment soll in die<br />

Zukunft weisen, ausschweifende Expeditionen<br />

auf dem Mars möglich machen, die<br />

Ernährung von Astronauten im Weltraum<br />

voranbringen. Kennt man die Geschichte<br />

des Biers, erscheint der Versuch im All nicht<br />

mehr ganz so absurd: Bier ist fast so alt wie<br />

der moderne Mensch selbst – kein Wunder,<br />

dass es nun auch im Zeitalter der interplanetaren<br />

Raumfahrt eine Rolle spielen wird.<br />

Zum ersten Mal wurde Bier wahrscheinlich<br />

in Vor der asien getrunken, im<br />

10. Jahrtausend vor Christus. Indizien dafür<br />

fanden Archäologen an der Ausgrabungsstätte<br />

Göbekli Tepe im Süden der heutigen<br />

Türkei. Dort stehen riesige T-förmige Pfeiler<br />

im Kreis und bilden die wohl älteste Gebetsstätte<br />

der Welt. Die Menschen, die das Heiligtum<br />

aufbauten, waren Jäger und Sammler,<br />

organisiert in einem lockeren Kult. Sie hatten<br />

noch keine Nutztiere, bestellten noch keine<br />

Felder, verwendeten noch keine Tongefäße.<br />

Doch sie brauten bereits Bier: Zwischen<br />

den Pfeilern fanden Archäologen wannenartige<br />

Steine, an denen Rückstände von<br />

Calciumoxalat klebte – Bierstein.<br />

Um die Tempelanlage herum wuchsen<br />

im günstigen Klima wilde Gerste, Einkorn<br />

und Emmer. Die reiche Ernte wurde dabei<br />

jedoch zunächst nicht etwa für Brot genutzt.<br />

Im Gegenteil: Heute ist sich die Forschung<br />

sicher, dass Bier lange vor Brot hergestellt<br />

wurde. Die Wuchsform der Wildkräuter<br />

eignete sich besser für Gerstenschleim und<br />

Bier. Bier war zudem nahrhafter als der Brei,<br />

und die Gärung tötete gefährliche Keime.<br />

Hinzu kam die berauschende Wirkung<br />

des Getränks – und mit ihm die Geselligkeit:<br />

Alkohol förderte das soziale Zusammenleben.<br />

Denn allein zu trinken war gefährlich. Wer<br />

allerdings in der Gruppe trank, war vor<br />

Fressfeinden recht sicher. Der Alkohol<br />

diente auch als Lockmittel: Um die Tempelanlage<br />

zu errichten, brauchten die Erbauer<br />

die Hilfe befreundeter Stämme. Als Dankeschön<br />

wurde bei religiösen Feiern reichlich<br />

Bier serviert. »Die Entdeckung der Gärung<br />

und die Verwendung von Bier im gesellschaftlichen<br />

und religiösen Leben führten<br />

wahrscheinlich zur Domestizierung von<br />

Getreide«, fassten Archäologen ihre Entdeckung<br />

2012 in einer Studie zusammen. Erst<br />

das Bier, dann die Sesshaftwerdung.<br />

Bier blieb kein exklusives Getränk der<br />

Türken. Wenig später – vor etwa 9000 Jahren<br />

– genossen die Menschen auch in China<br />

ein Gläschen, wie Ausgrabungen in Jiahu<br />

zeigten. Statt Gerste wurden dort selbst gezüchteter<br />

Reis und Honig verwendet. Vor<br />

etwa 6000 Jahren schrieben die Babylonier<br />

ihre ersten Bierrezepte auf Tontafeln auf.<br />

Spätestens vor 5000 Jahren wurde auch im<br />

heutigen Iran und Israel Bier gebraut.<br />

Die Chinesen gehörten wohl zu den<br />

Ersten, die das Bierbrauen verfeinerten.<br />

Überließen die Steinzeitmenschen noch alles<br />

weitgehend dem Zufall, mälzten und<br />

fermentierten die chinesischen Bierbrauer<br />

bereits vor etwa 5000 Jahren recht gezielt,<br />

wie Ausgrabungen in der nordchinesischen<br />

Provinz Shaanxi belegen. Und in der Shang-<br />

Dynastie, vor etwa 3000 Jahren, stellten sie<br />

fest, dass Bier besser schmeckt, wenn es in<br />

den immer gleichen Gefäßen gebraut wird,<br />

da sich Hefen in den Spalten und Rissen<br />

einnisteten und so die zufälligen (und teils<br />

abenteuerlich schmeckenden) wilden Hefen<br />

aus der Luft ersetzten. Das wussten die Menschen<br />

damals freilich noch nicht – sie hielten<br />

die alkoholische Gärung je nach Glaube für<br />

Hexen- oder Götterwerk. Dennoch konnten<br />

die höheren Schichten so bereits zwischen<br />

Kräuterwein, Reis- und Hirsebier mit unterschiedlichem<br />

Alkoholgehalt wählen.<br />

Auch die alten Ägypter hatten eine beachtliche<br />

Bierauswahl zu bieten, etwa welches<br />

aus Einkorn, Emmer und Dinkelmalz, auf<br />

Datteln gelagert oder aus aufgeweichten<br />

Broten hergestellt, gewürzt mit Honig, Ingwer<br />

und Früchten, Lilie und Kürbis. Am Nil<br />

war Bier jedoch nicht nur Alltagsgetränk,<br />

die Ägypter verstanden den Drink mit der<br />

bewusstseinserweiternden Wirkung als Brücke<br />

zwischen dem Dies- und Jenseits. Bier<br />

hatte eine Göttin (Tjenenet), war Opfergabe<br />

und Teil ritueller Formeln. Pyramidenarbeiter<br />

wurden auch in Bier ausgezahlt. Die<br />

Verbindung von Alkohol und Göttern ist in<br />

fast allen Teilen der Welt zu beobachten.<br />

Zu einer höheren Macht zu beten war<br />

in der Frühzeit auch deshalb naheliegend,<br />

weil Brauen eine gefährliche Angelegenheit<br />

war. Frühe Braumeister arbeiteten wohl mit<br />

hölzernen Kesseln. Damit die beim Brauen<br />

nicht in Flammen aufgingen, erhitzten sie<br />

Steine in der Glut und legten sie als Heizkörper<br />

in die Maische. Netter Nebeneffekt:<br />

Ein Teil des Malzzuckers karamellisierte an<br />

den heißen Steinen und gab zusammen mit<br />

dem Ruß und den Mineralien des Gesteins<br />

Aroma ins Bier. Noch bis ins frühe 20. Jahrhundert<br />

war dieses »Steinbier« in Teilen<br />

Österreichs und Skandinaviens verbreitet.<br />

Schon bald spielte die Qualität eine<br />

Rolle – und deren Überprüfung. So finden<br />

sich im Codex Hammurapi, einer 3800 Jahre<br />

alten Sammlung babylonischer Rechtssätze,<br />

durchaus brachiale Methoden: Wer minderwertiges<br />

Bier teuer verkauft, wird getötet.<br />

Wer panscht, wird im eigenen Fass ertränkt.<br />

Die Babylonier schrieben damit das wohl<br />

älteste Biergesetz der Welt nieder – 3000<br />

Jahre vor dem bayerischen Reinheitsgebot.


58<br />

In Europa trinken die Menschen seit<br />

mindestens 400 vor Christus Bier.<br />

Das belegt ein Zufallsfund: Bei<br />

Straßenbauarbeiten im englischen<br />

Cambridgeshire wurden Rückstände<br />

gerösteter Gerste entdeckt. Das damalige<br />

Getränk würde heute jedoch<br />

kaum als Bier durchgehen. Es war<br />

schaumiger, nur schwach alkoholisch<br />

– und mit weitaus mehr festen Bestandteilen.<br />

Der kalorienhaltige<br />

Trunk war gerade für die Stadtbevölkerung,<br />

die nur wenig Zugang zu<br />

sauberem Trinkwasser hatte, eine<br />

gesunde Alternative und Grundnahrungsmittel<br />

für Jung und Alt.<br />

Bei den Europäern hatte es das<br />

Bier allerdings erst schwer. Die antiken<br />

Griechen und Römer verstanden<br />

sich als kultivierte Weintrinker. Verächtlich<br />

schauten sie auf die jenseits<br />

der Alpen wohnenden »Barbaren«,<br />

die in germanischer Tradition dem<br />

»kulturlosen« Gerstensaft frönten.<br />

Doch welch Fehlschluss! Das Volk<br />

der Nubier, das im heutigen Sudan<br />

lebte, verwendete Bier bereits 400 nach<br />

Christus als eine Art Antibiotikum. Dabei<br />

machten sie sich das Bakterium Streptomyces<br />

zunutze, das im Getreide enthalten war, und<br />

heilten damit Zahnfleischerkrankungen<br />

und Knocheninfektionen.<br />

Nun, das Römische Reich ging unter,<br />

die Biertrinker blieben. Doch erst die Mönche<br />

und Nonnen brachten Ende des 1. Jahrtausends<br />

die Bierkultur voran. Sie verfeinerten<br />

das Bier, um es stärker und nahrhafter zu<br />

machen. Ihr Ziel: die harten Fastenregeln<br />

erträglicher machen – schließlich durften<br />

die Gläubigen während der Fastenzeit zwar<br />

nicht essen, aber durchaus trinken. Damals<br />

entstanden auch die ersten Hopfenfelder.<br />

Vorher wurde Bier mit Grut gewürzt, einer<br />

Kräutermischung aus Gagel, Wacholder,<br />

Kümmel, Heidekraut, Schafgarbe und anderen<br />

Kräutern. In Deutschland waren es<br />

Hamburgs Brauer, die als Erste Hopfen<br />

statt Grut ins Bier mischten. Es wurde dadurch<br />

länger haltbar und war für den Handel<br />

geeignet – wobei auf Qualität und<br />

Gerechtigkeit gleichermaßen geachtet wurde.<br />

Als Friedrich I. Barbarossa, der Kaiser des<br />

römisch-deutschen Reiches, um 1150 immer<br />

mehr Städten das Stadtrecht verlieh,<br />

lautete eine Rechtsverordnung: »Wenn ein<br />

Bierschenker schlechtes Bier macht oder ungerechtes<br />

Maß gibt, soll er gestraft werden.«<br />

Bier wurde vom Grundnahrungsmittel<br />

zum Exportschlager – und Hamburg zur<br />

Biermetropole Europas. 1374 brauten dortige<br />

Brauereien erstmals aus Gersten- und<br />

Weizenmalz ihr »Schiffsbier«, das Grundlage<br />

für das heutige Weizenbier ist. Hamburg<br />

exportierte es bis nach Russland, Indien und<br />

Skandinavien. Kaum zu glauben: Norddeutsche<br />

Biere hatten zu dieser Zeit einen<br />

weitaus besseren Ruf als die bayerischen.<br />

Erst einige Hungersnöte machten der<br />

Bierblüte ein Ende. Und brachten das bayerische<br />

Reinheitsgebot: Am 23. April 1516<br />

verabschiedeten die Herzöge Ludwig X. und<br />

Wilhelm IV. im oberbayerischen Ingolstadt<br />

eine Landesverordnung, dass »zu kainem<br />

Pier merer Stuckh dann allain Gersten<br />

Hopfen und Wasser genomen unnd<br />

gepraucht sölle werden«. Dahinter<br />

standen gleich mehrere Interessen:<br />

Zum einen wollten die Herzöge verhindern,<br />

dass zum Brotbacken taugliches<br />

Getreide für Bier verplempert<br />

wird. Nur niedere Gerste durfte fortan<br />

verwendet werden. Zum anderen<br />

spielte der Schutz vor Panschern und<br />

die Sicherung der Qualität eine Rolle.<br />

Und zuletzt ging es den Herzögen<br />

um wirtschaftliche Interessen: Sie<br />

setzten für das Bier einen Preis fest<br />

und schützten ihre Brauer ganz nebenbei<br />

vor der norddeutschen Konkurrenz,<br />

die Kräuter in das Bier<br />

mischte, welche in Bayern nicht<br />

wuchsen. Denn auch Mitte des 16.<br />

Jahrhunderts noch hatte die Hansestadt<br />

beim Bierbrauen die Nase vorn.<br />

Mehr als 500 Brauereien zählte die<br />

Stadt, 60 Prozent ihres Außenhandels<br />

beruhten auf dem Bierexport.<br />

Doch das bayerische Reinheitsgebot<br />

(das damals noch nicht so hieß) hatte<br />

nicht lange Bestand. 1548 erwarb<br />

Freiherr von Degenberg das Privileg, auch<br />

aus Weizen Bier herzustellen – das Weizenbiermonopol<br />

hielt fast 250 Jahre an und<br />

war äußerst profitabel. Ohnehin weichten<br />

die bayerischen Landesherren den Erlass<br />

bereits 1551 wieder auf. Fortan durften<br />

auch Koriander und Lorbeer ins Bier, später<br />

auch Kümmel, Wacholder und Salz. Getrieben<br />

waren die Gesetzesvorschriften im<br />

römisch-deutschen Kaiserreich von Steuereinnahmen:<br />

Vor allem im Spätmittelalter<br />

wurde viel Bier konsumiert, und Biergeld<br />

war eine der wichtigsten Einnahmequellen.<br />

Und so gab es bald innerhalb Deutschlands<br />

eine große Biervielfalt. Der Geograf<br />

Johann Gottfried Gregorii beschrieb 1744<br />

die 35 bekanntesten deutschen Biersorten,<br />

darunter Duckstein, Kastrum, Gose oder<br />

Schluntz. Am weitesten verbreitet war zu<br />

dieser Zeit ein Bierstil, der heute auch »Ale«<br />

heißt, ein obergäriges Bier. Wenn sich obergärige<br />

Hefen teilen, bleiben sie im Verbund<br />

kleben und schwimmen mit der entstehenden<br />

Kohlensäure an die Oberfläche, daher<br />

Im Mittelalter hatten norddeutsche Biere einen besseren Ruf als die<br />

bayerischen. Also ersannen die Herzöge dort ein Gebot, das ihnen half<br />

Fotos Christopher T. Stein / Getty Images; Westend61 / Getty Images


59<br />

»DAS BIER ZERGEHT WORTWÖRTLICH IM MUND«<br />

Elisa Raus gewann als erste Frau überhaupt die Weltmeisterschaft der<br />

Biersommeliers in Italien. Fünf Fragen für angehende Bierkenner<br />

Frau Raus, es ist schön, dass es eine so große Biervielfalt<br />

gibt. Der Nachteil: Man verliert leicht den<br />

Überblick. Was sind die wichtigsten Unterschiede?<br />

Es gibt weltweit um die 150 Bierstile. Manche sind<br />

sehr hopfenbetont und herb, etwa Pils oder Indian<br />

Pale Ale (IPA), das gerade sehr populär ist. Andere<br />

sind malzbetont, da zählen Porter- oder Stoutbiere<br />

dazu. Man unterscheidet außerdem ober- und untergärige<br />

Biere, da werden beim Brauen unterschiedliche<br />

Hefearten benutzt. Hefe wandelt ja den Zucker in<br />

Alkohol und Kohlensäure um, und obergärige Hefe<br />

produziert als Nebenprodukt sogenannte Ester, die<br />

einen fruchtigen Geschmack geben, etwa Bananenund<br />

Nelkennoten bei Weizenbier. Untergärige Hefen<br />

bringen hingegen nicht so viel Aroma ins Bier. Da<br />

sind eher die anderen Rohstoffe für den Geschmack<br />

verantwortlich: beim Pils der Hopfen, bei Lagerbieren<br />

oft eine Kombination aus Malz und Hopfen. Natürlich<br />

können auch untergärige Biere fruchtig sein, aber das<br />

kommt dann oft aus dem Hopfen. Es ist ein bisschen<br />

vertrackt – ein buntes Zusammenspiel aus Rohstoffen.<br />

Welches Bier empfehlen Sie für den Sommer?<br />

Zum Sommer passen leichtere Biere. Das Weizenbier<br />

ist natürlich ein Klassiker mit seiner Fruchtigkeit und<br />

Frische. Wer das mag, dem rate ich, belgisches Witbier<br />

auszuprobieren. Auch da spielen Weizen und<br />

fruchtige Hefe eine Rolle, dazu kommen Gewürze wie<br />

Koriander und Orangenschalen. Auch Sauerbiere, die<br />

durch Milchsäurebakterien oder wilde Hefen Säurenoten<br />

entwickeln, passen zum Sommer. Sie sind<br />

frisch, spritzig, mit einer leichten Säure und trocken<br />

im Geschmack. Und sie löschen hervorragend den<br />

Durst. Es kommt aber auch darauf an, zu was das Bier<br />

gereicht wird: Zu Pils passen leichte und schärfere<br />

Speisen, helles Fleisch oder Fisch. Zu einem Steak<br />

würde ich hingegen kräftigeres Bier reichen, mit einem<br />

stärkeren Malzkörper und mehr Alkohol. Die beiden<br />

Partner – Speise und Bier – sollten gleichberechtigt<br />

sein und die gegenseitigen Aromen hervorheben.<br />

Wo sollte man Bier lagern?<br />

Der Balkon ist fast die schlimmste Lagerstätte. Die<br />

Feinde eines jeden Bieres sind Wärme und Sonnenlicht.<br />

Sie lassen das Bier schneller altern und schaffen<br />

Aromen, die nicht hineingehören. Bier sollte am besten<br />

dunkel gelagert sein, in einer Kammer oder im Keller<br />

mit konstanter Temperatur – um die zehn Grad wäre<br />

ideal. Im Kühlschrank ist es oft zu kalt zum Trinken.<br />

Viele Aromen entwickeln sich erst bei Raumtemperatur.<br />

Aber der Klassiker ist ja, Bier im Tiefkühlfach<br />

herunterzukühlen, wenn sich spontan Gäste ankündigen.<br />

Davon rate ich ab: Der große Temperaturabsturz<br />

kann zu einer Kältetrübung führen, außerdem leidet<br />

das Aroma. Wie beim Wein gilt auch beim Bier: Nur<br />

eine konstante Temperatur sichert konstante Qualität.<br />

Flasche oder Glas?<br />

Immer aus dem Glas! Denn die kleine Flaschenöffnung<br />

schränkt die Sinne ein. Im Glas dagegen kann sich<br />

der Geruch viel besser entfalten. Auch der leichte<br />

Hefesatz, der sich etwa bei Weizenbier am Flaschenboden<br />

absetzt, verteilt sich im Glas gleichmäßiger. Da<br />

schmeckt man das volle Aroma schon beim allerersten<br />

Schluck. Im Glas trifft die Flüssigkeit auch viel früher<br />

auf die Zungenspitze, das Bier zergeht wortwörtlich<br />

im Mund. Dabei gibt es quasi für jedes Bier das passende<br />

Glas. Der Einfachheit halber empfehle ich aber,<br />

zum Weinglas zu greifen. In dem bauchigen Glas<br />

sieht man toll die Farbe, und der Schaum kann sich<br />

vernünftig entwickeln. Man kann die Nase tief ins<br />

Glas hineinhalten. Und Weingläser sind schön dünnwandig:<br />

Die Flüssigkeit läuft wirklich komplett die<br />

Zunge entlang. Bierhumpen haben natürlich auch<br />

ihre Vorteile, gerade im Sommer: In dem dicken<br />

Glas bleibt das Bier länger kühl. Aber für den Genuss<br />

ist das Weinglas besser.<br />

Wie schenkt man ein perfektes Bier ein?<br />

Das Glas sollte zunächst wirklich sauber sein – Fett<br />

killt jede Schaumkrone. Dann das Glas im 45-Grad-<br />

Winkel halten und das Bier sachte einfließen lassen.<br />

Gegen Ende das Glas langsam wieder aufrichten,<br />

damit eine Schaumkrone entsteht. Der Schaum hat<br />

dann eine größere Oberfläche, die einzelnen Bläschen<br />

platzen auf, und die Aromen treten deutlicher<br />

hervor, das Bier bleibt auch länger frisch. Und, ganz<br />

wichtig – ob aus der Flasche oder dem Zapfhahn:<br />

beides nicht in die Flüssigkeit reinhalten! Denn das<br />

birgt die Gefahr von Verunreinigungen.


60<br />

Biersorten von A bis Z Altbier: herb, nussig-malzig. Berliner Weiße: säuerlich, leicht. Blondbier: fruchtig,<br />

leicht bitter. Bockbier: alkoholhaltiger, malzbetont. Export: stärker, bitter. Helles: malzig, süffig. Kellerbier:<br />

süffig, ungefiltert. Indian Pale Ale: bitter, blumig. Kölsch: mild, leicht malzig. Lambic: trocken, sauer. Pilsner:<br />

hopfig, eher bitter. Schwarzbier: malzig, süßlich. Stout: schokoladig, bitter. Weizenbier: süßlich, cremig

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