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Daniel de <strong>Roulet</strong><br />
DIE ROTE<br />
MÜTZE<br />
Roman<br />
Aus dem Französischen<br />
von Maria Hoffmann-Dartevelle<br />
Limmat Verlag<br />
Zürich
«Ich habe dem alten Wörterbuch<br />
eine rote Mütze aufgesetzt.»<br />
Victor Hugo, «Antwort auf eine Anklageschrift»
1782<br />
DIE GENFER REVOLUTION<br />
Seit vier Lenzen<br />
lebt der Genfer Citoyen Jean-Jacques Rousseau nicht mehr,<br />
und immer noch ist die neue Verfassung<br />
seiner Stadt nicht in Kraft gesetzt.<br />
Die Menschen in den einfachen Vierteln,<br />
Natifs und Bourgeois,<br />
wollen nicht länger den Bankiers,<br />
den schmarotzenden Rentiers,<br />
den großen Patrizierfamilien unterworfen sein.<br />
König Ludwig XVI., der eine Demokratie<br />
vor den Toren seines Reiches fürchtet,<br />
nennt die Genfer «die Wütenden».<br />
Mehr als einmal hat die Einmischung Frankreichs<br />
sie um ihre Revolution gebracht.<br />
«Aber diesmal», sagt Antoine Bouchaye zu seinem Sohn,<br />
«kriegen sie uns nicht so leicht.»<br />
Am Abend des 7. April 1782<br />
sind Antoine und sein Sohn Samuel<br />
in der Stadt,<br />
als im Zuge eines Volksaufstandes<br />
die Garnison angegriffen wird.<br />
Die Soldaten zögern nicht,<br />
mit ihren Musketen in die Menge zu schießen,<br />
in den Straßen bleiben Tote und Verwundete zurück.<br />
Eine alte Frau, die gerade ihre Fensterläden schließt,<br />
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wird von einem Fehlschuss getroffen.<br />
Das reicht, verjagen wir sie!<br />
Aufgeregt begeben sich<br />
der Vater und sein elfjähriger Sohn<br />
zu den Patriziern, die im Hôtel des Balances<br />
an der Place Bel-Air als Geiseln genommen wurden.<br />
Sie erfahren, dass andere Privilegierte<br />
sich in ihre Landhäuser geflüchtet haben.<br />
Angeblich hat der französische Resident<br />
still und leise seine Koffer gepackt.<br />
Am Tag darauf wird die Regierung gestürzt<br />
und durch eine Kommission ersetzt.<br />
Samuel hat seinen Vater noch nie so glücklich gesehen.<br />
Aber ihr Leben war bisher auch nicht gerade heiter.<br />
Im Frühjahr 1771 in Genf geboren,<br />
überlebt Samuel seine Mutter nur knapp.<br />
In seinen drei ersten Lebensjahren<br />
bringt eine Amme ihm bei,<br />
zu laufen, zu essen, ohne zu sabbern,<br />
Danke zu sagen und der Welt zuzulächeln.<br />
Als sein Vater ihn wieder zu sich nimmt,<br />
zeigt er dem Sohn hinter einer Kirche<br />
den Stein, unter dem seine Mutter ruht.<br />
«Jetzt bist du alt genug, um zu verstehen:<br />
Sie starb, als sie dich zur Welt brachte.»<br />
Der Vater zieht mit seinem Sohn<br />
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in das Viertel am rechten Rhône-Ufer,<br />
wo er Arbeit gefunden hat.<br />
Zwischen einer Uhrmacherwerkbank unterm Dach<br />
und Kindern seines Alters wächst Samuel auf.<br />
Schreiben und Rechnen lernen sie<br />
bei einem alten Mann,<br />
dessen Augen zu schlecht geworden sind,<br />
um die Pinzette zu führen.<br />
Samuel liest allen in der Werkstatt<br />
aus einem Buch mit vielen Eselsohren vor,<br />
was seinem Vater hin und wieder<br />
eine Träne entlockt.<br />
Mit der Revolution und dem Frühling<br />
verfliegt die väterliche Schwermut.<br />
Jeden Abend geht er zu den Stadtteiltreffen,<br />
erklärt seinem Sohn die Grundsätze,<br />
die es den Menschen erlauben,<br />
gleichberechtigt in der Stadt zu leben.<br />
Vierundachtzig Tage lang<br />
organisieren die Citoyens<br />
ohne jede Gewalt eine neue Republik,<br />
demokratisch und frei.<br />
Ganz Europa spricht davon.<br />
Eine großartige Hoffnung keimt.<br />
Revolution ist also möglich.<br />
In Frankreich, Österreich und Sardinien<br />
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fühlt sich die Aristokratie bedroht.<br />
Was wird aus ihren Adelsprädikaten?<br />
Die aus Genf geflohenen Patrizier<br />
jammern und klagen in Versailles, in Bern,<br />
sogar bei den schlimmsten Feinden der Republik,<br />
den Savoyarden.<br />
Den Mächtigen überall auf dem Kontinent<br />
erklären sie, letzten Endes<br />
führten die gärenden Ideen dieses Rousseau<br />
zum Umsturz der schönen Hierarchie,<br />
die doch von Gott und den Königen gewollt sei.<br />
«Revolutionäre Ansteckung, das ist die Gefahr.»<br />
Nach diesen Worten entsenden Versailles, Bern und Turin<br />
mehrere Tausend Soldaten<br />
zur Wiederherstellung der Ordnung von Banken und<br />
Geschäften.<br />
«Aber diesmal», sagt Antoine Bouchaye erneut zu seinem<br />
Sohn,<br />
«kriegen sie uns nicht so leicht.»<br />
Rings um die aufständische Stadt<br />
sammeln sich die Truppen der Konterrevolution.<br />
Franzosen, Schweizer und Sarden planen,<br />
die Bastion der Freiheit anzugreifen.<br />
Drei Armeen gegen Genf,<br />
zwölftausend Mann gegen ein paar Hundert<br />
schlecht ausgerüsteter Genfer.<br />
Zu den französischen Truppen gehört<br />
das Bataillon des Marquis de La Fayette.<br />
Er hat sich für die Freiheit<br />
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der englischen Kolonien in Amerika eingesetzt,<br />
will die der Genfer jedoch vernichten.<br />
Ein paar Dutzend Deserteure<br />
aus den Schweizer Regimentern<br />
unterstützen die Belagerten.<br />
Die Genfer Kathedrale wird zum Hospital,<br />
die Akademie zum Wachlokal,<br />
die Kathedrale zum Pulvermagazin.<br />
Das Getreide wird gerecht verteilt.<br />
Ganz Genf macht sich bereit, die Eindringlinge abzu wehren.<br />
Die aus der Stadt geflüchteten Patrizier<br />
zeigen den Angreifern,<br />
welchen Weg sie nehmen müssen,<br />
um ihre Ländereien nicht zu beschädigen.<br />
Jeden Abend beobachten<br />
Samuel und sein Vater von der Stadtmauer aus,<br />
wie die Soldaten des französischen Königs Gräben<br />
aus heben,<br />
um sich der Stadt zu nähern und sie zu umzingeln.<br />
Samuel staunt, dass man sie gewähren lässt,<br />
sind sie doch nur einen Kanonenschuss entfernt.<br />
«Weil», sagt der Vater, «sie sich am Ende<br />
unseren Freiheitsideen anschließen werden.»<br />
Die Tage vergehen,<br />
das feindliche Militäraufgebot<br />
schnürt Genf die Luft ab.<br />
Manche Bürger finden,<br />
das brave Volk gehe zu weit.<br />
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Sie flüchten nachts über den See.<br />
Wer bleibt, macht sich bereit,<br />
für seine Ideen zu sterben.<br />
Die erste demokratische Revolution Europas<br />
wird im Blut ersticken.<br />
In seiner als Munitionsdepot genutzten Werkstatt<br />
liest Antoine Bouchaye seinen Kameraden<br />
einen Brief vor, den ihr Landsmann Rousseau<br />
vierzehn Jahre zuvor einem Freund geschrieben hat:<br />
«Ihr seid bereit, euch unter den Ruinen des Vaterlandes zu<br />
vergraben (…) einen letzten Entschluss müsst ihr fassen<br />
(…) müsst gemeinsam am helllichten Tag herauskommen,<br />
Frauen und Kinder in eurer Mitte.»<br />
Ebendies geschieht in der Nacht des 2. Juli 1782.<br />
Um ein Uhr morgens einigen sich<br />
beide Parteien auf einen Rettungskorridor.<br />
Zweitausend Revolutionäre verlassen Genf.<br />
Sie verkünden, eine von fremden Truppen<br />
besetzte Stadt nicht länger<br />
als ihre Heimat betrachten zu können,<br />
eine Stadt, deren Gesetze nicht mehr<br />
dem freien Willen ihrer Bürger entsprechen.<br />
Um fünf Uhr morgens<br />
dringen die Invasoren in die Stadt ein.<br />
Die Patrizier erlangen die Macht zurück.<br />
Ende einer beispielhaften Revolution!<br />
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Während es dämmert über einem trüben Genfersee,<br />
sprechen Samuel und sein Vater über ihr künftiges Leben,<br />
gemeinsam mit vielen auf einem Karren sitzend,<br />
der normalerweise Fässer transportiert.<br />
Mitnehmen konnten sie nur einen kleinen Koffer<br />
mit Uhrmacherwerkzeug,<br />
ein Buch von Rousseau und ein wenig Kleidung.<br />
Bei ihrer Ankunft in Rolle,<br />
auf halbem Weg zwischen Genf und Lausanne,<br />
beschließen sie, nicht nach Neuenburg weiterzureisen,<br />
wo den Emigranten Zuflucht geboten wird.<br />
Samuel hofft, dass sie schon bald<br />
in ihre Heimat zurückkehren können.<br />
Sein Vater bezweifelt es.<br />
Er klappert die Uhrmacher ab, dann die Fischer,<br />
findet niemanden, der ihn anstellen will.<br />
Nach zwei Nächten unter den Kastanien der Schlossterrasse<br />
mietet er einen Raum<br />
auf dem Speicher eines früheren Kollegen.<br />
In den folgenden Wochen<br />
findet Antoine bei einem Schiffer Arbeit,<br />
sein Sohn bei einem Schreiner,<br />
der Boote baut, naux mit flachem Boden,<br />
für vier Ruderer gedacht,<br />
und liquettes, die leichter und wendiger sind.<br />
Doch sein Herz bleibt wie das seines Vaters<br />
am Ende des Sees, in Genf.<br />
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In Rolle, im Waadtland,<br />
das Berner, also Schweizer Herrschaft untersteht,<br />
werden nur Flüchtlinge geduldet,<br />
die nicht politisch aktiv sind.<br />
Der Vater unterhält weiterhin<br />
heimliche Beziehungen<br />
zu den Genfern vor Ort,<br />
die seine Ideen teilen.<br />
Aufgeben kommt nicht in Frage.<br />
«In Genf ist die Revolution gescheitert, aber bald»,<br />
sagt Antoine Bouchaye,<br />
«wird ganz Europa unserem Beispiel folgen.»<br />
Samuel, nicht so verdächtig wie sein Vater,<br />
kann auf Umwegen die Verbindung<br />
zum Widerstand in Genf herstellen.<br />
Bisweilen überlässt Chappuis, sein Chef, ihm<br />
eine liquette,<br />
um zu einem französischen Hafen<br />
zwischen Rolle und Genf zu fahren.<br />
Dort tauscht er mit einem Schiffer<br />
vom Ende des Sees Postsendungen aus.<br />
So umgehen sie die Zensur.<br />
Samuel fühlt sich nützlich im Dienst der Sache.<br />
Er ist kein Kind mehr,<br />
er begeistert sich für eine Welt, in der<br />
ein Aristokratensohn nicht mehr Rechte haben wird als er.<br />
Dennoch empfindet er große Bewunderung,<br />
vielleicht mehr, für eine Pariserin,<br />
die jedes Jahr den Sommer in Rolle verbringt.<br />
Die Leute aus der Stadt nennen sie nur<br />
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Madame de, ohne ihren Namen auszusprechen.<br />
Ihre Freundin ist die Tochter des königlichen Schatzmeisters,<br />
der in einem Schloss ganz in der Nähe wohnt.<br />
Wenn Madame de am Ufer entlang<br />
bis zum Hafen spazieren geht<br />
mit ihren kleinen Kindern und einer Hausdame,<br />
wartet Samuel mal hier, mal dort am Weg,<br />
um sie zu sehen.<br />
Sie bemerkt ihn,<br />
spricht ihn jedoch nicht an, außer einmal,<br />
um ihn zu fragen, ob sein Chef<br />
ihr Fisch liefern könne.<br />
Samuel errötet, verwundert,<br />
dass sie von seiner Arbeit für Chappuis,<br />
der in der Freizeit angelt, weiß.<br />
Am selben Abend liefert dieser Madame de seinen Fang.<br />
Am Ende des Sommers<br />
verlassen die Pariserin und ihre Kinder Rolle,<br />
ohne dass Samuel ein zweites Mal mit ihr gesprochen<br />
hätte.<br />
Anfang Juni des nächsten Jahres<br />
ist sie wieder da.<br />
Samuel ist nun ein junger Mann.<br />
Auf ihrem Spaziergang am Hafen erblickt ihn<br />
die Pariserin.<br />
«Ah! Sie sind es!», sagt sie, «Samuel, nicht wahr?»<br />
Dieser errötet, stammelt etwas, fragt sie schließlich,<br />
ob sie noch immer Fisch bekommen möchte.<br />
«Ja», sagt sie und geht davon.<br />
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An den folgenden Tagen<br />
bemüht sich Samuel, sie abermals zu treffen.<br />
Sie schenkt ihm jedes Mal ein schönes Lächeln,<br />
aber nicht mehr.<br />
Wenn er abends im Bett an sie denkt,<br />
ist ihm, als sei er verliebt.<br />
Sein Vater, der seine kleinen Manöver durchschaut,<br />
rät ihm, nicht mit dem Adel zu verkehren:<br />
«Vergiss nicht, wie uns die Patrizier<br />
in Genf behandeln.»<br />
Die väterlichen Bemerkungen fachen<br />
Samuels Neugier nur weiter an, der sich nun fragt,<br />
wie eine derart hübsche Frau zur Klasse<br />
seiner Feinde gehören kann.<br />
In Genf sind die Patrizierinnen, die er kennt,<br />
allesamt abstoßend hässlich.<br />
Am Ende des Sommers verlassen<br />
Madame de und ihre beiden Kinder Rolle,<br />
vermutlich geht es<br />
zurück nach Paris.<br />
Samuel wird sie nie wiedersehen.<br />
Nach und nach lernt er<br />
dank seines Chefs, der Schreiner ist und Fischer,<br />
auf Flüssen und Seen zu navigieren,<br />
lernt Winde, Wellen, Wassertiefen kennen<br />
und weiß, an welchen Stellen<br />
die Netze treiben können und sich füllen.<br />
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Als Samuel eines Tages im französischen Hafen<br />
mit einem Genfer Komplizen Post austauscht,<br />
verlangen zwei Uniformierte von ihm,<br />
den versiegelten Umschlag herauszugeben.<br />
Man bringt ihn ins Büro des Hafenmeisters.<br />
Die Sache könnte brenzlig werden,<br />
sie wollen wissen,<br />
wer die Absender und<br />
Empfänger dieser Briefe sind, die er bei sich trug.<br />
Samuel behauptet, ein Fremder aus Lausanne<br />
habe ihn für diesen Dienst bezahlt.<br />
Schließlich lässt man ihn frei.<br />
Als er seinem Vater davon erzählt,<br />
wiederholt Antoine Bouchaye:<br />
«Aber diesmal kriegen sie uns nicht so leicht.»<br />
Und findet, dass es klüger wäre, wenn<br />
sein Sohn das Land noch einmal wechseln würde.<br />
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