Leseprobe aus Meer von Sonnenblumen

so alt wie die anderen, eigentlich war sie auch fast
noch ein Kind.
Sie lebte unter dem Dach in einer Kammer. Die
ersten Tage, als ich nicht schlafen konnte, legte sie
sich einmal abends zu mir und streichelte mir über
das Haar. Seitdem kam sie nachts manchmal in den
Schlafsaal. Ganz früh morgens schlich sie sich
wieder raus. Wenn ich von den ersten Sonnenstrahlen
geweckt wurde, war sie nicht mehr da,
aber ich sah auf dem Kissen, wo ihr Kopf gelegen
hatte.
Dann kam die böse Erzieherin, die wir »die alte
Schachtel« nannten. Sie schimpfte immer mit mir,
weil ich nicht so schnell war. Es war so gemütlich
im Bett. Waschen war langweilig, Zähneputzen
auch. Ich übte lieber Jonglieren mit meinen Socken
und dem Unterhemd. Aber das nahm sie mir alles
weg und drohte, ich müsste nackig zur Schule
gehen, wenn ich damit »Unsinn« machte. An
diesem Tag war es auch, dass sie mir so sehr am Ohr
zog, dass ich blutete.
Unter der Matratze hatte ich ein Foto versteckt,
von meiner Mutter, genauer gesagt von meinen
Eltern. Es war nämlich ein Hochzeitsfoto. Aber
meinen Vater habe ich fast gar nicht gekannt. Ich
war noch so klein, ich kann mich kaum an ihn erinnern,
nur dass sich manchmal jemand über mein
Bett beugte und etwas in einer tiefen Stimme sagte.
Ich weiß nur, dass ich mich dann wohl fühlte. Ich
fragte meine Mutter, als ich größer war, wer das
gewesen sei, und da fing sie an zu weinen.
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