Restauro 1/2024
Art Handling
Art Handling
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MAGAZIN ZUR ERHALTUNG DES KULTURERBES<br />
01/<strong>2024</strong> ART HANDLING
EDITORIAL<br />
3<br />
Liebe Leserin, lieber Leser,<br />
neugierig wie eh und je und mit einem bunten Strauß höchst interessanter Projekte<br />
und Themen starten wir in der <strong>Restauro</strong>-Redaktion in dieses Jahr <strong>2024</strong>.<br />
Dabei im Fokus: die Dieric Bouts-Ausstellung im belgischen Leuven sowie der<br />
dazugehörige mehrjährige organisatorische Vorlauf. Außerdem blicken wir auf<br />
die herausfordernden logistischen Hürden, die zu nehmen sind, wenn Kunst<br />
auf Reisen geht und das Bischöfliche Dom- und Diözesanmuseum Mainz lässt<br />
uns in einer Sonderschau über die Kartause St. Michael am Rhein Zeugnisse<br />
einer untergegangenen Epoche bestaunen.<br />
Wir besprechen zudem wie das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege auf<br />
die Folgen des Klimawandels reagiert und berichten über die Modernisierung<br />
des Deutschen Museums. Wie konkret Restauratoren dabei helfen die enormen<br />
logistischen Herausforderungen dieses Jahrhundertprojekts zu meistern,<br />
lesen Sie ab Seite 6.<br />
Modernisierung ist aber auch für uns im Verlagshaus von GEORG Media das<br />
richtige Stichwort. Sie haben es sicherlich schon bemerkt: Wir haben der <strong>Restauro</strong><br />
einige grafische Erneuerungen zuteilwerden lassen. Unser Ziel dabei<br />
war es die Lesbarkeit der <strong>Restauro</strong> nochmal zu verbessern sowie durch die<br />
aktualisierte Grafiksprache unseren starken und tiefen Inhalten, und damit Ihrer<br />
Arbeit, liebe Leserinnen und Leser, gerechter zu werden. Der Umfang des<br />
Hefts bleibt dabei unverändert und wir hoffen, dass Ihnen das Magazin mitsamt<br />
klarerer grafischer Sprache nochmal mehr Freude bereitet.<br />
Zum Abschluss darf ich mich Ihnen noch vorstellen. Mein Name ist Tobias Hager.<br />
Ich bin seit Mitte 2020 für alle Magazinmarken des Verlags verantwortlich. Vor<br />
wenigen Wochen durfte ich nun zusätzlich die redaktionelle Leitung der <strong>Restauro</strong><br />
übernehmen und freue mich sehr darauf in den kommenden Ausgaben mit<br />
Ihnen gemeinsam die, für unsere Gesellschaft so wichtigen Themen zum Erhalt<br />
des nationalen und internationalen Kulturerbes diskutieren zu dürfen.<br />
Eine Bitte noch: Zögern Sie niemals mir direkt Kritik, Anregungen und Anliegen<br />
per Mail zukommen zu lassen. Ich freue mich auf den Austausch mit Ihnen.<br />
Wir wünschen Ihnen viel Freude mit dieser Ausgabe.<br />
Herzlichst, Tobias Hager<br />
t.hager@georg-media.de<br />
Instagram: @restauromagazin<br />
Website: restauro.de
4 INHALT<br />
S.14 S.22<br />
6<br />
Umzug en gros<br />
14<br />
Jedem Gemälde sein<br />
besonderes Klima<br />
22<br />
Wenn Trockenheit<br />
Kulturgüter gefährdet<br />
26<br />
Von der Kunst, Kunst<br />
auf Reisen zu schicken<br />
30<br />
Licht als Metapher für eine<br />
Reise durch die Zeit<br />
36<br />
KI ist die Zukunft –<br />
auch im Museum<br />
38<br />
Glaskunst made<br />
in Augsburg<br />
42<br />
Nachrichten<br />
44<br />
Provenienz und<br />
Kulturgutschutz<br />
46<br />
Sharing the future:<br />
das Museum der Zukunft?
8 ART HANDLING<br />
Das Stammhaus des Deutschen Museums München wird derzeit in zwei Schritten<br />
saniert. Das Ausräumen des Sammlungsgebäudes ist dabei nur ein kleiner Teil der Sanierungsmaßnahme,<br />
die auf über zehn Jahre angelegt ist. Die größeren Maßnahmen,<br />
der brandschutzgerechte Umbau und die Neukonzeptionierung aller Ausstellungen,<br />
arbeiten mit einer externen Projektsteuerung und forderten von Anfang an auch vom<br />
Umzugsprojekt ein hohes Maß an Planungssicherheit.<br />
Zwischen der Eröffnung der ersten sanierten Museumshälfte<br />
im Juli 2022 und dem Baubeginn auf der zweiten Hälfte waren<br />
zwölf Monate vorgesehen, um alle Objekte abzubauen und in<br />
Außendepots zu bringen. Der betroffene Teil des Sammlungsgebäudes<br />
umfasst 35.000 m² BGF, verteilt zwischen dem Bergwerk<br />
im 3. UG und dem Planetarium im 6. OG. 30 Ausstellungen<br />
auf 19.000 m² beherbergten ca. 11.000 inventarisierte Exponate<br />
und deren Teile.<br />
Die Exponate<br />
So bekannt und beliebt das Deutsche Museum für seine breitgefächerte<br />
Sammlung ist, so vielfältig waren auch die zu beräumenden<br />
Exponate aus allen Fachgebieten und Materialgruppen:<br />
fragile Schiffsmodelle, bis zu 20 Meter lange Boote<br />
(Abb. 1), großformatige Gemälde, kleinste Computerbauteile,<br />
sensible Sternenprojektoren, historische wissenschaftliche Geräte<br />
und rustikale, bis zu zwölf Tonnen schwere Teile aus dem<br />
Bergwerk. Einige waren bis zuletzt durch Strom, Wasser oder<br />
Druckluft betrieben, und vieles war fest im Gebäude verankert.<br />
Insbesondere die Großobjekte, die oft seit der Gründung des<br />
Museums oder seit dem Nachkriegsaufbau unverändert an<br />
ihrem Ort standen, machten den Auszug zu einer großen Herausforderung.<br />
Organisation und hauseigene<br />
Leistungen<br />
Verantwortlich, planend und leitend für den Umzug der Objekte<br />
war unter der Projektleitung ein Dreigestirn des Sammlungsmanagements,<br />
das schon 2015/16 die erste Museumshälfte<br />
beräumte. Dieses Organisationsteam, zwei Restauratoren und<br />
ein Architekt, managte die gesamte Abwicklung und verlegte<br />
dafür ihre Arbeitsplätze für ein Jahr in den Beräumungsbereich.<br />
Dadurch waren sie immer mittendrin und als Ansprechpartner<br />
sofort zur Stelle. Da mit der Schließung des Besucherverkehrs<br />
auch der Ausstellungsdienst das Gebäude verließ, übernahmen<br />
sie auch die Schließgewalt und sorgten jede Woche fünf<br />
Arbeitstage dafür, dass Früh- und Spätarbeiter ihr Pensum erreichen<br />
konnten und ungebetene Gäste draußen blieben.<br />
Um je einen Restaurator wurden mit Registraren und technischen<br />
Mitarbeitern fünf Teams gebildet. Ein Fotograf schloss<br />
Dokumentationslücken, und die Zieldepots wurden dauerhaft<br />
besetzt. Durch eine wöchentliche Einsatz- und Transportplanung<br />
per E-Mail und wöchentliche Besprechungen vor Ort wurden<br />
alle Mitarbeiter regelmäßig informiert, und durch flexible<br />
Teamzusammenstellungen und dauernde Anpassungen des<br />
Einsatzplans konnten auch Ausfälle kompensiert werden.<br />
Der Abbau vieler strombetriebener Exponate und Demonstrationen<br />
wurde in Zusammenarbeit mit den Museumselektrikern<br />
durchgeführt, und Kollegen der Restaurierungswerkstätten<br />
unterstützen die Teams beim Abbau der jeweiligen Exponate,<br />
insbesondere der großen Luftfahrtexponate.<br />
Vorbereitungen<br />
Drei Jahre vor der Beräumung wurden durch den Ausstellungsdienst<br />
die Standorte aller Exponate mit den Angaben der Objektdatenbank<br />
abgeglichen. Zuvor wurde das Ausstellungsgebäude<br />
in räumlich nachvollziehbare Blockfelder eingeteilt, die<br />
eine exaktere Standortangabe als zuvor ermöglichten. Auch<br />
die Restauratoren begutachteten im Vorfeld die Sammlung,<br />
um fragile Objekte, dringenden Konservierungsbedarf und Gefahrstoffe<br />
zu identifizieren. Alle Verdachtsfälle auf Gefahrstoffe<br />
wurden beprobt und analysiert. Die aktualisierten Daten wurden<br />
in die Datenbank importiert und dienten als Basis für die<br />
Beräumungsplanung. Außerdem wurden im Haus Handlungsanweisungen<br />
zum Umgang mit nicht inventarisierten Dingen<br />
festgelegt, um zu verhindern, dass allzu viele sonstigen Gegenstände<br />
aus den Ausstellungen in die Depots wandern. Einige<br />
gut erhaltene Vitrinen und Möbel wurden über verschiedene<br />
Plattformen anderen Museen angeboten oder versteigert, Baumaterialien<br />
wurden z.T. durch die Werkstätten eingelagert.<br />
Die Depots<br />
Der Flächenbedarf wurde im Vorfeld berechnet, indem die ausgestellte<br />
Sammlung im Geiste zerlegt und auf die drei möglichen<br />
Lagerungsarten Sammelbehälter, Euro- und Sonderpaletten<br />
aufgeteilt wurde. Nach mehreren Überprüfungen und<br />
Verdichtungsrunden in den Depots war klar, dass noch eine<br />
weitere Depothalle anzumieten war. Nach solchen Berechnungen<br />
wurde auch Lager- und Transportmaterial beschafft, um<br />
einheitlich die gewünschte Qualität sicherzustellen und Aufschläge<br />
durch Speditionen oder Fremdfirmen zu umgehen.<br />
Die Aufteilung der Objekte auf die drei vorgesehenen Depots<br />
erfolgte nach dem Gewicht des schwersten Teils eines Objekts,<br />
dem Heimatdepot eines Fachgebiets und nach der Frage, ob<br />
das Objekt für eine der Folgeausstellungen vorgesehen ist. Diese<br />
wurden schon jetzt in einer Depot-Halle zusammengefasst,<br />
um Begutachtungen für Konservierungsmaßnahmen oder<br />
Montagen zu erleichtern.
ART HANDLING<br />
9<br />
2<br />
3<br />
2<br />
Das Fischerboot auf der<br />
provisorischen Laderampe<br />
passte nur schräg<br />
durch dieses Tor<br />
3<br />
Transport eines zwölf<br />
Tonnen schweren<br />
Bohrers durch ein<br />
Fenster in den Hof
14 ART HANDLING<br />
Jedem Gemälde sein<br />
1 2
ART HANDLING<br />
15<br />
besonderes Klima<br />
1<br />
Dieric Bouts<br />
(* 1410–1420 in Haarlem;<br />
† 6. Mai 1475 in Leuven)<br />
gilt als einer der wichtigsten<br />
Künstler Leuvens.<br />
Links: Jesus im Haus von<br />
Simon dem Pharisäer (ca.<br />
1465 –1470) rechts: Passionstriptychon<br />
(Ende<br />
15. Jahrhundert)<br />
2<br />
Triptychon des heiligen<br />
Abendmahls von Dieric<br />
Bouts, 1464–1468, aus<br />
der Kirche St. Peter<br />
in Leuven
16 ART HANDLING<br />
3<br />
TEXT: ALEXANDRA WACH<br />
Viel ist über sein Leben nicht bekannt, außer der Tatsache, dass<br />
er es mit seiner Malerei zu Ruhm und Wohlstand gebracht hat.<br />
Dieric Bouts starb am 6. Mai 1475 in Leuven. 30 Jahre zuvor<br />
war er aus Haarlem in die flämische Stadt gekommen, die im<br />
15. Jahrhundert unter burgundischer Herrschaft eine Blütezeit<br />
erlebte. Hier heiratete er die Patriziertochter Catharina van der<br />
Brugghen. Zwei der vier Kinder brachten es als Maler ebenfalls<br />
zu Ansehen. Noch nie waren so viele Werke des Malers in seiner<br />
Heimatstadt versammelt. Sie werden in der Schau direkt mit<br />
Werken zeitgenössischer „Bildermacher“ und „Bildermacherinnen“<br />
wie der Filmplakate-Grafikerin Amira Daoudi, Fotografien<br />
der Pop-Ikone Beyoncé oder Sequenzen von George Lucas’ “Star<br />
Wars“ konfrontiert. Neben der traditionellen historischen Herangehensweise<br />
verfolgt Kurator Peter Carpreau einen „transhistorischen“<br />
Ansatz, der den Betrachter mit dessen Kultur in den<br />
Fokus rückt. Die vollständige Hängung erforderte fünf Tage mit<br />
drei Teams von je zwei Mitarbeitern und danach zwei Tage mit<br />
zwei Teams von zwei Mitarbeitern. HIZKIA, einer der wichtigen<br />
Player im internationalen Kunsttransportgeschäft, koordinierte<br />
die Verpackung und den Transport der Leihgaben aus Belgien,<br />
den Niederlanden, Deutschland, Österreich, Frankreich, Portugal,<br />
Spanien, Italien, dem Vereinigten Königreich und den USA.<br />
Entsprechend den Anforderungen wurden verschiedene Arten<br />
von Transportkisten verwendet, beispielsweise maßgeschneiderte<br />
Klimakisten oder HIZKIAS typische Schildkrötenkisten. Die<br />
zweite Generation setzt inzwischen ganz auf Hightech. Sie beinhalten<br />
etwa Verbundwerkstoffe, die von der NASA in ihren Raketen<br />
verwendet werden. Einige von ihnen verfügen auch über<br />
ein spezielles Stoßdämpfungssystem und einen Datenlogger,<br />
dessen Sensoren etwa die Temperatur, Spannung, Strom, Widerstand,<br />
Frequenz oder Druck in eine elektrische Signalspannung<br />
umwandeln. „Mehrere Gemälde wurden erst 24 bis 48 Stunden<br />
nach ihrer Ankunft im Museum ausgepackt, damit sie sich an die<br />
Temperatur und relative Luftfeuchtigkeit im Ausstellungsraum<br />
gewöhnen konnten“, erklärt Isabelle Van den Broeke, Leiterin der<br />
Abteilung für Ausstellungen antiker Kunst. „Außerdem wurden<br />
mehrere Bilder vor dem Transport in eine Klimabox gelegt. Für<br />
sieben Gemälde wurde eine Vitrine mit passiver Klimatisierung<br />
(Silica) gebaut. Einige Werke werden dauerhaft bei einer relativen<br />
Luftfeuchtigkeit von 50 oder 55 Prozent aufbewahrt, aber bei-
ART HANDLING<br />
In Belgien ist die seit Jahrzehnten größte Schau des spätgotischen flämischen Malers<br />
Dieric Boots im M-Museum Leuven zu sehen, in der Stadt, in der er lebte und arbeitete.<br />
Für das Art-Handling von „Dieric Bouts. Bildermacher“ zeichnet das belgische Büro<br />
des niederländischen Kunsttransportunternehmens HIZKIA verantwortlich.<br />
17<br />
3<br />
Die Verkündigung, Dieric<br />
Bouts 1465–1470<br />
4<br />
4<br />
Den Anforderungen<br />
entsprechend wurden<br />
verschiedene Arten von<br />
Transportkosten verwendet.<br />
Einige Bilder wurden<br />
vor dem Transport in<br />
eine Klimabox gelegt
30 ART HANDLING<br />
Optimale<br />
Lichtqualität<br />
ERCO liefert Ausstellungsbeleuchtung und maßgeschneiderte<br />
Transportlösungen für das größte Museum Skandinaviens.<br />
Das neue Nationalmuseum in Oslo: Ein Mammutprojekt auf<br />
54.600 Quadratmetern, das zuvor verteilte Institutionen unter einem<br />
Dach vereint. Der Neubau, der von einem schimmernden<br />
„Lichtsaal“ gekrönt wird, bewahrt und präsentiert das kulturelle<br />
Erbe Norwegens in seiner ganzen Breite. Die Ausstellungsbeleuchtung<br />
mit Strahlern kommt von ERCO – eingebettet in ein<br />
intelligentes, ganzheitliches Konzept für die Leuchtenlogistik,<br />
das den Herausforderungen eines Museumsbetriebs dieser Dimension<br />
heute und morgen gerecht wird.<br />
Die Rückeroberung der Wasserfronten ist ein globaler städtebaulicher<br />
Trend. Auch Oslo hat ehemalige Verkehrs- und Hafenflächen<br />
an seinen Ufern zum Fjord mit großem Erfolg in ein<br />
attraktives Kulturquartier umgewandelt. Zur Oper von 2008 und<br />
zu dem prägnanten Munch-Museum kommt jetzt der zeitlosschlichte<br />
Bau des norwegischen Nationalmuseums für Kunst,<br />
Architektur und Design auf der Fläche des ehemaligen Westbahnhofs<br />
hinzu. Der aus reduzierten kubischen Volumen zusammengesetzte<br />
Baukörper verleugnet seine schiere Größe<br />
nicht; das ehemalige Bahnhofsgebäude, das heute das Nobel-<br />
Friedenszentrum beherbergt, rahmt er L-förmig ein. Die Granitfassade<br />
atmet Dauerhaftigkeit, der aufs Dach aufgesetzte<br />
„Lichtsaal“ mit seiner transluzenten Haut aus Glas-Marmor-Laminat<br />
setzt zu jeder Tages- und Nachtzeit einen schimmernden<br />
Akzent im Stadtpanorama.<br />
Dieser außergewöhnliche Raum für Wechselausstellungen,<br />
Schlüsselelement des Entwurfs des Architekten Klaus Schuwerk<br />
von Kleihues + Schuwerk, macht den Rang des Lichts in diesem<br />
Projekt deutlich. „Zuerst gab es das Ausstellungskonzept. Gemeinsam<br />
mit den Architekten haben wir uns die Frage gestellt,<br />
wie man die Idee in ein Gebäude- und Raumkonzept übersetzen<br />
kann. Das ist wunderbar gelungen. Das Museumserlebnis wird<br />
maßgeblich geprägt durch die Architektur und Raumgestaltung<br />
– bei der natürlich auch das Licht einen wesentlichen Beitrag<br />
leistet“, sagt Projektdirektor Jon Geir Placht. Das Museum stellt<br />
einen Kristallisationspunkt für die kulturelle Identität des wohlhabenden<br />
Norwegens dar. Qualität hatte daher absoluten Vorrang<br />
– entsprechend gingen Planer und Kuratoren auch bei der<br />
Ausstellungsbeleuchtung der über 90 Säle keine Kompromisse<br />
ein. Das Nationalmuseum vereint unter seinem Dach vier zuvor<br />
separat untergebrachte Institutionen: Die norwegische Nationalgalerie,<br />
das Museum für zeitgenössische Kunst, das Museum<br />
für dekorative Kunst und Gestaltung sowie das Museum für<br />
Architektur, das allerdings auch seinen bisherigen, von Christian<br />
Heinrich Grosch entworfenen Sitz weiter bespielt.<br />
PROJEKTDATEN<br />
Projekt: Nationalmuseum Oslo, Oslo / Norwegen<br />
Architektur: Klaus Schuwerk, Neapel / Italien,<br />
Arge Kleihues + Schuwerk, Berlin / Deutschland<br />
Lichtplanung<br />
Architektur: Rambøll, Kopenhagen / Dänemark<br />
Lichtplanung<br />
Ausstellung: Massimo Iarussi, Florenz / Italien<br />
Ausstellungsdesign: Guicciardini & Magni Architetti,<br />
Florenz / Italien<br />
Produkte: Parscan
ART HANDLING<br />
31<br />
1<br />
Planer:innen und<br />
Kurator:innen gingen<br />
bei der Beleuchtung der<br />
Säle im neuen Nationalmuseum<br />
von Oslo keine<br />
Kompromisse ein.
36 INTERVIEW<br />
KI IST DIE ZUKUNFT<br />
Ulrich Servos bezeichnet sich als die alleinerziehende Mutter von Daphne. Im Interview<br />
mit RESTAURO erinnert sich der Entwickler der Sammlungsdatenbank der Firma robotron<br />
aus Dresden an die erste Zeit mit Daphne, erklärt das Community-Prinzip bei der<br />
Weiterentwicklung der Datenbank und spricht über die Zukunft von Daphne.<br />
TEXT: UTA BAIER<br />
Warum entstand Daphne?<br />
2005 gab es eine Ausschreibung der Staatlichen Kunstsammlungen<br />
Dresden, die nach einer Lösung suchten, die<br />
verschiedenen Datenerfassungen ihrer Museen zu vereinheitlichen.<br />
Für eine Verbundlösung ganz unterschiedlicher<br />
Sammlungen gab es am Markt noch nichts. Wir haben den<br />
Zuschlag bekommen und haben Daphne vom reinen Erfassungstool<br />
zum kompletten Managementsystem entwickelt.<br />
Anfangs ging es doch um Provenienzforschung?<br />
Ja, wir hatten die Ausschreibung gewonnen und wollten die<br />
Spezifikationen umsetzen, als die Rückgabeforderungen des<br />
Hauses Wettin an die Porzellansammlung der Staatlichen<br />
Kunstsammlungen kamen. Deshalb hat die Porzellansammlung,<br />
die ihre Daten damals noch nicht digitalisiert hatte, als<br />
Erstes eine Version bekommen. Das war eine wilde Zeit.<br />
Eine wilde Zeit beim Erstellen einer Datenbank?<br />
Nun, wir mussten innerhalb von einem halben Jahr 20.000<br />
Objekte erfassen – da gab es viele Nacht- und Spätschichten.<br />
Entstanden ist Daphne in vielen gemeinsamen Treffen<br />
mit Igor Jenzen, dem ehemaligen Direktor des Museums für<br />
Sächsische Volkskunst – auch bei Treffen im Biergarten. Wir<br />
haben aus der Symbiose von Kunsthistorie und Informatik<br />
Daphne geschaffen. Ich sehe mich als die Mutter von Daphne,<br />
Igor Jenzen war wohl der Vater. Weil er jetzt im Ruhestand<br />
ist, bin ich nun alleinerziehend. (lacht)<br />
Sie haben mit Museumsleuten zu tun, die eher nicht technikaffin<br />
sind – hat das die Entwicklung beeinflusst?<br />
Es hat die Entwicklung beeinflusst – zum Positiven. Wir arbeiten<br />
grundsätzlich immer mit unseren Kunden zusammen. Ich<br />
setze als Informatiker die Wünsche und Anforderungen der<br />
Kunsthistoriker um. Dabei habe ich den Anspruch, dass die<br />
Anwendung einfach zu bedienen bleiben muss.<br />
Was ist durch die Zusammenarbeit mit den Nutzern entstanden?<br />
Informatiker lieben Verknüpfungen, Relationen, Kunsthistoriker<br />
haben eine eigene Sprache und eine eigene Art, ihre<br />
Objekte zu beschreiben. Daraus musste eine Symbiose werden.<br />
Und diese Symbiose ist geradezu zur Philosophie von<br />
Daphne geworden. Wir haben eine Zweiteilung zwischen<br />
normierten Werten und einem Feld für den Kunsthistoriker<br />
entwickelt, in dem er in seiner Sprache das Objekt beschreiben<br />
kann. Das hat sich aus dieser Zusammenarbeit ergeben.<br />
Wenn Sie Daphne in drei Sätzen beschreiben müssten, welche<br />
wären das?<br />
Nur drei Sätze? Das ist schwierig. Ich versuche es mal. Das<br />
Besondere an Daphne ist, dass wir versucht haben, neben<br />
der Einfachheit auch die umfassende Arbeit abzubilden. Es<br />
soll alles nachvollziehbar und plausibel sein und nur einmal<br />
gemacht werden müssen. Wenn zum Beispiel ein Multimedia-Guide<br />
für die Ausstellung generiert werden soll, dann<br />
passiert das aus den vorhandenen Daten und direkt aus einer<br />
Maske, in der alles steht. Wir wollen, dass jeder die Anwendung<br />
bedienen kann.<br />
Gibt es Wünsche der Museen an Daphne, die Sie nicht erfüllen<br />
können?<br />
Eher welche, die ich nicht erfüllen möchte. Etwas nicht zu<br />
können, ist nur durch die Technik begrenzt. Vieles wird demnächst<br />
mit KI möglich sein. Als neustes Projekt entwickeln<br />
wir das automatische Transkribieren von Video- und Audiodateien<br />
in mehrere Sprachen.<br />
Und welche Wünsche wollen Sie nicht erfüllen?<br />
Einzelwünsche nach speziellen Feldern zum Beispiel. Wenn<br />
nicht mindestens die Mehrheit unserer Kunden den gleichen<br />
Wunsch äußert, dann machen wir das vermutlich nicht.<br />
Daphne soll schlank und verständlich bleiben. Kein Schleifchen,<br />
das nicht nötig ist.<br />
Kein Schleifchen, das nicht nötig ist – das macht die Nutzung<br />
für alle einfacher?<br />
Genau! Ich habe beispielsweise viele Anfragen, Masken<br />
selbst zu bauen. Aber wer soll das pflegen und die Mitarbeiter<br />
schulen? Ich glaube an die Einfachheit und an das Community-Prinzip.<br />
Was bedeutet das?<br />
Wir verstehen uns und unsere Kunden als Community, die<br />
sich mit uns und miteinander austauschen können. Wir organisieren<br />
jährliche Kundentreffen – jeweils bei einem anderen<br />
Kunden im Museum. Dort geht es um Austausch. Darüber<br />
hinaus gibt es die Möglichkeit, dass sich Entwicklungspart-
INTERVIEW<br />
37<br />
– AUCH IM MUSEUM<br />
nerschaften bilden, denn Daphne wird ja auf Kundenwunsch<br />
hin weiterentwickelt. Denn nicht ich bestimme, was Neues<br />
entwickelt wird, sondern die Häuser. Wenn sich mehrere zusammentun,<br />
um etwas von uns entwickeln zu lassen, wird<br />
es günstiger für den Einzelnen. Das Community-Prinzip bedeutet<br />
auch, dass eine einmal bezahlte Erweiterung in die<br />
Software kommt und alle anderen Kunden sie nach dem<br />
nächsten Release nutzen können. Man könnte sicher ohne<br />
das Community-Prinzip mehr Geld verdienen, aber mein Ziel<br />
ist es eher, die Kunden glücklich zu machen.<br />
Was bietet Daphne speziell Restauratoren?<br />
Es gab eine Zeit, da gab es noch kein Restaurierungsmodul.<br />
Das stand nicht an erster Stelle. Irgendwann war es so weit,<br />
und ich habe mich mit Restauratoren zusammengesetzt, um<br />
zu erfahren, was sie brauchen. Ich habe gelernt, dass es pro<br />
Restaurierung zwei Millionen Daten gibt, die erfasst werden.<br />
Und zehn Millionen Bilder. Wenn man das alles umsetzen würde,<br />
wäre das Restaurierungsmodul größer als Daphne. Also<br />
haben wir uns geeinigt, dass die Dokumentation in Daphne<br />
erscheint, aber nicht die gesamte Arbeit. Es gibt die Möglichkeit,<br />
das Objekt aus Sicht des Restaurators zu beschreiben,<br />
die Schadstoffbelastung ebenso und beliebig viele Vorgänge<br />
– Restaurierungen oder Begutachtungen. Diese Vorgänge<br />
können Bilder, Protokolle und Dokumente enthalten. Alles andere<br />
steht im Restaurierungsprotokoll, das in die Datenbank<br />
gehängt werden kann. Wir können also über die normierten<br />
Felder Schäden, Mittel, Methoden und Maßnahmen suchen<br />
und in den angehängten Dokumenten dann eine Volltextsuche<br />
starten. Alles in eine Datenbank zu tippen, wäre auch ein<br />
zu großer Aufwand.<br />
Daphne führt nicht in ein papierloses Museum?<br />
Daphne hat ein Archivmodul. Doch ich glaube, dafür ist die Zeit<br />
noch nicht reif. Viele lieben das Papier noch sehr. Wir haben<br />
Kunden, die fragen, ob sie die Dateien aus Daphne auch auf Karteikarten<br />
drucken können. Und das passiert nicht nur einmal.<br />
Was entwickeln Sie Neues?<br />
Es wird Verbesserungen am Multimedia-Guide geben, weil<br />
wir dort zurzeit das größte Potenzial sehen. Das zweite große<br />
Thema sind Erweiterungen mithilfe von KI. Die Erweiterung<br />
für Transkriptionen erwähnte ich schon. Die sind wichtig für<br />
den Multimedia-Guide, denn dann muss man keine Videos<br />
mehr selbst transkribieren, sondern kann automatisch Untertiteldateien<br />
bauen lassen. Das Zweite ist ein virtueller Leuchttisch,<br />
der die Objekte einer Datenbank nach Ähnlichkeiten<br />
sortiert und zeigt. Auf diese Weise kann man die Museumsstücke<br />
in einer ganz neuen Zusammenstellung betrachten –<br />
zum Beispiel nach Formen geordnet.<br />
Sie haben im vergangenen Jahr ein SmartMonitoring-Modul<br />
neu eingeführt, das klimatische und konservatorische Bedingungen<br />
in Ausstellungsräumen überwacht. Wie groß ist der<br />
Bedarf angesichts der Veränderungen durch den Klimawandel<br />
und die Energiekrise?<br />
Wir haben die Erfahrung gemacht, dass der Bedarf an preiswerten<br />
und flexiblen Lösungen zur Überwachung von Klimadaten<br />
sehr groß ist. Die bisher angestrebten engen Korridore<br />
bei der Führung der Klimatechnik sind energetisch<br />
und kostenmäßig nicht mehr vermittelbar, weshalb auch der<br />
Deutsche Museumsbund im März 2023 seine Empfehlungen<br />
für die angestrebten Klimakorridore sehr gelockert hat. Insbesondere<br />
in den Ausstellungsräumen ist in der Folge mit<br />
erheblichem Stress für die Objekte zu rechnen. In großen<br />
Häusern ist die Überwachung klimatischer Bedingungen<br />
– oft verbunden mit der Führung der Klimatechnik – gelebte<br />
Praxis. Aber gerade die vielen kleinen Häuser mit eng begrenztem<br />
Budget, mit Depots ohne Anbindung an die zentrale<br />
Leittechnik, oder denkmalgeschützte Objekte, in denen<br />
bauliche Veränderungen nicht möglich sind, haben nach<br />
unserer Meinung einen großen Bedarf an flexiblen, schnell<br />
einsatzbereiten Lösungen. Diese geben ihnen die Möglichkeit,<br />
die Einhaltung der Klimakorridore zu überwachen, zu<br />
dokumentieren und, sofern möglich, zu steuern. Ohne diese<br />
Module werden diese Häuser sicher nicht nur Verluste an<br />
den Sammlungsobjekten erleiden, sondern auch vom Ausleihverkehr<br />
abgehängt werden.<br />
Wie war das eigentlich mit dem Namen Daphne – haben Sie<br />
den gefunden?<br />
Nein, anfangs hieß das Programm Museumsdatenbank, kurz<br />
MDB. Die Staatlichen Kunstsammlungen haben dann einen<br />
internen Namenswettbewerb ausgerufen. Weil Daphne für<br />
die Metamorphose steht und wir für die Metamorphose von<br />
realen in digitale Daten stehen, wurde die Figur der Daphne<br />
im Grünen Gewölbe das Logo der Datenbank.<br />
Gibt es Grenzen für Daphne oder passt sie in jeden Sammlungskontext?<br />
Sie passt in jeden Sammlungskontext, denn unser Slogan<br />
war immer: Alles ist Objekt. Alle Kunden sind gleich, egal, ob<br />
kleines Schulmuseum oder großer Museumsverbund, auch<br />
Fußball- oder Automuseen haben Objekte und können mit<br />
Daphne erfasst werden.<br />
VITA<br />
Ulrich Servos<br />
Robotron Datenbank-Software GmbH (Produktmanager robotron*Daphne)<br />
- 1991 Dipl.-Inform. RWTH Aachen<br />
- Seit 1996 bei Robotron<br />
- Seit 2006 Projektleiter/Produktmanager robotron*Daphne
52 AUSSTELLUNG<br />
Das Bischöfliche Dom- und Diözesanmuseum Mainz zeigt mit seiner Sonderschau über<br />
die Kartause St. Michael am Rhein Zeugnisse einer untergegangenen Epoche (noch bis<br />
10. März <strong>2024</strong>). Das Kloster hatte sich zum Sehnsuchtsziel der Rheinreisenden entwickelt,<br />
bis das imposante Gebäude Ende des 18. Jahrhunderts abgerissen wurde.<br />
Heute ist das Wort „Zeitenwende“ in aller Munde. Beschäftigt<br />
man sich nur ein bisschen mit der Geschichte, hat man den<br />
Eindruck, dass fast alle Generationen „Zeitenwenden“ miterlebt<br />
haben. Das vermittelt auch die aktuelle Sonderausstellung<br />
im Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseum in Mainz mit<br />
rund 80 Exponaten. Anlässlich des 700-jährigen Jubiläums wird<br />
„Die Kartause von Mainz“ gewürdigt. Anhand der Geschichte<br />
dieser ältesten Kartause Deutschlands taucht der Besucher in<br />
eine weitgehend untergegangene Welt ein. Doch deren erhaltene<br />
Kunstwerke beeindrucken bis heute. Besonders erstaunlich,<br />
dass selbst die Kartäuser – ihr Orden vertrat die strengsten<br />
Regeln zum asketischen Leben mit weitgehender Schweigepflicht<br />
– zum Lobe Gottes prächtige Kunstwerke von hoher<br />
Qualität in Auftrag gegeben haben.<br />
Im Jahr 1084 zog Bruno von Köln in die Nähe von Grenoble,<br />
wo er mit sechs Gleichgesinnten eine Einsiedelei errichtete.<br />
Jeder lebte in einer eigenen Zelle für sich, dem Gebet, dem Studium<br />
und der Hände Arbeit verpflichtet. Nur dreimal täglichen<br />
fanden sie zum Stundengebet zusammen. Der heilige Bruno<br />
mit Buch und Totenkopf – wohl eine Mainzer Sandsteinfigur<br />
aus der Hochblüte der Kartause in der zweiten Hälfte des 18.<br />
Jahrhunderts – steht am Beginn der Ausstellung bereit, um die<br />
Besucher hineinzugeleiten. Alsbald lebten auch Nonnen nach<br />
den strengen Regeln der Kartäuser. 1170 vom Papst anerkannt,<br />
breiteten sich die Kartäuserklöster europaweit aus: Mit der ersten<br />
Blütezeit im 14. Jahrhundert nicht mehr nur in der Abgeschiedenheit,<br />
sondern auch in Städten wie Köln (1334), London<br />
(1370) oder Nürnberg (1380). Ob durch verheerende Kriege, die<br />
Reformation, oder die Französische Revolution – auch die Kartäuser<br />
blieben vor Verwüstung und Untergang nicht verschont.<br />
Erstaunlich, dass das einzige noch bestehende Kartäuser-Kloster<br />
Deutschlands, die Kartause Marienau bei Bad Wurzach, erst<br />
1964 gegründet worden ist!<br />
Die Mainzer Kartause geht auf den Erzbischof Peter von Aspelt<br />
zurück, der den Mönchen einen Platz zum Klosterbau im Rheingau<br />
übergab. Diese Schenkungsurkunde, eine Handschrift auf<br />
Pergament, datiert 21. Mai 1320, ist neben der Zustimmung des<br />
Domkapitels zur Verlegung des Klosters nach Mainz, im Original<br />
zu sehen. Zahlreiche Reproduktionen veranschaulichen die<br />
großartige Buchkunst jener Zeit. Die Gebete zum Seelenheil<br />
der Stifter bildeten damals ein einträgliches Geschäftsmodell<br />
der Klöster. 1323 – Gedenkjahr zur aktuellen Schau – zogen<br />
die Kartäuser vor die Tore der Stadt, 1326 wurde die Kartause<br />
Mainz als Mitglied des Ordens anerkannt, 1360 ihre Klosterkirche<br />
geweiht. Zahlreiche Tochtergründungen folgten. Dieser<br />
ersten Blüte setzte 1552 ein Klosterbrand das Ende. Ansichten<br />
mit der Mainzer Kartause von Matthäus Merian oder Franz von<br />
Kesselstatt zeigen die historische Lage. Wie man sich die Zellen<br />
der Kartäuser vorzustellen hat, wird anhand einer Reproduktion<br />
der Kartause von La Valsainte vom Anfang des 20. Jahrhunderts<br />
deutlich: schmale Bettstatt, eigene Gebetsnische.<br />
Der Kontrast dieser privaten spartanischen Lebensform zu den<br />
prunkvoll ausgestatteten Kirchenräumen der Mainzer Kartause,<br />
die unter Prior Michael Welcken in der ersten Hälfte des<br />
18. Jahrhunderts zum Lob Gottes in barocker Pracht erblühte,<br />
könnte größer nicht sein. Weithin berühmt das Chorgestühl,<br />
das dem Hamburger Johann Justus Schacht nebst 21 Schreinergesellen<br />
zu verdanken ist. Es ist zumindest anhand von Teilen<br />
im Original (nebst Abbildungen) zu bestaunen: Die kostbar<br />
mit edlen Hölzern, Bein, Zinn, Fassung und Vergoldung verzierten<br />
Nussbaum-Schränke, um 1723/26, sind als Leihgabe<br />
aus dem Museum am Dom Trier als kunsthandwerkliche Highlights<br />
zu bewundern. Bei den ebenso berühmten Marmor-Alabaster-Altären<br />
des Maximilian von Welsch von 1714 muss man<br />
mit Reproduktionen vorliebnehmen, ebenso bei jenen Altären,<br />
die als Gemeinschaftswerke des Kunstschreiners Franz Anton<br />
Hermann und des Bildhauers Burkhard Zamels um 1741/42<br />
entstanden sind. Doch geben die perfekten Reproduktionen<br />
einen lebhaften Eindruck der außergewöhnlichen Ausstattung.<br />
Vom einst überwältigenden Kirchenschatz, dessen originales<br />
Verzeichnis 96 Nummern beinhaltete, sind die zwei einzig<br />
erhaltenen Objekte, ein Kelch und eine Monstranz aus der<br />
damaligen Goldschmiedemetropole Augsburg, ausgestellt.<br />
Franz Ignaz Berdolt ist der Schöpfer der um 1716 in vergoldetem<br />
Silber, mit Edelsteinen und Email verzierten Leihgaben.<br />
Die über 90 Preziosen wurden 1781, wie so viele andere Klosterschätze,<br />
veräußert.<br />
Die in völliger Abgeschiedenheit lebenden Kartäuser hatten<br />
keinen Postulator in Rom, der sich für die Selig- oder Heiligsprechung<br />
eines Ordensmitglieds beim Papst starkmachen<br />
konnte. Selbst Bruno wurde von Rom nicht offiziell kanonisiert,<br />
seine Verehrung jedoch 1622 für die ganze katholische Kirche<br />
anerkannt. Dass Kartäusermönche wegen ihres Glaubens verfolgt<br />
oder getötet wurden, belegt ein monumentales Gemälde<br />
aus der Mitte des 17. Jahrhunderts mit einer dramatischen<br />
Martyriumsszene der Kartäuser in London.<br />
Die Kartäuser galten als der mittelalterliche Bücherorden<br />
schlechthin. Kein Wunder, dass beim strikten Schweigegebot<br />
dem Kopieren von Handschriften eine wichtige Rolle zukam.<br />
Unter den Originalen verdient der erste in Mainz 1466/70 auf<br />
Pergament verfasste Bibliothekskatalog der Kartause besondere<br />
Beachtung. Da bei den Kartäusern Handarbeiten zum<br />
Aufgabenbereich gehörten, waren Buchbinder, Uhrmacher,<br />
Schreiner oder Maler unter ihnen.<br />
Ebenso prächtig wie ihre Kirche statteten die Mainzer Kartäuser<br />
um 1750 ihren erneuerten, hoch gewölbten Kreuzgang aus.<br />
Sieben überlebensgroße Steinskulpturen des Nikolaus Binterim,<br />
der um 1746 nach Mainz gekommen war und 1750 als Hofbildhauer<br />
genannt wird, bevölkerten die Ecken. Um 1750/53 hat<br />
man die Wände mit insgesamt 80 monumentalen Leinwandge-
AUSSTELLUNG<br />
53<br />
2 3<br />
2<br />
Das Chorgestühl ist zusätzlich<br />
mit geschnitzten<br />
weiblichen Trägerfiguren<br />
geschmückt, die ausgesprochen<br />
lebendig<br />
wirken. Johann Justus<br />
Schacht und Werkstatt,<br />
Karyatide aus dem<br />
Chorgestühl der Mainzer<br />
Kartause, 1723/26,<br />
Dom zu Trier<br />
3<br />
Aus dem reichen Kirchenschatz<br />
der Kartause<br />
haben sich lediglich<br />
ein Kelch und eine<br />
Monstranz erhalten, die<br />
beide in der Ausstellung<br />
gezeigt werden. Franz<br />
Ignaz Berdolt, Kelch aus<br />
der Mainzer Kartause,<br />
Augsburg, um 1715/16,<br />
Pfarrkirche St. Nikolaus,<br />
Kalteneber<br />
mälden sowie Supraporten versehen. Die Bilder schilderten Leben<br />
und Wirken Jesu-Christi, ergänzt um alttestamentarische<br />
Szenen und eine Steinigung des hl. Stephanus. Die Mönche zogen<br />
auf dem Weg zum dreimal täglichen Chorgebet an diesem<br />
opulenten Bilderkosmos vorbei, der im krassen Gegensatz zu<br />
ihren kargen Zellen stand. Die Kartause avancierte im 18. Jahrhundert<br />
zu einem veritablen Touristenziel. Der Artillerie-Hauptmann<br />
Johann Christoph von Stoevesandt besuchte anlässlich<br />
seiner Rheinreise das Kloster gar zweimal, so angetan war er<br />
von den Kreuzgang-Gemälden, die er nicht nur in Skizzen festhielt,<br />
sondern in der 1769 datierten Handschrift „Anmerkungen<br />
von einer dritten Reise am Rhein“ hervorhob. Der Zyklus gilt als<br />
umfangreichste Bilderfolge des Mainzer Barock. Sein Schöpfer<br />
Georg Joseph Melbert, sonst kaum beachtet, kam um 1744<br />
aus dem österreichischen Enns nach Mainz. Hier arbeitete er<br />
als Wappenmaler des Domkapitels, und steuerte den Schmuck<br />
der oftmals aufwendig gestalteten Aufschwörungsurkunden<br />
bei. Auch schuf er Festdekorationen und erwarb als Kunstagent<br />
1785 Gemälde für Erzbischof Friedrich Karl von Erthal.<br />
Den leicht manierierten Figurenstil des Gemälde-Zyklus mit gedrehten<br />
Bewegungen und betonten Gesten kann man anhand<br />
der fünf nun in der Ausstellung vereinten Bildern betrachten,<br />
die zum Bestand des Dommuseums gehören. Insgesamt 21<br />
Gemälde sind erhalten.<br />
Drei der jeweils 269 mal 175 Zentimeter großen Leinwand-<br />
Gemälde wurden in zweijähriger Arbeit restauriert. Ich durfte