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Die Könige des Nordens, Ostens und Südens

Dieser utopische Roman spielt sich in einer Welt ab, die schon übermorgen so aussehen könnte.

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<strong>Die</strong> <strong>Könige</strong> <strong>des</strong> <strong>Nordens</strong>, <strong>Ostens</strong> <strong>und</strong> <strong>Südens</strong><br />

Der Autor<br />

Ich wurde 1953 in Zürich geboren. Mein Vater war ein Schweizer<br />

<strong>und</strong> meine Mutter eine Finnin - mein Vorname, der genau Hans<br />

bedeutet, weist darauf hin -, aber ich bin nach ihrer frühen<br />

Scheidung abseits von ihnen an verschiedenen Orten der<br />

Kantone Zürich <strong>und</strong> Appenzell aufgewachsen. Den<br />

Familiennamen Stump habe ich von einem nordbadischen<br />

Urgrossvater, der irgendwann zwischen 1870 <strong>und</strong> 1885 in die<br />

Schweiz eingewandert <strong>und</strong> in Zürich hängen geblieben ist.<br />

Bis jetzt habe ich mehr als zwanzig Bücher veröffentlicht, die<br />

meisten über den Internet-Anbieter Yumpu - <strong>und</strong> die meisten sind<br />

Sprachlehrbücher. Besonders hinweisen möchte ich auf den<br />

utopischen Roman «999», den ich schon kurz vor der<br />

Jahrtausendwende geschrieben <strong>und</strong> von dem ich Teile für<br />

diesen Roman übernommen habe. Das Gleiche gilt für den<br />

Roman «Zwischen Kreuzzug <strong>und</strong> Dschihad», der im Jahr 2004<br />

veröffentlicht wurde; beide habe ich für diese Geschichte<br />

mitverwendet <strong>und</strong> verkürzt.<br />

Im Mittelpunkt der Handlung steht der 30-jährige Reserveoffizier<br />

Hans Bergmann aus Berlin, der in einen Krieg einrückt, der von<br />

China <strong>und</strong> Russland mit einem gleichzeitig erfolgenden Angriff<br />

auf Taiwan <strong>und</strong> auf das Baltikum ausgelöst worden ist. <strong>Die</strong><br />

Bun<strong>des</strong>wehr, die jetzt zum ersten Mal in einen Krieg verwickelt<br />

wird, der NATO-Territorium direkt betrifft, soll die polnische<br />

Armee mit etwa 100’000 Mann verstärken, weil mehr als eine<br />

halbe Million chinesische <strong>und</strong> nordkoreanische Soldaten bald als<br />

Verstärkung für Russland eintreffen. Wird es tatsächlich zu<br />

Kampfhandlungen kommen, obwohl die Russen gegen die<br />

Deutschen eigentlich nicht kämpfen wollen, wie es heisst?<br />

1


Als aber die Menschen sich auf der Erde zu vermehren<br />

begannen <strong>und</strong> ihnen Töchter geboren wurden, sahen die<br />

Dämonen, dass die Töchter der Menschen schön waren, <strong>und</strong><br />

nahmen sich all jene, die ihnen gefielen, zu Frauen … <strong>Die</strong> Riesen<br />

waren auf Erden in jenen Tagen, <strong>und</strong> zwar daraufhin, dass die<br />

Dämonen zu den Töchtern der Menschen kamen <strong>und</strong> diese<br />

ihnen gebaren.<br />

(Erstes Buch Mose, Kapitel 6, Verse 2 <strong>und</strong> 4)<br />

Und Josua kam zu jener Zeit <strong>und</strong> rottete die Enakiter aus … <strong>und</strong><br />

er vollstreckte an ihnen mitsamt ihren Städten den Bann. Und er<br />

liess keinen dieser Enakiter übrigbleiben im Lande der Kinder<br />

Israel ausser zu Gasa, zu Gat <strong>und</strong> zu Aschdod; daselbst blieb<br />

ein Rest übrig.<br />

(Buch Josua, Kapitel 11, Verse 21 <strong>und</strong> 22)<br />

Zieht die ganze Waffenrüstung Gottes an, damit ihr gegen die<br />

Kunstgriffe <strong>des</strong> Teufels standhalten könnt! Denn unser Kampf<br />

richtet sich nicht gegen Fleisch <strong>und</strong> Blut, sondern gegen die<br />

Herrschaften, gegen die Gewalten, gegen die Weltherrscher<br />

dieser Finsternis, gegen die geistlichen Mächte der Bosheit in<br />

den himmlischen Gefilden. Deshalb ergreift die ganze<br />

Waffenrüstung Gottes, damit ihr am bösen Tag widerstehen<br />

könnt!<br />

(Brief <strong>des</strong> Apostels Paulus an die Epheser, Kapitel 6,<br />

Verse 11 bis 13)<br />

¨<br />

2


1<br />

«Bist du immer noch im Bett, Liebling?»<br />

Immer noch etwas schlaftrunken hört er vom Badezimmer aus<br />

die Stimme seiner Frau, die ihm jetzt noch lieblicher vorkommt<br />

als bis anhin, weil eine dunkle Vorahnung ihm sagt, dass es<br />

eines der letzten Male sein könnte.<br />

«Ja, aber ich stehe schon bald auf», antwortet er schliesslich,<br />

indem er sich bemüht, ebenso lieblich zu sprechen.<br />

«Dann warte ich noch da drinnen», hört er sie weiter, so dass er<br />

nicht darumkommt, so schnell wie möglich zu entgegnen:<br />

«Okay, Mausi, ich bin schon unterwegs.»<br />

So lautet der Spitzname seiner Frau, den er ihr schon vor<br />

mehreren Jahren gegeben hat, der ihr jedoch sehr gefällt.<br />

Schliesslich rafft er sich dazu auf, sich vom Bett zu erheben, <strong>und</strong><br />

dann zieht er sein Pyjama mitsamt dem Unterleibchen aus <strong>und</strong><br />

begibt sich in Richtung Dusche, wo sie offensichtlich auf ihn<br />

wartet.<br />

Schon steht er direkt vor ihr - <strong>und</strong> schon schlingt sie ihre Arme<br />

um ihn <strong>und</strong> drückt ihm einen festen Kuss auf die Lippen. Da sie<br />

fast so gross ist wie er, muss er sich nicht besonders nach ihr<br />

hinunterbeugen, damit sie ihn erreichen kann.<br />

Dann nehmen sie minutenlang die Dusche zusammen <strong>und</strong> sie<br />

geniessen es, ihre Körper noch einmal gegenseitig zu fühlen -<br />

<strong>und</strong> umso mehr, als sie wissen, dass es zum letzten Mal in ihrem<br />

Leben sein könnte. Immer wieder umarmen <strong>und</strong> küssen sie sich,<br />

<strong>und</strong> in diesen paar Minuten scheint es niemanden zu geben, der<br />

sie trennen kann.<br />

Schliesslich werden sie doch noch fertig <strong>und</strong> begeben sich<br />

wieder ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Wie sie sich noch<br />

einmal völlig nackt sehen, würden sie es noch so gern noch<br />

3


einmal erleben, aber sie haben es schon fast die ganze Nacht<br />

getan, bis sie gegen den Morgen erschöpft einschliefen, <strong>und</strong> jetzt<br />

ist schon der Nachmittag angebrochen <strong>und</strong> sie müssen bald<br />

aufbrechen.<br />

«Wie schade, dass wir keine Zeit mehr haben!», seufzt die Frau,<br />

aber sie kann es nicht lassen, ihre Brüste noch einmal an ihm zu<br />

reiben.<br />

«Du hast Recht», entgegnet er mit einem schwachen Lächeln,<br />

«aber wir hatten zum Glück noch die ganze letzte Nacht.»<br />

«Ja, Liebling, das hatten wir», sagt sie dann ebenfalls lächelnd<br />

<strong>und</strong> fügt hinzu: «Bevor wir gehen, frühstücken wir aber noch<br />

einmal zusammen. Schliesslich habe ich etwas Besonderes<br />

zubereitet, während du deinen Liebesrausch noch<br />

ausgeschlafen hast.»<br />

Dann gibt sie ihm mit der rechten Hand einen sanften Klaps auf<br />

den Hintern <strong>und</strong> zieht aus dem grossen Kleiderschrank, den sie<br />

in ihrem Schlafzimmer gemeinsam benützen, die beiden<br />

Uniformen, die sie gestern extra noch frisch gebügelt hat, <strong>und</strong><br />

andere frische Kleider. Sie zieht jedoch nur einen Schlips <strong>und</strong><br />

einen Büstenhalter an, <strong>und</strong> er tut das Gleiche nur mit einer<br />

Unterhose, bevor sie in die Küche gehen. Auch das gehört zu<br />

ihren fest eingespielten Ritualen - mit möglichst wenig Kleidung<br />

gemeinsam frühstücken, wenn sie einmal zusammen sind, <strong>und</strong><br />

in den letzten paar Monaten waren sie das zu ihrem Glück oft.<br />

Als sie dann endlich am Tisch sitzen <strong>und</strong> das besonders üppige<br />

Frühstück einnehmen, das zugleich ihr Mittagessen ist,<br />

schweigen sie zu ihrem eigenen Erstaunen noch lange, aber sie<br />

kennen sich ja in- <strong>und</strong> auswendig, so dass sie sich auch ohne<br />

Worte verstehen können.<br />

Schliesslich unterbricht sie als Erste das Schweigen, indem sie<br />

leise sagt: «Ich kann es immer noch nicht recht glauben, dass es<br />

jetzt so weit ist <strong>und</strong> wir in einen Krieg ziehen müssen.»<br />

4


«Im Gr<strong>und</strong>e haben wir aber schon seit vielen Jahren gewusst,<br />

dass dieser Tag einmal kommen könnte», entgegnet er dann<br />

ebenso leise <strong>und</strong> setzt nach kurzem Zögern nach: «Und jetzt<br />

schlittern wir tatsächlich auch noch hinein.»<br />

«Gleich Taiwan <strong>und</strong> das Baltikum zusammen!», sagt sie dann<br />

etwas lauter <strong>und</strong> ergänzt dann, indem sie ihm in die Augen<br />

schaut: «Wer hat denn nur mit sowas gerechnet?»<br />

«Man hätte es aber trotzdem voraussehen müssen», erwidert er<br />

mit Nachdruck, «so wie die Russen <strong>und</strong> dazu die Chinesen <strong>und</strong><br />

Nordkoreaner sich in letzter Zeit aufgeführt haben, musste<br />

einfach mit sowas gerechnet werden.»<br />

«Und du musst jetzt gegen Landsleute kämpfen.»<br />

«Landsleute? Das meist du sicher nur ironisch. Nur meine Mutter<br />

kam von dort - <strong>und</strong> ausserdem ist sie keine echte Russin,<br />

sondern eine Russland-Deutsche, wie auch du weisst. Ich bin<br />

hier in Deutschland aufgewachsen <strong>und</strong> fühle mich als Deutscher.<br />

Es erstaunt mich, dass du jetzt so re<strong>des</strong>t.»<br />

«Ja, du hast Recht. In diesen St<strong>und</strong>en denken halt viele an die<br />

verrücktesten Dinge.»<br />

«Eben - geniessen wir also noch die letzte kurze Zeit, die wir<br />

zusammen haben!»<br />

So schweigen sie wieder eine Weile, indem sie das kombinierte<br />

Frühstück <strong>und</strong> Mittagessen so langsam wie möglich einnehmen,<br />

um einander noch möglichst lange geniessen zu können. Im<br />

Gegensatz zu vielen anderen Mahlzeiten, die sie hier in der<br />

Küche zusammen genossen haben, verzichten sie diesmal<br />

darauf, im Hintergr<strong>und</strong> Musik zu hören. <strong>Die</strong> Stimmung ist auch<br />

bei ihnen viel zu bedrückt - <strong>und</strong> dazu trägt bei, dass auch hier<br />

Kirchenglocken zu hören sind, über deren Abschaffung wegen<br />

zu viel Lärms schon seit vielen Jahren heftig diskutiert wird, die<br />

sich aber immer noch gehalten haben <strong>und</strong> traurig das endgültige<br />

Ende einer Epoche ankünden. Bis heute hat es nur in gewissen<br />

5


Teilen Europas Krieg gegeben, doch jetzt ist zum ersten Mal seit<br />

dem Ende <strong>des</strong> Zweiten Weltkriegs der ganze Kontinent betroffen.<br />

Auch im Bus, der sie zur Kaserne führt, wohin sie noch<br />

gemeinsam einrücken, bevor sie sich endgültig trennen müssen,<br />

bleiben sie die meiste Zeit still. Sie lehnen sich bloss aneinander<br />

<strong>und</strong> halten zugleich die Hände ineinander verkrallt, als wüssten<br />

sie, dass sie sich vielleicht nie mehr sehen werden. Sie nehmen<br />

die Umwelt draussen mit den auffallend vielen Fahrzeugen,<br />

deren Lenker wohl irgendwohin fliehen wollen, <strong>und</strong> die ebenso<br />

vielen Rad- <strong>und</strong> Motorradfahrer, die mit auffallend viel Gepäck<br />

fahren, fast nicht wahr.<br />

-------------------------------------------------------------------------------<br />

In dieser einen St<strong>und</strong>e, die ihnen noch verbleibt - sie haben auch<br />

<strong>des</strong>halb so viel Zeit, weil überall viel Stau herrscht -, denken<br />

beide für sich noch einmal an die letzten paar Monate <strong>und</strong> Jahre,<br />

die diesem historischen Tag vorausgegangen sind <strong>und</strong> eigentlich<br />

immer angekündigt haben, dass dieser ganz grosse Krieg einmal<br />

ausbrechen könnte. So wie die Politik im Westen schon vor dem<br />

Ukraine-Krieg, der im Februar 2022 ausbrach, zwar vieles<br />

voraussehen konnte, aber die entscheidenden Massnahmen<br />

verschlief, so hat sich das trotz der Erfahrungen, die man mit<br />

Russland <strong>und</strong> China <strong>und</strong> all ihren befre<strong>und</strong>eten Staaten gemacht<br />

hat, tatsächlich wiederholt. <strong>Die</strong> alte westliche Krankheit, trotz<br />

aller düsteren Voraussagen immer noch an irgendeine gute<br />

Wende zu glauben <strong>und</strong> dabei das ganz anders geartete Denken<br />

von denen im Norden, Osten <strong>und</strong> Süden zu unterschätzen, hat<br />

sich schon wieder als negativ erwiesen.<br />

Das begann schon nach dem insgesamt wenig befriedigenden<br />

Waffenstillstand nach dem Ende <strong>des</strong> Ukraine-Kriegs, als die von<br />

den russischen Truppen eroberten Gebiete der Ost-Ukraine<br />

mitsamt der Halbinsel Krim, die schon im Jahr 2014 annektiert<br />

worden war, als Kompromiss formal bei Russland bleiben<br />

durften, bis einmal ein Friedensvertrag ausgehandelt sein würde.<br />

6


Das wurde vor allem in Deutschland als billiger Kompromiss<br />

gesehen, weil die nach dem Zweiten Weltkrieg verlorenen<br />

Ostgebiete östlich der Oder-Neisse-Grenze formal zuerst unter<br />

polnische <strong>und</strong> sowjetische Verwaltung gestellt worden waren, bis<br />

ein Vierteljahrh<strong>und</strong>ert später diese Gebiete von der<br />

Bun<strong>des</strong>regierung definitiv als neue Grenzen anerkannt wurden<br />

<strong>und</strong> auch anerkannt werden mussten, damit überhaupt richtige<br />

Verhandlungen beginnen konnten. In Bezug auf Polen erweist<br />

sich das als weniger tragisch, weil diese beiden Länder schon<br />

seit vielen Jahren Mitglieder der NATO <strong>und</strong> der Europäischen<br />

Union sind <strong>und</strong> die Grenzen dazwischen faktisch aufgehoben<br />

sind. Das grösste Problem ist der nördliche Teil <strong>des</strong> ehemaligen<br />

Lan<strong>des</strong>teils Ostpreussen, der 1945 unter dem neuen Namen<br />

Kaliningrad der Sowjetunion zugeschlagen wurde <strong>und</strong> auch nach<br />

dem offiziellen Ende dieses Riesenreichs bei Russland blieb <strong>und</strong><br />

wo heute genauso wie in Weissrussland Atomraketen stehen.<br />

Jetzt zeigt es sich so richtig, welcher verhängnisvolle Fehler im<br />

Jahr 1945 gemacht wurde, als dieser Lan<strong>des</strong>teil mit der<br />

ehemaligen Hochkulturstadt Königsberg dem stalinistischen<br />

Machtbereich zugeschlagen wurde, doch andererseits konnte<br />

niemand voraussehen, dass dieses Imperium 46 Jahre später<br />

auseinanderbrechen würde <strong>und</strong> die wieder unabhängigen <strong>und</strong><br />

freien Staaten Polen <strong>und</strong> Litauen Kaliningrad zu einer russischen<br />

Exklave machen würden, von der aus heute viel Gefahr ausgeht.<br />

Als dieser Waffenstillstand nach zwei Jahren Krieg ausgehandelt<br />

wurde, musste die Regierung in Kiew auch <strong>des</strong>halb zustimmen,<br />

weil die Ukraine zu diesem Zeitpunkt wegen der immer mehr<br />

ausbleibenden Waffenhilfe vom Westen zu schwach geworden<br />

war <strong>und</strong> vor allem auch zu viele eigene Soldaten verloren hatte,<br />

um sich dagegen noch wehren zu können. Es wurde nicht nur in<br />

Russland <strong>und</strong> in seinen verbündeten Staaten, sondern zum Teil<br />

auch im Westen ungeniert verbreitet, dass die Ukraine ja<br />

darüber froh sein durfte, dass der westliche Teil von Dnipro an<br />

west- <strong>und</strong> nordwärts <strong>und</strong> vor allem die wichtige Hafenstadt<br />

O<strong>des</strong>sa noch bei ihr bleiben konnten. Als keiner Trost blieb, dass<br />

7


das fast völlig zerstörte Land, das sich nicht mit eigenen Mitteln<br />

neu aufbauen konnte, sich zusammen mit Moldawien, das<br />

entgegen aller Befürchtungen nie direkt angegriffen worden war,<br />

der Europäischen Union anschliessen durfte, allerdings an die<br />

Bedingung geknüpft, dass Russland nicht dazu gezwungen<br />

wurde, sich am Wiederaufbau mitzubeteiligen, obwohl der Krieg<br />

eindeutig von seinem allmächtig regierenden Präsidenten<br />

ausgelöst worden war.<br />

Da auch Westeuropa <strong>und</strong> die USA kriegsmüde geworden waren,<br />

stimmten alle Staaten mit Ausnahme der Ukraine diesem<br />

Waffenstillstandsabkommen zu. Prompt wurde das nicht nur in<br />

Moskau, sondern auch bei seinen Verbündeten triumphal in<br />

einen Sieg umgedeutet - es hatte sich halt doch gelohnt, die von<br />

Moskau einst selbst anerkannte Staatsgrenze mit Waffengewalt<br />

zu verschieben. Da verstand es sich von selbst, dass von den<br />

mehreren 100'000 eigenen Soldaten, die in diesem Krieg<br />

gefallen oder schwer verw<strong>und</strong>et worden waren, nicht mehr die<br />

Rede war, <strong>und</strong> da die meisten Angehörigen sogar nach dem<br />

Kriegsende keine Bestätigung dafür bekamen, dass die ihren<br />

nicht mehr lebten, wurden ihnen weiter keine Entschädigungen<br />

ausgezahlt, <strong>und</strong> an Proteste war nicht zu denken - jeder noch so<br />

kleine Ansatz wurde nach sowjetischem Muster mit aller<br />

Brutalität niedergeschlagen. Am widerlichsten waren sicher die<br />

sogenannten Siegesparaden nicht nur in Moskau, sondern auch<br />

in St. Petersburg <strong>und</strong> in vielen anderen russischen Städten …<br />

<strong>und</strong> mit den anderen Diktatoren der Viererachse Russland -<br />

China - Nordkorea - Iran mitsamt den Präsidenten vieler<br />

asiatischer, afrikanischer <strong>und</strong> lateinamerikanischer Staaten als<br />

Ehrengästen.<br />

<strong>Die</strong> Russen konnten sich von diesem Krieg insgesamt auch<br />

<strong>des</strong>halb schnell wieder erholen, weil der Aderlass gemessen an<br />

der Bevölkerungszahl nicht so krass war wie in der Ukraine, wo<br />

neben mehr als 200'000 eigenen Soldaten <strong>und</strong> mehreren 10'000<br />

Soldatinnen, die sich freiwillig zum Kampf gemeldet hatten,<br />

8


gefallen oder schwer verw<strong>und</strong>et worden waren, sondern auch<br />

mehrere 10'000 Zivilpersonen ums Leben gekommen waren,<br />

<strong>und</strong> zudem war in den grenznahen Städten, die in Russland<br />

selber liegen, nur wenig zerstört worden. Deshalb wurde es auch<br />

im Westen mit viel Bitterkeit aufgenommen, dass in Russland<br />

voller Hohn kommentiert wurde, man habe den Krieg gewonnen,<br />

<strong>und</strong> dass auch Tausende von Exil-Russen, die in vielen<br />

westlichen Ländern lebten, wieder aus ihren Löchern krochen<br />

<strong>und</strong> auffallend viele ihren Führer hochleben liessen. Dazu kam<br />

noch, was immer wieder befürchtet worden war: Unter den im<br />

Baltikum lebenden Russen, die von den sechs Millionen<br />

Einwohnern immerhin noch eine Million stellen, wurde zum Teil<br />

ebenfalls laut gejubelt, wie schon nach der Annexion der<br />

Halbinsel Krim gejubelt worden war. Bisher hatte es so<br />

geschienen, als wollten sie sich in die Staaten, in denen sie<br />

lebten, gut einbinden, doch jetzt witterten sie die viel zitierte<br />

Morgenluft, <strong>und</strong> nicht wenige liessen die Einheimischen<br />

höhnisch wissen, dass bald wieder ihre Zeit kommen würde. Das<br />

hiess für die Esten, Letten <strong>und</strong> Litauer, dass sie dann wieder nur<br />

Bürger zweiter Klasse sein <strong>und</strong> wieder die Russen die<br />

Herrenmenschen sein würden, wie es schon in der zaristischen<br />

<strong>und</strong> später in der sowjetischen Epoche so gewesen war.<br />

Am schlimmsten wird es jedoch gesehen, dass der allmächtig<br />

regierende Präsident Staputow mit den gleichen Stiefelknechten,<br />

die sich auch während <strong>des</strong> Kriegs immer wieder mit aggressiven<br />

Worten gegen den Westen in Szene gesetzt haben, immer noch<br />

an der Macht ist, <strong>und</strong> dass die Staatspartei «Einiges Russland»,<br />

die im Westen von vielen als russische NSDAP bezeichnet wird,<br />

weiter fest im Sattel sitzt. Es werden sogar Gerüchte verbreitet,<br />

dass es wieder Pläne gibt, einen neuen Gulag einzurichten, in<br />

dem nicht nur verurteilte Mörder, sondern auch politische<br />

Häftlinge wie in den Sowjetzeiten untergebracht werden sollen.<br />

Dabei kann keine Macht der Welt Staputow daran hindern, weil<br />

sein Land immer noch über so viel Erdöl, Erdgas <strong>und</strong> andere<br />

Bodenschätze verfügt, dass die Regierungen vieler Länder damit<br />

9


uchstäblich gekauft werden können.<br />

Sobald das Kriegsende verkündet worden war, wurden trotz der<br />

demonstrativen Siegesparaden in Russland auch die Sanktionen<br />

gegen die H<strong>und</strong>erten von russischen Oligarchen, deren Gelder<br />

zum Teil eingefroren worden waren, wieder aufgehoben, <strong>und</strong> es<br />

dürfen heute so wie früher mit Russland wieder Geschäfte<br />

aufgenommen werden, als hätte dieser Krieg nie stattgef<strong>und</strong>en.<br />

Da spielt es auch keine Rolle mehr, dass in den annektierten<br />

ostukrainischen Gebieten immer noch russische Truppen<br />

stehen, die zu einem späteren Zeitpunkt jederzeit einen neuen<br />

Krieg vom Zaun reissen können, wie das vor allem in Kiew immer<br />

wieder verkündet wird.<br />

Neben H<strong>und</strong>erten von westlichen Unternehmen, die wieder so<br />

wie früher in Russland investieren, hat auch die Volksrepublik<br />

China, der einflussreichste Verbündete, dazu beigetragen, dass<br />

das Land erstaunlich schnell wieder auf die Beine kam <strong>und</strong> sich<br />

vom Krieg bald erholte. <strong>Die</strong> beiden anderen wichtigen<br />

Verbündeten sind Nordkorea, wo unverhohlen verkündet wird,<br />

dass man beim nächsten Krieg auch eigene Soldaten nach<br />

Europa schicken werde, <strong>und</strong> der Iran, der dank seiner ebenfalls<br />

umfangreichen Erdöl- <strong>und</strong> Erdgasvorkommen schon während<br />

<strong>des</strong> Kriegs eine wichtige Stütze gewesen ist. <strong>Die</strong> einst von einem<br />

US-Präsidenten gesagten Worte, dass eine Achse <strong>des</strong> Bösen<br />

die Welt immer mehr bedrohe, werden jetzt viel ernster<br />

genommen als vor einem Vierteljahrh<strong>und</strong>ert, als viele von links<br />

bis rechts über diese Worte lachten <strong>und</strong> allein in den USA <strong>und</strong> in<br />

der NATO die Bösen sahen.<br />

Was seit dem Ende <strong>des</strong> Ukraine-Kriegs noch viel mehr<br />

enttäuscht als diese neue Viererachse, deren Präsidenten Iwan<br />

Iwanowitsch Staputow, Mao Li-Tsching, Kim Jong Sung - der<br />

allgemein Kim der Dritte genannt wird - <strong>und</strong> Mohamad Chamani<br />

immer wieder ungeniert ihre Fre<strong>und</strong>schaft hochhalten, ist der<br />

immer mehr einsetzende Abfall der Staaten in Asien, Afrika <strong>und</strong><br />

sogar Mittel- <strong>und</strong> Lateinamerika von Europa; so überrascht es<br />

10


nicht, dass überall höhnisch verkündet wird, jetzt werde eine<br />

neue Weltordnung ohne US-amerikanische Herrschaft <strong>und</strong> ohne<br />

die Europäische Union aufgebaut. Während den drei<br />

lateinamerikanischen Staaten Kuba, Nicaragua <strong>und</strong> Venezuela,<br />

die schon seit Jahrzehnten russlandfre<strong>und</strong>lich sind, sich auch<br />

alle anderen Staaten dieses Kontinents mit Ausnahme <strong>des</strong> USamerikanischen<br />

Aussenpostens Puerto Rico, das nach zwei<br />

negativen Volksabstimmungen jetzt noch so gern der 51. US-<br />

Bun<strong>des</strong>staat wäre, sowie mit Ausnahme der stets USAfre<strong>und</strong>lichen<br />

Dominikanischen Republik <strong>und</strong> mit Ausnahme<br />

Chiles, wo die US-amerikafre<strong>und</strong>lichen Pinochet-Jahre immer<br />

noch etwas nachwirken, diesem neuen Kampfbündnis<br />

anschlossen, taten das in Afrika allesamt <strong>und</strong> in Asien alle<br />

islamischen Staaten. Das war <strong>des</strong>halb nicht zu unterschätzen,<br />

weil Panama seinen Kanal für US-Schiffe schliessen, Eritrea mit<br />

seinem ebenfalls diktatorisch regierenden Präsidenten Mengistu<br />

Unhaile zusammen mit dem direkt gegenüber liegenden Saudi-<br />

Arabien das Rote Meer blockieren <strong>und</strong> vor allem Südafrika die<br />

wichtigen Seefahrtswege zwischen dem Atlantischen <strong>und</strong><br />

Indischen Ozean behindern konnten. Jetzt zeigte es sich<br />

deutlicher als jemals zuvor, dass all jene, die schon vor<br />

Jahrzehnten davor gewarnt hatten, eine Alleinherrschaft <strong>des</strong><br />

ANC (African National Council) würde sich für den Westen früher<br />

oder später verhängnisvoll auswirken, halt doch Recht<br />

bekommen hatten. Solange die sogenannte Apartheid offiziell<br />

noch bestand, hatten Südafrika <strong>und</strong> die Sowjetunion, die<br />

eigentlich verfeindet waren, insgeheim den weltweiten Gold- <strong>und</strong><br />

Diamantenhandel aufgeteilt, weil die meisten Minen nun einmal<br />

auf ihren Territorien lagen. Seitdem der ANC, in dem immer auch<br />

viele Kommunisten <strong>und</strong> Sowjetfre<strong>und</strong>e dabei waren, mit<br />

wechselnden Präsidenten die Alleinherrschaft übernommen hat,<br />

<strong>und</strong> erst recht seitdem Staputow in Russland herrscht, spannen<br />

die beiden Länder immer mehr zusammen, was sich nicht nur im<br />

Wirtschaftsb<strong>und</strong> BRICS zeigt, der heute mehr als zwanzig<br />

Länder umfasst, sondern auch im Gold- <strong>und</strong> Diamantenhandel,<br />

11


mit dem sie einen grossen Teil der Weltwirtschaft kontrollieren<br />

können.<br />

Allein die südostasiatischen <strong>und</strong> buddhistisch geprägten Länder<br />

auf dem asiatischen Festland, die immer noch der ASEAN<br />

angehören, haben die Beziehungen zum Westen noch nicht<br />

völlig gekappt, aber sie müssen sich auf chinesischen Druck hin<br />

für neutral erklären. <strong>Die</strong> grösste Enttäuschung ist jedoch das,<br />

was zuvor schon befürchtet worden ist: Bharat, wie das<br />

ehemalige Indien in der Weltpolitik heute genannt werden muss<br />

<strong>und</strong> das ebenfalls zu den BRICS-Ländern zählt, hätte als<br />

Gegengewicht zu China noch eine Rolle spielen können, aber<br />

auch dieser Riesenstaat, der im Verlauf der letzten paar<br />

Jahrzehnte ebenfalls zu einer militärischen Mittelmacht<br />

aufgebaut worden ist, hat sich zwar nicht direkt der Viererachse<br />

angeschlossen, aber sich ebenfalls für neutral erklärt. Dazu<br />

kommen noch die paar wenigen mittelasiatischen Staaten, die<br />

ehemaligen Sowjetrepubliken, die es sich eingeklemmt zwischen<br />

Russland <strong>und</strong> China gar nicht leisten können, sich deutlich gegen<br />

die immer ungenierter zur Schau gestellte Expansion nicht<br />

zuletzt auch wegen der neu eingerichteten Seidenstrasse<br />

auszusprechen.<br />

Das Schlimmste aus westlicher Sicht ist jedoch das Verhalten<br />

der Türkei, deren Soldaten im Koreakrieg noch zu den<br />

Tapfersten gezählt haben, was in Militärkreisen noch heute nicht<br />

vergessen ist. Gerade dieses Land, das es unter dem ebenfalls<br />

allmächtig regierenden Präsidenten Mustafa Schergowan in der<br />

Hand hätte, den Seeweg vom Schwarzen Meer zum Mittelmeer,<br />

wo die Russen in Syrien dank dem Präsidenten Hassan Al-<br />

Aschati einen Militärhafen unterhalten, in einem Krieg zu<br />

sperren, erklärte sich schon kurz nach der Wiederaufnahme der<br />

Geschäfte mit Russland für den Fall eines neuen Kriegs für<br />

neutral. <strong>Die</strong>sen Worten schloss sich auch das eng verbündete<br />

Aserbaidschan unter der Herrschaft <strong>des</strong> Präsidenten Ali Talijew<br />

an; schliesslich ist in der Hauptstadt Baku nie vergessen worden,<br />

12


dass die Armenier dank türkischer Waffenhilfe, die durch ihre<br />

Erdöl- <strong>und</strong> Erdgasverkäufe ermöglicht worden waren, aus ihrem<br />

Land vertrieben werden konnten. Da auch Russland, die<br />

angebliche jahrzehntelange Schutzmacht Armeniens, immer<br />

mehr auf Distanz gegangen ist, wird schon jetzt ein weiteres<br />

Massaker an den Armeniern wie vor h<strong>und</strong>ert Jahren befürchtet,<br />

als dieses Land schon einmal auf dem Altar der Weltpolitik<br />

geopfert wurde.<br />

So bleiben als einzige wirklich zuverlässige Verbündete <strong>des</strong><br />

Westens in den anderen Kontinenten nur noch Japan, Südkorea,<br />

die Philippinen, Australien, Neuseeland <strong>und</strong> alle ozeanischen<br />

Inseln, die ebenfalls eine chinesische Invasion befürchten.<br />

Allerdings liegen diese Länder von Europa viel zu weit weg, um<br />

wirklich helfen zu können, <strong>und</strong> zudem müssen sie in erster Linie<br />

dafür schauen, dass sie nicht selbst Opfer eines möglichen<br />

Angriffs von China aus werden. Es ist immer noch nicht<br />

vergessen, dass die Truppen <strong>des</strong> Japanischen Kaiserreichs vor<br />

bald neunzig Jahren einen ähnlichen Versuch unternommen <strong>und</strong><br />

dabei weite Teile Ostasiens erobert <strong>und</strong> dabei grausam gewütet<br />

haben.<br />

Bis vor wenigen Tagen hat auch die Insel Taiwan vor dem<br />

chinesischen Festland eigentlich zum westlichen Bündnis<br />

gehört, aber es war viele Jahre lang allen klar, dass nach der<br />

Ukraine der nächste grosse Krieg sich dort abspielen würde. Mao<br />

Li-Tsching selbst sorgte immer wieder dafür, dass diese Angst<br />

geschürt wurde, weil er wusste, dass er auch für diese Worte von<br />

seinen Fre<strong>und</strong>en in Moskau, Pjöngjang <strong>und</strong> Teheran viel<br />

warmen Beifall bekommen würde. Da wurde auch immer wieder<br />

unterschlagen, dass diese Insel eigentlich nie richtig zu China<br />

gehört hat, auch nicht in den Jahrh<strong>und</strong>erten der verschiedenen<br />

Kaiser-Dynastien. Es wurde in diesem Zusammenhang immer<br />

wieder darin erinnert, dass die gleiche Lüge erzählt wurde wie<br />

die, dass die Halbinsel Krim zu Russland gehört, obwohl diese<br />

erst vor etwa 250 Jahren, als dort noch fast keine Russen lebten,<br />

13


von russischen Truppen erobert wurde. Gerade weil Li-Tsching,<br />

der ebenso fest im Sattel sitzt wie Staputow <strong>und</strong> die anderen<br />

verbündeten Machthaber, damit rechnete, dass die USamerikanischen<br />

Streitkräfte den Taiwanesen für den Fall einer<br />

versuchten Invasion zu Hilfe eilen würden - allerdings war das<br />

auch wieder nicht so sicher -, musste er sich etwas einfallen<br />

lassen. So pendelten chinesische <strong>und</strong> russische Diplomaten<br />

monatelang auffallend oft zwischen Moskau <strong>und</strong> Peking hin <strong>und</strong><br />

her, aber auch Kim Jong Sung, Mohamad Chamani, Ali Talijew,<br />

Mustafa Schergowan, Hassan Al-Aschati <strong>und</strong> der bharatische<br />

Präsident Dschawaharlal Modistan liessen sich bei ihnen immer<br />

wieder blicken. Es war offensichtlich, dass etwas Bestimmtes<br />

ausgehandelt wurde, aber auch die besten westlichen<br />

Geheimdienste konnten nicht herausfinden, was wirklich im<br />

Gange war. So sehr man sich auch bemühte, das Netz war<br />

innerhalb der Viererachse viel zu stark, als dass irgendetwas<br />

entdeckt werden konnte, <strong>und</strong> es hatte sich inzwischen in der<br />

ganzen Welt herumgesprochen, dass jeder noch so kleine<br />

Versuch, gegen die Machthaber etwas zu unternehmen, mit<br />

jahrelangen Kerkerstrafen, öffentlichen Hinrichtungen oder<br />

Giftmorden an Oppositionellen auch in westlichen Ländern<br />

beantwortet wurde. Man wusste zwar, dass von dieser<br />

Viererachse, die von vielen im Westen auch als eine solche <strong>des</strong><br />

Teufels bezeichnet wurde <strong>und</strong> jetzt, beim Ausbruch <strong>des</strong> seit<br />

langem befürchteten neuen Kriegs, erst recht so genannt wird,<br />

etwas Bestimmtes geplant wurde, aber man konnte nichts<br />

dagegen ausrichten.<br />

Während dieser Pendeldiplomatie zwischen den Diktatoren der<br />

Viererachse verbreitete sich auch das Gerücht, dass zwischen<br />

Staputow <strong>und</strong> Li-Tsching noch ein besonderes Paket geschnürt<br />

wurde, was das Gebiet der heutigen Republik Mongolei betrifft,<br />

die in Fachkreisen ausserhalb der Politik schon seit vielen<br />

Jahrzehnten als äussere Mongolei bezeichnet wird, während der<br />

kleinere Teil, die sogenannte innere Mongolei, schon seit<br />

Jahrh<strong>und</strong>erten ein Teil von China ist. Da die ganze Mongolei<br />

14


einst zum Chinesischen Kaiserreich gehört hatte, aber seit<br />

h<strong>und</strong>ert Jahren - genauer seit der bolschewistischen Revolution,<br />

die auch das Gebiet der heutigen Republik erfasst hatte - unter<br />

dem Schutz Russlands stand, forderten nationalistische Kreise<br />

in China immer ungenierter, dass dieser ehemalige Lan<strong>des</strong>teil<br />

wieder heimgeholt werden sollte, wie das auch in Bezug auf<br />

Taiwan gefordert wurde. Deshalb wurden alte Landkarten, auf<br />

denen das frühere China mitsamt der ganzen Mongolei<br />

abgebildet wurden, immer demonstrativer gezeigt. Das<br />

mongolische Riesenland hat mit seinen Bergen, einem kaum<br />

bebaubaren Boden <strong>und</strong> im Süden mit der Wüste Gobi nur auf<br />

den ersten Blick nichts Besonderes zu bieten, aber es gehört<br />

trotzdem zu den zehn rohstoffreichsten Ländern der Welt.<br />

Wie wenig Loyalität zu Russland nützen kann, hat sich vor<br />

kurzem bei Armenien gezeigt; so lag es nahe, daran zu denken,<br />

dass vielleicht auch die spärlich bevölkerte Mongolei zum Dank<br />

dafür, dass China den Russen sozusagen die Erlaubnis zum<br />

Angriff auf das Baltikum erteilte, erobert werden durfte. <strong>Die</strong> auch<br />

in Russland geäusserten Bedenken, dass es in Zukunft noch<br />

leichter sein würde, bei einer möglichen neuen Feindschaft die<br />

sibirischen Erdölfelder anzugreifen, wurde damit zerstreut, dass<br />

die Chinesen ja schon jetzt eine lange Grenze mit ihnen haben<br />

<strong>und</strong> die Mongolei in dieser Beziehung nicht viel ändern würde.<br />

Zudem war es offensichtlich, dass die Fre<strong>und</strong>schaft zwischen<br />

Staputow <strong>und</strong> Li-Tsching so dick war, dass die Einnahmen<br />

brüderlich geteilt wurden; damit gab es für die Chinesen keinen<br />

wirklichen Gr<strong>und</strong>, um neben dem Gebiet der Republik Mongolei<br />

auch noch einen Teil von Sibirien einzuverleiben.<br />

<strong>Die</strong> Wucht, mit der dieser neue Krieg ausgelöst wurde, ist umso<br />

überraschender, als ein aussergewöhnlicher Zweifrontenkrieg<br />

von Zaun gerissen worden ist. Da Li-Tsching damit rechnen<br />

musste, dass die Amerikaner für den Fall eines Angriffs auf<br />

Taiwan direkt eingreifen würden, kam er zusammen mit<br />

Staputow auf die Idee, dass die Russen am gleichen Tag <strong>und</strong><br />

15


sogar in der gleichen St<strong>und</strong>e die drei baltischen Staaten Estland,<br />

Lettland <strong>und</strong> Litauen angreifen sollten, weil dann die Amerikaner<br />

gezwungen sein würden, auch dort einzugreifen, <strong>und</strong> damit<br />

empfindlich geschwächt würden. Obwohl das Baltikum schon<br />

seit zwanzig Jahren der NATO angehörte <strong>und</strong> mehrere Tausend<br />

Soldaten aus anderen Ländern dort stationiert waren - so auch<br />

mehrere H<strong>und</strong>ert Deutsche in Litauen, mehrere H<strong>und</strong>ert US-<br />

Amerikaner in Lettland <strong>und</strong> mehrere H<strong>und</strong>ert Briten in Estland -,<br />

war es allen Militärstrategen sowohl im Westen als auch im<br />

Osten klar, dass hier für den Fall eines Angriffs immer noch die<br />

empfindlichste Stelle war. Das wurde auch <strong>des</strong>halb so gesehen,<br />

weil nicht nur Staputow, sondern auch seine Stiefelknechte<br />

Mawrow, Schewedjew, Teskow <strong>und</strong> Larionow, die sich in den<br />

Medien am meisten zeigten, immer wieder unverhohlen damit<br />

prahlten, dass die russischen Truppen das ganze Baltikum<br />

innerhalb von nur zwei Tagen erobern könnten <strong>und</strong> wenn nötig<br />

sogar Atomraketen einsetzen würden. Da sie gut genug<br />

wussten, dass die NATO in diesen drei kleinen Staaten nicht so<br />

wie in grösseren Ländern wie etwa Polen im gewünschten<br />

Ausmass reagieren konnte, ohne die baltische Bevölkerung<br />

selber zu gefährden, hieben die russischen Machthaber immer<br />

wieder genussvoll in diese Kerbe.<br />

Spätestens seit der nicht nur faktischen, sondern auch offiziellen<br />

Annexion von Weissrussland, wo schon seit Jahren sowohl<br />

russische Truppen als auch Atomraketen stationiert sind, <strong>und</strong> der<br />

endgültigen Absetzung von Staputows Strohmann Lukowalenko<br />

in Minsk musste es allen klar sein, dass etwas Gefährliches im<br />

Gange war. Es blieb der NATO nur noch die Möglichkeit, noch<br />

mehr Truppen sowohl ins Baltikum als auch ins benachbarte<br />

Polen zu schicken, aber bis die vorgesehenen Kontingente<br />

dorthin verschoben wurden, konnten noch mehrere Wochen<br />

verstreichen. So war es logisch, dass in diesen Staaten nach<br />

mehr NATO-Truppen geradezu geschrieen wurde, aber am<br />

bemerkenswertesten war sicher, dass in Polen vor allem um<br />

deutsche Hilfe gebeten wurde, weil dieses Land die grösste<br />

16


Landarmee in Mitteleuropa stellt, aber das direkte Nachbarland<br />

von Deutschland ist. Angesichts der immer noch nicht<br />

vergessenen Ereignisse im Zweiten Weltkrieg war es<br />

jahrzehntelang tabu gewesen, auch nur daran zu denken, dass<br />

deutsche Truppen in Polen kämpfen sollten, aber diesmal war<br />

die Lage ganz anders - heute sind diese beiden Staaten schon<br />

seit vielen Jahren sowohl in der NATO als auch in der<br />

Europäischen Union Verbündete.<br />

Solange Polen, wo inzwischen die vorübergehend ausgesetzte<br />

Wehrpflicht wieder eingeführt wurde, noch nicht direkt<br />

angegriffen wurde, hielt es die Bun<strong>des</strong>regierung jedoch für<br />

besser, noch keine Truppen ins Nachbarland zu schicken, um<br />

Russland nicht unnötig zu provozieren, wie es hiess. <strong>Die</strong> nach<br />

der Annexion der Krim jahrelange zögerliche Haltung, weil immer<br />

noch naiverweise geglaubt wurde, man könne durch Handel<br />

einen Wandel herbeiführen, <strong>und</strong> das Versagen in den ersten<br />

Wochen <strong>des</strong> Ukraine-Kriegs, als eine offensichtlich unfähige<br />

Verteidigungsministerin, die später nach ihrer Ablösung schnell<br />

in der Versenkung verschwand, nichts anderes zu sagen wusste,<br />

dass man immerhin fünftausend Helme liefern könne, wirkte<br />

immer noch etwas nach. Wenigstens bereitete man sich auch in<br />

Deutschland auf einen möglichen Krieg vor, aber die<br />

Zehntausenden von Reservisten, die noch im Land wohnten <strong>und</strong><br />

zum Teil schon seit vielen Jahren nicht mehr dabei waren,<br />

erhielten keinen direkten Befehl zum Einrücken, sondern wurden<br />

bloss allzu höflich angefragt, ob sie sich nicht für den Fall der<br />

Fälle bereithalten könnten. Zudem wurde wieder ernsthaft<br />

darüber diskutiert, ob man nicht so wie in Polen <strong>und</strong> anderen<br />

Ländern die im Jahr 2011 abgeschaffte Wehrpflicht wieder<br />

einführen solle. Der Haken lag jedoch darin, dass die neu<br />

Eingezogenen im Gegensatz zu den ausgedienten Reservisten<br />

an den Waffen zuerst noch ausgebildet werden mussten, <strong>und</strong><br />

diese Zeit hatte man jetzt wahrscheinlich nicht mehr.<br />

17


Spätestens nach der nicht nur faktischen, sondern auch<br />

offiziellen Annexion von Weissrussland, von wo auch schon der<br />

Krieg gegen die Ukraine teilweise vom Zaun gerissen worden<br />

war, wurde es allen klar, dass Staputow einen weiteren massiven<br />

Angriff plante. Das wurde auch dadurch unterstrichen, dass die<br />

dort bereits stationierten Truppen durch weitere Kontingente aus<br />

Russland verstärkt wurden, <strong>und</strong> dazu wurde auch die bisher<br />

noch existierende weissrussische Armee aufgelöst <strong>und</strong> in diese<br />

neue Armee integriert. Nicht zuletzt versammelten sich noch<br />

mehr als 200'000 Soldaten vor den Grenzen zu den baltischen<br />

Staaten - mit der Zuversicht verb<strong>und</strong>en, dass mehrere 100'000<br />

Chinesen <strong>und</strong> Nordkoreaner bald eintreffen würden, sobald der<br />

Krieg ausgebrochen sein würde. Nur vor der Grenze zu Finnland,<br />

das mit Russland mit mehr als eintausend Kilometern die längste<br />

NATO-Grenze teilt, waren keine massiven<br />

Truppenverschiebungen zu beobachten, weil es noch nicht<br />

vergessen war, dass seinerzeit Stalin, Staputows Vorgänger im<br />

Geist, vor achtzig Jahren allein dort oben im unrentablen<br />

Karelien, wo es keine Bodenschätze gibt <strong>und</strong> wegen der Kälte<br />

auch fast keine Landwirtschaft betrieben werden kann, etwa eine<br />

Million Mann umsonst geopfert hatte.<br />

Selbst die Drohungen vor allem aus Polen, wo bereits vor langer<br />

Zeit US-amerikanische Raketen stationiert worden waren - aber<br />

keine Atomraketen, wie das nicht nur im Osten, sondern auch im<br />

Westen immer wieder behauptet wurde -, konnten dem Diktator<br />

in Moskau nur ein mü<strong>des</strong> Lächeln entlocken, weil er wusste, dass<br />

die in Kaliningrad stationierten Atomraketen, mit denen zum<br />

Beispiel Warschau <strong>und</strong> Berlin in kürzester Zeit erreicht werden<br />

konnten, das beste Faustpfand waren. Auf ähnliche Weise ist<br />

auch die südkoreanische Hauptstadt Seoul, die nicht einmal<br />

fünfzig Kilometer von der innerkoreanischen Grenze liegt, für Kim<br />

Jong Sung ein Faustpfand, das schnell erreicht werden kann,<br />

ohne dass genügend Alarmzeit zur Abwehr zur Verfügung steht.<br />

Als diese Stadt zur gesamtkoreanischen Hauptstadt erklärt<br />

wurde, konnte jedoch ausser dem lieben Gott niemand<br />

18


voraussehen, was für ein menschenfeindliches Regime die<br />

ganze Halbinsel jahrzehntelang in Geiselhaft nehmen würde.<br />

So blieb dem Westen nichts anderes übrig, als noch so viele<br />

Truppen wie möglich ins Baltikum, <strong>des</strong>sen drei Staaten<br />

zusammen mit allen Reservisten höchstens etwa 100'000<br />

Soldaten aufbieten konnten, <strong>und</strong> nach Polen zu verlegen, doch<br />

diese wenigen zusätzlichen Soldaten konnten am Gesamtbild<br />

nichts ändern. Dazu kam noch, dass in der UNO, die für viele<br />

sowieso nur noch eine wirkungslose Schwatzbude geworden<br />

war, im sogenannten Sicherheitsrat sämtliche Versuche, das<br />

Steuer noch herumzudrehen, von den Vertretern aus Russland<br />

<strong>und</strong> China mit ihren Vetos blockiert wurden - <strong>und</strong> unter dem<br />

Beifall der meisten lateinamerikanischen, afrikanischen <strong>und</strong><br />

asiatischen Staaten.<br />

Es blieb also nur noch, abzuwarten <strong>und</strong> auf das Beste zu hoffen,<br />

aber auch das viele Lamentieren <strong>und</strong> Beten nützte am Ende<br />

nichts, weil sowohl die Russen mit den zusätzlichen paar<br />

Zehntausend Weissrussen, die in ihre Armee integriert wurden,<br />

als auch die Chinesen ungeniert immer stärker aufrüsteten <strong>und</strong><br />

mehr als drei Millionen an der Küste gegenüber Taiwan<br />

aufmarschieren liessen, <strong>und</strong> zudem trafen sie Vorbereitungen,<br />

mehrere 100'000 Soldaten zur Unterstützung Russlands nach<br />

Europa zu schicken, <strong>und</strong> das Gleiche konnte in Nordkorea<br />

beobachtet werden. Es konnte förmlich gerochen werden, dass<br />

dieser neue Krieg nicht mehr zu vermeiden war, <strong>und</strong> trotzdem<br />

rechneten auch in NATO-Kreisen nicht viele damit, dass diese<br />

beiden Atommächte gleichzeitig angreifen würden, um die US-<br />

Armee zu schwächen.<br />

So liess Kim Jong Sung in Nordkorea denn auch bald die ganze<br />

Welt wissen, dass mehr als 300'000 eigene Soldaten Russland<br />

direkt vor Ort unterstützen würden, aber auch aus Teheran<br />

kamen Töne, dass die iranischen Truppen auf alle Fälle<br />

abmarschbereit seien. Da die israelische Regierung jedoch<br />

damit drohte, dass der Iran für den Fall eines direkten Eingreifens<br />

19


<strong>und</strong> erst recht bei einem Angriff auf ihr Land selber das erste Ziel<br />

sein würde - schliesslich geben die Israelis schon seit vielen<br />

Jahren unumw<strong>und</strong>en zu, dass die Aussage, sie hätten<br />

Atomwaffen, nicht nur ein Gerücht ist -, zögerte Chamani noch<br />

<strong>und</strong> liess die eigenen Truppen zur Sicherheit im Land. Das muss<br />

Staputow aber nicht bekümmern, seitdem der türkische Diktator<br />

Schergowan erklärt hat, sein Land würde sich aus möglichen<br />

Kämpfen heraushalten, <strong>und</strong> der aserbaidschanische Diktator<br />

sich sogar deutlich auf seine Seite gestellt hat. Alle anderen<br />

Länder rings herum haben viel zu schwache Armeen, um<br />

allenfalls auf der Seite <strong>des</strong> Westens einzugreifen, <strong>und</strong> zudem<br />

wurden sie von den Diktatoren scharf genug gewarnt. Immerhin<br />

erklärten sich auch wegen der stets unsicheren Lage in Bezug<br />

auf Israel für einmal alle arabischen Staaten für neutral <strong>und</strong><br />

sorgten damit für eine als positiv betrachtete Pufferzone. Damit<br />

war am meisten Ägypten gemeint, das nicht nur wegen seiner<br />

Schlüssellage zwischen Afrika <strong>und</strong> Asien das wichtigste Land in<br />

diesem Raum ist, sondern weit herum auch die schlagkräftigste<br />

Armee hat - allerdings brodelt es dort gewaltig, wie immer mehr<br />

zu hören ist.<br />

So wie am 1. September 1939 behauptet worden war, man<br />

müsse jetzt zurückschiessen, <strong>und</strong> so wie seit dem 24. Februar<br />

2022 auch von Moskau aus ungeniert verkündet worden war, es<br />

handle sich um einen Verteidigungskrieg, mit dem ein<br />

Völkermord an den Russen in der Ostukraine verhindert werden<br />

soll - dabei wurde bewusst unterschlagen, dass auch dort die<br />

meisten zwar russischsprachig waren, aber trotzdem nicht zu<br />

Russland gehören wollten -, begann auch dieser Angriff. Was am<br />

meisten überraschte, war nicht nur dieser an sich, sondern auch<br />

die Zeitgleichheit, weil das Baltikum <strong>und</strong> Taiwan sich in ganz<br />

anderen Zeitzonen befinden <strong>und</strong> viele St<strong>und</strong>en<br />

auseinanderliegen. Deshalb beschlossen Staputow <strong>und</strong> Li-<br />

Tsching zusammen mit ihren Stäben, die sowieso kopfnickend<br />

immer alles genehmigten, was ihre Diktatoren anordneten, dass<br />

es besser sei, in den Nachtst<strong>und</strong>en ins Baltikum einzufallen, das<br />

20


leichter zu erobern war, während die chinesischen Truppen um<br />

die Mittagszeit Taiwan angriffen, weil sie bei Tageslicht viel mehr<br />

erreichen konnten <strong>und</strong> sowieso damit rechneten, dass sie schon<br />

am ersten Tag die wenigen vorgelagerten kleinen<br />

taiwanesischen Inseln <strong>und</strong> sogar den grössten Teil der<br />

Hauptinsel selber erobern würden. Man musste nur genug<br />

zusammenschiessen, damit der Vormarsch freigebombt wurde -<br />

<strong>und</strong> so ist es gekommen.<br />

<strong>Die</strong> drei baltischen Armeen, die zusammen mit den zuvor<br />

einberufenen Reservisten nur etwa 100'000 Soldatinnen <strong>und</strong><br />

Soldaten stellten, <strong>und</strong> die etwas mehr als 10'000 aus anderen<br />

NATO-Kontingenten hatten zwar damit gerechnet, dass sie bald<br />

angegriffen werden könnten, aber sie waren darüber, dass<br />

Staputows Truppen mitten in der Nacht mit einer solchen Wucht<br />

zuschlugen, so überrascht, dass sie ihnen nur einen schwachen<br />

Widerstand bieten konnten, <strong>und</strong> schon um die Mittagszeit waren<br />

alle Schlüsselstellungen mitsamt den meisten Städten in ihrer<br />

Hand. Es finden nur noch auf dem Land <strong>und</strong> in ein paar<br />

Stadtbezirken der Hauptstädte Tallinn, Riga, Vilnius <strong>und</strong> zudem<br />

in Kaunas Kämpfe statt, aber so wie die Gesamtlage aussieht,<br />

könnten sich die von Staputow einst höhnisch gesagten Worte,<br />

sie könnten das Baltikum innerhalb von nur zwei Tagen<br />

einnehmen, bis am Abend <strong>des</strong> nächsten Tages tatsächlich<br />

erfüllen. Das scheint auch <strong>des</strong>halb einzutreffen, weil russische<br />

Kampfbomber fast alle Flugzeughallen <strong>und</strong> Kriegsschiffe nach<br />

einem genauen Plan innerhalb von nur einer St<strong>und</strong>e<br />

buchstäblich wegbombten, <strong>und</strong> dabei spielte es für sie auch<br />

keine Rolle, dass die drei baltischen Staaten praktisch keine<br />

Luftwaffe <strong>und</strong> keine Marine haben <strong>und</strong> die getroffenen Ziele<br />

eigentlich US-amerikanische <strong>und</strong> britische sind.<br />

<strong>Die</strong> Genauigkeit, mit der vorgegangen wurde, zeigte allen, dass<br />

auch ein grosses Insider-Wissen da gewesen sein musste, <strong>und</strong><br />

so lag es nahe, den Verdacht zu äussern, dass es unter den etwa<br />

eine Million baltischen Russen Maulwürfe gegeben haben<br />

21


musste, obwohl verschiedene Einträge in den sozialen<br />

Netzwerken das bestreiten. Selbst wenn keine Einheimischen<br />

mitgewirkt hätten, wäre es immer noch leicht gewesen, Agenten<br />

aus Russland selber einzuschleusen, <strong>und</strong> zudem hatte es schon<br />

seit dem Ende <strong>des</strong> Zweiten Weltkriegs immer wieder Spione<br />

gegeben, die für die Sowjets <strong>und</strong> später für die Russen<br />

gearbeitet hatten.<br />

<strong>Die</strong> Kämpfe im Baltikum, die wegen der Effektivität <strong>des</strong><br />

russischen Angriffs bisher erstaunlich wenig Opfer gekostet<br />

haben - allerdings zählen zu den paar tausend gefallenen Balten<br />

auch mehrere h<strong>und</strong>ert Briten, US-Amerikaner <strong>und</strong> Deutsche, die<br />

diese Länder also auch nicht haben beschützen können -,<br />

werden wohl nicht mehr lange dauern, <strong>und</strong> es werden bereits<br />

Gerüchte verbreitet, dass dieser Teil Europas, der schon vorher<br />

als der empfindlichste gegolten hat, von der NATO geopfert wird,<br />

weil er genauso wie der Osten der Ukraine praktisch nicht mehr<br />

zurückerobert werden kann. Dagegen wird r<strong>und</strong> um die Insel<br />

Taiwan immer noch heftig gekämpft. <strong>Die</strong> wenigen vorgelagerten<br />

Inseln vor dem Festland, die erstaunlicherweise bis heute zu<br />

Taiwan gehört haben, waren zwar fast uneinnehmbare<br />

Festungen, aber sie sind trotzdem wie befürchtet schnell in die<br />

Hände der festlandchinesischen Truppen gefallen, <strong>und</strong> zudem ist<br />

der grösste Teil der taiwanesischen Luftwaffe <strong>und</strong> Marine auch<br />

schon zerstört worden, aber es ist den Invasoren noch immer<br />

nicht gelungen, auf der Hauptinsel richtig an Land zu setzen.<br />

So wird damit gerechnet, dass die Kämpfe dort sicher mehrere<br />

Wochen dauern werden, <strong>und</strong> da der US-Präsident, der jetzt nicht<br />

nur der Oberkommandierende der eigenen Truppen ist, sondern<br />

auch das Oberkommando über die NATO übernommen hat,<br />

befürchten muss, dass die Russen nach dem Baltikum auch<br />

Polen als nächstes Land angreifen werden - erst recht dann,<br />

wenn die chinesischen <strong>und</strong> nordkoreanischen Hilfskontingente<br />

eintreffen werden, was schon bald geschehen wird -, wagt er es<br />

nicht, die eigenen Truppen zur Unterstützung Taiwans<br />

22


abzuziehen. Selbst wenn er das könnte, wäre es dafür viel zu<br />

spät, doch er <strong>und</strong> sein Stab haben bereits vorgesorgt <strong>und</strong> den<br />

grössten Teil ihrer Kriegsflotte schon vor dem Ausbruch dieses<br />

Kriegs in der Nähe von Taiwan stationiert.<br />

Natürlich wird schon jetzt befürchtet <strong>und</strong> sogar fest damit<br />

gerechnet, dass es zu direkten Kämpfen nicht nur mit den<br />

Festlandchinesen, sondern auch mit Russen kommen wird, weil<br />

die letzteren immer noch ihren syrischen Hafen haben <strong>und</strong> die<br />

Türkei sich trotz ihrer NATO-Mitgliedschaft weigert, die<br />

Meerenge vom Bosporus zu sperren, weil sie nicht in Kämpfe mit<br />

Russland verwickelt werden will. Wenigstens ist die westliche<br />

Hälfte <strong>des</strong> Mittelmeers für russische Kriegsschiffe gesperrt, weil<br />

die spanische, französische, italienische <strong>und</strong> griechische Marine<br />

sich zusammengeschlossen haben <strong>und</strong> je<strong>des</strong> Durchkommen<br />

westlich <strong>und</strong> südlich der strategisch schon immer wichtigen Insel<br />

Kreta verhindern. Da schon jetzt vorausgesehen werden kann,<br />

dass der Aggressor diese vier Länder kaum an Land angreifen<br />

wird, können sie hier einen wichtigen Beitrag zur Verteidigung<br />

Europas leisten.<br />

Was noch bis heute als erstaunliches Phänomen in der<br />

Weltgeschichte erhalten geblieben ist, könnte schon sehr bald<br />

der Vergangenheit angehören: Bisher haben die Russen <strong>und</strong><br />

US-Amerikaner noch keinen einzigen Krieg gegeneinander<br />

geführt - die vielen Stellvertreterkriege, von denen die in Korea<br />

<strong>und</strong> Vietnam die grössten <strong>und</strong> schlimmsten waren, werden nicht<br />

dazugezählt, weil sie immer sorgfältig darauf geschaut haben,<br />

dass sie nicht direkt aufeinander schossen. Da aber die beiden<br />

US-amerikanischen Flugzeugträger, die bisher im Mittelmeer<br />

stationiert waren, sich dem russischen Militärhafen auf<br />

syrischem Boden immer mehr nähern, kann leicht<br />

vorausgesehen werden, dass die Geschichte auch in diesem<br />

Bereich bald neu geschrieben werden muss, sofern nicht doch<br />

noch eine unerwartete Wende eintritt. Damit rechnet jetzt, in<br />

23


dieser aufgehetzten Atmosphäre, da in aller Welt wieder<br />

Millionen in Marsch gesetzt werden, jedoch niemand mehr.<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

<strong>Die</strong>s ist die allgemeine Ausgangslage, in der sich auch dieses<br />

Berliner Ehepaar namens Hans <strong>und</strong> Iris Bergmann befindet, das<br />

jetzt im Bus sitzt <strong>und</strong> zur Kaserne fährt, wo sie sich voneinander<br />

verabschieden müssen. Eigentlich wären sie nicht mehr direkt<br />

verpflichtet, in die Bun<strong>des</strong>wehr einzurücken, weil sie schon vor<br />

mehreren Jahren ausgemustert wurden <strong>und</strong> ein neues Leben<br />

aufgebaut haben, aber wenn sie daran denken, wie viele aus<br />

ihrem Freun<strong>des</strong>- <strong>und</strong> Bekanntenkreis ebenfalls einrücken, wollen<br />

auch sie nicht abseitsstehen. Zudem haben sie es in ihrer aktiven<br />

<strong>Die</strong>nstzeit beide zu Offizieren gebracht - er zu einem<br />

Oberleutnant der Infanterie <strong>und</strong> sie zu einem Leutnant der<br />

Sanitätstruppen, obwohl sie ihr Studium zum Zeitpunkt dieser<br />

Beförderung noch nicht ganz abgeschlossen hatte; so können<br />

sie sich leicht ausrechnen, dass jetzt auch sie besonders<br />

gebraucht werden. Sie gehören halt noch zum Schlag von<br />

Menschen, die nicht wegschauen wollen, wenn sie wissen, dass<br />

es auch auf sie ankommt. Kollektiver Massenegoismus, wie sie<br />

das nennen, hatte bei ihnen noch nie einen Platz.<br />

Schliesslich stehen sie vor der Kaserne, in die er jetzt einrücken<br />

wird, bevor sie wieder einsteigt <strong>und</strong> an einen anderen Ort fährt.<br />

Da noch viele andere Männer <strong>und</strong> Frauen sich hier voneinander<br />

verabschieden, tun sie das Gleiche. Im Inneren <strong>des</strong> Gebäu<strong>des</strong><br />

hätte es dafür viel weniger Platz; zudem müssen sich alle<br />

ausweisen, <strong>und</strong> sie hat keine Berechtigung für diese Kaserne.<br />

Auch jetzt wird genaue Ordnung gehalten - <strong>und</strong> umso mehr, als<br />

sogar hier damit gerechnet wird, dass allfällige Unberechtigte<br />

spionieren könnten.<br />

Noch einmal umarmen <strong>und</strong> küssen sie sich innig. Sie sagen nicht<br />

mehr viel, weil sie sich schon fast alles gesagt haben; auch ohne<br />

Worte verstehen sie sie blindlings.<br />

24


«Ich wollte dir noch etwas Bestimmtes sagen», unterbricht er<br />

zuerst die Stille zwischen ihnen inmitten von Dutzenden anderer,<br />

«ich habe bewusst bis zu diesem Moment gewartet.»<br />

«Was denn?», fragt sie leise <strong>und</strong> mit einem schwachen Lächeln.<br />

«Da wir nicht wissen können, ob wir diesen Krieg überleben,<br />

wollte ich dir noch sagen, dass ich dir besonders dafür danke,<br />

dass du in all diesen Jahren für mich eine so gute <strong>und</strong> liebevolle<br />

Lebenspartnerin gewesen bist.»<br />

«Und ich auch dir», entgegnet sie sofort, wobei ihre Augen feucht<br />

werden.<br />

«Wir zwei sind wirklich füreinander geboren», sagt er weiter,<br />

nachdem er ihr einen weiteren festen Kuss auf die Lippen<br />

gedrückt hat, «<strong>des</strong>halb ist es jammerschade, dass wir uns jetzt<br />

vielleicht für immer trennen müssen.»<br />

«Dabei hatten wir noch so viele Pläne», ergänzt dann sie wieder,<br />

«so wollten wir mit der Zeit doch auch noch Kinder, aber so wie<br />

uns ergeht es jetzt noch vielen Millionen.»<br />

«Wenigstens leben wir noch - <strong>und</strong> solange wir noch leben, gibt<br />

es immer Hoffnung, sogar in den Schützengräben.»<br />

«Oder in einem Operationssaal», erwidert sie lächelnd, «dabei<br />

ist es nicht sicher, ob ich nach so vielen Jahren, in denen ich<br />

nicht dabei war, wieder voll mitmachen kann, weil ich ja keine<br />

Ärztin der ersten Sahne bin.»<br />

«Selbst wenn nicht - es gibt immer noch genügend Bereiche, in<br />

denen sie dich brauchen können, schliesslich sind nicht viele so<br />

sprachbegabt wie du.»<br />

«Das gilt aber noch mehr für dich, immerhin kannst du<br />

Russisch.»<br />

Dann kommt doch noch die Minute <strong>des</strong> endgültigen Abschieds.<br />

Beide haben Tränen in den Augen, sie weint sogar. Als sie<br />

wieder im Bus sitzt, winken sie sich noch einmal lange zu,<br />

25


solange sie sich noch gegenseitig sehen können. Ob wir uns<br />

jemals wieder treffen?, fragt er sich bedrückt, während er seinen<br />

Ausweis hervorkramt <strong>und</strong> langsam zum Kontrolleur vor dem<br />

Kaserneneingang geht.<br />

26


2<br />

Noch bevor der Infanterie-Oberleutnant Hans Bergmann, wie er<br />

sich fortan wieder nennen wird, die Kaserne betritt, kommt er fast<br />

nicht hinein, weil auch noch andere das Gleiche vorhaben. Es<br />

verhält sich nicht so, dass es alle hineindrängt, aber sie möchten<br />

trotzdem so schnell wie möglich zum Saal gelangen, wo ihre<br />

Einheit zum ersten Mal zusammenkommt. Da Bergmann<br />

niemanden kennt, grüsst er auch niemanden, sondern nickt nur<br />

denen zu, die das Gleiche tun. <strong>Die</strong> Stimmung ist viel zu bedrückt,<br />

als dass der Wille aufkommt, irgendein Gespräch zu führen, <strong>und</strong><br />

zudem können sie sich sagen, dass das sowieso bald geschehen<br />

wird, sobald sie sich ein wenig näher kennen gelernt haben.<br />

Schliesslich sind alle in einem Saal, in dem mehr als h<strong>und</strong>ert<br />

Platz haben, <strong>und</strong> tatsächlich werden die Stühle bis auf den<br />

letzten Platz besetzt - <strong>und</strong> die Dutzenden von Männern <strong>und</strong> die<br />

wenigen Frauen sind alle uniformiert. Von seinen früheren<br />

<strong>Die</strong>nstzeiten her kann Bergmann erkennen, dass sie alle<br />

Offiziere sind. Offensichtlich sind nur solche hierher<br />

kommandiert worden, weil es auch für die Unteroffiziere <strong>und</strong> erst<br />

recht für Soldaten keinen Platz hätte. Es ist sicher genauso wie<br />

früher vorgesehen, dass sie alle ihre Aufträge nach unten<br />

weiterreichen, sobald sie wissen, wo sie eingeteilt werden. Als<br />

Oberleutnant muss er also nur einen Zug informieren, sofern ihm<br />

ein solcher überhaupt zugeteilt wird. Da er viele Jahre lang nicht<br />

mehr dabei war <strong>und</strong> jetzt, da ein Krieg ausgebrochen ist, der<br />

auch Deutschland direkt betrifft, vor allem solche gebraucht<br />

werden, die nicht noch extra neu eingeschult <strong>und</strong> ausgebildet<br />

werden müssen, steht es noch längst nicht fest, dass ihm wieder<br />

ein Zug zugeteilt wird. Wenn er zu sich selbst ehrlich sein will,<br />

wäre er nicht ganz unglücklich, wenn das so geschähe, nicht weil<br />

er nicht kampfbereit ist, sondern weil er sich halt doch noch<br />

etwas unsicher fühlt.<br />

Da es nicht so richtig durchgesickert ist, wer jetzt eine Ansprache<br />

27


halten wird, bleiben noch alle schweigend sitzen, <strong>und</strong> als endlich<br />

einer hereinkommt, stehen alle artig auf, ohne dass jemand dazu<br />

den Befehl gegeben hat. So haben sie es alle gelernt - sowohl<br />

jene, die gerade noch im aktiven <strong>Die</strong>nst sind, als auch jene, die<br />

schon seit einiger Zeit <strong>und</strong> sogar mehreren Jahren Reservisten<br />

waren <strong>und</strong> jetzt wieder eingerückt sind.<br />

Nachdem der Eingetretene, <strong>des</strong>sen Uniform ihn als einen der<br />

Ranghöchsten der Bun<strong>des</strong>wehr erkennen lässt, einen Blick ins<br />

ganze R<strong>und</strong> geworfen hat, beginnt er die lange erwartete Rede,<br />

welche die Leute offensichtlich noch auf die zu erwartenden<br />

Kämpfe einstimmen soll.<br />

«Mein Name ist Helmut Stresemann. Wie manche an meiner<br />

Uniform vielleicht erkennen können - jedenfalls jene, die weit<br />

vorn sitzen -, bin ich ein Generalleutnant. Ich habe eigentlich<br />

zwei Berufe: Einerseits bin ich ein Politologe <strong>und</strong> andererseits<br />

ein Militärhistoriker, ich habe jahrelang in der Bun<strong>des</strong>wehr-<br />

Hochschule in München studiert <strong>und</strong> auch unterrichtet. Gerade<br />

<strong>des</strong>halb halte ich es für notwendig, hier noch ein paar Worte zur<br />

Gesamtlage <strong>und</strong> zudem gewisse Zusammenhänge aufzuzeigen,<br />

die eng mit vielen Ereignissen in der Vergangenheit verknüpft<br />

sind.<br />

Sie wissen alle gut genug, worum es jetzt geht <strong>und</strong> welche<br />

Herausforderung auf uns wartet. Es ist die grösste <strong>und</strong><br />

schlimmste, seitdem die Bun<strong>des</strong>republik gegründet worden ist,<br />

weil wir uns jetzt zum ersten Mal in einem Krieg befinden, der mit<br />

der Zeit sogar auf unserem eigenen Boden ausgetragen werden<br />

könnte. Jetzt ist das, was wir vor allem in der Zeit <strong>des</strong><br />

sogenannten Kalten Kriegs immer befürchtet haben, doch noch<br />

Wirklichkeit geworden, weil in der NATO gestern - seit dem<br />

Angriff Russlands auf die baltischen Staaten - nach Artikel fünf<br />

der Bündnisfall ausgerufen worden ist. Zudem hat zur gleichen<br />

Zeit, als das Baltikum angegriffen wurde, die chinesische Armee<br />

den Angriff auf Taiwan begonnen, mit dem wir zwar ebenfalls<br />

jahrelang gerechnet haben, aber nicht zur gleichen Zeit wie<br />

28


dieser Angriff.<br />

Wir wollten es viele Jahre lang nicht wahrhaben, dass ein solcher<br />

Angriff wirklich einmal geschehen könnte, <strong>und</strong> selbst während<br />

<strong>und</strong> nach dem Ukraine-Krieg wollten wir nicht damit rechnen, weil<br />

wir noch so gern glaubten, dass die russische Armee nach ihren<br />

Verlusten von fast einer halben Million Soldaten dazu nicht mehr<br />

fähig war. Wir haben uns alle getäuscht, weil Russland sich nach<br />

diesem Krieg erstaunlich schnell wieder erholt hat - auch<br />

<strong>des</strong>halb, weil dieser Aggressor immer noch erstaunlich viele<br />

Fre<strong>und</strong>e hat, die bei der Wiederaufrüstung geholfen haben. Wir<br />

waren zwar nicht mehr so naiv wie früher, als die Schlagworte<br />

‘Frieden schaffen ohne Waffen’ <strong>und</strong> ‘Wandel durch Handel’ noch<br />

herumgeisterten, aber wir waren trotzdem immer noch zu<br />

gutgläubig. Es musste ja klar sein, dass unsere Sicherheit nicht<br />

vollkommen sein konnte, weil der Diktator Staputow mit seinem<br />

ganzen Stab immer noch an der Macht ist <strong>und</strong> wir das hämische<br />

Grinsen seiner Fratze immer noch sehen müssen. Dazu kommt<br />

noch, dass mehrere 100'000 Chinesen <strong>und</strong> Nordkoreaner<br />

hierher unterwegs sind <strong>und</strong> auch die verbündeten Iraner sich für<br />

einen Marsch bereithalten, ohne genau anzugeben, was sie<br />

vorhaben. Es kann sein, dass diese nur laut herumposaunen,<br />

dass auch sie hier noch direkt eingreifen wollen, aber es kann<br />

auch sein, dass sie in Wirklichkeit auf Israel zumarschieren<br />

wollen, wie sie es immer angedeutet haben.<br />

Gerade <strong>des</strong>halb, weil die baltischen Staaten trotz der<br />

Stationierung von etwa 10'000 NATO-Soldaten schon immer als<br />

schwächste Stelle unseres Bündnisses gegolten haben, war es<br />

für die Aggressoren nicht allzu schwer, dort einzudringen, <strong>und</strong> so<br />

wie die jetzige Lage aussieht, könnte das ganze Baltikum schon<br />

in wenigen Tagen endgültig wieder in den Machtbereich der<br />

Russen fallen, wie es schon von 1940 bis 1991 <strong>und</strong> auch vor dem<br />

Ersten Weltkrieg so war. Wir sehen also, dass auch die<br />

Mitgliedschaft in der NATO nichts genützt hat, weil wir dort nicht<br />

wie gewünscht zurückschlagen können, wenn wir nicht die<br />

29


eigene baltische Bevölkerung gefährden wollen. Gerade <strong>des</strong>halb<br />

war es für den Aggressor so leicht - <strong>und</strong> zudem stehen in<br />

Kaliningrad viele Atomraketen, die jederzeit auf uns<br />

abgeschossen werden können. Wir wissen alle, dass in Litauen<br />

auch ein deutsches Truppenkontingent stationiert war, aber wir<br />

können zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen, wie viele Verluste<br />

es bei den unsrigen gibt. Wenn die Russen klug sind, werden sie<br />

min<strong>des</strong>tens die nichtbaltischen Soldaten, die in ihre<br />

Gefangenschaft geraten, bald an uns überstellen oder<br />

wenigstens für einen späteren Austausch bereithalten, aber auch<br />

damit können wir nicht fest rechnen.<br />

Da die russischen Machthaber schon seit vielen Jahren<br />

behaupten, dass nicht nur die Ukraine <strong>und</strong> Belarus, sondern<br />

auch das Baltikum <strong>und</strong> sogar Polen zu Russland gehören, ist es<br />

offensichtlich, welches das nächste Ziel sein wird: Das wird<br />

Polen sein - vielleicht nicht schon morgen <strong>und</strong> auch nicht<br />

übermorgen, vielleicht auch erst in ein paar Wochen, aber es<br />

steht schon jetzt mit fast h<strong>und</strong>ert Prozent Sicherheit fest, dass<br />

dieser Angriff einmal erfolgen wird - spätestens dann, wenn die<br />

angekündigte Verstärkung aus China <strong>und</strong> Nordkorea<br />

eingetroffen ist. Dann kann der Feind mit mehr als einer Million,<br />

wenn nicht gar mit zwei Millionen Soldaten angreifen, ohne dass<br />

wir dem wirklich etwas entgegensetzen können.<br />

Erst jetzt zeigt es sich so richtig, dass auch der atomare<br />

Schutzschild unserer amerikanischen Verbündeten, auf den wir<br />

uns jahrzehntelang verlassen haben, uns nicht viel nützt. <strong>Die</strong><br />

Amerikaner werden sich hüten, Russland <strong>und</strong> China direkt<br />

anzugreifen, selbst wenn diese keine Atomraketen einsetzen,<br />

weil die Folgen nicht vorhergesehen werden können - <strong>und</strong> von<br />

den Nordkoreanern, die immer wieder angekündigt haben, sie<br />

würden jetzt über Raketen verfügen, die sogar Amerika erreichen<br />

können, müssen wir gar nicht erst reden. Allerdings muss auch<br />

erwähnt werden, dass die Amis sehr wohl über Raketen<br />

verfügen, die Kims Atomraketen ohne weiteres noch rechtzeitig<br />

30


abfangen können, bevor sie amerikanisches Gebiet erreichen,<br />

<strong>und</strong> wenn dieser Diktator es wagen sollte, Südkorea <strong>und</strong> Japan<br />

atomar anzugreifen, wird die Hauptstadt Pjöngjang, wo sowieso<br />

nur Regimetreue wohnen, mit Sicherheit als erstes Ziel sofort<br />

eingeäschert.<br />

Dazu kommt noch, dass die Amerikaner wegen <strong>des</strong> Kriegs um<br />

Taiwan an zwei völlig entgegengesetzten Fronten kämpfen<br />

müssen, aber auch dort schrecken sie noch davor zurück, direkt<br />

einzugreifen, weil Li-Tsching zwar etwas berechenbarer als<br />

Staputow zu sein scheint, doch man kann auch dort nicht alles<br />

voraussehen. Das gilt auch für Südkorea <strong>und</strong> Japan, die sich mit<br />

Taiwan solidarisiert haben, aber sie müssen darauf schauen,<br />

dass sie nicht auch noch angegriffen werden, weil Kim der Dritte<br />

jederzeit ein paar Atomraketen starten lassen könnte. Erst jetzt<br />

zeigt es sich in vollem Ausmass, dass es halt doch richtig war,<br />

dass die Amis r<strong>und</strong> um die Welt fast zweih<strong>und</strong>ert Stützpunkte<br />

aufgebaut haben, was von den üblichen Kreisen immer wieder<br />

kritisiert worden ist, weil sie ihnen unterstellten, sie wollen die<br />

ganze Welt beherrschen. Das war nur rotes Gesülze - ohne diese<br />

vielen US-Stützpunkte würde es heute r<strong>und</strong> um die Welt von<br />

russischen <strong>und</strong> vor allem von chinesischen wimmeln, <strong>und</strong> noch<br />

auf den gleichen Inseln.<br />

Was uns hier betrifft, ist unser Auftrag klar, <strong>und</strong> die einen oder<br />

anderen haben es wohl auch schon geahnt: Da es absehbar ist,<br />

dass das grosse polnische Heer - die grösste NATO-Armee im<br />

Osten - sich gegen die russische Dampfwalze zwar noch wehren<br />

kann, aber spätestens dann nicht mehr, wenn die Chinesen <strong>und</strong><br />

Nordkoreaner mehrere Millionen auf sie loslassen, hat die<br />

polnische Regierung uns direkt um militärische Hilfe gebeten.<br />

Das heisst für uns, dass ein grosser Teil der Bun<strong>des</strong>wehr<br />

vielleicht schon übermorgen nach Polen geschickt wird, um für<br />

den Fall eines Angriffs bereit zu sein. Zusammen können wir so<br />

viele Soldaten stellen, dass der russische <strong>und</strong> der chinesische<br />

Diktator, die immer gesagt oder wenigstens angedeutet haben,<br />

31


dass sie gegen Deutschland eigentlich nicht kämpfen wollen,<br />

vielleicht doch davon absehen, Polen direkt anzugreifen. Wie<br />

viele wir sind <strong>und</strong> wo genau wir eingesetzt werden, weiss auch<br />

ich noch nicht, weil das unter höchster Geheimhaltung läuft. Wir<br />

sind nicht so naiv, um nicht zu wissen, dass der Feind mit dieser<br />

deutschen Unterstützung rechnet, aber so wie es scheint, haben<br />

auch ihre besten Geheimdienste noch nicht herausbekommen,<br />

wie viele Deutschen wo genau eingesetzt werden.<br />

In jedem Fall schreiben wir jetzt Geschichte: Im Gegensatz zum<br />

Zweiten Weltkrieg, als die Wehrmacht am 1. September 1939 in<br />

Polen eingefallen ist, sind wir jetzt als Hilfstruppen mehr als<br />

willkommen. Wir können zwar nie wiedergutmachen, was unsere<br />

Grossväter <strong>und</strong> Urgrossväter dort verbrochen haben, aber wir<br />

können einen kleinen Teil dazu beitragen, dass die Polen jetzt<br />

wirklich sehen können, dass wir ganz anders als unsere<br />

Vorfahren sind. Heute können wir genauso gut wie bei den<br />

anderen Brudervölkern in Mittel- <strong>und</strong> Westeuropa zeigen, dass<br />

jetzt auch die Polen sich mit den Deutschen versöhnt haben.<br />

Es verhält sich also ganz anders als vor fast einem halben<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert, als der Stalin-Verherrlicher <strong>und</strong> Mauerbauer<br />

Honecker dem damaligen sowjetischen Herrscher Breschnew in<br />

verbrecherischer Weise anbot, mit NVA-Truppen vom Westen<br />

her in Polen einzumarschieren, wenn sowjetische Truppen vom<br />

Osten her ebenfalls eingreifen, um den polnischen Frühling, der<br />

mit der Gründung der freien Gewerkschaft Solidarnosc<br />

eingeleitet worden war, zu zerschlagen. Stellen Sie sich das mal<br />

vor - nur vierzig Jahre nach dem Einmarsch von 1939, als die<br />

Erinnerungen immer noch frisch waren! Es wurde viele Jahre<br />

lang unter dem Deckel gehalten, aber heute wissen wir, dass es<br />

tatsächlich so war, <strong>und</strong> es ist ebenso bekannt, dass diese<br />

doppelte Invasion vom Westen <strong>und</strong> Osten nur <strong>des</strong>halb verhindert<br />

wurde, weil der polnische Parteichef Jaruzelski das Kriegsrecht<br />

ausrief, was er viele Jahre später selber so gesagt hat. Etwas<br />

bekannter ist das, was sich Honeckers Vorgänger Ulbricht, ein<br />

32


anderer Kettenh<strong>und</strong> von Breschnew, geleistet hat: Er schickte<br />

tatsächlich NVA-Truppen in die benachbarte Tschechoslowakei,<br />

um dabei zu helfen, die Reformen während <strong>des</strong> sogenannten<br />

Prager Frühlings zu zerschlagen - <strong>und</strong> das nur dreissig Jahre<br />

nach dem Einmarsch der Wehrmacht in dieses Land!<br />

Wie bösartig-satanisch das System im ehemaligen Ostblock war,<br />

zeigte sich unter anderem darin, dass im Warschauer Pakt nach<br />

den Angaben eines NVA-Offiziers, der zum Westen<br />

übergelaufen war, tatsächlich auch Pläne ausgearbeitet wurden,<br />

die NATO mit einem nuklearen Erstschlag anzugreifen, <strong>und</strong> dass<br />

abgewogen wurde, auf welche Art ein zu erwartender<br />

Gegenschlag am besten abgewehrt werden konnte. Spätestens<br />

seit dem Beginn <strong>des</strong> Ukraine-Kriegs im Februar 2022 haben wir<br />

die Gewissheit, dass der russische Imperialismus - als etwas<br />

anderes kann das nicht bezeichnet werden - sich noch bis heute<br />

nicht verändert hat. Offiziell ist das noch nie so gesagt worden,<br />

aber es ist eine Tatsache, dass Russland schon seit der<br />

Eroberung <strong>des</strong> Zugangs zur Ostsee vor etwas mehr als<br />

dreih<strong>und</strong>ert Jahren durch die Truppen <strong>des</strong> Zaren Peter, der ein<br />

grosser gewesen sein soll, bis heute immer imperialistisch<br />

gewesen ist. Mit Ausnahme <strong>des</strong> Napoleonischen Feldzugs von<br />

1812, als die Franzosen zusammen mit zwangsverbündeten<br />

Truppen in Russland einmarschierten, sind seit der Zeit dieses<br />

Zaren alle Kriege, in die Russland verwickelt war, von den<br />

Russen ausgelöst worden.<br />

Sie dürfen mich nicht falsch verstehen: <strong>Die</strong> meisten Leute dort<br />

sind einfach <strong>und</strong> fre<strong>und</strong>lich, ja, zum Teil sogar überaus<br />

liebenswürdig, aber der Staat Russland, der auch sie immer<br />

unterdrückt hat, war schon immer bösartig. Nicht nur der Krieg,<br />

der unter der Herrschaft der ursprünglich deutschen Zarin<br />

Katharina zur Eroberung der Halbinsel Krim führte, <strong>und</strong> auch der<br />

sogenannte Krim-Krieg um 1850 herum sind von Russland vom<br />

Zaun gerissen worden, sondern auch der Krieg von 1905 gegen<br />

Japan <strong>und</strong> zudem der Erste Weltkrieg zumin<strong>des</strong>t als Mitauslöser,<br />

33


aber auch der Zweite, was seitdem auch im Westen nie gern so<br />

ausgedrückt wurde. Es bleibt jedoch eine Tatsache, dass Stalin<br />

durch seinen Pakt mit Hitler diesem freie Hand zum Angriff auf<br />

Polen gab, <strong>und</strong> dadurch, dass er dieses Land nur zwei Wochen<br />

später ebenfalls angriff, hat er die Sowjetunion zum Mitauslöser<br />

gemacht. Warum die britische <strong>und</strong> französische Regierung nur<br />

Hitler <strong>und</strong> nicht auch noch Stalin den Krieg erklärten, obwohl<br />

seine Mitschuld offensichtlich war, gehört noch bis heute zu den<br />

Geheimnissen der Weltpolitik. Als billige Entschuldigung hat<br />

immer der Vorwand gedient, dass Polen zum Zeitpunkt <strong>des</strong><br />

sowjetischen Angriffs bereits keine Regierung mehr hatte, aber<br />

es ist offensichtlich, dass diese Aussage immer gestunken hat.<br />

Zu diesem Kapitel gehört auch das Märchen vom grossen<br />

vaterländischen Krieg, der allein durch die Opferbereitschaft <strong>des</strong><br />

sowjetischen Volkes gewonnen wurde. Tatsache war schon<br />

immer, dass dieser sogenannte Sieg ohne die massive<br />

amerikanische Militärhilfe vor allem über die Häfen von<br />

Murmansk <strong>und</strong> Wladiwostok nie auf diese Weise zustande<br />

gekommen wäre - <strong>und</strong> wenn doch, dann mit noch viel mehr<br />

Millionen Toten, aber auch das hätte Stalin in Kauf genommen.<br />

Dass Staputow mit seinem Vorbild vieles gemeinsam hat, zeigt<br />

sich darin, dass auch er jetzt bereit ist, wenn nötig Millionen von<br />

Soldaten <strong>und</strong> auch noch Soldatinnen zu opfern, so wie er schon<br />

in der Ukraine fast eine halbe Million ohne Gewissensbisse<br />

geopfert hat. Sein Ziel ist offensichtlich, er vergleicht sich ja<br />

selbst mit dem Zaren Peter: Er will als Staputow der Grosse in<br />

die Geschichte eingehen, dabei war Russland vor dreih<strong>und</strong>ert<br />

Jahren im Vergleich zu späteren Zeiten eigentlich immer noch<br />

klein - <strong>und</strong> so wie seinerzeit unter Hitler alle, die zu ihm einen<br />

näheren Zugang hatten, sich vor lauter Angst fast in die Hosen<br />

machten, so tun das heute alle, die direkt mit Staputow zu tun<br />

haben, weil sie Konsequenzen befürchten, wenn sie ihm in<br />

irgendeinem Punkt widersprechen.<br />

Auch in diesem Punkt bestätigt sich, was ich einmal irgendwo<br />

34


gelesen habe: Es wird von Hitler überliefert, er habe gesagt, sein<br />

Geist werde eines Tages auferstehen <strong>und</strong> sein Werk fortsetzen.<br />

Heute wissen wir, wie Recht er hatte, <strong>und</strong> <strong>des</strong>halb wissen wir<br />

auch, dass sein Nachfolger genauso wie er bereit wäre, Millionen<br />

von Mitmenschen mit in den Tod zu reissen, wenn er einsehen<br />

sollte, dass er seinen Endsieg nicht erreichen kann. Dazu kommt<br />

noch, dass Staputow der gleiche Feigling ist wie Hitler <strong>und</strong> viele<br />

andere Diktatoren; auch er hält sich immer versteckt <strong>und</strong> reist<br />

aus Angst vor möglichen Anschlägen ständig herum, <strong>und</strong> zudem<br />

sorgt eine Leibgarde, die aus fast einer halben Million besteht,<br />

genauso wie damals die SA <strong>und</strong> SS dafür, dass ihrem Führer<br />

nichts zustösst. Am Schluss hat es sich aber immer gezeigt, dass<br />

fast alle Diktatoren dann, wenn es wirklich darauf ankam,<br />

erbärmliche Feiglinge waren. Im Vergleich zu Staputow war<br />

sogar Hitler tapfer, weil dieser sich freiwillig zum Kriegsdienst<br />

meldete <strong>und</strong> lange an vorderster Front als Meldeläufer tätig war.<br />

Es gehört ebenfalls zu den Geheimnissen der Weltgeschichte,<br />

warum die Japaner die Seewege zum nahegelegenen Hafen von<br />

Wladiwostok nicht sperren liessen, obwohl sie mit Hitler<br />

verbündet waren <strong>und</strong> die Amerikaner das bis kurz vor dem<br />

Kriegsende nicht hätten verhindern können. Wie dankbar Stalin<br />

ihnen gegenüber war, bewies er drei Monate nach der<br />

Potsdamer Konferenz, als er gemäss dem Abkommen mit<br />

Churchill <strong>und</strong> dem neuen US-Präsidenten Truman, der den<br />

verstorbenen Roosevelt ersetzt hatte, genau zu diesem<br />

Zeitpunkt angriff - zur gleichen Zeit, als über Hiroshima die erste<br />

Atombombe abgeworfen worden war.<br />

Es wurde zwar jahrzehntelang nicht nur im Osten, sondern auch<br />

im Westen von gewissen Kreisen behauptet, dass die NATO kein<br />

Verteidigungsbündnis, sondern in Wirklichkeit ein<br />

Angriffsbündnis sei, aber die Wirklichkeit ist die, dass wir auch<br />

dort, wo wir mit Truppen direkt eingegriffen haben, das nie taten,<br />

um andere Länder für immer zu besetzen <strong>und</strong> zu unterdrücken.<br />

Wir können nicht bestreiten, dass wir auch Fehler gemacht<br />

35


haben, zum Teil sogar schwere, aber heute stehen im Irak <strong>und</strong><br />

in Afghanistan keine NATO-Truppen mehr, <strong>und</strong> zudem waren<br />

das offiziell keine NATO-Einsätze. Das konnte früher von der<br />

sowjetischen Armee nicht gesagt werden; es brauchte zuerst die<br />

vielen Verluste im Afghanistan-Krieg <strong>und</strong> den Zusammenbruch<br />

der Wirtschaft im eigenen Land, bis die Sowjets bereit waren,<br />

sich von einem einmal besetzten Gebiet zurückzuziehen. Das<br />

W<strong>und</strong>er, das 1955 in Österreich geschah, als sie das zum ersten<br />

<strong>und</strong> einzigen Mal taten, hat sich also erst dann wiederholt.<br />

An dieser Stelle betone auch ich ausdrücklich, dass es nie Pläne<br />

gegeben hat, Russland direkt anzugreifen - <strong>und</strong> wenn diese sich<br />

noch so eingekreist fühlten -, <strong>und</strong> das Gleiche gilt auch für den<br />

Iran, der wegen seinen Bergen <strong>und</strong> Wüsten erst recht nicht<br />

angegriffen werden kann; zudem zählen beide Länder immer<br />

noch so viele Menschen, dass ein direkter Angriff auf diese<br />

beiden einem Selbstmordkommando gleichkommen würde.<br />

Auch in früheren Zeiten bestand nie die Absicht, Russland zu<br />

erobern <strong>und</strong> für immer zu besetzen, weil der alte Spruch, dass<br />

dieses Land nur von Russen selber erobert werden kann, halt<br />

immer zutreffend war. <strong>Die</strong> einzige Ausnahme war bekanntlich der<br />

Mann aus Braunau, der alle Ratschläge seiner Generäle, die von<br />

Krieg <strong>und</strong> Strategie viel mehr verstanden als er, immer in den<br />

Weg schlug, weil er immer alles besser wusste - mit den<br />

bekannten Endergebnissen, deren Folgen wir noch heute<br />

spüren, am deutlichsten mit der russischen Exklave Kaliningrad,<br />

wo heute Atomraketen stehen.<br />

Sie wissen sicher alle ebenfalls, was gerade ausserhalb von<br />

Europa geschieht: In fast allen Kontinenten <strong>und</strong> Ländern, die<br />

gegen uns sind <strong>und</strong> sogar noch jetzt behaupten, dass auch<br />

dieser Krieg vom Westen ausgelöst worden sei, übertreffen sich<br />

die Medien gegenseitig vor Freude, <strong>und</strong> es wird ungeniert auf<br />

den Strassen gefeiert, darunter auch auf den drei geistigen<br />

russischen Stützpunkten Kuba, Nicaragua <strong>und</strong> Venezuela. Wie<br />

sehr die meisten Lateinamerikaner, Afrikaner <strong>und</strong> Asiaten uns<br />

36


hassen <strong>und</strong> uns den Kolonialismus, der schon fast h<strong>und</strong>ert Jahre<br />

zurückliegt, immer noch nachtragen, hat sich nie so deutlich<br />

gezeigt wie in diesen Tagen. Dabei wollen sie anscheinend<br />

bewusst vergessen, dass sie mit den russischen <strong>und</strong><br />

chinesischen Investoren, die sich vor allem in Lateinamerika <strong>und</strong><br />

Afrika eingenistet haben, nochmals bös auf die Welt kommen<br />

werden, aber bis sie erkennen, dass diese noch schlimmer<br />

werden könnten, als es unsere Grosseltern <strong>und</strong> Urgrosseltern<br />

zum Teil tatsächlich waren, wird es zu spät sein.<br />

Wir stehen also ganz allein da, nur die dreissig NATO-Staaten,<br />

die sich bereit erklärt haben, eigene Truppen zu stellen. Viele<br />

wissen vielleicht nicht, dass auch ein NATO-Mitglied sogar nach<br />

dem Ausrufen <strong>des</strong> Bündnisfalls das Recht hat, eigene Truppen<br />

zurückzuhalten, <strong>und</strong> das nützen jetzt die Türkei <strong>und</strong> Ungarn aus.<br />

Von den Türken wissen wir schon seit einiger Zeit, dass sie sich<br />

nicht beteiligen, weil sie nicht in einen Krieg gegen Russland<br />

hineingezogen werden wollen, wie sie behaupten, <strong>und</strong> von den<br />

Ungarn ist es keine Überraschung, weil es ja genügend bekannt<br />

ist, dass ihr Diktator Ferenc Urbanjok - allerdings ein gewählter<br />

Diktator - schon seit vielen Jahren mit Staputow dick befre<strong>und</strong>et<br />

ist. Offensichtlich gibt es da ein charakterliches Defizit: Wer mit<br />

diesem Jahrh<strong>und</strong>ert-Verbrecher, dem schlimmsten Verbrecher<br />

dieses 21. Jahrh<strong>und</strong>erts, auf <strong>des</strong>sen Konto allein in der Ukraine<br />

fast eine Million Tote <strong>und</strong> doppelt so viele Schwerverw<strong>und</strong>ete<br />

gehen, befre<strong>und</strong>et sein kann, tickt nicht richtig in der Birne. Da<br />

Ungarn nicht direkt an Russland grenzt <strong>und</strong> zudem der freie<br />

westliche Teil der Ukraine <strong>und</strong> vor allem die Karpaten einen<br />

Schutzwall vor einem Angriff bilden, kann sich Urbanjok diese<br />

Haltung leisten, aber ich möchte nicht wissen, wie er reagieren<br />

würde, wenn die Russen sein Land direkt angreifen würden. Das<br />

Gleiche in Bezug auf Staputow gilt auch für Schergowan, aber<br />

wenigstens zeigt dieser seine Fre<strong>und</strong>schaft mit ihm nicht so<br />

demonstrativ offen.<br />

Unabhängig davon, wie dieser Krieg ausgehen wird, es steht<br />

37


schon jetzt fest, dass die Weigerung dieser beiden Diktatoren,<br />

uns jetzt zur Seite zu stehen, Konsequenzen haben wird. Ich<br />

kann mir nicht vorstellen, dass es für Ungarn, das bis heute nur<br />

von EU-Geldern profitiert hat, dort noch einen Platz geben wird,<br />

<strong>und</strong> auch die Türkei kann einen allfälligen EU-Beitritt jetzt<br />

endgültig abhaken. Allein wenn ich daran denke, dass das kleine<br />

Luxemburg seine paar h<strong>und</strong>ert Soldaten zur Verfügung stellt <strong>und</strong><br />

dass die Isländer, die nicht einmal eine Armee haben, ihre Insel<br />

immer noch als wichtigen Stützpunkt anbieten, muss ich das<br />

Verhalten der Ungarn <strong>und</strong> Türken als eine bodenlose Schande<br />

bezeichnen.<br />

Leider Gottes sind wir darauf angewiesen, dass die Türkei weiter<br />

ein NATO-Mitglied bleibt, weil dieses Land strategisch viel zu<br />

wichtig ist, als dass es ausgeschlossen werden kann, <strong>und</strong> gerade<br />

weil die verschiedenen Präsidenten <strong>und</strong> Diktatoren das immer<br />

wussten, haben sie das immer auch ausgenützt. Eines müssen<br />

wir uns jetzt aber deutlich vor Augen führen: Wenn es wirklich<br />

darauf ankommt, können wir uns auf die Türkei nicht verlassen,<br />

das heisst genauer nicht mehr. Noch heute wird in Militärkreisen<br />

daran erinnert, dass die Türken <strong>und</strong> zudem die Griechen im<br />

Koreakrieg zu den zähesten Kämpfern gehörten <strong>und</strong> sogar dann<br />

noch schossen, als die Chinesen ihre Stellungen überrannt<br />

hatten, während alle anderen UNO-Truppen bereits flohen.<br />

Gerade jetzt wäre es so wichtig, die Türken, die auch noch heute<br />

zu den besten Armeen zählen, direkt an unserer Seite zu haben.<br />

Ich bin sicher, dass die Chinesen sich davor hüten würden,<br />

gegen sie zu kämpfen, weil die Erinnerungen an den Koreakrieg,<br />

der im Gegensatz zu dem, was seit Jahrzehnten vor allem von<br />

Linken behauptet wird, tatsächlich von den Kommunisten vom<br />

Zaun gerissen worden war, auch bei ihnen noch nicht vergessen<br />

sind. Gerade dadurch, dass Li-Tsching weiss, dass die Türken<br />

sich für neutral erklärt haben, macht es für ihn leichter, Truppen<br />

gegen uns zu schicken.<br />

<strong>Die</strong>ses bewusste Abseitsstehen der Türkei kann nicht erstaunen,<br />

38


wenn wir daran danken, dass in diesem Land noch bis heute<br />

heftig abgestritten wird, dass dort noch vor der Bildung <strong>des</strong><br />

heutigen Staats ein massiver Völkermord an den Armeniern <strong>und</strong><br />

- was weniger bekannt ist - <strong>und</strong> an den aramäischsprachigen <strong>und</strong><br />

ebenfalls christlichen Assyrern stattgef<strong>und</strong>en hat, aber auch die<br />

Griechen <strong>und</strong> Kurden wurden damals zu Zehntausenden<br />

abgeschlachtet, obwohl die letzteren zum grössten Teil ebenfalls<br />

Moslems waren <strong>und</strong> es immer noch sind. So gesehen wäre es<br />

sogar besser, dieses Land, das eine so blutige Vergangenheit<br />

hat, zu der man immer noch nicht so offen steht wie gerade bei<br />

uns, nicht an unserer Seite zu haben, wenn es strategisch nicht<br />

so wichtig wäre.<br />

Das Abseitsstehen dieses Lan<strong>des</strong> hängt aber sicher auch damit<br />

zusammen, dass die Türken kein europäisches, sondern ein<br />

asiatisches Volk sind <strong>und</strong> dass in Europa nur ein kleiner Zipfel zu<br />

ihnen gehört. Im Gegensatz zu den Albanern <strong>und</strong> Bosniern, von<br />

denen die meisten zwar ebenfalls Moslems sind, die sich aber<br />

immer als Europäer gefühlt haben, sind die Türken asiatisch<br />

geprägte Moslems, die dann, wenn es einmal zu einem grossen<br />

Religionskrieg käme, sich mit Sicherheit auf die Seite ihrer<br />

Glaubensbrüder schlagen würden. Das müssen wir auch in<br />

Bezug zu Israel sehen; eigentlich waren die Beziehungen<br />

zwischen diesen beiden Ländern fast immer gut, was noch von<br />

der osmanischen Zeit stammte, als dieses Reich für die Juden<br />

eine Art Zufluchtsort war, aber wenn es einmal wirklich ans<br />

Eingemachte gehen sollte, wird es sich noch herausstellen, ob<br />

sie an der Seite von Arabern <strong>und</strong> Iranern in Richtung Israel<br />

mitmarschieren werden oder nicht.<br />

Trotz dieser panislamischen Brüderlichkeit haben es die<br />

Moslems nach meinem Wissen aber bis heute noch nie<br />

geschafft, über ihre nationalen Grenzen hinwegzuschauen,<br />

obwohl die Predigten in ihren Gottesdiensten immer auf Arabisch<br />

gehalten werden. So gehen noch heute die Türken, Araber <strong>und</strong><br />

Perser - um die drei bekanntesten zu nennen - noch heute fast<br />

39


nie zusammen in eine Moschee, sondern nur getrennt. <strong>Die</strong>se<br />

Kluften haben die sogenannten Christen schon längst<br />

überw<strong>und</strong>en; die Zeiten, als nicht nur in den USA <strong>und</strong> in<br />

Südafrika der Zutritt zu gewissen Gottesdiensten für die<br />

Nichtweissen verboten war, sind heute nicht mehr vorstellbar,<br />

aber auch die rein schwarzen Gottesdienste mit viel Gospel-<br />

Musik haben heute einen anderen Charakter. Der Zutritt war<br />

früher für die Nichtschwarzen zwar nie direkt verboten, aber man<br />

musste damit rechnen, schief angeschaut zu werden.<br />

Gerade die zwei kleinen Länder Luxemburg <strong>und</strong> Island, die<br />

unserem Verteidigungsbündnis angehören, erinnern uns daran,<br />

dass wir in Europa längst nicht die Einzigen sind. So halten sich<br />

neben der Republik Irland, die noch nie zur NATO gehört hat <strong>und</strong><br />

auch nie um einen Eintritt gebeten worden ist, auch die Schweiz<br />

<strong>und</strong> Österreich heraus, <strong>und</strong> von den Zwergstaaten Andorra,<br />

Monaco, Liechtenstein <strong>und</strong> San Marino, die wie Island ebenfalls<br />

keine eigenen Armeen haben, müssen wir gar nicht erst reden.<br />

Während das abgelegene <strong>und</strong> wirtschaftlich schwache Irland<br />

sogar für die Russen nicht interessant ist - der in Russland<br />

mehrmals vom Stapel gelassene Spruch ‘Vom Ural bis Portugal’<br />

hat für diese Insel nie gegolten -, haben es die Schweizer <strong>und</strong><br />

Österreicher vor allem <strong>des</strong>halb leichter als alle anderen<br />

Mitteleuropäer, weil ihre Länder keine Bodenschätze haben <strong>und</strong><br />

zudem zu zwei Dritteln von Bergen bedeckt sind, also für<br />

Panzervorstösse nicht taugen.<br />

Im Fall der Schweiz ist noch zu sagen, dass ihr Abseitsstehen<br />

wegen ihrer angeblichen Neutralität, die für die heutige Zeit<br />

schon längst überholt ist, für uns eigentlich besser ist, weil in<br />

Bern sogar während <strong>des</strong> Ukraine-Kriegs immer wieder<br />

Extrawürste beschlossen wurden. Dazu gehörte auch, dass von<br />

den mehr als 200 Milliarden Euro, die von russischen Oligarchen<br />

in Schweizer Banken gebunkert wurden, wie es hiess, nur fünf<br />

eingefroren wurden, weil mehr angeblich nicht möglich war. Zum<br />

Glück wurde dieses Land vor allem dank <strong>des</strong> gewaltigen Drucks<br />

40


auf den USA vor etwa zwanzig Jahren dazu gezwungen, das bis<br />

dahin heilige Bankgeheimnis ein wenig zu lockern, nachdem<br />

jahrzehntelang alle möglichen Politgangster <strong>und</strong> Kriminellen ihr<br />

zusammengestohlenes Vermögen dort genauso wie noch heute<br />

auf den Cayman-Inseln <strong>und</strong> in ein paar Golfstaaten hatten<br />

bunkern können. Allerdings ist die helvetische Geldmentalität um<br />

keinen Deut besser geworden, wenn wir daran denken, dass die<br />

schweizerischen Grossindustriellen zu den Ersten gehörten, die<br />

nach dem Ukraine-Krieg sofort wieder Geschäftsbeziehungen zu<br />

Russland aufnahmen. Auf solche falschen Fre<strong>und</strong>e können wir<br />

gut verzichten - <strong>und</strong> dieses Land muss sich nicht w<strong>und</strong>ern, dass<br />

es heute in ganz Europa ausser in Russland nicht mehr<br />

besonders beliebt ist. Ihre Neutralität konnten die Schweizer in<br />

der Zeit <strong>des</strong> Kalten Kriegs auch <strong>des</strong>halb so gut vorschützen, weil<br />

sie vom NATO-Schirm gedeckt wurden - <strong>und</strong> eben auch von<br />

ihren Bergen, also ohne eigenes Zutun.<br />

Dass gerade die Panzer <strong>und</strong> zudem die Artillerie auch im<br />

heutigen Drohnen-Zeitalter noch nicht ganz aus der Mode sind,<br />

hat auch der Ukraine-Krieg deutlich genug gezeigt. Wenn es den<br />

lieben Gott wirklich gibt, können wir ihm dafür dankbar sein, dass<br />

er die Karpaten erschaffen hat, die für Panzervorstösse genauso<br />

wenig geeignet sind wie die Alpen. Das hat für uns im Westen<br />

den Vorteil, dass massive Vorstösse vom Osten aus nur im<br />

Norden möglich sind <strong>und</strong> wir gerade <strong>des</strong>halb darauf schauen<br />

müssen, dass die nördliche Hälfte von Mitteleuropa <strong>und</strong> zudem<br />

Finnland <strong>und</strong> der äusserste Norden Norwegens gut abgesichert<br />

werden. Machen wir uns nichts vor: Auch in der heutigen<br />

hochmodernisierten Zeit macht die Infanterie, zu der wir gehören,<br />

immer noch einen grossen Teil der Kriegsführung aus, <strong>und</strong><br />

gerade hier noch mehr als die Hälfte.<br />

Auch das ethnisch zerrissene Bosnien-Hercegowina, der Kosovo<br />

<strong>und</strong> erst recht Serbien haben sich für neutral erklärt, was nicht<br />

weiter überraschen kann, aber wenigstens hat die Regierung in<br />

Belgrad nicht auch noch verkündet, dass sie voll auf der Seite<br />

41


Russlands steht. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Serben<br />

<strong>und</strong> Russen schon seit Jahrh<strong>und</strong>erten Busenfre<strong>und</strong>e sind <strong>und</strong><br />

dass auch jetzt mehrere h<strong>und</strong>ert Serben in der russischen Armee<br />

kämpfen, wie es heisst, aber gerade diese dicke Fre<strong>und</strong>schaft<br />

hat entscheidend dazu beigetragen, dass der Erste Weltkrieg<br />

ausgebrochen ist. Natürlich gab es noch andere Gründe, aber<br />

das ändert nicht an der Tatsache, dass es nach der Ermordung<br />

<strong>des</strong> österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand durch<br />

serbische Nationalisten bei einem regionalen Krieg zwischen der<br />

Habsburgermonarchie <strong>und</strong> Serbien geblieben wäre, wenn der<br />

russische Zar nicht seine Truppen in Marsch gesetzt hätte, um<br />

den serbischen Blutsbrüdern zu helfen. Es war also Nikolaus, der<br />

diesen Befehl zuerst gab, <strong>und</strong> nicht Kaiser Wilhelm, wie das<br />

ausserhalb Deutschlands noch heute behauptet wird, <strong>und</strong> als die<br />

Russen massiv auf Ostpreussen zumarschierten, musste er<br />

ganz einfach handeln.<br />

Es wird zwar überliefert, dass Nikolaus noch darüber<br />

erschrocken war, was er nach seinem Befehl zur allgemeinen<br />

Mobilmachung angerichtet hatte, <strong>und</strong> <strong>des</strong>halb alles wieder<br />

rückgängig machen konnte. Unglücklicherweise war<br />

ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt der gerade amtierende<br />

französische Präsident auf einem Besuch, der schon lange<br />

vorher vorbereitet worden war. Er galt zwar als moderat <strong>und</strong><br />

aufgeschlossen, doch er stammte von der französischen<br />

Minderheit in Lothringen <strong>und</strong> hatte als Jugendlicher die<br />

Besetzung dieser Region durch deutsche Truppen miterlebt. Das<br />

hatte ihn mit einem solchen Hass erfüllt, dass auch er zu denen<br />

gehörte, die nach dem Krieg von 1870 jahrzehntelang die<br />

Rückgabe von Elsass-Lothringen forderten, obwohl dort mehr<br />

Deutsch als Französisch gesprochen wurde. So hat mir ein<br />

Bekannter, der vom lothringischen Metz stammte, vor ein paar<br />

Jahren gesagt, dass dort noch vor vierzig Jahren immer noch<br />

mehr Deutsch als Französisch gesprochen wurde, allerdings mit<br />

französischem Akzent. Es gelang diesem Politiker, den Zaren in<br />

einem persönlichen Gespräch so lange zu bearbeiten, bis dieser<br />

42


sich weichklopfen liess <strong>und</strong> den Marsch seiner Truppen nach<br />

Deutschland <strong>und</strong> Österreich nicht mehr stoppte. Der Hass eines<br />

einzigen Politikers, der zum dümmsten Zeitpunkt an den<br />

Schalthebeln der Macht sass, hat also mit zum Ausbruch dieses<br />

Kriegs beigetragen, von dem wir die Folgen noch heute sehen.<br />

Wer noch nie dort war, kann nicht wissen, dass die<br />

Schützengräben auf französischem Boden, in denen mehrere<br />

100'000 Soldaten wohnen mussten, bevor sie abgeschlachtet<br />

wurden, noch heute zu sehen sind, weil sie als Denkmäler nie<br />

zugeschüttet worden sind.<br />

Auch dies muss wieder einmal deutlich gesagt werden: <strong>Die</strong><br />

Behauptung, dass diese beiden Lan<strong>des</strong>teile - also das Elsass<br />

<strong>und</strong> Lothringen - urfranzösisch sind, war das gleiche Märchen<br />

wie die Geschichte, dass die Krim ur-russisch ist <strong>und</strong> <strong>des</strong>halb zu<br />

Russland gehört; dabei gehört Elsass-Lothringen erst seit dem<br />

Westfälischen Friedensvertrag von 1648 zu Frankreich, so wie<br />

die Krim erst seit der Eroberung durch die Truppen der Zarin<br />

Katharina, die ebenso wie Peter gross gewesen sein soll, also<br />

erst seit etwa 250 Jahren zu Russland gehört. Heute spielt es<br />

aber keine Rolle mehr, dass Elsass-Lothringen zu Frankreich<br />

gehört, weil die Grenzen schon seit Jahrzehnten praktisch<br />

verwischt sind <strong>und</strong> die Franzosen zu unseren besten Fre<strong>und</strong>en<br />

zählen - <strong>und</strong> ich hoffe, dass wir das bald auch von den Polen<br />

sagen können. Unabhängig davon, wie dieser Krieg ausgehen<br />

wird, allein die Tatsache, dass Zehntausende von Angehörigen<br />

der Bun<strong>des</strong>wehr bereit sind, den Polen in ihrem eigenen Land<br />

beizustehen <strong>und</strong> damit eine mögliche Invasion zu verhindern,<br />

wird dort die meisten sicher beeindrucken.<br />

Ich habe Ihnen zu Beginn gesagt, dass ich ein Militärhistoriker<br />

bin. So liegt es nahe, dass ich Einzelheiten der Geschichte<br />

weiss, die heute in den Schulen nicht mehr unterrichtet werden.<br />

Dazu gehört auch der 9. April 1241, der vor allem in Polen im<br />

Gegensatz zu uns unvergessen geblieben ist. An diesem Tag<br />

geschah es im heutigen Legnica, das auf Deutsch Liegnitz heisst<br />

43


<strong>und</strong> im ehemaligen deutschen Ostgebiet Schlesien liegt, zum<br />

ersten Mal, dass Deutsche <strong>und</strong> Polen ein Heer<br />

zusammenstellten, um den Ansturm der Mongolen abzuwehren.<br />

Sie standen vor einem ähnlichen Kampf wie im Jahr 480 vor<br />

Christus, als ein kleines spartanisches Heer unter dem<br />

Kommando <strong>des</strong> Königs Leonidas, der noch heute nicht<br />

vergessen ist, einer gewaltigen Übermacht von Persern<br />

gegenüberstand <strong>und</strong> die Schlacht nicht zuletzt auch durch das<br />

Mitwirken eines Verräters verlor, doch während sie standhielten,<br />

konnten sich die Athener <strong>und</strong> die anderen griechischen Stämme<br />

so weit vorbereiten, dass die Perser nachher nicht weiter<br />

vordringen konnten <strong>und</strong> sich bald wieder in ihr Land<br />

zurückziehen mussten. Ähnlich erging es diesem deutschpolnischen<br />

Heer, das aus etwa 40'000 Rittern bestand: Da die<br />

Mongolen mehr als doppelt so viele Krieger stellten, hatten sie<br />

keine Chance, diese Schlacht zu gewinnen, doch ihr Opfergang<br />

erwies sich später als einer der ersten Schritte zum Rückzug der<br />

Mongolen aus Europa.<br />

Jetzt befinden wir uns in einer ähnlichen Lage: An die Stelle der<br />

Mongolen, die heute zu den friedlichsten Völkern der Welt<br />

zählen, sind die Russen getreten, die im Mittelalter selber unter<br />

den Mongolen viel gelitten haben, <strong>und</strong> als ihre engsten<br />

Verbündeten die Chinesen <strong>und</strong> Nordkoreaner, von denen es<br />

inzwischen genügend bekannt sind, dass von ihnen keine Gnade<br />

zu erwarten ist, vor allem nicht von den letzteren. Heute wissen<br />

wir, dass gut getarnte nordkoreanische Truppen in Vietnam<br />

kämpften, so wie auf der anderen Seite auch Südkoreaner die<br />

Truppen <strong>des</strong> damals noch unabhängigen <strong>und</strong> international<br />

anerkannten Staates Südvietnam unterstützten. Zudem waren<br />

sie auch in Angola, wo sie die immer <strong>und</strong>isziplinierter<br />

auftretenden Kubaner ersetzen mussten, weil diese mehr durch<br />

Saufgelage <strong>und</strong> Massaker als durch Heldenmut aufgefallen<br />

waren. Es ist also ebenfalls ein schon seit Jahrzehnten erzähltes<br />

rotes Märchen, dass die Kubaner dort die Südafrikaner auf<br />

offenem Feld besiegt haben. Es gab nie eine direkte Schlacht,<br />

44


weil der damalige Premierminister in Pretoria es für besser hielt,<br />

die eigenen Truppen zugunsten von Verhandlungen<br />

zurückzuziehen, die aber nie stattgef<strong>und</strong>en haben.<br />

Gegen den Schluss noch dies: Ein immer noch bekannter<br />

Journalist <strong>und</strong> Buchautor, <strong>des</strong>sen Namen zu nennen es mir nicht<br />

wert ist <strong>und</strong> der vor allem durch seine Anti-USA- <strong>und</strong> ANTI-<br />

NATO-Pfeile auffiel <strong>und</strong> wohl auch <strong>des</strong>halb viel zu viele Auftritte<br />

im Fernsehen bekam, hat sich gleich in zwei wichtigen Punkten<br />

geirrt: Einmal sagte er, dass er nicht glaube, dass es in Europa<br />

jemals wieder zu einem grossem Krieg komme, <strong>und</strong> ein anderes<br />

Mal behauptete er frech, dass die Bun<strong>des</strong>wehr nicht<br />

kriegstauglich sei. Wenn er noch leben würde, könnte er sehen,<br />

dass er nicht Recht hatte. Abgesehen von unseren paar<br />

Einsätzen in Afghanistan <strong>und</strong> in Mali, die aber nicht als richtige<br />

Kriegseinsätze bezeichnet werden können, haben wir zwar keine<br />

Kriegserfahrungen wie etwa die Amis oder die Israelis, aber ich<br />

bin sicher, dass vom alten deutschen Kämpferblut, vor dem sich<br />

einst alle gefürchtet haben, immer noch etwas übriggeblieben ist.<br />

Dazu kommt noch, dass wir moralisch im Recht sind, weil wir<br />

heute im Gegensatz zum Zweiten Weltkrieg keinen<br />

unrechtmässigen Angriffskrieg führen, sondern uns nur<br />

verteidigen, falls die Russen <strong>und</strong> allenfalls auch noch die<br />

Chinesen <strong>und</strong> Nordkoreaner es wagen sollten, die polnischweissrussische<br />

Grenze zu überschreiten. Das Baltikum konnten<br />

sie noch leicht erobern, aber Polen muss die Endstation sein;<br />

gerade <strong>des</strong>halb ist es so ungeheuer wichtig, dass wir die<br />

polnischen Verbündeten vor Ort unterstützen.<br />

Und noch etwas: Es geht nicht darum, dass wir letztlich nur für<br />

die Waffenindustrie, die vom Ukraine-Krieg natürlich gewaltig<br />

profitiert hat, oder für westliche Oligarchen in den Krieg ziehen,<br />

während die soziale Schere zwischen den Reichen, die immer<br />

reicher werden, <strong>und</strong> den Armen, die arm bleiben oder noch ärmer<br />

werden, immer weiter auseinanderklafft - nein, es geht darum,<br />

dass wir unser politisches System verteidigen, das sicher viele<br />

45


Mängel aufweist, das aber immer noch besser ist als das, was in<br />

Moskau, Peking, Pjöngjang <strong>und</strong> Teheran bestimmt wird. Wir<br />

weigern uns, diesen Tyrannen das Feld kampflos zu überlassen.<br />

So wie der amerikanische Präsident es im Spielfilm<br />

‘Independende Day’ in seiner Ansprache an die Piloten vor der<br />

letzten <strong>und</strong> entscheidenden Schlacht gegen die Zombies<br />

zugerufen hat: Wir kämpfen für das Recht, weiter zu leben!’<br />

Genau gleich verhält es sich jetzt - es hat sich nach der<br />

Auflösung der Sowjetunion <strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>en <strong>des</strong><br />

Warschauer Zwangspaktes, zu dem im Gegensatz zu uns alle<br />

Mitglieder beitreten mussten, halt doch als richtig erwiesen, dass<br />

dieses Bündnis, das ein bekannter westlicher Politiker kurz vor<br />

dem Ukraine-Krieg noch als klinisch tot bezeichnet hat,<br />

beibehalten worden ist. Ohne die NATO wäre der grösste Teil<br />

von Westeuropa schon in der Zeit <strong>des</strong> Kalten Kriegs von den<br />

roten Horden erobert worden - <strong>und</strong> ohne die NATO wären wir<br />

heute erst recht verloren.<br />

Wie nahe Europa vor einer solchen Eroberung stand, hat sich<br />

vor allem in Portugal nach dem Sturz der faschistischen<br />

Regierung im April 1974 gezeigt: <strong>Die</strong> meisten von uns waren<br />

damals noch nicht auf der Welt <strong>und</strong> ich selber war noch ein<br />

Jugendlicher, aber ich weiss immer noch gut, dass nicht viel<br />

fehlte, um aus diesem Land einen Moskauer Stützpunkt zu<br />

machen. <strong>Die</strong> portugiesische KP, die damals viel mehr Einfluss<br />

hatte als heute, machte nie einen Hehl daraus, dass dies ihr Ziel<br />

war, <strong>und</strong> zudem drückten die französischen, italienischen <strong>und</strong><br />

sogar finnischen Kommunisten, die immerhin die drittgrösste KP<br />

Europas stellten, ihre Sympathien für Breschnew <strong>und</strong> Konsorten<br />

immer ungenierter aus. Aufgr<strong>und</strong> der Erfolge der Kommunisten<br />

nicht nur in Europa, sondern auch in der ganzen Welt bezeichne<br />

ich selber die Sechziger- <strong>und</strong> Siebzigerjahre als die beiden roten<br />

Jahrzehnte, als es wirklich noch so schien, als ob keine Macht<br />

der Welt diesen Moloch aufhalten könne. Erst mit der Gründung<br />

der freien Gewerkschaft Solidarnosc in Polen <strong>und</strong> mit<br />

46


Breschnews Fehler, nach Afghanistan Truppen zu schicken,<br />

begann der allmähliche Niedergang, aber die Welt ist seitdem<br />

nicht besser geworden, wie wir heute sehen müssen. Vor allem<br />

hat sich neben Russland auch in China <strong>und</strong> Nordkorea <strong>und</strong> zum<br />

Teil auch auf Kuba <strong>und</strong> in Nicaragua nichts verändert; diese<br />

Länder sind den USA noch heute feindlich gesinnt, auch wenn<br />

mit Ausnahme Nordkoreas inzwischen diplomatische<br />

Beziehungen aufgenommen worden sind - aber was heisst das<br />

jetzt schon?<br />

Wir dürfen eines nicht vergessen, was Russland betrifft: Im<br />

Gegensatz zu den Belarussen <strong>und</strong> Ukrainern, die mit den Polen<br />

mehr gemeinsam haben, als es hier bekannt ist, sind die Russen<br />

genauso wie die Türken kein echtes europäisches, sondern ein<br />

eurasisches Volk. <strong>Die</strong> schon seit mehreren Jahrh<strong>und</strong>erten<br />

bestehende Herrschaft auch östlich <strong>des</strong> Urals bis zum Pazifik hat<br />

nicht nur mentale, sondern zum Teil auch rassische Spuren<br />

hinterlassen; das ist eine Erklärung dafür, warum auffallend viele<br />

Russinnen <strong>und</strong> Russen asiatisch anmutende Gesichtszüge<br />

haben. Das haben schon vor achtzig Jahren, als die Rotarmisten<br />

in Deutschland eindrangen, auffallend viele deutsche Soldaten<br />

<strong>und</strong> Zivilpersonen erkannt <strong>und</strong> bestätigt. Schon ein Blick auf die<br />

bekanntesten Mitglieder dieser raffgierigen Kleptokraten-Mafia,<br />

die Russland immer noch so regiert wie damals die Nazis<br />

Deutschland <strong>und</strong> die besetzten Länder, zeigt das deutlich:<br />

Staputow, Mawrow, Teskow, Grasimow, der russische Goebbels<br />

Larionow, der Abend für Abend im Staatsfernsehen gegen den<br />

Westen hetzt, <strong>und</strong> dazu Schugu, der sogar ein echter Sibirier ist,<br />

<strong>und</strong> nicht zuletzt auch Schewedjew, der mit seinen Forderungen,<br />

London <strong>und</strong> Berlin atomar anzugreifen, schon seit langem<br />

beweist, dass er reif für eine Klapse ist, sehen alle wie Eurasier<br />

aus. Dazu gesellen sich noch die Hexe Kurwanian, die bei<br />

Larionow ebenfalls immer wieder auftritt <strong>und</strong> auch schon einen<br />

Atomschlag gefordert hat, <strong>und</strong> die eigentlich bildhübsche Kreml-<br />

Sprecherin Schabanowa, die aber immer einen versoffenen<br />

Eindruck vermittelt Zudem wirken sie alle zusammen mit ihren<br />

47


Worten lächerlich, wenn sie behaupten, sie führen einen Krieg<br />

gegen eine dekadente Zivilisation - so haben auch schon die<br />

Nazis geredet. Wirklich ein armes Russland, das von all diesen<br />

jämmerlichen Mafia-Figuren schon seit Jahren regiert <strong>und</strong><br />

unterdrückt wird!<br />

Wir müssen es klar sehen: Es gibt keinen wirklichen Unterschied<br />

zwischen der NSDAP <strong>und</strong> der Staatspartei «Einiges Russland»,<br />

nur die Feindbilder haben sich ein wenig verschoben. Früher<br />

waren es die Juden, heute sind es die angeblich faschistischen<br />

Ukrainer - die Ukro-Faschisten, wie sie ungeniert auch in den<br />

Medien genannt werden - <strong>und</strong> überhaupt der ganze böse<br />

Westen. Es ist auch von den westlichen Medien nie so richtig<br />

geschrieben worden, dass der russische Völkermord an den<br />

Ukrainern, die von den fanatischen Nationalisten immer als<br />

Kleinrussen bezeichnet wurden, viel mehr Opfer gekostet hat, als<br />

die Nazis Juden umgebracht haben. <strong>Die</strong>se Entwicklung hat<br />

schon unter den Zaren begonnen <strong>und</strong> wurde am schlimmsten im<br />

Holodomor fortgesetzt, also mit dem bewusst inszenierten<br />

Hungertod von Millionen, der durchaus mit dem Holocaust<br />

verglichen werden kann.<br />

Der grosse Visionär Charles de Gaulle, dem es genauso wie<br />

Adenauer zu verdanken ist, dass die Deutschen <strong>und</strong> Franzosen<br />

sich nicht einmal zwanzig Jahre nach dem Ende <strong>des</strong> Zweiten<br />

Weltkriegs offiziell versöhnt haben, soll einmal diese Worte<br />

gesagt haben: ‘Auch die Russen werden einmal erkennen, dass<br />

sie Weisse sind.’ Damit meinte er nicht die weisse Rasse an sich,<br />

sondern die westliche Zivilisation, die nun einmal auch noch<br />

heute <strong>und</strong> vor allem in Europa von den Weissen geprägt wird.<br />

De Gaulle hat sich leider gewaltig geirrt, wie wir schon seit vielen<br />

Jahren wissen, <strong>und</strong> spätestens seit dem Ausbruch <strong>des</strong> Ukraine-<br />

Kriegs. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion konnten wir<br />

zehn Jahre lang zwar noch darauf hoffen, dass auch Russland<br />

im gemeinsamen Haus Europa, wie Gorbatschow es einmal<br />

genannt hat, einen Platz finden würde, aber nach der<br />

48


Machtübernahme Staputows wurde es schon bald klar, dass<br />

dieser versuchen würde, das Rad der Zeit wieder<br />

zurückzudrehen.<br />

Falls jemand unter Ihnen immer noch daran glaubt, dass er<br />

versuchte, sich dem Westen anzunähern, muss ich diesem<br />

deutlich sagen, dass das alles nur Lügen sind. Je mehr Erfolge<br />

er hatte, <strong>des</strong>to mehr liess er die ganze Welt wissen, dass sein<br />

Ziel darin bestand, den Zustand wieder herzustellen, wie er bis<br />

zum Jahr 1991 bestand, <strong>und</strong> dazu gehörte auch, dass Russland<br />

unter eine immer brutalere Herrschaft fiel, viele Regimekritiker<br />

beseitigt <strong>und</strong> Zehntausende in Kerker kamen. Wie tief muss ein<br />

Staat fallen, wenn sogar eine mehr als 90-jährige Urgrossmutter,<br />

die als Mädchen noch den Zweiten Weltkrieg miterlebt hat, bei<br />

einer Demonstration gegen den Ukraine-Krieg, die offiziell nur als<br />

eine militärische Spezialoperation bezeichnet werden durfte,<br />

zwar nicht so brutal zusammengeschlagen wurde wie viele<br />

andere, aber doch mit Gewalt abgeführt wurde! Ein Staat, der<br />

von einem Komplexhaufen <strong>und</strong> Hinterhof-Schlägertypen regiert<br />

<strong>und</strong> unterdrückt wird, der keinen Beruf erlernt, kein Studium<br />

abgeschlossen <strong>und</strong> keinen einzigen Tag bei den Streitkräften<br />

gedient hat, so wie auch der sogenannte Verteidigungsminister<br />

in seinen jungen Jahren nie gedient hat <strong>und</strong> sich trotzdem immer<br />

mit seinen zwanzig Ehrenmedaillen zeigt. Perverser geht es<br />

wirklich nicht mehr; da drängen sich Parallelen zu unseren DDR-<br />

Exponenten auf, die sich mit Ausnahme <strong>des</strong> Stalin-<br />

Verherrlichers <strong>und</strong> Mauerbauers Honecker regemässig mit ihrer<br />

ganzen Medaillensammlung zeigten, obwohl fast keiner von<br />

denen jemals gedient hatte.<br />

Wie pervers es ebenfalls ausarten kann, wenn es darum geht,<br />

grosse Teile der Welt zu erobern <strong>und</strong> zu unterdrücken, zeigt sich<br />

gerade bei dieser Vierallianz <strong>des</strong> Bösen: Da spannen fanatische<br />

Orthodoxe, die sogar von einem Kreuzzug gegen den<br />

dekadenten Westen schwafeln <strong>und</strong> sich bei sogenannten<br />

Gottesdiensten auch noch bekreuzigen, mit chinesischen<br />

49


Atheisten, nordkoreanischen Kimisten <strong>und</strong> iranischen Islam-<br />

Faschisten zusammen, <strong>und</strong> es stört sie offensichtlich nicht, dass<br />

ihre Weltanschauungen so verschieden sind, wie sich der Tag<br />

von der Nacht unterscheidet. Das Schlimmste ist jedoch, dass<br />

die meisten Staaten in den anderen Kontinenten, die noch in<br />

Freiheit leben, sich aus lauter Hass wegen Ereignissen, die<br />

schon viele Jahrzehnte zurückliegen <strong>und</strong> für die wir uns schon<br />

tausend Mal entschuldigt haben, auf die Seite dieser Allianz<br />

geschlagen haben.<br />

Dabei ist es schon längst erwiesen, dass es in Afrika <strong>und</strong> Asien<br />

schon lange vor der Ankunft der ersten europäischen Seefahrer<br />

eine Sklaverei gab <strong>und</strong> sogar ganze Sklavenkarawanen quer<br />

durch die Wüste in Betrieb gehalten wurden, ja, es gab in Afrika<br />

sogar Stammeshäuptlinge, die ganze Nachbarstämme an die<br />

Europäer verkauften. Das erklärt auch, warum diese an den<br />

Küsten einfach so Tausende einfangen konnten; ohne die<br />

Mitarbeit von Einheimischen wäre das nie möglich gewesen.<br />

Solche Sklavenfeldzüge fanden bis zum Beginn <strong>des</strong> letzten<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts sogar bis nach Europa statt, indem an den Küsten<br />

in Nacht- <strong>und</strong> Nebelaktionen Tausende einfach geraubt worden;<br />

<strong>des</strong>halb ist auch der Begriff ‘weisse Sklaven’ aufgekommen. War<br />

diese besondere Sklaverei aber in der UNO <strong>und</strong> in vielen<br />

anderen interkontinentalen Vereinigungen jemals ein Thema?<br />

Kein einziges Mal - in der UNO, die von den anderen Kontinenten<br />

<strong>und</strong> vor allem von den beiden Veto-Mächten Russland <strong>und</strong> China<br />

dominiert wird, erst recht nie.<br />

Dazu gehört auch das Thema Rassismus. Niemand von uns<br />

bestreitet, dass früher allein aus rassistischen Gründen viel<br />

Unrecht geschehen ist, <strong>und</strong> auch heute ist das noch nicht ganz<br />

überw<strong>und</strong>en; wer das bestreitet, sollte wieder einmal ein<br />

Fussballspiel besuchen. Es gibt aber noch zwei andere Arten von<br />

Rassismus, die noch bis heute in der UNO <strong>und</strong> in vielen anderen<br />

internationalen Vereinigungen ebenfalls noch nie ein Thema<br />

waren. Das ist zum einen in Afrika der Rassismus gegen solche,<br />

50


die nicht reinrassig schwarz auf die Welt kommen, auch wenn<br />

beide Elternteile schwarz sind. Noch heute werden solche<br />

Albino-Kinder, wie sie in der Fachsprache heissen,<br />

ausgestossen <strong>und</strong> manchmal sogar direkt getötet, weil diese<br />

schwarz-weissen Mischlinge als Unglück gelten. Zum anderen<br />

gibt es auch in Ostasien <strong>und</strong> vor allem bei den Chinesen einen<br />

besonderen Rassismus. Ich weiss das <strong>des</strong>halb so gut, weil ich<br />

einen Kollegen kannte, der mit einer Chinesin verheiratet war<br />

<strong>und</strong> von ihrer Familie nie akzeptiert wurde, weil er ein Weisser<br />

<strong>und</strong> damit kein reinrassiger Chinese war. Lassen Sie sich also<br />

von niemandem sagen, die Weissen seien immer besonders<br />

rassistisch gewesen <strong>und</strong> seien es noch heute! <strong>Die</strong> anderen sind<br />

um keinen Deut besser.<br />

Dazu gehört auch noch das Thema ‘Beschneidung der Mädchen’<br />

vor allem in Afrika, da ist die Rückständigkeit besonders gut zu<br />

sehen. Das einzige Mal, als ein UNO-Delegierter es wagte,<br />

darüber etwas zu sagen, bekam er von einem afrikanischen<br />

Diplomaten die Antwort, das seien nun einmal ihre Bräuche, die<br />

auch der Westen zu akzeptieren habe. Darauf nickten fast alle<br />

Vertreter von Afrika <strong>und</strong> Asien <strong>und</strong> zum Teil sogar vom christlich<br />

geprägten Lateinamerika nur noch mit den Köpfen. Niemand<br />

sagte noch etwas dagegen - vor lauter Angst, dann als<br />

rassistisch bezeichnet zu werden. Wollen Sie wirklich mit solchen<br />

Staaten befre<strong>und</strong>et sein? So gesehen ist es direkt gut, dass die<br />

UNO, die schon während <strong>des</strong> Ukraine-Kriegs wegen der Veto-<br />

Mächte Russland <strong>und</strong> China wirkungslos war, kurz vor ihrer<br />

Auflösung steht, so wie die jetzige Lage aussieht. Es war ja<br />

schon komisch genug, dass ein Aggressor selber alle möglichen<br />

Resolutionen immer wieder blockieren konnte; in dieser<br />

Beziehung war sogar der Völkerb<strong>und</strong> viel besser, der bekanntlich<br />

nach dem Ersten Weltkrieg gegründet wurde. Er konnte zwar<br />

ebenso wenig ausrichten, doch er hatte wenigstens noch das<br />

Rückgrat, Japan <strong>und</strong> Italien so weit zu bringen, dass sie einem<br />

Ausschluss zuvorkamen <strong>und</strong> selbst austraten, nachdem diese<br />

viele Jahre vor Hitler in der Mandschurei <strong>und</strong> in Abessinien, dem<br />

51


heutigen Äthiopien, ihre Kriege vom Zaun gerissen hatten. Der<br />

Höhepunkt geschah aber dann, als kein geringerer Mitgliedstaat<br />

als die Sowjetunion am Ende <strong>des</strong> Jahres 1939 wegen <strong>des</strong><br />

Angriffs auf Finnland, der nach Stalins Worten ebenfalls nur ein<br />

Verteidigungskrieg war, ausgeschlossen wurde. Stellen Sie sich<br />

das mal vor <strong>und</strong> vergleichen Sie die damaligen Diplomaten mit<br />

denen von heute, die sich zum grössten Teil fast in die Hosen<br />

machen, wenn die Russen <strong>und</strong> Chinesen auch nur ein bisschen<br />

husten!<br />

Natürlich spielt bei diesem Hass auf den Westen auch mit, dass<br />

fast alle dieser Länder vor allem in Afrika genauso wie Russland<br />

von raffgierigen Diktatoren regiert werden. Deshalb ist es umso<br />

wichtiger, dass wir von der NATO, die immer wie eine Familie<br />

gewesen ist, was sich bei den vielen Treffen immer wieder<br />

gezeigt hat, in diesen schweren Zeiten zusammenhalten <strong>und</strong> den<br />

Aggressoren östlich der polnisch-weissrussischen Grenze<br />

deutlich zu verstehen geben, dass sie es nie schaffen werden,<br />

nach dem Baltikum auch uns zu überrennen.<br />

Zum Schluss rufe ich Ihnen diese Worte zu, die so nur selten<br />

gerufen wurden, weil früher vor allem von den Linken immer am<br />

lautesten gestänkert wurde: Lang lebe die NATO, die unsere<br />

Freiheit verteidigt!»<br />

Damit kommt der Generalleutnant doch noch zum Ende eines<br />

Vortrags, den er in dieser Form eigentlich nicht halten wollte,<br />

aber es hat sich so ergeben. Was darauf folgt, erstaunt ebenfalls:<br />

Spontan erheben sich viele <strong>und</strong> rufen die gleichen Worte wie<br />

vorher der General, doch nur die erste <strong>und</strong> kürzere Hälfte,<br />

während viele andere noch sitzen bleiben, aber ebenfalls «Lang<br />

lebe die NATO!» rufen, ja, nicht wenige halten sogar den rechten<br />

<strong>und</strong> teilweise auch den linken Arm hoch <strong>und</strong> ballen sogar die<br />

Fäuste.<br />

Wer geglaubt hat, es sei jetzt vorbei, hat sich geirrt: Nach einer<br />

fast tumultartigen Minute gibt der Generalleutnant mit der rechten<br />

Hand das Zeichen, dass er noch etwas sagen möchte, <strong>und</strong><br />

52


sobald es wieder ruhig ist, sagt er weiter: «Bevor ich hier<br />

schliesse <strong>und</strong> Sie entlasse, damit Sie noch genügend Zeit haben,<br />

um sich einzurichten, habe ich noch eine besondere Frage: Kann<br />

jemand unter Ihnen besondere Sprachenkenntnisse vorweisen,<br />

die in diesem Krieg verwendet werden können? Auch in der<br />

heutigen hochmodernen <strong>und</strong> hochtechnisierten Zeit ist das direkt<br />

gesprochene Wort immer noch wichtiger als jede andere<br />

Kommunikation, sei es Internet, Whatsup oder Instagram <strong>und</strong><br />

wie die sozialen Medien alle heissen. Ich meine mit diesen<br />

Sprachenkenntnissen nicht Englisch, das können heute fast alle<br />

- wenigstens ein bisschen, <strong>und</strong> wenn es noch so schlecht<br />

gesprochen wird. Ich meine auch nicht Französisch <strong>und</strong><br />

Spanisch, die in Europa auch wichtig sind, aber sie werden in<br />

Osteuropa nicht gebraucht. Nein, ich meine exklusive Sprachen,<br />

vor allem Russisch, Chinesisch <strong>und</strong> Koreanisch. Es wäre<br />

ungeheuer wichtig, unter uns solche Leute zu haben, <strong>und</strong> ich<br />

möchte daran erinnern, was einmal ein ägyptischer General<br />

gesagt hat, als er bei einem Treffen mit Israelis nach dem<br />

offiziellen Friedensschluss mit ihnen gefragt wurde, warum er so<br />

gut Hebräisch konnte. Seine Antwort war bemerkenswert: ‘Um<br />

einen Feind besiegen zu können, muss man auch seine Sprache<br />

können.’ Das Gleiche gilt auch jetzt - <strong>des</strong>halb frage ich nochmals:<br />

Kann jemand unter Ihnen solche Sprachenkenntnisse<br />

vorweisen?»<br />

Da wird es auffallend still im Saal. Bergmann weiss zwar, dass<br />

er jetzt gefordert ist, doch er hält sich noch zurück, weil er zuerst<br />

sehen will, ob sich allenfalls jemand anders zuerst meldet. Er<br />

braucht nicht lange zu warten, weil schon wenige Sek<strong>und</strong>en<br />

darauf einer, der etwas weiter vorn sitzt, einen Arm hochhält. Als<br />

der General ihm das Wort erteilt, steht er auf <strong>und</strong> meldet zackig:<br />

«Ich bin Leutnant Peter Stogitsch. Ich kann Ihnen melden, dass<br />

ich Polnisch gut verstehe, weil ich ein Sorbe bin.»<br />

Aha, einer von der immer kleiner werdenden Minderheit in der<br />

Lausitz <strong>und</strong> im Spreewald!, sagt sich Bergmann, <strong>und</strong> viele<br />

53


andere denken das Gleiche. Obwohl die Sorben, die früher<br />

Wenden genannt wurden, schon seit Jahrh<strong>und</strong>erten mitten unter<br />

Deutschen leben <strong>und</strong> auch auf den alten Sprachenkarten immer<br />

eine sorbische Insel gezeigt wurde, sind diese Slawen innerhalb<br />

Deutschlands noch bis heute nie so richtig bekannt geworden;<br />

dabei hat immer auch mitgespielt, dass sie so gut Deutsch ohne<br />

jeden Akzent sprechen, dass sie beim ersten Hinhören gar nicht<br />

als Sorben zu erkennen sind.<br />

Wie wenig bekannt sie sind, zeigt sich auch darin, dass es<br />

eigentlich zwei sorbische Sprachen gibt: Während das<br />

Niedersorbische, das auf dem Land r<strong>und</strong> um Cottbus<br />

gesprochen wird, dem Polnischen besonders nahesteht, tut es<br />

das Obersorbische r<strong>und</strong> um Bautzen in Bezug auf das<br />

Tschechische, <strong>und</strong> zwar derart, dass es zusammen mit diesem<br />

einen besonderen Doppelkonsonanten mit einer Mischung aus<br />

einem «r» <strong>und</strong> einem «sch» hat, den zumin<strong>des</strong>t in Europa keine<br />

andere Sprache mehr aufweist. Bergmann weiss das <strong>des</strong>halb so<br />

gut, weil er nicht nur mit Russisch aufgewachsen ist, sondern<br />

sich während seines Sprachenstudiums auch mit den anderen<br />

slawischen Sprachen näher befasst hat <strong>und</strong> <strong>des</strong>halb auch ein<br />

wenig Polnisch spricht.<br />

Noch bevor irgendjemand weiter zu Wort kommt, sagt der<br />

Generalleutnant zum Mann, der sich jetzt gemeldet hat: «Dann<br />

kann ich also annehmen, dass auch die Polen Sie verstehen,<br />

wenn Sie sich in Ihrer eigenen Sprache ausdrücken, nicht<br />

wahr?»<br />

«Richtig, Herr Generalleutnant», antwortet Stogitsch sofort,<br />

indem er weiter stehenbleibt.<br />

«Auch Kenntnisse <strong>des</strong> Polnischen sind jetzt nützlich», entgegnet<br />

der General, «allerdings können alle polnischen Offiziere gut<br />

Englisch. Das ist in dieser Armee eine der Bedingungen, um<br />

überhaupt ein Offizier oder eine Offizierin zu werden, soviel ich<br />

weiss. Gerade in der NATO, wo mehr als dreissig Sprachen<br />

verwendet werden, ist es unerlässlich, dass die Leute weiter<br />

54


oben sich alle in dieser Weltsprache ausdrücken, damit<br />

Missverständnisse vermieden werden können.»<br />

Dann hält er kurz inne, schaut nochmals ins weite R<strong>und</strong> <strong>und</strong> fragt<br />

weiter: «Ist sonst noch jemand unter Ihnen, der exklusive<br />

Sprachenkenntnisse vorweisen kann?»<br />

Jetzt ist es Bergmann klar, dass er nicht mehr schweigen kann.<br />

So hält auch er den rechten Arm hoch, während er zugleich<br />

aufsteht, <strong>und</strong> sagt fast wie beiläufig: «Ich kann ziemlich gut<br />

Russisch <strong>und</strong> verstehe Polnisch zu etwa zwei Dritteln, ein wenig<br />

kann ich sogar sprechen.»<br />

Schon drehen sich die meisten Köpfe nach ihm um, doch das ist<br />

ihm jetzt fast peinlich, weil er mit diesen Kenntnissen nie<br />

hausieren gegangen ist.<br />

«Wie gut können Sie Russisch?», fragt der General sofort, indem<br />

er ihn mit seiner Brille fast etwas streng anschaut, doch er weiss<br />

auch warum, weil er schon zu viele getroffen hat, die ausser<br />

«Spassibo» <strong>und</strong> «Da swidannja» nicht mehr anzubieten hatten.<br />

«Ich kann es nicht nur zum grössten Teil verstehen, sondern<br />

spreche es auch ziemlich gut, weil meine Mutter eine Russland-<br />

Deutsche ist, aber eine aus Kasachstan, um genau zu sein. Nach<br />

dem Ende der Sowjetunion ist sie nach Deutschland gekommen.<br />

Ich bin hier geboren <strong>und</strong> aufgewachsen, aber sie hat mit mir <strong>und</strong><br />

meiner Schwester konsequent nur Russisch gesprochen, weil<br />

sie es wichtig fand, diese Sprache auch zu können, <strong>und</strong> immer<br />

wieder gesagt hat, dass ich sie einmal brauchen könnte.»<br />

«Das hat sie richtig vorausgesehen», entgegnet der General fast<br />

strahlend, «bei dieser Gelegenheit möchte ich Sie fragen, ob Sie<br />

auch schon in Russland gewesen sind.»<br />

«Schon mehrmals, aber vor dem Ukraine-Krieg», antwortet<br />

Bergmann sofort, «leider habe ich es nie bis Kasachstan<br />

geschafft.»<br />

«Ein Spion!», ruft jetzt jemand mitten in der Menge, worauf<br />

55


mehrere in Gelächter ausbrechen.<br />

«Unsinn!», ruft Bergmann sofort zurück <strong>und</strong> gibt Stresemann das<br />

Zeichen, dass er sich wieder setzen möchte.<br />

Als dieser ihm zunickt, versteht er das als Erlaubnis, <strong>und</strong> sobald<br />

er sich wieder gesetzt hat, ergreift der General wieder das Wort:<br />

«Es ist gut, dass jetzt mit diesem Zwischenruf auch dieses<br />

Thema angeschnitten worden ist. Sie wissen alle ebenfalls, dass<br />

die Spionage nicht zu unterschätzen ist, gerade in der NATO<br />

nicht. Leider sind in unserem Verteidigungsbündnis immer<br />

wieder Fälle von schwerem Verrat vorgekommen, so dass die<br />

Sowjets <strong>und</strong> seit dem Zerfall der Sowjetunion auch die Russen<br />

immer wieder über die neusten Entwicklungen informiert worden<br />

sind. Der schwerste Verrat, der noch heute nicht ganz vergessen<br />

ist, geschah am Ende der Siebzigerjahre, als eine Sekretärin, die<br />

im Hauptquartier in Brüssel Zugang zu hochkarätigen<br />

Dokumenten hatte, diese der DDR zuspielte, <strong>und</strong> diese<br />

informierte nachher natürlich den Kreml. Sie wurde nach ihrer<br />

Flucht in die DDR zwar gefeiert, aber auch sie hat einen hohen<br />

Preis bezahlt. Nach ihrer Ausreise ins damalige Terrorland<br />

Libyen verlor sich ihre Spur schon bald, so dass noch heute nicht<br />

bekannt ist, was aus ihr geworden ist. Es kann sein, dass sie<br />

immer noch lebt, aber um weiter zu spionieren, wäre sie heute<br />

sicher viel zu alt.<br />

Der zweite schwere Verrat, der begangen wurde, geschah noch<br />

vor der Gründung der NATO, als einer, der später in der DDR als<br />

grosser Held gefeiert wurde, zu den Hauptverantwortlichen dafür<br />

gehörte, dass den Sowjets das Geheimnis der Herstellung von<br />

Atombomben verraten wurde, so dass diese im gleichen Jahr<br />

1949, als die NATO gegründet wurde, ihre erste Bombe zünden<br />

konnten. Ohne diesen Verrat wäre es kaum zum Krieg in Korea<br />

gekommen, weil der damalige Diktator in Nordkorea den Angriff<br />

auf den Süden nur <strong>des</strong>halb anordnen konnte, weil er wusste,<br />

dass er den sowjetischen Schutzschild hinter sich hatte. Es wird<br />

zwar erzählt, dass Stalin diesen Krieg nicht unbedingt wollte,<br />

56


dass aber der angebliche Kriegsheld Schukow, der noch heute<br />

in Russland gefeiert wird, ihn dazu drängte, <strong>und</strong> auch im Jahr<br />

1956, als in Ungarn der Volksaufstand stattfand, der noch heute<br />

genauso wie der 17. Juni 1953 von den Roten als faschistisches<br />

Komplott bezeichnet wird, soll er den neuen KP-Chef<br />

Chruschtschow zu einem harten Niederschlagen gedrängt<br />

haben.<br />

Es ist also enorm wichtig, die Maulwürfe in unseren eigenen<br />

Reihen rechtzeitig zu erkennen, bevor sie einen ähnlichen<br />

Schaden anrichten wie früher. Gerade auch <strong>des</strong>halb, weil das<br />

Spionieren in den Diktaturen für den Westen immer viel schwerer<br />

war als umgekehrt, hatten wir nicht so viele Erfolge wie die<br />

andere Seite. Immerhin ist es gelungen, den sowjetischen Oberst<br />

Oleg Penkowski einzuspannen, der in unseren Kreisen noch<br />

heute nicht vergessen ist. Wir haben es vor allem ihm zu<br />

verdanken, dass die Welt im Oktober 1962, als die Welt wegen<br />

Chruschtschow <strong>und</strong> seinem Juniorpartner Fidel Castro vor einem<br />

dritten Weltkrieg stand, davor bewahrt worden ist. Ohne die<br />

Dokumente, die Penkowski dem Westen zugespielt hatte <strong>und</strong> auf<br />

denen geschrieben stand, dass die Sowjetunion militärisch<br />

keineswegs so stark war, wie sie immer vorspielte, hätte<br />

Kennedy nicht so dick auftragen können. Während Penkowski<br />

wenige Monate später hingerichtet wurde, liess es sich Kennedy<br />

nicht nehmen, als grosser Held verherrlicht zu werden, obwohl<br />

er in Wirklichkeit ein schwacher Präsident war. Das bewies er<br />

unter anderem darin, dass er nach dem Berliner Mauerbau, den<br />

er zwar nicht hatte verhindern können, den geheimen Befehl<br />

herausgab, dass die amerikanischen Soldaten an der Grenze<br />

selbst bei Flüchtlingen je<strong>des</strong> direkte Eingreifen unterlassen<br />

sollten. Das hat dazu geführt, dass der noch heute bekannte<br />

Peter Fechter nicht gerettet wurde, obwohl mehrere US-Soldaten<br />

nur wenige Meter danebenstanden <strong>und</strong> das Recht gehabt hätten,<br />

über die Mauer zu steigen <strong>und</strong> ihn in den Westen zu holen, ohne<br />

dass die DDR-Grenzsoldaten ihn daran hätten hindern dürfen.<br />

57


Wie schwach Kennedy war, bewies er am deutlichsten während<br />

der Invasion von Exil-Kubanern in der Schweinebucht im April<br />

1961, als er bei einem Bankett war <strong>und</strong> viel zu lange zögerte, um<br />

einem vor der Küste wartenden Kriegsschiff den Befehl zum<br />

Eingreifen zu erteilen. Allerdings spielte auch mit, dass<br />

Penkowski die erwähnten Dokumente zu diesem Zeitpunkt noch<br />

nicht hatte verraten können, so dass es noch unsicher war, wie<br />

die Sowjets reagieren würden. So konnte sich der<br />

lateinamerikanische Jahrh<strong>und</strong>ert-Verbrecher Fidel Castro, der<br />

während der Kuba-Krise im Oktober 1962 als Erster <strong>und</strong> für<br />

Jahrzehnte als Einziger ungeniert den Einsatz von Atomwaffen<br />

forderte, triumphierend auf einem Panzer stehend ablichten<br />

lassen <strong>und</strong> die Fotos von diesem Sieg in alle Welt schicken.<br />

Wie hinterhältig dieser Castro war, zeigte er in diesen Jahren<br />

auch dadurch, dass er die Trinkwasserversorgung zum<br />

amerikanischen Stützpunkt Guantánamo sperren liess, ohne<br />

daran zu denken, dass damit auch die gleichnamige Stadt, die<br />

auf kubanischem Territorium liegt, von der Leitung abgeschnitten<br />

wurde. Wer die dortige Bevölkerung nachher monatelang mit<br />

Essen <strong>und</strong> Trinken versorgte, waren die von ihm genannten<br />

Yankee-Imperialisten von einem Kriegsschiff aus, bis dieser<br />

Zündler einsah, dass er aufgeben musste. Wäre die Invasion in<br />

der Schweinebucht erfolgreich gewesen, könnte die<br />

Weltgeschichte heute anders geschrieben werden - so hätte die<br />

Kuba-Krise, die immerhin das Leben eines amerikanischen<br />

Piloten kostete, nie stattgef<strong>und</strong>en, <strong>und</strong> auch die Invasion in<br />

Angola, zu der die kubanische Armee von der kommunistischen<br />

Regierung zu Hilfe gerufen wurde, wäre nicht geschehen, <strong>und</strong><br />

vor allem wären von den angeblich kampfstarken Kubanern, die<br />

angeblich die Südafrikaner besiegten, aber in Wirklichkeit fast<br />

nur massakrierten, nicht mehr als 10'000 Angolaner<br />

abgeschlachtet worden. Heute können wir sagen, dass die Amis<br />

den Stützpunkt Guantánamo Gott sei Dank nie an Kuba<br />

zurückgegeben haben, weil damit immer noch eine Kontrolle<br />

möglich ist. Das ist jetzt umso wichtiger, als dieses Land sich<br />

58


genauso wie Nicaragua <strong>und</strong> Venezuela demonstrativ deutlich auf<br />

die Seite Russlands geschlagen hat <strong>und</strong> dieser neue Angriff auch<br />

dort gefeiert wird. Übrigens ist es vor allem unter den Linken,<br />

aber auch unter vielen Bürgerlichen nie ein Thema gewesen,<br />

dass auf Kuba seit der Machtübernahme der Kommunisten im<br />

Jahr 1959 noch bis heute, also mehr als ein halbes Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

später, nie freie Wahlen stattgef<strong>und</strong>en haben, obwohl der<br />

sogenannte grösste Führer, wie sich Castro bezeichnete - ein<br />

Titel, den nicht einmal Hitler <strong>und</strong> Stalin sich gegeben haben <strong>und</strong><br />

so nur noch in Nordkorea für die drei Kims verwendet wird -,<br />

schon vor vielen Jahren eingeäschert worden ist.»<br />

Dann legt er wieder eine Pause ein - <strong>und</strong> alle spüren, dass das<br />

Wichtigste gesagt worden ist. Das sieht auch Stresemann so,<br />

doch er kommt erst jetzt dazu, dem versammelten Offizierskorps<br />

mitzuteilen, was er unbedingt auch noch sagen muss. So ergreift<br />

er wieder das Wort: «Ich habe hier nicht nur aus Platzgründen<br />

allein Offiziere versammeln lassen, weil es dann, wenn Sie alle<br />

zu ihren Einheiten zugeteilt worden sind, Ihren Unteroffizieren<br />

<strong>und</strong> Soldaten das Gleiche mitteilen müssen, was ich Ihnen jetzt<br />

gesagt habe - aber Sie müssen natürlich nicht über alle<br />

Einzelheiten informieren, was ich jetzt getan habe.»<br />

Jetzt wagt es einer, im Gegensatz zu Stogitsch <strong>und</strong> Bergmann<br />

ungefragt den rechten Arm zu erheben, <strong>und</strong> als der General ihm<br />

das Wort erteilt, stellt er sich zuerst als Hauptmann Strauss vor<br />

<strong>und</strong> fragt dann: «Wann erfolgen diese Einteilungen? Schon<br />

morgen?»<br />

«Richtig», antwortet der General, «wir müssen so früh wie<br />

möglich damit anfangen, weil wir nur wenige Tage zur Verfügung<br />

haben, bevor wir nach Polen versetzt werden. Unsere<br />

Verbündeten würden es am liebsten schon jetzt sehen, dass wir<br />

abmarschieren oder genauer hingefahren oder sogar<br />

hingeflogen werden, aber viele unter uns sind aus der Reserve<br />

eingerückt, so dass es etwas dauert, bis alle ihren Kompanien<br />

<strong>und</strong> Zügen zugeteilt worden sind. Für heute sind Sie alle frei -<br />

59


uhen Sie sich noch genügend aus! Bevor wir die Einteilungen<br />

vornehmen <strong>und</strong> nach Polen abrücken, gibt es morgen aber mit<br />

jedem Einzelnen unter Ihnen noch ein kurzes Gespräch, damit<br />

wir wissen, mit wem wir es zu tun bekommen. Natürlich kann ich<br />

nicht mit allen persönlich sprechen, aber ich bekomme<br />

Unterstützung von ein paar anderen hochrangigen Offizieren. Da<br />

ich vorher die Frage gestellt habe, wer unter Ihnen<br />

aussergewöhnliche Sprachenkenntnisse hat, liegt es nahe, dass<br />

ich mit den beiden Kameraden, die sich gemeldet haben, selber<br />

sprechen werde.»<br />

Damit kommt diese Versammlung doch noch zu einem Ende,<br />

<strong>und</strong> fast alle erheben sich <strong>und</strong> verlassen langsam <strong>und</strong><br />

schweigend den Saal, während der Generalleutnant mit ein paar<br />

Offizieren noch bleibt, um mit ihnen noch etwas anderes zu<br />

besprechen.<br />

Eigentlich könnte erwartet werden, dass die Leute nach der<br />

Versammlung beim Aben<strong>des</strong>sen noch ungezwungen<br />

miteinander plaudern, um sich ein wenig kennen zu lernen, doch<br />

die Stimmung ist dafür viel zu bedrückt, <strong>und</strong> zudem fühlen sich<br />

alle, von denen ein Teil von weit her angereist ist, etwas zu müde.<br />

Nicht einmal Stogitsch <strong>und</strong> Bergmann, die als Einzige exklusive<br />

slawische Sprachenkenntnisse vorweisen können, werden jetzt<br />

besonders angesprochen, aber wenigstens lernen sich die<br />

beiden selber etwas persönlich kennen. Allerdings ist es noch ein<br />

belangloses Gespräch ohne Tiefgang, weil sie damit rechnen,<br />

dass sie für ein näheres Kennenlernen in den nächsten paar<br />

Tagen noch genügend Zeit haben könnten. Es klingt makaber,<br />

aber solange die Eroberung <strong>des</strong> Baltikums noch nicht ganz<br />

abgeschlossen ist, können hier alle davon ausgehen, dass das<br />

Nachbarland Polen noch nicht direkt angegriffen wird. Richtig<br />

gefährlich wird es erst dann, wenn die Verstärkung von mehreren<br />

100'000 Chinesen <strong>und</strong> Nordkoreanern vor der polnischweissrussischen<br />

Grenze eintrifft - so lange bleibt ihnen noch eine<br />

kleine Atempause, zumin<strong>des</strong>t hoffen sie alle darauf.<br />

60


3<br />

Trotz der gespannten Lage <strong>und</strong> seiner Bedrückung darüber,<br />

dass er sich von seiner Frau trennen musste, kann Bergmann<br />

erstaunlich gut schlafen, aber auch am nächsten Morgen ist beim<br />

Frühstück deutlich zu merken, dass viele sich immer noch nicht<br />

an diese neue Kriegslage gewöhnt haben. Auch jetzt wird nur<br />

wenig miteinander gesprochen, sogar Stogitsch <strong>und</strong> Bergmann<br />

halten sich immer noch etwas zurück. Beide haben erfahren,<br />

dass sie demnächst ihr Vorstellungsgespräch mit General<br />

Stresemann haben.<br />

Als Bergmann wie befohlen um Punkt acht Uhr ins Büro <strong>des</strong><br />

Generalleutnants eintritt, nachdem er zuerst noch artig geklopft<br />

<strong>und</strong> darauf gewartet hat, bis jemand «Herein!» ruft, begrüsst er<br />

den Vorgesetzten wie in den alten Zeiten so zackig wie möglich,<br />

<strong>und</strong> dieser grüsst zurück, wobei er immer noch sitzenbleibt.<br />

«Bitte setzen Sie sich!», sagt er darauf zu Bergmann, was dieser<br />

mit einem leichten Zögern tut, <strong>und</strong> zugleich die Mütze abnimmt<br />

<strong>und</strong> auf seinen Beinen festhält. Eine Bitte beim Kommiss?, fragt<br />

er sich. Das sind ja ganz neue Töne, offensichtlich bedeutet er<br />

dem Generalleutnant etwas.<br />

Zuerst wirft dieser nochmals einen Blick auf die Dokumente, die<br />

er schon mehrmals gelesen hat, <strong>und</strong> sagt dann erstaunlich leise:<br />

«Wie ich sehe, heissen Sie Hans Albert Bergmann, sind dreissig<br />

Jahre alt <strong>und</strong> wohnen in Berlin.»<br />

«Das ist korrekt», entgegnet dieser, ohne dazu aufgefordert zu<br />

werden.<br />

Dann fragt der General direkt: «Wo genau in Berlin wohnen Sie?<br />

Das ist schliesslich keine kleine Stadt.»<br />

«In Reinickendorf im Nordwesten. Ich bin dort auch<br />

aufgewachsen <strong>und</strong> bis heute offiziell nie weggezogen, wenn ich<br />

61


von meiner <strong>Die</strong>nstzeit einmal absehe.»<br />

«Also in der Nähe <strong>des</strong> Tegeler Sees, wo noch heute das<br />

Humboldt-Schloss steht», sagt dann Stresemann wieder<br />

erstaunlich leise <strong>und</strong> diesmal nur vor sich hin, «ja, das waren<br />

noch Zeiten, als die Familie Humboldt dort lebte <strong>und</strong> Alexander<br />

die halbe Welt erforschte. Das kann man sich heute fast nicht<br />

mehr vorstellen.»<br />

«Der Tegeler See ist aber immer noch der gleiche geblieben»,<br />

wagt Bergmann darauf lächelnd zu entgegnen.<br />

<strong>Die</strong>ser versteckte Humor gefällt dem General, so sagt er ebenso<br />

schwach lächelnd: «Wenn Sie schon von Reinickendorf<br />

kommen, sagen Ihnen sicher auch die Füchse etwas.»<br />

«Ah, Sie meinen die Handballer. Natürlich kenne ich diese, aber<br />

ich habe noch nie ein Spiel direkt geschaut, weil ich mich nicht<br />

besonders für Sport interessiere.»<br />

«Tatsächlich? Dann gehören Sie zu einer kleinen Minderheit.»<br />

«Ja, aber auch diese muss es geben.»<br />

«Wenn Sie sich nichts Besonderes aus Sport machen, kann es<br />

Ihnen auch gleich sein, wie im Eishockey die Eisbären <strong>und</strong> im<br />

Fussball die Hertha <strong>und</strong> die Eisernen, also die von der Union,<br />

spielen.»<br />

«Ehrlich gesagt ja, aber ich respektiere alle, die sich für Sport<br />

begeistern, wie es der alte Spruch sagt: Jedem das Seine.<br />

Allerdings finde auch ich, dass der Sport in der heutigen Zeit eine<br />

viel zu grosse Bedeutung hat, als wäre er eine Religion. So hat<br />

mir ein besonders frommer Mann vor ein paar Jahren gesagt,<br />

dass der Spitzensport, wie er heute mit der Investition von<br />

Milliarden betrieben wird, vor allem dazu dient, von Gott<br />

abzulenken, <strong>und</strong> teilweise muss ich ihm sogar Recht geben.<br />

Immerhin ermöglicht er den Erfolgreichsten, viel Geld zu<br />

verdienen <strong>und</strong> in der Gesellschaft aufzusteigen. Seien wir doch<br />

ehrlich: Ohne ihre sportlichen Erfolge wären auch diese wie die<br />

62


meisten anderen, die das nicht geschafft haben, irgendwo im<br />

Nirgendwo gelandet. Wie stark der Sport aber die heutige Welt<br />

im Griff hält, sehen wir vor allem darin, dass nicht nur in den<br />

anderen Kontinenten, sondern auch bei uns in Europa alles so<br />

wie bisher weiterläuft, soweit es möglich ist, als ob wir jetzt<br />

keinen Krieg hätten, der ganz Europa erfassen kann. Ich finde<br />

das ziemlich pervers, wenn ich ehrlich sein will - genauso<br />

pervers, wie die meisten fast einen Orgasmus bekommen, wenn<br />

ihnen eine Medaille <strong>und</strong> vor allem eine goldene umgehängt wird,<br />

die aber eben keine echte, sondern nur eine silberne mit einer<br />

überzogenen Goldlegierung ist. Von den Pokalen will ich schon<br />

gar nicht reden, diese haben in der ganzen Welt die Funktion von<br />

heiligen Gegenständen. Auf solchen Sport kann ich gut<br />

verzichten; dabei war ich früher gar nicht so schlecht, nur konnte<br />

ich mich nirgendwo festlegen.»<br />

«Sie dürfen mich nicht falsch verstehen, Oberleutnant<br />

Bergmann. Ich bin eigentlich auch nicht besonders am Sport<br />

interessiert, aber ich habe nicht wenige Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Bekannte,<br />

die in irgendeiner Funktion einen Posten haben, <strong>und</strong> auch in der<br />

Bun<strong>des</strong>wehr war der Sport immer ein Thema; das haben Sie<br />

selber ja auch gesehen. Wie ich sehen kann, waren Sie nicht so<br />

wie ich in der Bun<strong>des</strong>wehrhochschule in München, sondern in<br />

der Helmut-Schmidt-Akademie in Hamburg, wo sie ganze vier<br />

Jahre geleistet haben. Warum haben Sie die Bun<strong>des</strong>wehr<br />

verlassen, wenn es Ihnen doch so gefiel, wie Sie aufgr<strong>und</strong> dieser<br />

Dokumente immer gesagt haben?»<br />

«Ja, das stimmt, ich verdanke der Bun<strong>des</strong>wehr wirklich viel <strong>und</strong><br />

ging nicht so wie andere aus irgendeinem Gr<strong>und</strong> im Groll weg.<br />

Ich wollte einfach mal was anderes machen, zudem bekam ich<br />

in Berlin eine passende <strong>und</strong> gut bezahlte Anstellung. Es spielte<br />

aber auch mit, dass ich kurz vor meinem Abschluss meine Frau<br />

kennen lernte <strong>und</strong> mit ihr ein neues Leben beginnen wollte.<br />

Sobald auch sie dort fertig war, kehrten wir zurück, <strong>und</strong> seitdem<br />

wohnen wir wieder in Berlin.»<br />

63


Dann legen beide eine kleine Pause ein, bis der General wieder<br />

das Wort ergreift: «Ja, es steht hier ja geschrieben, dass Sie<br />

verheiratet sind.»<br />

«Das ist richtig - <strong>und</strong> auch Sie ist in Berlin aufgewachsen, aber<br />

im Süden, genauer in Steglitz. Sie ist fast so alt oder genauer<br />

noch fast so jung wie ich <strong>und</strong> ist gestern ebenfalls von der<br />

Reserve eingerückt. Sie ist als Ärztin im Sanitätsdienst eingeteilt<br />

<strong>und</strong> kommt vielleicht genauso wie ich nach Polen, Genaueres<br />

weiss aber auch sie noch nicht.»<br />

«Also kommt auch sie von West-Berlin.»<br />

«<strong>Die</strong>sen Ausdruck haben wir zwei untereinander nie verwendet,<br />

weil wir die DDR-Zeit nicht erlebt haben.»<br />

Dann ergänzt er nach kurzem Zögern: «Eines muss ich gleich<br />

jetzt noch loswerden: <strong>Die</strong> viel zitierte Berliner Schnauze geht uns<br />

beiden ab, obwohl wir miteinander immer nur Berlinerisch<br />

sprechen.»<br />

Da muss der General wieder lächeln, dann sagt er weiter: «Wie<br />

ich sehen kann, haben Sie bis zum Ende der letzten Woche in<br />

einem Gymnasium Sprachen unterrichtet. Welche sind es, wenn<br />

ich fragen darf? Gehört auch Russisch dazu?»<br />

«Sicher - daneben auch noch Französisch, Spanisch <strong>und</strong><br />

Italienisch.»<br />

«Was, auch Italienisch? Das lernen nicht viele in Deutschland.»<br />

«Ich hatte eben immer eine Schwäche für die italienischen<br />

Opern. Zudem hatte ich auch Bekannte aus Italien; <strong>des</strong>halb bin<br />

ich mehrmals dort gewesen, genauso wie in Frankreich, Spanien<br />

<strong>und</strong> England, um meine Kenntnisse vor Ort direkt anzuwenden.<br />

Ausserhalb von Europa bin ich allerdings bis heute nie gewesen,<br />

aber ich bin auch so zufrieden; schliesslich bin ich in diesem<br />

Kontinent viel herumgekommen. Man muss ja nicht in die ganze<br />

Welt hinausreisen, um überall einen Kick zu erleben, wie das bei<br />

vielen zutrifft.»<br />

64


«Ich nehme an, dass Sie sicher auch Englisch gut können.<br />

Warum unterrichten Sie das nicht?»<br />

«Dafür gibt es genügend andere Lehrkräfte, zudem hätte es sich<br />

zeitlich nicht einrichten lassen.»<br />

«Ja, das kann ich verstehen. Abgesehen davon können ja viele<br />

diese Sprache, aber es gilt immer noch das Gleiche wie früher:<br />

Richtig Englisch sprechen kann nur, wer den ACI richtig<br />

beherrscht - <strong>und</strong> das tun auch heute immer noch die wenigsten.»<br />

Dann legt der General wieder eine kleine Pause ein, bis er fragt,<br />

was ihn von Anfang an am meisten interessiert hat: «Wie gut<br />

können Sie Russisch wirklich?»<br />

Da er nach Bergmanns Eindruck hinter seiner Brille einen<br />

strengen Eindruck vermittelt, antwortet dieser entschieden:<br />

«Immerhin so gut, dass ich es vom Ukrainischen <strong>und</strong><br />

Weissrussischen unterscheiden kann - <strong>und</strong> vom Polnischen<br />

sowieso.»<br />

«Warum sagen Sie das?»<br />

«Weil die Unterschiede viel grösser sind, als es die meisten im<br />

Westen wissen. Gerade diese Unterschiede sind der Beweis<br />

dafür, dass die Behauptung, auch die Ukraine <strong>und</strong> Belarus<br />

gehören zu Russland, zum Bereich der Märchen gehört. Man<br />

kann sich untereinander zwar verstehen, doch die ukrainischen<br />

<strong>und</strong> weissrussischen Monatsnamen verstehen die Russen beim<br />

ersten Hören nicht, weil diese vom Polnischen stammen - <strong>und</strong><br />

diese Sprache verwendet nicht die international bekannten<br />

lateinischen Monatsnamen.»<br />

«Kennen Sie noch weitere Einzelheiten?»<br />

«Sicher - so weiss ich ebenfalls, dass noch vor dem Ukraine-<br />

Krieg all jene Ostukrainer, die auf der Seite Russlands standen<br />

<strong>und</strong> <strong>des</strong>halb ständig von einem Anschluss redeten, selber kein<br />

sauberes Russisch sprachen.»<br />

«Können Sie etwas näher darauf eingehen?»<br />

65


«Ja, zum Beispiel zeigen das die Konsonanten ‘g’ <strong>und</strong> ‘h’ sehr<br />

deutlich. <strong>Die</strong> Russen nennen das Wort ‘Propaganda’ genau<br />

gleich wie im Deutschen, während sowohl die echten Ukrainer<br />

als auch die Pseudo-Russen im Osten <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> <strong>und</strong> zudem<br />

auch die Weissrussen ‘Propahanda’ sagen, also mit einem ‘h’.<br />

Dazu kommt noch das Wort ‘gawarit’, das im Osten ‘hawarit’<br />

ausgesprochen wird, aber im echten Ukrainischen heisst es<br />

‘howorit’, <strong>und</strong> zudem wird es nicht auf der letzten, sondern auf<br />

der ersten Silbe betont. Vor allem an diesem Wort, das viel<br />

vorkommt, kann man erkennen, ob jemand von Russland oder<br />

von der Ost-Ukraine stammt. <strong>Die</strong> Russen sagen ja selber, dass<br />

dort kein sauberes Russisch gesprochen wird.»<br />

«Da wissen Sie aber eine ganze Menge. Was wissen Sie über<br />

das Belarussische? Das könnte vielleicht auch noch wichtig<br />

werden, wenn jemand einen Code in dieser Sprache anwenden<br />

will.»<br />

«<strong>Die</strong>se Sprache kenne ich zwar nicht so gut wie Ukrainisch, aber<br />

ich kann sie am Konsonanten ‘s’ erkennen, der häufig vorkommt.<br />

So heisst zum Beispiel ‘eins’ im Russischen ‘adin’ <strong>und</strong> im<br />

Weissrussischen ‘adsin’, <strong>und</strong> was im Russischen ein Wladimir<br />

<strong>und</strong> eine Tatjana sind, das sind im Ukrainischen Wolodimir <strong>und</strong><br />

Tetjana, aber im Belarussischen Uladsimir <strong>und</strong> Tatsjana. Was<br />

das russische Wort ‘gawarit’ betrifft, heisst das dort ‘haworits’,<br />

wobei es auf der zweiten Silbe betont wird. Der Ausdruck ‘er<br />

spricht’ heisst also auf Russisch ‘on gawarít’, auf Ukrainisch ‘win<br />

hóworit’ <strong>und</strong> auf Belarussisch ‘jon hawórits’. Das sind also<br />

ziemlich grosse Unterschiede, aber auch im Bereich der Liebe.<br />

Wenn jemand zu jemand anderem sagt, dass er oder sie ihn oder<br />

sie liebt, sagt man im Russischen ‘ja ljublju tebja’, im<br />

Ukrainischen ‘ja kochaju tebe’ <strong>und</strong> im Weissrussischen ‘ja<br />

kachaju tsjabje’.»<br />

Da der General nichts entgegnet, setzt Bergmann fort: «Es gibt<br />

sogar Unterschiede im Alphabet. Während das Russische das ‘h’<br />

nicht kennt <strong>und</strong> an seiner Stelle ein ‘ch’ verwendet, kommt im<br />

66


Weissrussischen das ‘g’ nicht vor <strong>und</strong> wird durch ‘h’ ersetzt, das<br />

aber wie ein ‘g’ geschrieben wird. Nur im Ukrainischen kommen<br />

alle drei Konsonanten vor <strong>und</strong> zudem wird das ‘g’ vom ‘h’ in der<br />

Schriftsprache dadurch unterschieden, dass über ihm noch ein<br />

Häklein verwendet wird, aber eben nicht immer. Sprechen kann<br />

ich aber nur Russisch - <strong>und</strong> trotzdem haben mir bei meinen<br />

Besuchen viele gesagt, es sei bei mir ein deutscher Akzent<br />

deutlich herauszuhören. Das kennen wir ja auch bei uns, so ist<br />

bei fast allen immer noch ein fremder Akzent zu erkennen.»<br />

«Das ist wirklich eine geniale Begabung, die Sie vorweisen<br />

können.»<br />

«Nein, Herr Generalleutnant», wagt Bergmann jetzt tatsächlich<br />

zu widersprechen, «ich bin zwar sehr sprachbegabt, aber ich<br />

habe mich gegen die beiden Wörter ‘genial’ <strong>und</strong> ‘Genialität’<br />

immer gewehrt. Wirkliche Sprachgenies hat es in der Geschichte<br />

nur wenige gegeben, zum Beispiel Heinrich Schliemann, der die<br />

Ruinen von Troja entdeckt <strong>und</strong> freigelegt hat. Er konnte nicht nur<br />

mehr als zehn Sprachen sehr gut, sondern schrieb auch immer<br />

in der Sprache <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>, das er gerade bereiste - sogar auf<br />

Türkisch, das damals noch mit dem arabischen Alphabet<br />

geschrieben wurde. Setzen Sie mich also bitte nicht auf einen<br />

Thron, der mir nicht zusteht!»<br />

Da Stresemann jetzt etwas zögert, fällt Bergmann noch etwas<br />

ein, das er unbedingt loswerden möchte, doch er möchte nicht<br />

drängen <strong>und</strong> fragt <strong>des</strong>halb leise: «Haben Sie noch kurz Zeit für<br />

eine weitere Information?»<br />

«Warum nicht?», antwortet der General, ohne auf die Uhr zu<br />

schauen, was durchaus als positiv zu werten ist, «aber nur dann,<br />

wenn es mit den Sprachen zu tun hat.»<br />

«Also, dann schiesse ich los. Was ich Ihnen soeben gesagt<br />

habe, ist nur die Hälfte von dem, was die slawischen oder<br />

genauer die ostslawischen Sprachen betrifft. Es gibt nämlich in<br />

der Ukraine <strong>und</strong> in Weissrussland noch zwei Mischsprachen, die<br />

67


Surschik <strong>und</strong> Trassjanka genannt werden; die in der Ukraine<br />

bedeutet eine Mehlmischung <strong>und</strong> die in Weissrussland locker<br />

übersetzt schlechtes Heu. Im mündlichen Gebrauch kommen<br />

beide häufig vor, auch der Ukraine-Krieg hat nicht viel daran<br />

geändert. Der eigentliche Witz ist in Weissrussland, dass die<br />

Verwendung der Mischsprache Trassjanka nicht so verdächtig<br />

ist wie das offizielle Weissrussische, weil dieses als die Sprache<br />

der Opposition gilt. So ist es schon vorgekommen, dass Leute<br />

verhaftet wurden, nur weil sie in dieser Sprache redeten - <strong>und</strong><br />

das im eigenen Land. Seitdem Staputows Strohmann<br />

Lukowalenko offiziell abgesetzt worden ist <strong>und</strong> Weissrussland<br />

jetzt ein Teil Russlands ist, soll es ein wenig lockerer zu- <strong>und</strong><br />

hergehen, wie ich vernommen habe - sicher auch <strong>des</strong>halb, weil<br />

Russisch heute genauso wie in der Sowjetunion die alleinige<br />

Staatssprache ist <strong>und</strong> Weissrussisch genauso wie damals nur<br />

noch unterrichtet werden darf, aber sonst keine Funktionen mehr<br />

hat.»<br />

Da Stresemann weiter zögert, setzt Bergmann fort: «Es gibt aber<br />

noch eine sechste ostslawische Sprache, die früher Ruthenisch<br />

genannt wurde <strong>und</strong> nach mehreren Angaben immer noch von<br />

mehreren 100'000 Menschen r<strong>und</strong> um die Ukraine <strong>und</strong> im<br />

ehemaligen Jugoslawien gesprochen wird; in ein paar Ländern<br />

ist sie sogar als eine Minderheitensprache anerkannt worden.<br />

Was übrigens den ganzen ostslawischen Raum betrifft, können<br />

Sie sich ja auch gut genug vorstellen, wie sehr die russischen<br />

Sprachpuristen, von denen natürlich fast alle glühende<br />

Nationalisten sind, auf die fünf anderen Sprachen schon immer<br />

hinuntergeschaut <strong>und</strong> diese als derbe Bauernsprachen<br />

bezeichnet haben, obwohl sehr viele Russen noch heute Bauern<br />

sind. Das ist aber nur die Denkweise der etwas gebildeteren<br />

Fanatiker, die meisten Russen waren noch nie so.»<br />

«Das ist wirklich erstaunlich, was Sie alles wissen»; sagt dann<br />

Stresemann anerkennend.<br />

«Das ergibt sich halt, wenn man mit Russisch aufwächst <strong>und</strong><br />

68


diese Sprache auch noch unterrichtet. Ich könnte Ihnen auch<br />

noch viel über die west- <strong>und</strong> südslawischen Sprachen erzählen,<br />

aber ich sehe ein, dass Sie dafür wohl keine Zeit mehr haben.»<br />

Da muss Stresemann wieder einmal lächeln, bis er vorbringt,<br />

was ihm schon seit langem auf der Zunge liegt: «Für einen wie<br />

Sie, der so gut Russisch kann <strong>und</strong> dazu auch ein wenig Polnisch<br />

spricht, gibt es eigentlich eine bessere Verwendung, als wenn<br />

Sie ein gewöhnlicher Infanterist wären.»<br />

«Ich will mich aber nicht drücken. Wäre ich ein solcher Typ, hätte<br />

ich auch auswandern können; entsprechende Angebote habe ich<br />

bekommen. Übrigens habe ich nicht das Zeug zu einem Spion<br />

hinter den feindlichen Linien, falls Sie darauf anspielen wollen.<br />

Wie ich es schon gesagt habe, würde man auch mich an meinem<br />

Akzent sofort als einen Ausländer erkennen, <strong>und</strong> auf diese<br />

werden bekanntlich Dutzende von Beobachtern angesetzt, wie<br />

das schon in den Sowjetzeiten war. Dazu kommt noch, dass ich<br />

nach meiner eigenen Einschätzung zu wenig kaltblütig bin, wenn<br />

es wirklich darauf ankommt.»<br />

«Warum wollten Sie nie auswandern?»<br />

«Weil ich hier fest verwurzelt bin <strong>und</strong> immer noch meine Eltern<br />

<strong>und</strong> meine Schwester habe, die ich nicht verlassen will. Auch mit<br />

meinen Schwiegereltern <strong>und</strong> mit meinem Schwager verstehe ich<br />

mich gut, zudem haben wir nicht wenige Fre<strong>und</strong>e.»<br />

Dann hält er kurz inne <strong>und</strong> sagt weiter: «Sehen wir es doch klar:<br />

Fast alle von denen, die auswandern, sehen in erster Linie nur<br />

sich selber nach dem Motto. ‘Ich, ich <strong>und</strong> nochmals ich’. Man<br />

kann es zwar nachvollziehen, dass die meisten nach einem<br />

billigeren <strong>und</strong> damit auch besseren Leben streben, wie sie es<br />

sehen, aber wer es wirklich aufbringen kann, seine Zelte hier für<br />

immer abzubrechen, hat hier erstens keine festen Wurzeln mehr<br />

<strong>und</strong> ist zweitens in den meisten Fällen auch noch so egoistisch,<br />

dass die Balken sich biegen. Wir haben doch auch eine soziale<br />

Mitverantwortung <strong>und</strong> können uns nicht einfach wegstehlen.<br />

69


Natürlich könnte es uns in anderen Ländern <strong>und</strong> Kontinenten<br />

besser gehen, aber es können nun einmal nicht alle auswandern.<br />

Das war übrigens die Standardantwort meiner Grosseltern, wenn<br />

sie darauf angesprochen wurden, warum ihre Eltern, also meine<br />

Urgrosseltern, während der Nazi-Zeit nicht ausgewandert waren:<br />

Es kann nicht ein ganzes Volk auswandern.»<br />

Nach diesen Worten, die den General sichtlich beeindrucken,<br />

halten beide eine Weile inne, bis Stresemann wieder das Wort<br />

ergreift: «Ich finde Ihre Einstellung zwar flott, aber Sie müssen<br />

auch eines sehen: Sie sind jetzt schon seit mehreren Jahren<br />

nicht mehr aktiv dabei <strong>und</strong> erst gestern als Reservist wieder<br />

eingerückt, was Sie ja ehrt. Trotzdem finde ich, es ist noch zu<br />

früh, dass Sie gleich wieder das Kommando über einen Zug<br />

bekommen. Bis Sie wieder fest eingeschult sind, vergehen sicher<br />

ein paar Tage, wenn nicht ein paar Wochen, doch diese Zeit<br />

haben wir jetzt nicht mehr, wie Sie selber ja auch wissen …<br />

Deshalb denke ich, dass Sie mit Ihren guten Sprachkenntnissen<br />

als ein Verbindungsoffizier viel geeigneter wären <strong>und</strong> damit für<br />

unsere Verteidigung viel mehr bewirken könnten. Wir müssen<br />

eben immer das Ganze im Auge behalten.»<br />

«Als Verbindungsoffizier?», fragt Bergmann erstaunt, «gibt es<br />

das heute immer noch? Soviel ich weiss, hat damals die<br />

Wehrmacht solche eingesetzt.»<br />

«Wie ich es gestern vor allen gesagt habe, ist das direkt<br />

gesprochene Wort immer noch am besten - erst recht in der<br />

heutigen Zeit, wo sogar Handys gehackt werden können.»<br />

«Zwischen wem soll ich also eingesetzt werden?»<br />

«Natürlich als Verbindungsoffizier zu den Polen, von denen<br />

min<strong>des</strong>tens die Offiziere zwar alle Englisch sprechen <strong>und</strong> auch<br />

Russisch zum grössten Teil verstehen, aber wir können trotzdem<br />

nie wissen, wann auch Russisch <strong>und</strong> Polnisch gebraucht<br />

werden, <strong>und</strong> zudem können gerade bei dieser Grenze auch<br />

Kenntnisse <strong>des</strong> Belarussischen nicht schaden. Gerade <strong>des</strong>halb<br />

halte ich Sie für besonders geeignet, genauso wie Leutnant<br />

70


Stogitsch, mit dem ich gleich nach Ihnen auch noch sprechen<br />

werde. Dabei können Sie noch mehr anbieten, weil Sie auch<br />

noch Russisch können.»<br />

«Bekomme ich also keine infanteristische Ausbildung mehr?»<br />

«Doch, das schon, aber beschränkt. Als Erstes findet an diesem<br />

Nachmittag ein Schiesstraining statt, auch Sie kommen nicht<br />

darum herum - aber so wie ich Sie jetzt kennen gelernt habe,<br />

sehen Sie darin sicher kein Problem. Es ist wichtig, dass alle neu<br />

Eingerückten min<strong>des</strong>tens mit den Infanterie-Waffen umgehen<br />

lernen, die zum Teil neu sind.»<br />

«Ja, das sehe ich auch so - aber meinen Sie, ein einziger<br />

Nachmittag genügt dafür, auch wenn es nur mit einem Gewehr<br />

ist?»<br />

«Das werden wir noch sehen, aber Sie machen auf mich nicht<br />

den Eindruck, dass Sie nicht wollen, <strong>und</strong> wenn ein fester Wille<br />

da ist, ergibt sich der Rest von selbst. Ich bin sicher, dass Sie es<br />

packen werden.»<br />

Wieder legen sie eine kleine Pause ein, bis dem Generalleutnant<br />

etwas einfällt, das bis jetzt noch nicht zur Sprache gekommen ist:<br />

«Sie sind zwar kein Russe, aber mehrmals dort gewesen; also<br />

wissen Sie über dieses Land sicher mehr als ich, der bisher nur<br />

einmal dort war - <strong>und</strong> auch nur in Moskau <strong>und</strong> St. Petersburg. Da<br />

Sie ja mit Leuten in ihrer eigenen Sprache reden konnten <strong>und</strong><br />

wohl auch eine Zeit auf dem Land gewohnt haben, wie ich<br />

vermute, habe ich eine besondere Frage, die ich nur an jene<br />

stellen kann, die sehr gut Russisch sprechen, aber keine Russen<br />

sind. In meinen vielen Gesprächen mit Leuten, die von dort sind,<br />

aber hier wohnen, stellte ich immer wieder fest, dass sie<br />

befangen waren <strong>und</strong> nicht offen sprechen konnten, weil es ihnen<br />

widerstrebte, gegen ihr eigenes Land etwas zu sagen, wie sie es<br />

empfanden. Dagegen kann ich Sie dies offen fragen: Wie ticken<br />

die durchschnittlichen Russen? Das ist im Westen noch heute<br />

ein Rätsel. Wie war <strong>und</strong> ist es möglich, sich mit Hurrarufen für<br />

71


einen Krieg rekrutieren zu lassen, obwohl es vielen von ihnen<br />

nicht gut geht <strong>und</strong> sie eigentlich wissen, dass sie damit nur ihrem<br />

Diktator einen Gefallen erweisen? So war es schon unter Stalin<br />

<strong>und</strong> so ist es heute unter Staputow, aber wenigstens werden<br />

heute nicht so wie damals wegen einer Kleinigkeit mehrere<br />

100’000 angebliche Deserteure erschossen oder in Straflager<br />

gebracht.»<br />

Bergmann braucht nicht lange für eine Antwort: «Sie sehen das<br />

richtig. Ich habe auch eine Zeit lang auf dem Land gelebt,<br />

irgendwo etwas ausserhalb von Moskau. Erst auf dem Land<br />

können wir sehen, was die viel zitierte russische Seele wirklich<br />

ist. Wenn es Ihnen gelingt, sich mit den Einheimischen zu<br />

befre<strong>und</strong>en, würden diese sogar ihr Leben für Sie geben, <strong>und</strong><br />

das betrifft erst recht die Frauen. Solange sie gut behandelt<br />

werden <strong>und</strong> wissen, dass die Männer sie lieben, würden sie in<br />

einem Krieg sogar direkt an Ihrer Seite kämpfen. Das zeigte sich<br />

schon im Zweiten Weltkrieg, als ganze Frauenbataillone von<br />

Freiwilligen kämpften, wie wir wissen. Von der Haltung dieser<br />

Frauen könnten sich viele bei uns eine dicke Scheibe<br />

abschneiden. Ich liess mich <strong>des</strong>halb auf keine näher ein, weil ich<br />

schon damals meine jetzige Frau kannte, ja, einmal waren wir<br />

sogar zusammen dort. Nach dem Ausbruch <strong>des</strong> Ukraine-Kriegs<br />

zerbrachen diese Kontakte, weil ich nichts mit solchen zu tun<br />

haben wollte, die der Staputow-Propaganda glaubten <strong>und</strong> auch<br />

mir unterstellten, ich würde sie anlügen, wie das auch viele<br />

andere Verblendete sogar mit eigenen Angehörigen taten, wenn<br />

diese sie über die wirklichen Zustände aufklären wollten. Das ist<br />

eben die andere Seite der sogenannten russischen Seele: Es<br />

braucht jemand von oben nur zu rufen, es gehe jetzt um die<br />

Rodina, also um das Vaterland, <strong>und</strong> schon drehen Millionen von<br />

Russen durch <strong>und</strong> rücken bereitwillig ein. Zugegeben, so war das<br />

vor achtzig Jahren auch bei uns, aber wir haben das überw<strong>und</strong>en<br />

- wir sind heute also bedeutend weiter als die dort. Während die<br />

meisten Deutschen heute Hitler verachten, wird dort Stalin, der<br />

um keinen Deut besser war, immer noch von erstaunlich vielen<br />

72


verehrt, obwohl er nicht einmal ein echter Russe war, wie wir<br />

wissen. Wer so wie ich das Russische gut kennt, kann tatsächlich<br />

heraushören, dass er zwar fliessend Russisch sprach, aber nicht<br />

ganz rein, weil er den georgischen Akzent nie ganz wegbringen<br />

konnte. Gerade weil es so ist, wie ich es jetzt geschildert habe,<br />

ist es umso schlimmer, dass wir gegen die Russen kämpfen<br />

müssen, aber wir haben diesen Krieg ja nie gewollt, auch wenn<br />

dort das Gegenteil behauptet wird.»<br />

Erneut schweigen sie eine Weile, bis Stresemann noch etwas<br />

Besonderes einfällt: «Bevor wir uns trennen, möchte ich Ihnen<br />

noch mitteilen, dass wir hier auch einen Seelsorger haben, den<br />

wir scherzhaft Schleyer den Frommen nennen. Wir zwei kennen<br />

uns gut <strong>und</strong> haben sozusagen eine Arbeitsteilung<br />

vorgenommen: Ich bin für den weltlichen Bereich zuständig,<br />

während er zum geistlichen Bereich schaut. Da wir jetzt direkt in<br />

einem Krieg sind <strong>und</strong> nicht wissen können, ob wir diesen<br />

überleben werden, halte ich es für gut, dass all jene, die sich<br />

dafür interessieren, von diesem Angebot Gebrauch machen. Ich<br />

kann Ihnen schon jetzt sagen, dass Sie von Major Schleyer, wie<br />

er offiziell heisst, einiges hören werden, was Sie bisher vielleicht<br />

noch nie gehört haben. Da für heute Nachmittag das erste harte<br />

Training vorgesehen ist - <strong>und</strong> zwar für alle, also auch für Sie -,<br />

halten wir es für besser, dass die Leute seinen Vortrag erst<br />

morgen Vormittag anhören, <strong>und</strong> zwar um neun Uhr, also noch<br />

vor dem Mittagessen. Deshalb ist der Vormittag morgen wieder<br />

frei, aber ab dem Nachmittag geht es dann richtig zur Sache -<br />

<strong>und</strong> ab übermorgen den ganzen Tag lang. Wir müssen uns<br />

schliesslich noch möglichst gut vorbereiten, bevor der Befehl zur<br />

Verschiebung nach Polen eintrifft. Wie ich die Gesamtlage<br />

beurteile, kann es sich nur noch um wenige Tage handeln. So<br />

rechne ich damit, dass wir schon in der nächsten Woche dort<br />

sind.»<br />

Dann erheben sich beide <strong>und</strong> während sie sich fest in die Augen<br />

schauen, sagt Stresemann: «Also, Oberleutnant Bergmann,<br />

73


damit wissen Sie, an welchem Platz wir Sie einsetzen möchten.<br />

Noch heute nehme ich zu den Polen Verbindung auf, um ihnen<br />

mitzuteilen, dass wir einen geeigneten <strong>und</strong> fähigen Mann<br />

gef<strong>und</strong>en haben; schliesslich ist die entsprechende Anfrage von<br />

denen gekommen.»<br />

Nach einer weiteren kleinen Pause sagt der Generalleutnant<br />

weiter: «Also, ich empfehle Ihnen, sich morgen Vormittag den<br />

Vortrag <strong>des</strong> frommen Majors anzuhören. Er hat ein gewaltiges<br />

Wissen nicht nur über die Bibel, sondern auch über die anderen<br />

Weltreligionen.»<br />

«Sie haben aber auch einiges auf dem Kasten», wagt Bergmann<br />

mit einem Lächeln zu entgegnen, «das hat Ihr Vortrag von<br />

gestern gezeigt.»<br />

«Das ist mein Beruf», sagt Stresemann ebenso lächelnd, «es<br />

gehört dazu, mehr als der Feind zu wissen, wenn wir ihn<br />

besiegen wollen. Das betrifft nicht nur den Bereich der Rüstung<br />

<strong>und</strong> der Spionage, sondern eben auch das, was wir beide<br />

wissen.»<br />

Schliesslich verabschieden sich beide militärisch voneinander<br />

<strong>und</strong> als Bergmann nach draussen geht, sieht er Stogitsch, der<br />

sich als ein Sorbe zu erkennen gab, auf einer Bank sitzen.<br />

Sobald dieser ihn sieht, steht er auf, lächelt ihm kurz zu <strong>und</strong> klopft<br />

an die Tür, die immer noch offensteht. Sobald auch er ein<br />

«Herein!» hört, geht er hinein, <strong>und</strong> Bergmann begibt sich zuerst<br />

zur Unterkunft, die er mit mehr als zehn anderen teilt. Das stört<br />

ihn nicht weiter, weil er das von seiner früheren <strong>Die</strong>nstzeit noch<br />

kennt, <strong>und</strong> zudem waren eigene Zimmer eigentlich nur für die<br />

weiter oben eingereihten Offiziere vorgesehen. Da sie sowieso<br />

nur noch wenige Tage hier sind, kommt es ja nicht mehr darauf<br />

an, wie genau sie untergebracht sind.<br />

-------------------------------------------------------------------------------<br />

Da die beiden Halbslawen, wie ein anderer sie ironisch beim<br />

Vorbeigehen schon genannt hat, sich schon ein wenig kennen<br />

74


gelernt haben, liegt es nahe, dass sie beim Mittagessen in der<br />

Kantine zusammen in der Schlange stehen <strong>und</strong> nach dem<br />

Fassen auch am gleichen Tisch sitzen. Dazu gesellen sich noch<br />

vier andere, die sie noch nicht näher kennen <strong>und</strong> die unter sich<br />

bleiben, aber es würde sie auch nicht stören, wenn sie ihnen<br />

zuhören würden, weil sie jetzt keine Staatsgeheimnisse<br />

austauschen müssen.<br />

«Wie ist es gelaufen?», fragt zuerst Bergmann den anderen.<br />

«Sehr gut - sie nehmen auch mich genauso wie du.»<br />

Da die beiden zwar Offiziere sind, aber den unteren Rängen<br />

angehören <strong>und</strong> zudem etwa gleich alt sind, ist es für sie natürlich,<br />

dass sie sich sofort duzen. Bei einem Hauptmann oder Major,<br />

geschweige denn bei einem von noch weiter oben würden diese<br />

sicher sauer reagieren, wenn man sie einfach duzen würde.<br />

«Also als Verbindungsoffizier?» fragt Bergmann ohne Zögern.<br />

«Genau - nur frage ich mich, wie genau das vor sich gehen soll,<br />

aber der Generalleutnant meint, dass sich das dort schon noch<br />

von allein ergeben wird. Wenn die Polen sehen, dass ich ihre<br />

Sprache nicht nur verstehe, sondern zum Teil auch noch<br />

spreche, können sie sich mit mir sicher bald abfinden.»<br />

<strong>Die</strong>ser Humor gefällt Bergmann <strong>und</strong> er fühlt, dass sie sich mit der<br />

Zeit gut verstehen könnten. Da er vom anderen aber immer noch<br />

nichts Näheres weiss, fragt er ihn direkt: «Woher genau kommst<br />

du? Bist du ein Ober- oder ein Niedersorbe?»<br />

«Aha, du kennst also diesen Unterschied. Ich bin in einem Dorf<br />

in der Nähe von Cottbus aufgewachsen, bin also ein<br />

Niedersorbe. Ich verstehe aber auch die Obersorben r<strong>und</strong> um<br />

Bautzen gut.»<br />

«Warum bist du zur Bun<strong>des</strong>wehr gegangen?», will Bergmann<br />

weiter wissen.<br />

«Wahrscheinlich aus dem gleichen Motiv wie du: Erstens wollte<br />

75


ich meinen Horizont erweitern, zweitens konnte ich dort auch<br />

etwas studieren.»<br />

«Was genau <strong>und</strong> wo?»<br />

«Genau wie der Generalleutnant in München, das von meinem<br />

Heimatdorf etwas näher liegt als die andere Bun<strong>des</strong>wehr-<br />

Hochschule in Hamburg. Ich habe Elektrotechnik studiert <strong>und</strong><br />

alles andere, was damit zusammenhängt.»<br />

«Aha, dann bist du also ein Techniker. Ich bin anders gelagert,<br />

ich habe Sprachen studiert <strong>und</strong> diese auch bis vor kurzem in<br />

einem Berliner Gymnasium unterrichtet.»<br />

«Welche genau?»<br />

«Das hat mich auch schon Stresemann gefragt. Es waren<br />

Französisch, Spanisch <strong>und</strong> Italienisch - <strong>und</strong> natürlich auch<br />

Russisch.»<br />

«Wow, auch noch Italienisch <strong>und</strong> Russisch! Aber warum nicht<br />

auch noch Englisch? Ich darf wohl annehmen, dass du diese<br />

Sprache auch kannst.»<br />

«Du scheinst der geistige Zwillingsbruder <strong>des</strong> Generalleutnants<br />

zu sein, genau das Gleiche hat auch er mich gefragt. Es gibt für<br />

das Englische eben überall genügend Lehrkräfte, zudem liess es<br />

sich zeitlich nicht einrichten.»<br />

«Na ja, was soll’s - heute kann ja jeder Idiot Englisch, aber ich<br />

übertreibe jetzt natürlich ein wenig.»<br />

Dann legen sie eine kleine Pause ein, bis Bergmann den<br />

anderen ungeniert fragt: «Bist du eigentlich verheiratet oder<br />

nicht, so wie ich es bin?»<br />

«Nein, aber ich habe eine feste Fre<strong>und</strong>in. Zu einer Heirat konnte<br />

ich mich bis jetzt nicht entschliessen, weil ich zu viele Kollegen<br />

kenne, die heute die Hälfte ihres Gehalts abdrücken <strong>und</strong> an die<br />

Ex überweisen müssen, obwohl diese zum Teil schon mit<br />

anderen zusammenleben, die noch mehr Kohle haben. Dazu<br />

76


kommt noch, dass sie mit Hilfe von feigen Richtern <strong>und</strong><br />

Jugendämtern ihre Kinder jahrelang nicht mehr sehen dürfen,<br />

weil sie sich an diesen Ränkespielen der Ex beteiligen. Wenn du<br />

also scharf darauf bist, dich zu ruinieren, empfehle ich dir<br />

wärmstens eine Scheidung, doch im Vergleich zu den Zuständen<br />

bei den Amis sind wir direkt noch gut dran. Nein, das alles wollte<br />

ich mir nicht antun, auf so viel staatliche Gerechtigkeit konnte ich<br />

gut verzichten - <strong>und</strong> jetzt kommt auch noch dieser Krieg<br />

dazwischen.»<br />

«Ich kann dich verstehen, aber ich denke, dass beim Eingehen<br />

einer Verbindung immer ein kleines Stück Optimismus dabei sein<br />

muss, sonst können wir gleich einpacken <strong>und</strong> immer allein<br />

bleiben.»<br />

Dann hält Bergmann kurz inne, bis ihm etwas einfällt, das ihn<br />

neugierig macht, <strong>und</strong> so fragt er den anderen: «Ist deine<br />

Fre<strong>und</strong>in auch beim B<strong>und</strong>?»<br />

«Nein - warum fragst du das?»<br />

«<strong>Die</strong> meine ist es aber. Sie ist Ärztin <strong>und</strong> irgendwo im<br />

Sanitätsdienst eingeteilt <strong>und</strong> hat mir noch nicht mitgeteilt, wo sie<br />

stationiert sein wird, aber es sieht so aus, dass auch sie nach<br />

Polen versetzt wird. Da du ja auch weisst, dass wir aus<br />

Sicherheitsgründen nicht mehr telefonieren oder simsen dürfen,<br />

warte ich immer noch auf einen Brief.»<br />

Wieder schweigen sie eine Weile, bis Stogitsch etwas einfällt,<br />

<strong>und</strong> so fragt er Bergmann ungeniert: «Was meinst du - sollen wir<br />

in unseren zweiten Sprachen reden oder nicht?»<br />

«Warum das denn?»<br />

«Es hätte seinen Reiz, die Reaktionen der anderen zu sehen.»<br />

«Du scheinst ein kleiner Scherzkeks zu sein, aber ich halte es für<br />

besser, dass wir nicht provozieren.»<br />

«Provozieren nennst du das?»<br />

77


«Willst du etwa, dass ich nochmals so wie gestern zu hören<br />

bekomme, ich sei ein Spion? Das würde mir zwar nichts<br />

ausmachen, aber es hat keinen Sinn, unnötig aufzufallen. Es gibt<br />

auch in diesem Land schon genügend andere, die sich am<br />

liebsten mit Staputow-Plakaten zeigen würden, so wie das am<br />

Anfang <strong>und</strong> am Schluss <strong>des</strong> Ukraine-Kriegs geschah. Mit diesen<br />

widerlichen Gestalten, die hier zu Zehntausenden wohnen, will<br />

ich mich nicht vergleichen lassen. Ich bin immer noch ein echter<br />

Deutscher <strong>und</strong> kein Russe <strong>und</strong> will nicht der gleiche Verräter<br />

sein, unter diesen hat es ja auch Russland-Deutsche.»<br />

«Ja, da muss ich dir Recht geben, das sehe ich auch so.»<br />

Dann schweigen sie wieder eine Weile <strong>und</strong> nehmen in Ruhe ihr<br />

Mittagessen ein. Das tun sie jetzt auch <strong>des</strong>halb, weil sie damit<br />

rechnen, dass sie noch genügend Zeit zusammen verbringen<br />

werden, weil sie ja zum gleichen Spezialdienst eingeteilt worden<br />

sind. Es verhält sich zwar nicht gleich wie im berühmten<br />

Soldatenlied «Ich hatt’ einen Kameraden», aber sie fühlen<br />

trotzdem, dass sie noch gute Fre<strong>und</strong>e werden könnten.<br />

Schliesslich werden auch sie mit dem Mittagessen fertig, dann<br />

rüsten sie sich für das erste Feldschiessen am Nachmittag aus.<br />

Da sie sich gestern als Einzige mit besonderen<br />

Fremdsprachenkenntnissen zu erkennen gaben, die über das<br />

Englische hinausgehen, hat man sie auch in die gleiche<br />

Unterkunft eingeteilt.<br />

78


4<br />

Es erweist sich als richtig, dass die eingerückten Reservisten den<br />

ganzen Nachmittag lang wieder an den Maschinengewehren <strong>und</strong><br />

sonstigen Waffen ausgebildet werden, weil die<br />

Bewegungsanläufe nun einmal nicht mehr so sitzen wie in der<br />

Aktivzeit. Zu seinem eigenen Erstaunen kann sich Bergmann<br />

aber schnell wieder einleben, vor allem auch <strong>des</strong>halb, weil die<br />

Infanteriewaffen weitgehend noch die gleichen geblieben sind.<br />

Wichtig ist ihm vor allem, dass er mit den Bewegungsabläufen<br />

beim Maschinengewehr wieder schnell zurechtkommt, doch das<br />

hat auch eine gewisse Logik. Schliesslich muss ein Offizier, der<br />

er immer noch ist, seinen Untergebenen immer voraus sein.<br />

Er erinnert sich wieder mit einem Schmunzeln an seine<br />

Gr<strong>und</strong>wehrzeit, als sein Zugführer sich einmal vor dem ganzen<br />

Zug aufpflanzte <strong>und</strong> laut sagte: «Das erste Ziel ist, den Zugführer<br />

zu schlagen!» Dann zeigte er auf das Ziel, das immerhin fast<br />

h<strong>und</strong>ert Meter entfernt lag, <strong>und</strong> nachdem er «Achtung, fertig,<br />

los!» gerufen hatte, spurteten alle zusammen los - <strong>und</strong> der Kerl<br />

schaffte es tatsächlich, alle seine Untergebenen mitsamt den<br />

Unteroffizieren zu schlagen. Allerdings war es knapp; so weiss<br />

Bergmann noch gut, dass er es zusammen mit zwei anderen, die<br />

zugleich mit ihm das Ziel erreichten, nur um einen halben Meter<br />

nicht schafften.<br />

Auch bei der Ausbildung mit den Waffen war es ähnlich. Wenn<br />

sie ihre Gräben aushoben, genügte es dem Zugführer nicht,<br />

wenn man ihm sagte, man habe tief gegraben <strong>und</strong> könne den<br />

Feind trotzdem gut genug sehen. Meistens legte er sich selbst<br />

hin, um zu prüfen, ob das stimmte, <strong>und</strong> wenn er nicht zufrieden<br />

war, gab es immer wieder eine Rüge. Einmal geschah es, dass<br />

sogar der Kompaniekommandant vorbeikam <strong>und</strong> das Gleiche<br />

tat; dabei störte es ihn nicht, dass er gerade nicht den<br />

Kampfanzug trug, aber wenigstens eine Uniform, die auf dem<br />

79


Feld auch verwendet wurde, <strong>und</strong> für die Reinigung gab es immer<br />

noch Spezialleute.<br />

Auch auf diese Weise zeigten diese beiden Offiziere, dass sie<br />

ihren Untergebenen immer voraus sein mussten, <strong>und</strong> es war<br />

Bergmann trotz der Fischerei, wie er <strong>und</strong> ein paar andere die<br />

Rügen nannten, immer klar, dass die beiden im Gr<strong>und</strong> Recht<br />

hatten. Um kriegstauglich zu werden, mussten nun einmal auch<br />

diese Einzelheiten beachtet werden, <strong>und</strong> auch wenn gewisse<br />

Exponenten in den Medien der Bun<strong>des</strong>wehr die<br />

Kriegstauglichkeit absprachen, glaubten sie selbst immer daran,<br />

dass sie voll da sein würden, wenn es darauf ankam - <strong>und</strong> jetzt<br />

können sie wohl bald beweisen, dass sie immer Recht gehabt<br />

haben. Auch jetzt will niemand Krieg, aber nach dem Ukraine-<br />

Krieg <strong>und</strong> dem Überfall auf das Baltikum, <strong>des</strong>sen Eroberung<br />

leider wohl bald abgeschlossen sein wird, machen sie sich über<br />

ihr eigenes Schicksal keine Illusionen mehr.<br />

Das einzige Betrübliche ist für Bergmann, dass er von seiner<br />

Frau Iris noch immer nichts gehört hat, aber es ist auch erst der<br />

zweite Tag nach ihrem Einrücken. Da ein Funkverkehr aus<br />

Gründen der Sicherheit verboten ist, wird es wohl noch einen<br />

oder zwei Tage mehr dauern, bis er einen Feldpostbrief<br />

bekommt, sobald ihr mitgeteilt worden ist, wohin genau sie<br />

eingeteilt wurde. Trotz seiner Bedrücktheit, die er immerhin mit<br />

den anderen teilen kann, schläft er zu seinem eigenen Erstaunen<br />

nochmals so gut wie in der letzten Nacht.<br />

----------------------------------------------------------------------------<br />

Am nächsten Vormittag versammeln sich all jene, die am Vortrag<br />

<strong>des</strong> frommen Majors Schleyer interessiert sind, schon um neun<br />

Uhr im gleichen Saal, in dem der Generalleutnant seine<br />

Einführungsansprache gehalten hat. Tatsächlich sind fast alle<br />

wieder dabei; nur ein paar wenige ziehen es vor, diesen<br />

Vormittag für dieses <strong>und</strong> jenes zu verwenden oder noch etwas<br />

länger auszuruhen.<br />

80


Als der Major vor ihnen steht, wirft auch er wie Stresemann<br />

gestern noch einen langen Blick über das weite R<strong>und</strong>, bis er fast<br />

feierlich beginnt: «Wie Sie alle gestern sicher schon gehört<br />

haben, bin ich Major Schleyer, genannt Schleyer der Fromme.<br />

Ich höre diesen Ehrentitel besonders gern, weil er genau auf<br />

mein Leben zutrifft. Was ich Ihnen jetzt sagen werde, bevor Sie<br />

am Nachmittag ihre Ausbildung fortsetzen, haben Sie auf diese<br />

Weise ziemlich sicher noch nie gehört, weil diese Worte in den<br />

Medien <strong>und</strong> erst recht im Bun<strong>des</strong>tag <strong>und</strong> in allen anderen<br />

Parlamenten unseres Lan<strong>des</strong> nicht gesagt werden … <strong>und</strong> auch<br />

nicht gesagt werden dürfen. <strong>Die</strong> Angst vor diplomatischen<br />

Verwicklungen ist in der Bun<strong>des</strong>republik, aber auch in vielen<br />

anderen Ländern halt immer viel zu gross gewesen.<br />

Lieber rot als tot! So hiess es noch in den Siebziger- <strong>und</strong><br />

Achtzigerjahren, als gegen die zusätzliche Aufrüstung der NATO<br />

demonstriert wurde, <strong>und</strong> die Angst davor, die scheinbar<br />

allmächtige Sowjetunion zu verärgern, zeigte sich sogar darin,<br />

dass eine atomwaffenfreie Zone von Portugal bis Polen gefordert<br />

wurde. Das hiess also ausgedeutscht, dass bis zur Ostgrenze<br />

von Polen keine Atomraketen aufgestellt werden durften, dass<br />

jedoch die Sowjets das sehr wohl in Weissrussland <strong>und</strong> sogar in<br />

Kaliningrad tun durften. Schon die Verhandlungen mit den<br />

Amerikanern über eine Reduzierung <strong>und</strong> Abrüstung, zu denen<br />

sich die Sowjets gezwungen sahen, aber spätestens der Abzug<br />

der letzten sowjetischen Truppen aus Afghanistan, wo sie sich<br />

verrennt hatten, führten allen vor Augen, dass dieses Vielvölker-<br />

Gefängnis sich nicht mehr lange halten konnte, was zugleich<br />

bedeutete, dass es eine Weltmacht weniger geben würde.<br />

Dementsprechend waren wir alle zuversichtlich, als im<br />

November 1989 die Berliner Mauer fiel, als wir ein Jahr später<br />

die Wiedervereinigung feiern konnten <strong>und</strong> wiederum ein Jahr<br />

später die Sowjetunion sich endgültig auflöste.<br />

Ich bekenne offen, dass ich im Innersten nie damit gerechnet<br />

habe, dass der neue Status quo mit den neuen Grenzen sich<br />

81


lange halten würde. Vor allem habe ich nie damit gerechnet, dass<br />

die Regierung in Moskau sich auf die Dauer damit abfinden<br />

würde, dass die Ukraine <strong>und</strong> Weissrussland, die angeblich<br />

immer ur-russisch waren, immer unabhängig bleiben würden,<br />

<strong>und</strong> heute wissen wir, dass meine düsteren Vorahnungen sich<br />

als richtig erwiesen haben. Gerade wegen der gewaltigen<br />

Umwälzungen im Russland der Neunzigerjahre hofften wir alle<br />

darauf, dass dieses Land endlich westfre<strong>und</strong>lich werden <strong>und</strong><br />

bereit sein würde, ein neues Europa aufzubauen. So wurden dort<br />

sogar freie Wahlen erlaubt, was es nie zuvor gegeben hatte, <strong>und</strong><br />

in diesem einen Jahrzehnt konnte trotz der vier Kriege, die im<br />

ehemaligen Jugoslawien wüteten, damit gerechnet werden, dass<br />

dieses Ziel erreicht werden konnte.<br />

<strong>Die</strong>ser geradezu naive Glaube wurde auch nach Staputows<br />

Machtübernahme beibehalten, weil es lange so schien, dass er<br />

die Politik seines Vorgängers fortsetzen würde. Dabei übersahen<br />

wir, dass sich im Russland in den Neunzigerjahren so viel<br />

Korruption breitgemacht hatte, dass viele zwielichtige Unterwelt-<br />

Gestalten nach oben an die Macht gespült wurden, während<br />

immer mehr Leute verarmten. In diesem Zusammenhang ist zu<br />

erwähnen, dass es auch in der Sowjetunion<br />

Klassenunterschiede gab, obwohl offiziell alle gleich waren; dazu<br />

gehörten auch die vielen Villen, die früher vor allem Stalin <strong>und</strong><br />

Breschnew bewohnten <strong>und</strong> von denen heute auch Staputow ein<br />

paar verwendet. Da diese streng nach Gesetz, das natürlich zu<br />

ihren Gunsten gedreht werden konnte, nur dem sowjetischen<br />

Volk gehörten, konnte sich niemand darüber beschweren, dass<br />

die Parteichefs sich dort breitmachten, auch wenn nur wenige<br />

Zutritt bekamen.<br />

Nach dem Ende der Sowjetunion war es mit diesem juristischen<br />

Trick vorbei - <strong>und</strong> gerade diese neue Hyperkorruption trug<br />

entscheidend dazu bei, dass in diesen neuen Mann im eigenen<br />

Land so viele Hoffnungen gesetzt wurden, <strong>und</strong> solange er nur in<br />

Tschetschenien alles bombardieren liess <strong>und</strong> nach dem<br />

82


ebenfalls naiven Motto ‘Wandel durch Handel’ weiter Geschäfte<br />

betrieben werden konnten, schaute man hier grosszügig weg.<br />

<strong>Die</strong> Hauptsache war, dass er keinen Krieg vor unseren<br />

Haustüren anzettelte, zumal er selbst immer wieder betonte, er<br />

wolle keinen Krieg, <strong>und</strong> sogar nach der Annexion der Halbinsel<br />

Krim im Jahr 2014 in einer langen Rede sagte, er wolle die<br />

Ukraine nicht weiter teilen. Mit indirekten Worten deutete er<br />

genauso wie sein geistiger Vorgänger vor neunzig Jahren an,<br />

dass dies seine letzte territoriale Forderung sei.<br />

Ich muss nicht alles wiederkauen, was wir alle schon längst<br />

wissen. Seit dieser Annexion <strong>und</strong> den darauffolgenden Kämpfen<br />

in der Ostukraine, die von Staputow mitangezettelt <strong>und</strong><br />

unterstützt wurden, ist es uns allen im Gr<strong>und</strong> immer klar<br />

gewesen, dass früher oder später ein ganz grosser Krieg<br />

ausbrechen würde, auch wenn die damalige Bun<strong>des</strong>regierung<br />

immer noch grosszügig wegschaute. Wandel durch Handel - das<br />

zeigte sich auch bei den Ostsee-Pipelines, mit denen die<br />

Bun<strong>des</strong>republik mit Gas beliefert <strong>und</strong> zugleich das wichtige<br />

Nachbarland Polen umgangen wurde, was dort zu Recht immer<br />

kritisiert worden ist. Heute wissen wir, dass die Polen <strong>und</strong> auch<br />

die Balten, die ebenfalls lange warnten, die allgemeine Lage<br />

richtig eingeschätzt haben, <strong>und</strong> seit dem Überfall auf die<br />

baltischen Staaten, die zur gleichen Zeit wie der Angriff auf<br />

Taiwan begonnen worden ist, ist es auch den letzten Zweiflern<br />

<strong>und</strong> Naivlingen klar, was die St<strong>und</strong>e geschlagen hat. Es finden<br />

zwar immer noch Kämpfe statt - vor allem r<strong>und</strong> um Taiwan -, aber<br />

während die Taiwanesen sich trotz der Bombardierung ihrer<br />

Hauptstadt Taipei wohl noch ein paar Wochen behaupten<br />

können, müssen wir für die Balten das Schlimmste befürchten.<br />

Eigentlich ist die Ostsee heute strategisch nicht mehr so wichtig<br />

wie früher, aber es stecken noch ganz andere Motive dahinter,<br />

die dazu geführt haben, dass Staputow mit der Unterstützung<br />

aus China, Nordkorea <strong>und</strong> Iran den zweiten grossen Krieg in<br />

Europa innerhalb von wenigen Jahren vom Zaun gerissen hat -<br />

83


<strong>und</strong> von diesen Motiven, die auch einen geistigen <strong>und</strong> vor allem<br />

geistlichen Hintergr<strong>und</strong> haben, will ich jetzt sprechen.»<br />

Dann legt er eine Pause ein <strong>und</strong> schaut wieder ins weite R<strong>und</strong>,<br />

<strong>und</strong> als er sieht, dass niemand einen Arm hochhält, um ihn etwas<br />

zu fragen, setzt er fort: «Wie ich es zu Beginn gesagt habe, ist<br />

das, was ich Ihnen jetzt mitteile, für die meisten sicher neu, weil<br />

es noch heute - auch nach dem Ausbruch dieses Kriegs - nicht<br />

öffentlich gesagt werden darf. Sie haben sich alle sicher schon<br />

einmal gefragt, wie es nur möglich war, dass einer wie Staputow,<br />

der aus kleinen Verhältnissen stammt <strong>und</strong> obendrein auch noch<br />

klein gewachsen ist, der also das hat, was allgemein als<br />

Napoleon-Komplex bezeichnet wird, <strong>und</strong> zudem ohne einen<br />

erlernten Beruf, ohne ein abgeschlossenes Studium <strong>und</strong> ohne<br />

eigene Erfahrungen in den Streitkräften es so weit nach oben<br />

schaffen konnte, dass er heute nicht nur einer der Mächtigsten<br />

<strong>und</strong> zudem Reichsten ist, sondern auch noch die ganze Welt in<br />

Geiselhaft nehmen <strong>und</strong> sich schon jetzt den Tod von mehreren<br />

Millionen auf dem nicht vorhandenen Gewissen leisten kann, weil<br />

er weiss, dass ihm dank <strong>des</strong> russischen Atomschirms nichts<br />

passieren kann. Sie haben sich bestimmt noch zusätzlich<br />

gefragt, wie ein solcher ein ganzes Volk von mehr als 140<br />

Millionen derart dämonisieren kann, dass auch seine<br />

Stiefelknechte, die wir in den Medien immer wieder sehen <strong>und</strong><br />

hören, sich vor ihm fürchten <strong>und</strong> jederzeit damit rechnen<br />

müssen, dass auch sie auf irgendeine Weise beseitigt werden,<br />

wenn sie nicht mehr das vorbeten wollen, was ihr grosser<br />

Vorsitzender von ihnen verlangt.<br />

Das Gleiche kann auch vom fettleibigen Brudermörder Kim dem<br />

Dritten gesagt werden, der im eigenen Land sogar eine noch<br />

grössere Machtfülle besitzt als Staputow <strong>und</strong> wie seine beiden<br />

Vorgänger das ganze Denken derart beeinflusst, dass der<br />

Kimismus, wie er heute genannt wird, in Nordkorea praktisch<br />

Staatsreligion ist. Auch das hat eine Erklärung <strong>und</strong> ist ein Beweis<br />

dafür, dass nicht nur irdische Kräfte mitwirken: Bis zur Besetzung<br />

84


Koreas durch die Japaner im Jahr 1910 <strong>und</strong> teilweise sogar bis<br />

zum Beginn <strong>des</strong> Zweiten Weltkriegs lebten in der Hauptstadt<br />

Pjöngjang so viele Christen, dass sie als ‘Jerusalem <strong>des</strong> <strong>Ostens</strong>’<br />

bezeichnet wurde. So liegt es nahe, dass genau diese Stadt nach<br />

der Machtübernahme durch die Kommunisten - als die andere,<br />

von unten gesteuerte Seite das Kommando übernahm - das<br />

Gegenteil <strong>und</strong> eines der schlimmsten antichristlichen Zentren der<br />

ganzen Welt wurde, <strong>und</strong> das gilt noch bis heute, obwohl mehrere<br />

westliche Naivlinge oder viel mehr Charakterlumpen behauptet<br />

haben, es gebe in Pjöngjang sogar eine christliche Universität.<br />

Sie haben sicher auch schon gesehen, dass seit vielen Jahren<br />

ganze Schulklassen <strong>und</strong> ganze Belegschaften von Werktätigen<br />

sich vor den überlebensgrossen Statuen der beiden ersten Kim<br />

tief verbeugen müssen, <strong>und</strong> das Gleiche müssen sogar die<br />

ausländischen Touristen min<strong>des</strong>tens einmal tun, was hier nicht<br />

so bekannt ist - <strong>und</strong> wehe, jemand bringt den Mut auf, das zu<br />

verweigern! Es ist ja leicht, irgendeinen Vorwand zu finden <strong>und</strong><br />

die betreffenden Leute dann für Jahre einzubuchten, wie das<br />

schon mit anderen geschehen ist. <strong>Die</strong> gleiche totale Kontrolle hat<br />

es früher in der Sowjetunion <strong>und</strong> in Nazi-Deutschland gegeben,<br />

doch heute ist das in Russland <strong>und</strong> Nordkorea, aber auch in<br />

China <strong>und</strong> im Iran dank der heutigen Technik noch viel leichter.<br />

Immerhin müssen wir Kim dem Dritten eines lassen: Er soll so<br />

bescheiden sein, dass er sich dagegen wehrt, dass überall auch<br />

von ihm Statuen aufgestellt werden … allerdings mit Betonung<br />

auf ‘vorläufig’. Es ist jedoch für einen, der genauso wie Staputow<br />

keinen einzigen Tag bei den Streitkräften gedient hat, mehr als<br />

lächerlich, sich als ‘grosser Marschall’ bezeichnen zu lassen, wie<br />

auch die Ehrentitel ‘grosser Führer’ für seinen Grossvater <strong>und</strong><br />

‘geliebter Führer’ für seinen Vater, die beide Massenmörder<br />

waren, lächerlich sind. Am perversesten ist aber sicher, dass die<br />

Zeitrechnung in Nordkorea im Jahr 1912 beginnt, dem<br />

Geburtsjahr von Kim dem Ersten, als hätte es vorher nichts<br />

gegeben. Im Vergleich dazu ist es geradezu harmlos, dass es<br />

auch noch eine eigene Uhrzeit gibt, die um eine halbe St<strong>und</strong>e<br />

85


verschoben worden ist, nur damit sie sich von der<br />

südkoreanischen unterscheidet.<br />

Wie fest dieser Kim-Clan das Land im Griff hat, zeigt sich nicht<br />

nur in den vielen Konzentrationslagern, deren Existenz auch im<br />

Westen von vielen <strong>und</strong> vor allem von Linken bestritten wird,<br />

sondern auch in dem, was in den letzten paar Jahren als Begriff<br />

‘Büro 39’ allmählich bekannt geworden ist. Noch heute wissen<br />

viele aber immer noch nicht, dass mehr als 100'000 Männer <strong>und</strong><br />

Frauen, die angeblich alle Freiwillige sind, in lukrativen Fabriken<br />

von befre<strong>und</strong>eten afrikanischen <strong>und</strong> asiatischen Staaten für<br />

einen Hungerlohn schuften müssen, mit dem sie gerade ihre<br />

Unterkunft bezahlen können, aber die Einnahmen aus diesen<br />

Fabriken wandern allesamt direkt in die Kassen der Kims.<br />

Dabei spielt auch die an sich hübsche <strong>und</strong> engelgleich<br />

aussehende Schwester <strong>des</strong> sogenannten grossen Marschalls<br />

eine grosse Rolle. Es gibt bekanntlich das Sprichwort, dass<br />

hinter jedem guten <strong>und</strong> erfolgreichen Mann eine Frau steht, aber<br />

auch das Gegenteil trifft zu: Hinter jedem schlechten Mann steht<br />

eine schlechte Frau. Das ist zwar nicht immer so, aber doch sehr<br />

oft; das bekannteste Beispiel aus der Bibel ist der König Ahab,<br />

der von seiner Frau Isebel, die nicht einmal eine Israelitin,<br />

sondern eine eingeheiratete Heidin war, viele Jahre lang zu allem<br />

möglichen Schlechten angestiftet wurde. So wird auf Nordkorea<br />

bezogen immer wieder gesagt, dass der eigentliche schlechte<br />

Geist hinter Kim dem Dritten dieser Engel ist, der dafür<br />

verantwortlich sein soll, dass die Kims noch reicher <strong>und</strong> die<br />

meisten Nordkoreaner noch ärmer werden. Was auch immer an<br />

allen diesen Meldungen stimmt, eines ist sicher: Wer beim<br />

Anblick von erfolgreich gezündeten Atomraketen, die zum Erhalt<br />

der eigenen Macht natürlich ebenfalls beitragen, so demonstrativ<br />

jubelt, wie das gesehen werden kann, tickt nicht mehr richtig.<br />

Zu all dem, was ich jetzt über Russland <strong>und</strong> Nordkorea, die<br />

beiden krassesten Beispiele der heutigen Welt, gesagt habe, gibt<br />

es eine Erklärung, die sich in einem einzigen Wort ausdrücken<br />

86


lässt: Enakiter. Das heisst, Staputow <strong>und</strong> Kim der Dritte sind<br />

Enakiter, wie es auch Hitler, Lenin <strong>und</strong> Stalin <strong>und</strong> zudem<br />

Mussolini, Franco <strong>und</strong> Mao Ze-Dong waren, <strong>und</strong> dazu noch die<br />

meisten anderen Gewaltherrscher, aber auch unzählige<br />

Menschen, die weiter unten eingereiht waren <strong>und</strong> damit keine so<br />

grosse Macht hatten.»<br />

«Ein was?», fragen jetzt nicht wenige dazwischen, <strong>und</strong> nachdem<br />

Schleyer ihnen mit Handzeichen zu verstehen gegeben hat, dass<br />

er ihnen seine Worte genauer erklären will, <strong>und</strong> es wieder still<br />

wird, setzt er fort: «<strong>Die</strong>ses Wort steht in der Bibel. Ich weiss zwar,<br />

dass dieses Buch den meisten von Ihnen in der heutigen Zeit<br />

nicht mehr viel sagt, aber wir müssen dies sehen: Wenn es Gott<br />

wirklich gibt <strong>und</strong> die bekannten Geschichten r<strong>und</strong> um Jesus<br />

Christus wirklich stimmen - <strong>und</strong> ich tue das, wie ich offen<br />

bekenne -, muss es auch die andere Seite geben, das heisst den<br />

Satan oder Teufel <strong>und</strong> die sogenannten gefallenen Engel, die als<br />

Dämonen bezeichnet werden. Viele wissen nicht, dass nicht nur<br />

im Christentum davon die Rede ist, dass es diese beiden Seiten<br />

gibt, sondern auch im Judentum <strong>und</strong> im Islam - <strong>und</strong> erst recht im<br />

Hinduismus, aber auch im Buddhismus, der eigentlich als eine<br />

atheistische Religion gilt, zeigt sich diese doppelte Sicht darin,<br />

dass es von Buddha-Statuen nur so wimmelt <strong>und</strong> die Vorfahren<br />

so verehrt werden, als wären diese viel wichtiger als die noch<br />

Lebenden. Auch das ist im Gr<strong>und</strong> genommen eine Art<br />

Spiritismus, aber weil diese Religion genauso wie der<br />

Hinduismus <strong>und</strong> der Islam heute auch im Westen salonfähig<br />

sind, darf das öffentlich nicht mehr so gesagt <strong>und</strong> geschrieben<br />

werden. Wenn wir wissen wollen, woher diese erwähnten<br />

Enakiter stammen, müssen wir also die Bibel aufschlagen, die in<br />

der heutigen sogenannten modernen <strong>und</strong> aufgeklärten Zeit nur<br />

noch als ein Buch von vielen <strong>und</strong> zudem als ein verstaubtes gilt.»<br />

Dann legt er ein dickes Buch, das offensichtlich eine Bibel ist, vor<br />

sich auf das Pult, öffnet es <strong>und</strong> spricht weiter:<br />

«Da stehen im ersten Buch Mose im sechsten Kapitel in den<br />

87


sieben ersten Versen diese bemerkenswerten Worte, die<br />

ungeheuer viel aussagen: ‘Als sich aber die Menschen auf Erden<br />

zu mehren begannen <strong>und</strong> ihnen Töchter geboren wurden, sahen<br />

die Söhne Gottes, dass die Töchter der Menschen schön waren,<br />

<strong>und</strong> nahmen sich jene von allen, die ihnen gefielen, zu Weibern.<br />

Da sprach der Herr: Mein Geist soll den Menschen nicht ewig<br />

dafür strafen, dass auch er Fleisch ist, sondern seine Tage sollen<br />

120 Jahre betragen. <strong>Die</strong> Riesen waren in jenen Tagen auf Erden,<br />

<strong>und</strong> zwar derart, dass die Söhne Gottes zu den Töchtern der<br />

Menschen kamen <strong>und</strong> diese ihnen gebaren. Das sind die Helden,<br />

die von jeder berühmt gewesen sind. Als aber der Herr sah, dass<br />

die Bosheit <strong>des</strong> Menschen auf Erden sehr gross <strong>und</strong> alles<br />

Gebilde der Gedanken seines Herzens jederzeit nur bös waren,<br />

reute es den Herrn, dass er den Menschen auf Erden gemacht<br />

hatte, <strong>und</strong> es bekümmerte ihn in seinem Herzen. Und der Herr<br />

sprach: Ich will den Menschen, den ich erschaffen habe, vom<br />

Erdboden vertilgen, denn es reut mich, dass ich sie gemacht<br />

habe.»<br />

Jetzt hält er inne <strong>und</strong> da er sieht, dass niemand zu diesen Worten<br />

etwas sagen will, setzt er fort: «Sie kennen natürlich alle diese<br />

Geschichten von der göttlichen Schöpfung, von Adam <strong>und</strong> Eva<br />

<strong>und</strong> von der Sintflut, die nach diesen Versen, die ich jetzt gelesen<br />

habe, angekündigt wurde. Ich muss selbst immer wieder darüber<br />

staunen, dass diese Verse auch in der Bibelforschung viel zu<br />

wenig beachtet worden sind - dabei sagen sie über den Beginn<br />

der Menschheit ungeheuer viel aus. Ob Sie an diese biblischen<br />

Geschichten glauben oder nicht, es ändert nicht daran, dass<br />

diese wichtigen Verse so stehen, <strong>und</strong> falls jemand den Vorwand<br />

bringen will, dass es sich um eine falsche Übersetzung handelt,<br />

kann ich dem entgegen, dass alle Übersetzungen mehr oder<br />

weniger gleich sind <strong>und</strong> dass auch die Islam-Gelehrten, die sonst<br />

an der Bibel viel auszusetzen haben, sich gerade in diesem<br />

Punkt mit den Bibelauslegern einig sind.<br />

Als Erstes dies: Wer ist mit den Söhnen Gottes überhaupt<br />

88


gemeint? In der Bibel stehen diese Worte, weil auch die<br />

Dämonen, die sich mit den menschlichen Frauen einliessen,<br />

ursprünglich Geschöpfe Gottes waren. Gott liess ihnen jedoch<br />

die Freiheit, sich mit den irdischen Frauen zu paaren, <strong>und</strong> auch<br />

diesen wurde die Freiheit zugestanden, sich auf diese<br />

einzulassen, die sicher gross gewachsen <strong>und</strong> gut gebaut waren<br />

<strong>und</strong> umwerfend aussahen - <strong>und</strong> die meisten Frauen sind schon<br />

immer auf solche Männer gestanden, daran hat sich auch bis<br />

heute nichts geändert. Auch bei den antiken Griechen <strong>und</strong><br />

Römern, welche die gleiche Götterwelt kannten, gab es solche<br />

Geschichten darüber, dass die Götter im Olymp <strong>und</strong> vor allem<br />

der Göttervater Zeus, der bei den Römern Jupiter genannt<br />

wurde, mit sterblichen Frauen Kinder zeugten, <strong>und</strong> dabei liessen<br />

sich auch verschiedene Göttinnen mit Männern ein. <strong>Die</strong><br />

bekannteste war die Liebesgöttin Aphrodite, die bei den Römern<br />

Venus hiess <strong>und</strong> mit einem gewissen Anchises den Äneas<br />

zeugte, der als einer der wenigen die Schlacht von Troja<br />

überlebte <strong>und</strong> später in Italien das Volk gegründet haben soll,<br />

aus dem die Vorfahren der Römer hervorgingen.<br />

Es sind also nicht nur biblische, sondern auch ausserbiblische<br />

Quellen, die solche Geschichten erzählen, aber es liegt nahe,<br />

dass ich aus zeitlichen Gründen auf die ganze<br />

Schöpfungsgeschichte <strong>und</strong> auf alle Prophezeiungen, die das<br />

Volk Israel <strong>und</strong> Jesus Christus betreffen, nicht näher eingehen<br />

kann. Interessant ist sicher der Hinweis, dass diese gezeugten<br />

Kinder zwischen den Dämonen <strong>und</strong> den Frauen besonders gross<br />

<strong>und</strong> <strong>des</strong>halb als Riesen gesehen wurden. Dabei geht der Hinweis<br />

fast verloren, dass Gott den Menschen eine Frist von 120 Jahren<br />

setzte. Was genau war damit gemeint? Fast alle Bibelausleger<br />

sind sich darin einig, dass diese Jahre die Zeit ausdrücken, die<br />

Noah <strong>und</strong> seine Söhne brauchten, um die Arche zu bauen. Auch<br />

hier muss ich nicht näher auf diese Geschichte eingehen, weil<br />

auch Sie diese kennen.<br />

Sie fragen sich jetzt sicher, was diese Riesen mit der Sintflut zu<br />

89


tun haben, <strong>und</strong> erstaunlicherweise ist auch von den Theologen<br />

<strong>und</strong> Bibelauslegern noch bis heute fast niemand auf diesen<br />

Zusammenhang näher eingegangen. Nach der biblischen<br />

Überlieferung waren Noah <strong>und</strong> seine Angehörigen die Einzigen,<br />

die diese Sintflut überlebt haben, aber es waren nicht nur diese<br />

acht, also Noah <strong>und</strong> seine Frau <strong>und</strong> dazu seine drei Söhne mit<br />

deren Frauen. Ich habe ebenfalls keine Erklärung dafür, dass nie<br />

erwähnt wurde, dass neben diesen acht Menschen eben auch<br />

diese Riesen überlebt haben, weil sie ja nicht nur echte <strong>und</strong><br />

damit sterbliche Menschen, sondern eben auch Götter waren. So<br />

war es leicht für sie, die menschlichen Körper, die dem Tod<br />

geweiht waren, für die Zeit der Sintflut <strong>und</strong> auch für Jahrzehnte<br />

später vorübergehend zu verlassen. Nachdem Noahs<br />

Nachkommen wieder ein grosses Volk geworden waren, kehrten<br />

sie auf die Erde zurück <strong>und</strong> vermischten sich nochmals mit<br />

Frauen, <strong>und</strong> von diesen Mischungen stammten jene ab, die in<br />

der Bibel als Enakiter bezeichnet werden. In der hebräischen<br />

Originalsprache wird es etwas fre<strong>und</strong>licher ausgedrückt - dort<br />

werden sie als ‘Bn’ei Enak’, also als Kinder Enaks bezeichnet, so<br />

wie auch die Israeliten viele Male ‘B’nei Jissrael’, also Kinder<br />

Israels, genannt werden.<br />

Ob Enakiter oder B’nei Enak, es änderte sich nichts daran, dass<br />

auch diese gross gewachsen <strong>und</strong> offensichtlich keine gut<br />

gesinnten Riesen waren. Als Moses noch lebte <strong>und</strong> dabei war,<br />

die Israeliten aus Ägypten ins gelobte Land zu führen, wie es<br />

überliefert wird, sandte er einmal, als sie ganz in der Nähe waren,<br />

zwölf K<strong>und</strong>schafter aus. Nach ihrer Rückkehr berichteten zehn<br />

von ihnen voller Furcht davon, dass in Kanaan gefährliche<br />

Riesen wohnten, so dass es besser war, keinen Angriff zu<br />

wagen. Es gab jedoch zwei, die im Gegensatz zu diesen zehn<br />

Moses dazu aufforderten, trotzdem anzugreifen, weil sie das<br />

Land mit Gottes Hilfe einnehmen konnten. <strong>Die</strong>se beiden sind im<br />

Gegensatz zu den zehn anderen, die heute selbst unter den<br />

hochkarätigsten Bibelkennern fast niemand mehr kennt, obwohl<br />

ihre Namen verzeichnet sind, gleichsam als Belohnung noch<br />

90


heute weltbekannt: Es waren Josua, der auf Hebräisch<br />

Jehoschua heisst <strong>und</strong> nach Moses Ableben sein Nachfolger<br />

wurde, <strong>und</strong> Kaleb, der Ehemann von Mirjam, der Schwester von<br />

Moses <strong>und</strong> seinem Bruder Aaron.<br />

Ich kann natürlich nicht näher auf diese vielen Schlachten<br />

eingehen, die am Schluss dazu geführt haben, dass die Israeliten<br />

das Land Kanaan erobern konnten. Warum sie ohne Gnade alles<br />

abschlachteten, was ihnen in den Weg kam - <strong>und</strong> dazu zählten<br />

auch Tiere -, hing damit zusammen, dass alle kanaanitischen<br />

Völker einen widerlichen Kult mit Menschenopfern betrieben,<br />

was für Gott schon immer zu den schlimmsten Gräueln gehört<br />

hat. Wir dürfen nicht vergessen, dass in der Epoche <strong>des</strong> Alten<br />

Testaments <strong>und</strong> überhaupt im ganzen Altertum nicht so gedacht<br />

wurde, wie wir es heute tun. Menschen- <strong>und</strong> erst recht Tierrechte<br />

waren noch unbekannt - <strong>und</strong> trotzdem ist das Alte Testament das<br />

erste Buch der Weltgeschichte, in dem die frühesten Zivilrechte<br />

niedergeschrieben wurden. Wer daran zweifelt, sollte sich einmal<br />

die fünf Bücher Mose vornehmen. Vieles von dem, was dort<br />

steht, kann für heutige Verhältnisse abschrecken, weil auffallend<br />

viel mit einer Steinigung gedroht wird, doch andererseits haben<br />

sich viele mosaische Gesetze noch bis heute nicht geändert.<br />

Da möchte ich in diesem Zusammenhang etwas Besonderes<br />

erwähnen, wobei ich riskiere, ein wenig vom eigentlichen Thema<br />

abzukommen: Was von den Bibelkritikern schon seit vielen<br />

Jahrzehnten höhnisch als Verkauf von Töchtern in die Sklaverei<br />

bezeichnet wird, stimmt aus zwei Gründen nicht. Erstens war die<br />

Sklaverei bei den Israeliten verboten, weil sie selbst in Ägypten<br />

auch Sklaven gewesen waren, <strong>und</strong> zweitens war das, was heute<br />

als Verkauf in die Sklaverei bezeichnet wird, schlicht der Preis<br />

dafür, der bezahlt werden musste, damit eine Tochter den Mann<br />

eines anderen Stammes heiraten konnte - <strong>und</strong> von diesem<br />

Brauch stammt in etwas veränderter Form die sogenannte Mitgift<br />

für eine Frau ab. Wir müssen uns vor Augen halten, dass es<br />

früher noch mehr als heute fast unmöglich war, als Einzelperson<br />

91


irgendwo zu leben, weil es viele wilde Tiere <strong>und</strong> dazu gefährliche<br />

Wegelagerer <strong>und</strong> Mörder gab.<br />

Jede einzelne Person war also auf den Schutz eines Stammes<br />

angewiesen - <strong>und</strong> jeder Stamm hatte ein Oberhaupt, wie es zum<br />

Beispiel die drei israelitischen Erzväter Abraham, Isaak <strong>und</strong><br />

Jakob waren. Natürlich hatten fast alle von diesen eigene Söhne<br />

<strong>und</strong> Töchter. Ich erwähne das auch <strong>des</strong>halb, weil bei den<br />

biblischen Aufzählungen die vielen Knechte <strong>und</strong> Mägde, die es<br />

eben auch noch gab, nicht berücksichtigt wurden. Um Inzucht zu<br />

vermeiden, war es also notwendig, dass eine Frau aus einem<br />

Stamm manchmal einen Mann aus einem anderen Stamm<br />

heiratete oder umgekehrt. Dabei kam es nicht darauf an, ob es<br />

sich um eigene Kinder <strong>des</strong> Stammesoberhauptes oder um<br />

Knechte <strong>und</strong> Mägde handelte. Wie genau das funktionierte, kann<br />

vor allem im ersten Buch Mose nachgelesen werden, aber es<br />

gab noch Nuancen: <strong>Die</strong> noch heute bekannte Rebekka, die von<br />

Abrahams Knecht Elieser extra von Haran in der heutigen Türkei<br />

geholt wurde, wo Abraham vor seinem Zug nach Kanaan<br />

gewohnt hatte, war noch eine Cousine ersten Gra<strong>des</strong> von Isaak,<br />

den sie heiratete, <strong>und</strong> auch die Schwestern Rahel <strong>und</strong> Lea, die<br />

später die Ehefrauen von Jakob wurden, waren Cousinen ersten<br />

Gra<strong>des</strong>, weil ihr Vater Laban ein Bruder von Rebekka war.<br />

In späteren Zeiten waren solche Heiraten unter Verwandten nicht<br />

mehr erlaubt, aber es ist bemerkenswert, dass ausgerechnet<br />

eine Heirat zwischen Cousins <strong>und</strong> Cousinen ersten Gra<strong>des</strong> im<br />

Alten Testament nicht verboten wurde. Dagegen wurde unter<br />

Moses das Verbot eingeführt, dass ein Mann zwei oder noch<br />

mehr Frauen heiraten konnte, die Schwestern waren - gerade<br />

wegen <strong>des</strong> Gezerres zwischen Rahel <strong>und</strong> Lea um Jakob, wie all<br />

jene wissen, die von diesen biblischen Geschichten etwas gehört<br />

<strong>und</strong> gelesen haben. Es war also einem Mann immer noch<br />

erlaubt, mehr als eine Frau zu haben, <strong>und</strong> das hat vor allem<br />

König David ausgenützt, der zeitweise gleich acht Frauen hatte,<br />

von denen Michal, die Tochter <strong>des</strong> ersten Königs Saul, sowie<br />

92


Abigail <strong>und</strong> Batseba, Salomos Mutter, heute die drei Einzigen<br />

sind, die man noch heute kennt.<br />

Der einzige wirkliche Nachteil bei diesen mosaischen Gesetzen<br />

war die Stellung der Frauen, damit meine ich vor allem das<br />

Erbrecht. Nur wenn ein Mann keine Söhne hinterliess, konnte sie<br />

erben, aber wenn auch nur ein Bruder da war, ging sie leer aus.<br />

Das hing aber auch damit zusammen, weil verhindert werden<br />

sollte, dass nach einer Heirat ein Mann aus einem anderen<br />

Stamm sich darauf berufen konnte, dass das Erbe, das seine<br />

Frau bekommen hatte, jetzt ihrer neuen Familie <strong>und</strong> damit auch<br />

seinem Stamm zukommen sollte. In dieser Beziehung wurde<br />

genau darauf geschaut, dass die Grenzen zwischen den<br />

Stämmen nicht verschoben wurden. Es ist auch mir klar, dass<br />

dieses besondere Erbrecht auf die heutige Zeit bezogen schwer<br />

zu erklären ist, weil die Frauen hier eindeutig benachteiligt<br />

wurden. Seien wir aber ehrlich: So war es bis kurzem doch in der<br />

ganzen Welt, was sich auch in Europa vor allem darin zeigte,<br />

dass eine Frau nur dann eine Königin werden durfte, wenn kein<br />

männlicher Thronerbe da war. So war das bei den beiden<br />

Elisabeth in England, aber auch bei Margrethe in Dänemark <strong>und</strong><br />

bei den Königinnen Wilhelmina, Juliana <strong>und</strong> Beatrix in Holland.<br />

Das erste Land, in dem das Thronrecht dahingehend abgeändert<br />

wurde, dass das erstgeborene Kind auch dann an erster Stelle<br />

stand, wenn es ein Mädchen war <strong>und</strong> später noch ein Bruder auf<br />

die Welt kam, war Schweden. Dabei war der eigentliche Witz<br />

dieser Geschichte, dass dies erst dann beschlossen wurde, als<br />

dem gerade frisch gekürten König, der eigentlich dagegen war,<br />

wie es noch heute heisst, noch das letzte bisschen Macht vom<br />

Parlament genommen worden war.»<br />

Erst jetzt legt er wieder eine Pause ein <strong>und</strong> da er sieht, dass<br />

nochmals niemand sich meldet, weil alle seinen Vortrag<br />

offensichtlich hochinteressant finden, spricht er weiter: «Jetzt<br />

komme ich wieder zum eigentlichen Thema zurück, eben zu<br />

diesen Enakitern, vor denen nur Josua <strong>und</strong> Kaleb sich nicht<br />

93


gefürchtet haben. Im Verlauf der Eroberungen <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong><br />

Kanaan, die auch zum Abschlachten ganzer Völker geführt<br />

haben, ergab es sich, dass es auch zu einer direkten<br />

Konfrontation mit den Enakitern kam. Auch diese Verse sind bis<br />

heute nie so richtig ausgelegt worden, obwohl sie mit denen, die<br />

ich vor ein paar Minuten vorgelesen habe, direkt<br />

zusammenhängen.<br />

Da stehen im Buch Josua im elften Kapitel <strong>und</strong> in den Versen<br />

21<strong>und</strong> 22 diese Worte: ‘Und Josua kam zu jener Zeit <strong>und</strong> rottete<br />

die Enakiter aus vom Gebirge, von Hebron, von Debir, von Anab,<br />

vom ganzen Gebirge Juda <strong>und</strong> vom ganzen Gebirge Israel, <strong>und</strong><br />

er vollstreckte an ihnen mitsamt ihren Städten den Bann. Und er<br />

liess keinen dieser Enakiter übrig im Land der Kinder Israel<br />

ausser zu Gaza, zu Gat <strong>und</strong> zu Aschdod; daselbst blieb ein Rest<br />

übrig.’<br />

Im Zusammenhang mit Gaza, das nicht nur wegen der heutigen<br />

politischen Weltlage bekannt ist, sondern auch wegen der<br />

Geschichte von Simson, der dem Stamm Dan angehörte, der mit<br />

den Philistern direkt benachbart war, ist sicher interessant zu<br />

erwähnen, dass der grösste Teil <strong>des</strong> heutigen Gaza-Streifens<br />

keinem einzigen israelitischen Stamm zugeschlagen wurde, als<br />

das eroberte Kanaan unter die Nachkommen Jakobs verteilt<br />

wurde. Da spielte wohl mit, dass dort immer noch Enakiter<br />

lebten, wie auch der bekannte Goliath ziemlich sicher einer war,<br />

aber es ist sehr wahrscheinlich, dass diese mit der Zeit<br />

ausstarben - oder genauer gesagt, die vorhin erwähnten<br />

Dämonen verliessen ihre menschlichen Hüllen.<br />

Sind sie <strong>des</strong>halb verschw<strong>und</strong>en? <strong>Die</strong> riesigen Körper gibt es<br />

heute zwar tatsächlich nicht mehr, aber diese Dämonen wirken<br />

auf andere Weise noch heute <strong>und</strong> springen buchstäblich von<br />

Mensch zu Mensch <strong>und</strong> stiften gewisse Figuren immer wieder zu<br />

solchen Massenverbrechen <strong>und</strong> Massakern an, die für uns<br />

Normalsterblichen eigentlich unfassbar sind. Wer daran zweifelt,<br />

sollte einmal die Worte lesen, die der Apostel Paulus in seinem<br />

94


Brief an die Epheser geschrieben hat. Dort steht im sechsten<br />

Kapitel im zwölften Vers geschrieben: ‘Unser Kampf richtet sich<br />

nicht gegen Fleisch <strong>und</strong> Blut, sondern gegen die Herrschaften,<br />

Gewalten <strong>und</strong> Weltbeherrscher dieser Finsternis, gegen die<br />

geistlichen Mächte der Bosheit in den himmlischen Regionen.’<br />

Darauf folgen mehrere Verse, in denen in Einzelheiten, auf die<br />

ich jetzt nicht näher eingehen kann, von der Waffenrüstung<br />

Gottes die Rede ist.<br />

Mit diesen Worten <strong>des</strong> Apostels Paulus wird das bestätigt, was<br />

im ersten Buch Mose über die Söhne Gottes geschrieben steht.<br />

Wir haben es also auch in der heutigen Zeit mit dem gleichen<br />

furchtbaren Feind zu tun, der schon im Altertum die<br />

Weltgeschichte mitbeeinflusst <strong>und</strong> vor allem den Frommen<br />

zugesetzt hat. Gerade diese Macht, die sie noch heute haben<br />

<strong>und</strong> die unsrige menschliche bei weitem übertrifft, ist auch eine<br />

Erklärung dafür, dass wenig gebildete Leute aus einfachen<br />

Verhältnissen wie Staputow, Hitler <strong>und</strong> Stalin <strong>und</strong> viele andere<br />

so gewaltige <strong>und</strong> unmenschlich anmutende Macht ausüben <strong>und</strong><br />

den Tod von Millionen bewirken können, ohne dass sie das<br />

geringste Mitleid empfinden. Das ist nicht menschlich, sondern<br />

kann nur von unten gesteuert sein - <strong>und</strong> gerade mit einem<br />

solchen Feind haben wir es jetzt zu tun. Ich nehme an, dass<br />

Generalleutnant Stresemann Ihnen beim Vortrag von gestern<br />

auch schon gesagt hat, es sei von Hitler überliefert, er habe<br />

vorausgesagt, dass sein Geist einmal auferstehen <strong>und</strong> sein Werk<br />

fortsetzen werde, <strong>und</strong> genau diese Worte sehen wir jetzt<br />

bestätigt. Drücken wir es doch klar aus: Sowohl der<br />

Nationalsozialismus, wie er offiziell heisst, als auch der<br />

Marxismus-Leninismus waren <strong>und</strong> sind nichts anderes als<br />

spiritistische Religionen, <strong>und</strong> dazu gehören auch die vielen<br />

kleinen Ableger wie zum Beispiel der Kimismus in Nordkorea.<br />

Dass gerade Hitler, von dem es bekannt ist, dass er ein Spiritist<br />

war, nicht nur unter dem Schutz von Menschen stand, die ihn zu<br />

Zehntausenden bewachten, wie auch heute Staputow <strong>und</strong> Kim<br />

95


der Dritte bewacht werden, sondern auch Schutz von unten<br />

hatte, zeigen auch die drei Attentatsversuche, von denen zwei<br />

nie so richtig bekannt geworden sind. Ich meine nicht das<br />

Stauffenberg-Attentat vom 20. Juli 1944, das bei einem Erfolg<br />

auch <strong>des</strong>halb nicht sofort das Kriegsende bewirkt hätte, weil die<br />

westlichen Alliierten die bedingungslose Kapitulation an allen<br />

Fronten verlangten <strong>und</strong> weil die Verschwörer zumin<strong>des</strong>t den<br />

Krieg im Osten fortsetzen wollten, wie es hiess. Zudem dürfen<br />

wir nicht vergessen, dass es mehrere Wochen gedauert hätte,<br />

bis der Befehl zum Niederlegen der Waffen wirklich bis zu allen<br />

Fronten in ganz Europa gedrungen wäre, weil es die heutigen<br />

Kommunikationswege noch nicht gab.<br />

Der erste Attentatsversuch, der erfolgreich gewesen wäre, wenn<br />

Hitler diesen Schutz von unten nicht gehabt hätte, geschah am<br />

9. November 1939, also kurz nach dem Ausbruch <strong>des</strong> Zweiten<br />

Weltkriegs. Hätte Georg Elser, von dem ich jetzt spreche, den<br />

Zeitzünder nur auf zwanzig Minuten früher eingestellt, wäre er<br />

erfolgreich gewesen, obwohl es fraglich ist, ob jemand das Recht<br />

dazu hat, neben einem Tyrannen auch noch andere zu<br />

ermorden. Ein Tyrannenmord lässt sich auch biblisch begründet<br />

zwar rechtfertigen, aber kein erweiterter Mord; so war eines der<br />

acht To<strong>des</strong>opfer, die auf Elsers Konto gingen, eine einfache<br />

Aushilfskellnerin mit zwei kleinen Kindern. Warum er den<br />

Zeitzünder auf so spät einstellte, lag wohl auch daran, dass er<br />

genügend Zeit haben wollte, um in die Schweiz zu flüchten, <strong>und</strong><br />

wie wir wissen, ist ihm das fast gelungen. Es lag nur an seinem<br />

ungeschickten Verhalten, dass die Grenzposten auf ihn<br />

aufmerksam wurden; dabei war die Bombe zu diesem Zeitpunkt<br />

noch nicht explodiert. Wer sich jedoch mit einem Ausweis, der<br />

nicht mehr gültig war, <strong>und</strong> zudem mit dem Abzeichen einer<br />

kommunistischen Vereinigung, mit einer Karte <strong>des</strong><br />

Bürgerbräukellers <strong>und</strong> sogar mit Reststücken eines Zünders<br />

erwischen lässt, darf sich nicht darüber w<strong>und</strong>ern, wenn seine<br />

Pläne nicht klappen. Allerdings bin ich sicher, dass die feigen<br />

schweizerischen Behörden, die sich jahrelang fast kriecherisch<br />

96


den Nazi-Befehlen unterordneten, ihn mit Sicherheit später<br />

ausgeliefert hätten.<br />

Warum waren diese zwanzig Minuten so entscheidend? Zwanzig<br />

<strong>des</strong>halb, weil die Bombe ziemlich genau eine Viertelst<strong>und</strong>e nach<br />

Hitlers Weggang hochging, also wäre noch eine kleine<br />

Zeitreserve geblieben. Elser konnte aber nicht wissen, dass<br />

Hitler seine Rede plötzlich früher ansetzen würde, weil für diesen<br />

Abend schlechtes Wetter angesagt war, so dass er nicht mit dem<br />

Flugzeug, sondern mit dem Zug nach Berlin zurückkehren<br />

musste. Glaubt irgendjemand, dass dieser Gewitteraufzug, den<br />

niemand voraussehen konnte, nur einem Zufall entsprach?<br />

Den gleichen Schutz von unten bekam er noch zweimal kurz<br />

hintereinander nach der Stalingrad-Katastrophe, als ein<br />

ranghoher Offizier, der zu ihm einen direkten Zugang hatte,<br />

bereit war, sein eigenes Leben zu opfern <strong>und</strong> sich zusammen mit<br />

Hitler in die Luft zu sprengen. Als er hörte, dass dieser eine<br />

Ausstellung von erbeuteten sowjetischen Waffen besichtigen<br />

wollte, sah er seine Chance gekommen, doch jemand musste<br />

den anderen gewarnt haben. Anstatt sich für diese Besichtigung<br />

Zeit zu nehmen, ging er schnell hinein <strong>und</strong> hinaus, ohne dass<br />

dieser Offizier seinen Plan ausführen konnte, <strong>und</strong> er hatte nur<br />

noch knapp Zeit, um die Bombe in einem Klo zu entschärfen.<br />

Kann da jemand an einen blossen Zufall glauben?<br />

Kurz darauf gelang es einem anderen Offizier, eine Bombe in ein<br />

Flugzeug zu schmuggeln, als er gehört hatte, dass Hitler mit<br />

diesem zu einem Stützpunkt irgendwo in Weissrussland fliegen<br />

wollte. Er konnte den Zeitzünder so einstellen, dass die Bombe<br />

während <strong>des</strong> Flugs explodieren würde, doch er stieg nicht selbst<br />

hinein, sondern übergab das Paket einem anderen Offizier, der<br />

nichts davon wusste. Eigentlich hätte diese Bombe explodieren<br />

sollen, es war ja alles vorbereitet - aber eben, es klappte wieder<br />

nicht. Soweit diese Geschichte überhaupt bekannt geworden ist,<br />

wird noch heute gesagt, es habe nicht geklappt, weil es für eine<br />

Explosion in der Luft oben noch viel zu kalt war. Zum Glück für<br />

97


diesen Offizier, der das Paket mitgegeben hatte, gelang es ihm<br />

nach dem Flug, dieses unter einem Vorwand wieder an sich zu<br />

nehmen, <strong>und</strong> im Gegensatz zu den meisten anderen<br />

Verschwörern, von denen viele noch heute bekannt sind, hat er<br />

den Krieg überlebt. Was aus dem anderen Offizier geworden ist,<br />

der das Paket entgegennahm <strong>und</strong> mitflog, ist nicht bekannt<br />

geworden; falls er den Krieg nicht überlebt haben sollte, konnte<br />

es nicht an diesem missglückten Attentatsversuch liegen. Noch<br />

einmal diese Frage: Konnte das alles nur ein Zufall sein? Ich<br />

sage, es war keiner.»<br />

Dann hält er wieder kurz inne <strong>und</strong> da es weiter still bleibt, setzt<br />

er fort: «Nach dem Ukraine-Krieg haben die meisten von uns<br />

sicher geglaubt, dass Staputows Reich viele Jahre brauchen<br />

würde, um sich wieder zu erholen, aber wir haben uns noch<br />

einmal getäuscht. Dank seiner erstaunlich vielen Fre<strong>und</strong>e in der<br />

ganzen Welt <strong>und</strong> dank <strong>des</strong> Truppenaufmarsches von mehreren<br />

100'000 Chinesen <strong>und</strong> Nordkoreanern, die in wenigen Tagen vor<br />

der polnisch-weissrussischen Grenze eintreffen werden, müssen<br />

wir erkennen, dass die Kräfte <strong>des</strong> Bösen noch mehr Blut geleckt<br />

haben <strong>und</strong> <strong>des</strong>halb nicht mehr aufzuhalten sind. Zugleich<br />

erfüllen sie aber auch eine uralte biblische Prophezeiung, in der<br />

von einem solchen Aufmarsch die Rede ist. Im Buch Hesekiel,<br />

der in den deutschen Übersetzungen entweder so oder auch<br />

Ezechiel genannt wird, ist zu Beginn <strong>des</strong> 38. Kapitels von einer<br />

riesigen Invasion die Rede, die von allen Himmelsrichtungen aus<br />

in Richtung Israel gestartet wird. <strong>Die</strong> biblischen Prophezeiungen<br />

wurden zwar immer nur in Bezug auf Israel geschrieben, doch<br />

dieses Land hängt eng mit der mittel- <strong>und</strong> westeuropäischen<br />

Kultur zusammen, <strong>und</strong> die meisten Staatsgründer waren<br />

ursprünglich tatsächlich Europäer; also können wir durchaus<br />

sagen, dass diese besondere Prophezeiung im Buch Hesekiel<br />

auch für uns gilt.<br />

Sicher haben die einen oder anderen unter Ihnen auch schon die<br />

Wörter Gog <strong>und</strong> Magog gehört, die sich auf diese Prophezeiung<br />

98


eziehen. Da es zu lange dauern würde, all diese Verse<br />

vorzulesen, <strong>und</strong> damit auch unterschlagen muss, welches<br />

Schicksal diese Invasoren ereilen wird, beschränke ich mich auf<br />

die Namen, die vorkommen: In erster Linie Gog im Land Magog,<br />

<strong>und</strong> dazu die Fürsten von Rosch, Mesech <strong>und</strong> Tubal. Da muss<br />

ich noch hinzufügen, dass mit dem Wort ‘Fürst’ im altertümlichen<br />

Denken immer auch ein König gemeint ist <strong>und</strong> dass ein Fürst<br />

oder König zugleich für das ganze Land steht. Fast alle<br />

Bibelausleger sind sich schon seit Jahrh<strong>und</strong>erten einig, dass mit<br />

Rosch nur Russland gemeint sein kann, während über die<br />

anderen Namen immer noch gestritten wird.<br />

Weiter werden noch Gomer <strong>und</strong> Togarma vom äussersten<br />

Norden genannt, <strong>und</strong> Sie staunen sicher darüber, dass drei<br />

Völker, die es noch heute gibt, wörtlich so genannt werden: <strong>Die</strong><br />

Perser, Äthiopier <strong>und</strong> Libyer. Dass die Bärtigen in Teheran den<br />

Befehl zu einer Invasion Israels lieber schon heute als erst<br />

morgen geben würden, ist schon seit Jahrzehnten kein<br />

Geheimnis, <strong>und</strong> ebenso wissen wir, dass Äthiopien bis zur<br />

sogenannten Wende bei uns ein streng kommunistisch regierter<br />

Staat war, der eisern auf der Seite Moskaus stand - <strong>und</strong> auch<br />

Libyen war in dieser Zeit ein zuverlässiger Verbündeter <strong>des</strong><br />

Königs vom Norden, wie wir Russland nach der biblischen<br />

Denkweise auch nennen können. Wir dürfen nicht vergessen,<br />

dass Jerusalem <strong>und</strong> Moskau fast auf dem gleichen Längengrad<br />

liegen; auch <strong>des</strong>halb ist von einem Feind vom äussersten<br />

Norden die Rede.<br />

Sie fragen sich jetzt sicher, wie die Erfüllung dieser<br />

Prophezeiung möglich sein soll, wenn die Hauptziele in Europa<br />

das Baltikum <strong>und</strong> Polen <strong>und</strong> auf der anderen Seite der Welt<br />

Taiwan sind, <strong>und</strong> noch dazu gehören Äthiopien <strong>und</strong> Libyen heute<br />

nicht mehr zur antiwestlichen Achse wie in der kommunistischen<br />

Epoche. Wer kann uns aber die Garantie dafür geben, dass<br />

diese Länder mit ihrer unstabilen Lage nicht doch bald<br />

umkippen? Zudem hat sich das Wort Äthiopien während vielen<br />

99


Jahrh<strong>und</strong>erten auch auf Eritrea bezogen, mit dem es lange<br />

verfeindet war, <strong>und</strong> dieses Land gehört bekanntlich zu denen, die<br />

mit Russland eng befre<strong>und</strong>et sind. Natürlich könnten die Libyer,<br />

mit denen nicht nur sie selber, sondern noch andere<br />

nordafrikanische Völker gemeint sind, auch nach einem Umsturz<br />

nicht an Ägypten vorbei, solange dieses nicht auch noch umkippt<br />

- aber wer von uns kann schon voraussagen, dass das nicht auch<br />

geschehen wird, obwohl die Ägypter eigentlich an einem Frieden<br />

interessiert sind, weil sie unter anderem auch von den<br />

Einnahmen <strong>des</strong> Schiffverkehrs durch den Suez-Kanal<br />

angewiesen sind?<br />

Auch eine Teilnahme der Türkei, die sich in den letzten dreissig<br />

Jahren von einem europafre<strong>und</strong>lichen <strong>und</strong> fortschrittlichen Land,<br />

das vor allem für die Frauenrechte viel Platz geboten hatte,<br />

immer mehr in einen islamistischen <strong>und</strong> damit auch<br />

israelfeindlichen Staat verwandelt hat, kann nicht mehr<br />

ausgeschlossen werden. Dabei war dieses Land genauso wie<br />

das Osmanische Reich jahrh<strong>und</strong>ertelang eine Zufluchtsstätte für<br />

verfolgte Juden, was sicher mit dazu beigetragen hat, dass die<br />

Beziehungen zwischen den Türken <strong>und</strong> Israelis jahrzehntelang<br />

erstaunlich gut waren - aber eben, heute nicht mehr.<br />

Könnten die beiden jetzt stattfindenden Invasionen ins Baltikum<br />

<strong>und</strong> nach Taiwan also nicht auch Ablenkungsmanöver sein? <strong>Die</strong><br />

Bärtigen in Teheran posaunen schon jetzt ungeniert, dass sie<br />

sich bereits für einen Marsch auf Israel vorbereiten, <strong>und</strong> dazu<br />

kommt noch, dass min<strong>des</strong>tens die schiitischen Iraker, die etwa<br />

die Hälfte der Bevölkerung stellen, auch schon angekündigt<br />

haben, dass sie mit den iranischen Glaubensbrüdern<br />

mitmarschieren würden - <strong>und</strong> nicht zuletzt haben sie immer noch<br />

ihre beiden Ableger r<strong>und</strong> um Israel selber, einerseits die Hamas<br />

im Gaza-Streifen <strong>und</strong> andererseits die Hisbollah im Südlibanon,<br />

die noch bis heute nie ganz ausgeschaltet werden konnten.<br />

Wer immer noch nicht richtig weiss, welches die entscheidenden<br />

Unterschiede zwischen den Sunniten, der grossen Mehrheit der<br />

100


Moslems, <strong>und</strong> den Schiiten sind, kann auf die Worte hingewiesen<br />

werden, die der ehemalige Schah Reza Pahlavi von Persien, der<br />

bekanntlich viel im westlichen Jet-Set verkehrte, salopp so<br />

formuliert hat: <strong>Die</strong> Unterschiede sind etwa so wie im Westen<br />

zwischen den Katholiken <strong>und</strong> Protestanten. Das ist zwar nicht<br />

ganz korrekt, weil beide Glaubensrichtungen kein solches<br />

geistliches Oberhaupt wie die Katholiken mit dem Papst oder die<br />

russischen Orthodoxen mit dem Metropoliten in Moskau ein<br />

solches haben, aber es trifft wenigstens den Kern. Während die<br />

Schiiten sich darauf berufen, dass nur Ali, ein Neffe ihres<br />

Propheten Mohammed, der rechtmässige Nachfolger sein<br />

konnte, anerkennen die Sunniten keine solche persönliche<br />

Nachfolge. Näher kann ich das nicht erklären, sonst wären wir<br />

noch bis zum Abend in diesem Saal versammelt. Wegen dieses<br />

kleinen Unterschieds mussten schon Millionen sterben! Aber wir<br />

in Europa waren kein bisschen besser, was die vielen<br />

Religionskriege deutlich beweisen.<br />

An dieser Stelle muss ich auch noch erwähnen, dass die<br />

grössten <strong>und</strong> schlimmsten Kriege der Menschheit immer<br />

zwischen Weissen <strong>und</strong> zudem zwischen sogenannten Christen<br />

ausgetragen worden sind, von denen viele sich jahrh<strong>und</strong>ertelang<br />

als eine Eliterasse betrachtet haben. Ich erinnere nur an diese<br />

Beispiele: Der 30-jährige Krieg, der ursprünglich ebenfalls ein<br />

Religionskrieg war, der Amerikanische Bürgerkrieg, der<br />

Spanische Bürgerkrieg <strong>und</strong> vor allem die beiden Weltkriege, an<br />

denen sich zwar auch viele sogenannte Gelbe beteiligt haben,<br />

aber im Vergleich zu den Weissen stellten sie nur eine<br />

Minderheit.<br />

Was noch die Chinesen betrifft, haben diese schon vor einem<br />

halben Jahrh<strong>und</strong>ert damit geprahlt, dass sie jederzeit eine<br />

Armee von min<strong>des</strong>tens 200 Millionen Soldaten aufstellen<br />

könnten. Genauer gesagt ist in der Apokalypse, dem letzten<br />

Buch der Bibel, wo auf eine solche Invasion aus dem fernen<br />

Osten Bezug genommen wird, von ‘dismyria<strong>des</strong> myriadon’, also<br />

101


von 20’000 mal 10'000 die Rede, <strong>und</strong> das ergibt 200 Millionen.<br />

In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass die Zahl 10'000<br />

im altgriechischen Denken das war, was bei den Römern die<br />

Zahl 1'000 war, also die wichtigste Zahl, wenn hohe Zahlen<br />

ausgedrückt wurden. Für die Chinesen, die schon seit<br />

Jahrzehnten so trainieren, als würden sie jederzeit mit einem<br />

riesigen Krieg rechnen, ist es eine Kleinigkeit, neben den paar<br />

Millionen, die sie jetzt auf Taiwan <strong>und</strong> Europa losgeschickt<br />

haben, noch viele weitere Millionen zu schicken, <strong>und</strong> dabei<br />

könnten sie sogar noch einen Vorwand bringen: Es geht um die<br />

Sicherstellung der Seidenstrasse, die heute wieder eine wichtige<br />

weltwirtschaftliche Rolle spielt <strong>und</strong> für sie nur dann wirklich sicher<br />

ist, wenn sie die ganze Route unter ihrer eigenen Kontrolle haben<br />

<strong>und</strong> sich nicht auf andere verlassen müssen, <strong>und</strong> mögen diese<br />

noch so gute Fre<strong>und</strong>e oder genauer Vasallen sein.»<br />

Dann hält er wieder inne <strong>und</strong> schaut ins weite R<strong>und</strong>, <strong>und</strong> obwohl<br />

sich auch jetzt niemand meldet, um an ihn eine Frage zu stellen,<br />

wartet er mehrere Sek<strong>und</strong>en, bis er noch dies hinzufügt: «Was<br />

ich Ihnen allen jetzt gesagt habe, war in groben Zügen das, was<br />

ich Ihnen noch mitteilen wollte, weil ich es für wichtig halte, dass<br />

Sie auch über diese Zusammenhänge in Kenntnis gesetzt<br />

werden. Wir haben es also nicht nur mit einem Feind aus Fleisch<br />

<strong>und</strong> Blut zu tun, wie es der Apostel Paulus geschrieben hat,<br />

sondern auch mit finsteren geistlichen <strong>und</strong> unsichtbaren<br />

Mächten, die immerhin so mächtig sind, dass die ihre<br />

menschlichen Stiefelknechte sogar dazu angetrieben haben,<br />

jetzt auch noch die NATO direkt anzugreifen, die schon seit<br />

Jahrzehnten als das grösste Militärbündnis aller Zeiten<br />

bezeichnet wird - aber wie schon gesagt, wenn einmal wirklich<br />

Blut geleckt wird, gibt es kein Halten mehr.»<br />

Wieder hält er kurz inne, aber nur kurz, <strong>und</strong> dann fügt er in einem<br />

Ton, an dem herauszuhören ist, dass der Major bald fertig ist,<br />

noch diese Worte hinzu: «Da die Bun<strong>des</strong>wehr noch bis vor<br />

kurzem eine Armee aus Freiwilligen war <strong>und</strong> die vielen neu<br />

102


Rekrutierten seit der Wiedereinführung der Wehrpflicht zuerst<br />

noch eine längere Zeit ausgebildet werden müssen, kann ich<br />

davon ausgehen, dass Sie alle beim Einrücken in den<br />

Gr<strong>und</strong>wehrdienst keine moralischen Skrupel hatten, was das<br />

Töten betrifft. In diesem Zusammenhang betone auch ich<br />

genauso wie andere, die mit der Bibel gut vertraut sind, dass das<br />

bekannte Gebot ‘Du sollst nicht töten!’ doppeldeutig ist:<br />

Einerseits bedeutet es ‘töten’ im Sinn, dass man andere<br />

Menschen nicht bewusst töten darf, <strong>und</strong> andererseits bedeutet<br />

es auch ‘morden’ <strong>und</strong> meint damit das Gleiche. Wäre es nicht so,<br />

hätte es in der Zeit <strong>des</strong> Alten Testaments sicher nicht so viele<br />

Aufrufe zum Einrücken in die israelitische Armee für eine<br />

Schlacht gegeben. Es gab tatsächlich eine Wehrpflicht für<br />

Männer ab zwanzig Jahren, aber es war wenigstens all jenen,<br />

die gerade frisch verheiratet waren, noch ein ganzes Jahr lang<br />

erlaubt, bei ihren Frauen zu verweilen. Stellen Sie sich das mal<br />

vor! Das wäre heute völlig <strong>und</strong>enkbar.<br />

Das Töten ist also auch im biblischen Sinn nicht verboten, wenn<br />

es um die Heimat als Ganzes geht, so makaber das auch klingen<br />

mag. Wenn wir also ins Feld ziehen, haben wir sozusagen die<br />

Erlaubnis zu schiessen, ohne das zu hinterfragen. Schon der<br />

Ukraine-Krieg hat gezeigt, dass von den Invasoren bei einem<br />

Erfolg aus ihrer Sicht keine Gnade zu erwarten ist, <strong>und</strong> es gehen<br />

bereits die ersten Gerüchte um, dass im Baltikum schon mehrere<br />

H<strong>und</strong>ert massakriert worden sind. <strong>Die</strong> grösseren Städte sind nur<br />

<strong>des</strong>halb noch nicht bombardiert worden, weil dort auch viele<br />

Russen leben, ja, in der lettischen Hauptstadt Riga stellen sie<br />

sogar noch heute eine Mehrheit. Wenn wir also schon wissen,<br />

wozu Russen fähig sind, können wir von denen aus den anderen<br />

Kontinenten, die eine ganz andere <strong>und</strong> vor allem keine so<br />

pseudochristlich angehauchte Denkweise wie wir haben, erst<br />

recht keine Gnade erwarten. Wenn Sie also mit Ihren<br />

Maschinengewehren <strong>und</strong> Maschinenpistolen Ihre Salven<br />

abfeuern <strong>und</strong> damit vielleicht viele andere töten, ist das zwar nie<br />

schön, aber Sie können sich immer sagen, dass Sie das vor<br />

103


allem für Ihre Heimat <strong>und</strong> Ihre Familien, Verwandten <strong>und</strong><br />

Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> auch noch für sich selber tun. Ein Krieg war noch<br />

nie schön <strong>und</strong> ist es jetzt auch nicht, aber wir haben diesen Krieg<br />

nie gewollt <strong>und</strong> verteidigen uns nur, wie es auch die Israelis <strong>und</strong><br />

Ukrainer getan haben.<br />

Das Wichtigste ist am Schluss sowieso nur, auf welcher Seite wir<br />

in unserer letzten Lebensminute stehen: Entweder auf der Seite<br />

Gottes oder nicht. Ich weiss zwar auch, dass die meisten unter<br />

Ihnen mit der biblischen Botschaft vom Kreuz <strong>und</strong> von Jesus<br />

Christus nicht viel anfangen können, aber auch das ändert nicht<br />

daran, dass es sich so verhält, <strong>und</strong> es ist meine Pflicht, Sie alle<br />

darauf hinzuweisen. Es klingt sicher makaber, aber es ist<br />

tatsächlich so, wie es jemand einmal formuliert hat: Gott ist<br />

mitten in der Katastrophe. Zudem ist ausgerechnet in einem Vers<br />

<strong>des</strong> Buches Hiob, das nach meiner Meinung am schwersten zu<br />

lesen <strong>und</strong> zu verstehen ist, das Versprechen niedergeschrieben,<br />

dass Gott einen sogar aus einem Krieg herausretten kann, wenn<br />

er dafür angefleht wird <strong>und</strong> er das auch will. Genau auf diesen<br />

Vers hat sich im Zweiten Weltkrieg eine Frau berufen, die ich<br />

kurz vor ihrem Ableben noch kennen lernte <strong>und</strong> die mit einem<br />

Pfarrer verheiratet gewesen war, der als Feldprediger nach<br />

Stalingrad versetzt worden war. Nach ihren Worten betete sie<br />

monatelang dafür, dass ihr Mann unversehrt zurückkehrte, <strong>und</strong><br />

tatsächlich kehrte er nach der Stalingrad-Katastrophe als<br />

Einziger seines Regiments wieder zurück - <strong>und</strong> erst noch<br />

unverw<strong>und</strong>et. Dazu gibt es noch viele andere Berichte von<br />

Leuten <strong>und</strong> sogar Soldaten der Wehrmacht, die ähnliche W<strong>und</strong>er<br />

erlebt hatten, aber ich kann Ihnen jetzt natürlich nicht alles<br />

erzählen, so gern ich das auch tun würde.»<br />

Dann ist er offensichtlich doch am Ende seines Vortrags<br />

angekommen, was sich auch darin zeigt, dass er endlich einmal<br />

ordentlich durchschnauft, <strong>und</strong> seine nächsten Worte bestätigen<br />

das: «Gut, damit bin ich jetzt doch noch fertig geworden. Ich bin<br />

froh, dass ich Ihnen das alles noch sagen konnte, bevor wir<br />

104


abmarschieren. Ich bin selber also auch dabei; ich werde<br />

sozusagen mitten unter Ihnen die gleiche Funktion ausüben, die<br />

früher ein Feldprediger ausgeübt hat. Ich bin zwar nicht Gott, der<br />

sich auch inmitten einer Katastrophe offenbaren kann, aber ich<br />

verspreche Ihnen, dass ich mein Bestes geben werde, um Sie<br />

geistlich betreuen zu können, soweit es möglich ist. Vielleicht<br />

geht der Kelch dieses furchtbaren Kriegs doch noch an uns<br />

vorbei, vielleicht werden aber auch wir noch hineingezogen - das<br />

weiss nur Gott allein, an den jetzt hoffentlich bald wieder viel<br />

mehr als bisher glauben werden. Immerhin scheinen die Kirchen,<br />

die sich in letzter Zeit wieder mehr gehäuft haben, darauf<br />

hinzudeuten; Not lehrt beten, heisst es in einem alten Sprichwort,<br />

das sich einmal mehr wieder als wahr erweist. <strong>Die</strong>se biblischen<br />

Worte kann ich bestätigen: In Ihm sind wir immer geborgen, wo<br />

auch immer wir uns gerade befinden.»<br />

<strong>Die</strong> meisten geben es zwar nicht zu, aber sie sind von diesen<br />

Worten trotzdem beeindruckt. Auf diese Weise haben sie die<br />

ganzen Zusammenhänge vom Beginn der Menschheit bis heute<br />

noch nie gehört, auch Bergmann nicht, obwohl er zeitweise in<br />

frommen Kreisen verkehrte, weil auch seine Mutter von einer<br />

solchen Familie stammte.<br />

-------------------------------------------------------------------------------<br />

Da der Nachmittag wieder den Kriegsvorbereitungen gewidmet<br />

wird, wobei das Schwergewicht noch einmal auf die<br />

Beherrschung der Infanterie-Waffen gelegt wird, die sie im<br />

schlimmsten Fall schon bald einsetzen müssen, haben die Leute<br />

nicht wirklich Zeit, um über die Worte <strong>des</strong> Majors gründlich<br />

nachzudenken, <strong>und</strong> am Abend sind sie dafür zu müde.<br />

Was Bergmann am meisten aufrichtet, ist der Brief, den er von<br />

seiner Frau endlich bekommen hat. Während er sich draussen<br />

auf dem Feld vor allem dem Maschinengewehr widmete, ist der<br />

Brief im Verlauf <strong>des</strong> Nachmittags eingetroffen. Da der Feind<br />

überall mithören kann <strong>und</strong> es <strong>des</strong>halb viel zu gefährlich ist,<br />

105


Liebesschwüre <strong>und</strong> auch andere Worte elektronisch zu<br />

übermitteln, hat die gute alte Feldpost aus früheren Epochen<br />

wieder Einzug gehalten. Wenigstens weiss Bergmann jetzt, wo<br />

genau sie sich aufhält <strong>und</strong> wohin sie versetzt werden soll. Es<br />

geht auch für sie nach Polen, aber sie wird nicht seiner Einheit<br />

zugeteilt, obwohl sonst darauf geschaut wird, dass Angehörige<br />

<strong>und</strong> erst recht Eheleute möglichst nahe beisammen sind - aber<br />

diesmal lässt sich das offensichtlich nicht einrichten, weil sie<br />

nicht die gleichen Funktionen ausüben wird wie er.<br />

106


5<br />

Am nächsten Tag, der vollständig für die Ausbildung oder<br />

genauer für das Auffrischen der alten Kenntnisse vorgesehen ist,<br />

lässt sich beim traditionellen Antrittsverlesen um sieben Uhr<br />

wieder einmal der Generalleutnant Stresemann blicken. Noch<br />

bevor er den M<strong>und</strong> zum Sprechen geöffnet hat, ist an seinem<br />

Gesichtsausdruck zu erkennen, dass er wohl etwas sehr Ernstes<br />

mitzuteilen hat.<br />

«Guten Morgen alle zusammen!», ruft er als Erstes so laut wie<br />

möglich, <strong>und</strong> darauf ertönt ein h<strong>und</strong>ertfaches «Guten Morgen,<br />

Herr Generalleutnant!» Darauf verliert Stresemann keine Zeit<br />

<strong>und</strong> kommt gleich zur Sache: «Ich will Sie nicht allzu lange<br />

aufhalten, aber was ich Ihnen jetzt mitzuteilen habe, möchte ich<br />

gleich zu Beginn loswerden: Wir werden schon morgen nach<br />

Polen versetzt - wohin genau, weiss auch ich immer noch nicht,<br />

das werde ich erst morgen erfahren. Eigentlich war es<br />

vorgesehen, min<strong>des</strong>tens noch eine Woche hier zu bleiben, bis<br />

unsere kriegsmässige Ausbildung, der sich viele wieder ganz<br />

neu unterzogen haben, wirklich als abgeschlossen bezeichnet<br />

werden kann, doch die Gesamtlage lässt es nicht zu, dass wir<br />

noch länger warten.<br />

Da die Eroberung der drei baltischen Staaten zu diesem<br />

Zeitpunkt schon fast abgeschlossen ist <strong>und</strong> da obendrein die<br />

chinesischen <strong>und</strong> nordkoreanischen Truppen ihren Vormarsch<br />

nach Russland nicht abgebrochen haben <strong>und</strong> damit schon bald<br />

zur Verstärkung der Russen eintreffen werden, zählt jetzt jeder<br />

einzelne Tag. Solange die Polen noch allein sind, wird es mit fast<br />

h<strong>und</strong>ert Prozent Sicherheit zu einem Angriff kommen, weil wir<br />

leider deutlich genug erkennen mussten, dass auch die<br />

Mitgliedschaft in der NATO <strong>und</strong> die vielen Raketen auf dem<br />

polnischen Territorium bisher nichts genützt haben. Natürlich<br />

hätte ein Teil dieser Raketen nach Russland abgefeuert werden<br />

können - aber wohin genau? Zudem war es uns immer klar, dass<br />

107


wir das Baltikum in einem Ernstfall wahrscheinlich nicht lange<br />

halten <strong>und</strong> im schlimmsten Fall sogar opfern müssen. Genau das<br />

hat der Feind auch gewusst <strong>und</strong> gnadenlos ausgenützt. Offiziell<br />

sind bereits drei von Moskau eingesetzte Statthalter eingesetzt<br />

worden, aber es sind nach unserem jetzigen Wissensstand<br />

wenigstens keine baltischen Russen, die sich dafür hergeben.<br />

Auf jeden Fall ist die Geschichte dort um fast neunzig Jahre<br />

zurückgedreht worden, auch dort sind genauso wie in der<br />

Ukraine die jahrzehntelangen Bemühungen für einen Neuaufbau<br />

Europas nach dem Zweiten Weltkrieg zunichtegemacht worden.<br />

Für uns bedeuten diese Ereignisse dies: Wenn wir einmal vor der<br />

polnisch-weissrussischen Grenze stehen <strong>und</strong> damit die Polen<br />

verstärken, besteht die kleine Chance, dass die Russen,<br />

Chinesen <strong>und</strong> Nordkoreaner vielleicht doch nicht angreifen<br />

werden, weil sie immer wieder betont haben, dass sie gegen die<br />

Deutschen eigentlich nicht kämpfen wollen - aber eben, bei<br />

denen können wir nie mit Sicherheit wissen, was sie wirklich<br />

vorhaben. Wir sind nicht so naiv, um nicht zu wissen, dass der<br />

Feind immer genau darüber informiert ist, was bei uns läuft <strong>und</strong><br />

was geplant wird.<br />

Da Polen ein grosses Land ist - praktisch gleich gross wie<br />

Deutschland -, haben wir nicht mehr genügend Zeit, um in einem<br />

Marsch bis zur polnisch-weissrussischen Grenze zu gelangen.<br />

Wir müssen also dorthin gefahren werden, einerseits mit<br />

Lastwagen <strong>und</strong> andererseits mit Wagen der Polnischen<br />

Eisenbahn, <strong>und</strong> das könnte das Risiko beinhalten, dass wir auf<br />

diese Weise direkt angegriffen werden. Solange der Angriff über<br />

die Grenze noch nicht erfolgt, haben wir aber noch die Chance,<br />

die polnischen Truppen rechtzeitig zu verstärken - <strong>und</strong> dann<br />

geschieht vielleicht doch noch ein kleines W<strong>und</strong>er. <strong>Die</strong> Polen<br />

sprechen sogar noch heute immer noch vom W<strong>und</strong>er an der<br />

Weichsel, als vor mehr als h<strong>und</strong>ert Jahren die bolschewistischen<br />

Truppen zurückgeschlagen werden konnten. Warum sollte es<br />

jetzt kein zweites W<strong>und</strong>er geben? Doch andererseits müssen wir<br />

108


klar sehen, dass die Chinesen <strong>und</strong> Nordkoreaner kaum mehrere<br />

100'000 Soldaten nach Europa geschickt haben, um sie bald<br />

wieder von hier abzuziehen. Wenn ihre Regierungen wirklich an<br />

einem Verhandlungsfrieden interessiert wären, hätten sie das<br />

schon lange tun können <strong>und</strong> hätten nicht diesen riesigen<br />

Aufwand auf sich nehmen müssen. Ich selber rechne fest damit,<br />

dass wir in wenigen Tagen einen direkten Krieg haben werden,<br />

aber wir werden unsere Haut so teuer wie möglich verkaufen,<br />

<strong>und</strong> ich glaube weiter daran, dass wir den Feind mit viel<br />

Tapferkeit <strong>und</strong> Zähigkeit dazu bringen werden, dass er den<br />

Angriff wieder abbricht. Denken Sie an die Schlacht von Liegnitz,<br />

von der ich vorgestern in meiner Begrüssungsrede gesprochen<br />

habe! Auch diesmal wird der Feind mehr als doppelt so viele<br />

stellen, wenn die Chinesen <strong>und</strong> Nordkoreaner einmal hier sind,<br />

aber ich bin sicher, dass wir trotzdem eine Chance haben.<br />

Nützen Sie also noch diesen letzten Tag hier aus <strong>und</strong> feilen Sie<br />

noch dort, wo Sie selber sehen, dass etwas fehlt! Ich bin sicher,<br />

dass Sie alle Ihr Bestes geben werden. Heute Abend, wenn Sie<br />

vom Feld wieder zurück sind, werden wir uns noch einmal<br />

versammeln, bevor wir morgen früh gleich nach dem<br />

Antrittsverlesen nach Polen transportiert werden. Jetzt kann uns<br />

nur noch der liebe Gott helfen, wenn es diesen wirklich gibt, aber<br />

wir können wenigstens einen kleinen Teil von dem, was unsere<br />

Grossväter <strong>und</strong> Urgrossväter in Polen verbrochen haben, wieder<br />

gutmachen. <strong>Die</strong>smal kämpfen wir nicht gegen die Polen, sondern<br />

mit den Polen - sie warten bereits auf uns <strong>und</strong> würden uns am<br />

liebsten noch heute an ihrer Seite sehen.»<br />

Dann wird das Antrittsverlesen für beendet erklärt <strong>und</strong> die<br />

verschiedenen Züge, die sich bereits gebildet haben, rücken<br />

feldmarschmässig aus. So wie es aussieht, wird der heutige Tag<br />

also der letzte sein, den sie vollständig noch im eigenen Lad<br />

verbringen.<br />

Obwohl Bergmann nach Stresemanns Worten nicht ganz vorn<br />

bei den kämpfenden Truppen eingesetzt werden soll, ist er jetzt<br />

109


einem Zug zugeteilt worden, doch er fühlt sich nicht in seiner<br />

Ehre verletzt, wie sich ein Offizier in einer solchen Lage fühlen<br />

könnte. Auch ihm ist es klar, dass einer, der mehrere Jahre lang<br />

weg war, nicht innerhalb von wenigen Tagen wieder zu einem<br />

kriegsmässig ausgebildeten Zugführer umgerüstet werden kann,<br />

obwohl es in vielen Kriegen immer wieder vorgekommen ist,<br />

dass einer einspringen musste, wenn alle Offiziere gefallen oder<br />

verw<strong>und</strong>et waren.<br />

Auch Stogitsch ist diesem improvisierten Zug eingeteilt worden.<br />

Während die etwa dreissig Männer - bei ihnen sind keine Frauen<br />

dabei - sich in einer Marschformation, die sie extra wieder<br />

eingeübt haben, zu den nicht weit gelegenen Schiessplätzen<br />

begeben, unterbricht einer ganz hinten die beklemmende Stille<br />

<strong>und</strong> sagt fast wie nebenbei, aber doch noch so deutlich, dass alle<br />

ihn hören können: «Jetzt geht es also doch bald ab zu den<br />

Polacken.»<br />

Dass jemand dieses Wort, das nicht zuletzt wegen den<br />

Ereignissen in der Vergangenheit heute eigentlich ein Tabu-Wort<br />

ist, wieder ungeniert verwendet, missfällt nicht wenigen, aber nur<br />

Bergmann rafft sich dazu auf, ihm zu entgegnen, ohne zu wissen,<br />

wer genau so gesprochen hat: «<strong>Die</strong>ses Wort haben die Nazis viel<br />

verwendet. Du bist doch keiner von denen, nicht wahr?»<br />

Darauf entgegnet ihm einer, den er sehen kann, von der Seite:<br />

«Nimm es locker, Hans! Nach meinem Wissen wird dieses Wort<br />

in ein paar nordischen <strong>und</strong> romanischen Sprachen immer noch<br />

verwendet, zudem sind viele von uns erblich vorbelastet. Meine<br />

Grosseltern stammten aus Pommern - oder genauer<br />

Hinterpommern, der vordere <strong>und</strong> kleinere Teil gehört ja immer<br />

noch zu unserem Land. Nach ihrer Zwangsaussiedlung in den<br />

Westen wurden sie in ihrer ganzen Kindheit nur als Polacken<br />

bezeichnet, obwohl sie kein einziges Wort Polnisch konnten.»<br />

«Das kenne ich ebenfalls», sagt jetzt Bergmann, «meine<br />

Schwester <strong>und</strong> ich wurden immer Russen genannt, obwohl wir<br />

immer wieder gesagt haben, dass wir nur die Sprache reden<br />

110


können, aber Deutsche sind, die zudem hier aufgewachsen sind.<br />

Du hast Recht, Horst, es ist immer das Beste, bei solchen Worten<br />

darüber zu stehen.»<br />

«Trotzdem fühlt es sich komisch an, dass wir jetzt das Land<br />

verteidigen werden, aus dem damals Millionen von Landsleuten<br />

vertrieben worden sind», meldet sich jetzt jemand zu Wort, der<br />

auf der anderen Seite neben Bergmann geht <strong>und</strong> von dem er<br />

gehört hat, er heisse Werner.<br />

«Hören wir auf, von dieser unseligen Vergangenheit zu reden!»,<br />

sagt jetzt noch einer weiter hinten, «heute ist eine ganz andere<br />

Zeit. In diesem Punkt hat Stresemann Recht: Wenn Polen fällt,<br />

werden auch wir bald fallen, aber zusammen können wir das<br />

verhindern - aber eben nur zusammen.»<br />

«Das ändert aber auch nicht daran, dass damals nicht weniger<br />

als zwölf Millionen Deutsche aus dem Osten vertrieben worden<br />

sind», gibt sich Werner noch nicht geschlagen, «wie ich einmal<br />

vernommen habe, war das bis heute die grösste<br />

Völkervertreibung der ganzen Menschheitsgeschichte, <strong>und</strong> mehr<br />

als eine halbe Million sind abgeschlachtet worden, vor allem von<br />

den Tschechen <strong>und</strong> Serben <strong>und</strong> natürlich auch von den Russen.<br />

Wenn das alles kein Völkermord war - was dann?»<br />

«Wenigstens re<strong>des</strong>t du jetzt nicht auch noch von den<br />

Ostgebieten», wendet jetzt Bergmann ein, «das würde wirklich<br />

zu weit gehen <strong>und</strong> uns nichts nützen. Vielleicht werden wir ja auf<br />

dem Gebiet <strong>des</strong> ehemaligen Ostpreussens eingesetzt - das wäre<br />

dann wirklich komisch.»<br />

«Es ist auch mir klar, dass diese Gebiete heute fest zu Polen<br />

gehören», verteidigt sich Werner, «ich wollte nur einmal<br />

vorbringen, was schon seit Jahrzehnten immer wieder<br />

unterschlagen wird. Wisst ihr übrigens, dass nach verschiedenen<br />

Statistiken jeder vierte Deutsche, der heute lebt, Wurzeln von<br />

östlich der heutigen Grenze hat?»<br />

111


Jetzt legen sie eine kurze Pause ein, bis Horst einwendet:<br />

«Wenigstens haben die Polen Feuer im Hintern - <strong>und</strong> zwar das<br />

ganze Volk mitsamt den Industriellen, die nicht bereit sind, sich<br />

Staputow zu unterwerfen. Da könnten unsere eigenen, die schon<br />

kurz nach dem Ukraine-Krieg mit diesem wieder Geschäfte<br />

aufnahmen, als hätte sich nichts ereignet, eine dicke Scheibe<br />

Anstand abschneiden. Nur dumm für sie, dass die beiden Nord-<br />

Stream-Kanäle schon wieder geschlossen werden mussten!»<br />

Dann hält er kurz inne <strong>und</strong> fragt dann Bergmann direkt: «Weisst<br />

du schon, wie lange du noch bei uns bist?»<br />

«Nein, das wurde mir noch nicht deutlich gesagt», antwortet<br />

dieser ohne Zögern, «zuerst müssen wir mal dort sein.»<br />

«Vielleicht bleibt dir das Maschinengewehr erspart, wenn es<br />

wirklich losgeht», meint Werner.<br />

«Das glaube ich nicht», entgegnet Bergmann wieder sofort, «ich<br />

rechne nicht damit, dass ich verschont werde, wenn die anderen<br />

den Verstand endgültig verlieren <strong>und</strong> uns tatsächlich direkt<br />

angreifen. Im Gegensatz zu den Balten haben wir immer noch<br />

eine kleine Chance, auch <strong>des</strong>halb, weil die Amis zwar noch diese<br />

opfern konnten, aber wir sind ein ganz anderes Kaliber. Auch die<br />

von drüben wissen genau, dass von unseren beiden Armeen<br />

ungeheuer viel abhängt. Zusammen können wir es schaffen,<br />

dass nicht ganz Europa überrannt wird, aber wenn uns das nicht<br />

gelingt, wird das auf die ganze Welt Auswirkungen haben.»<br />

«Ich möchte nicht wissen, wie viele Länder ausserhalb von<br />

Europa dann noch irgendwas für uns tun werden», wendet<br />

schliesslich Peter Stogitsch ein, der direkt neben Bergmann geht,<br />

«jetzt sind es noch die Kanadier <strong>und</strong> die Amis, die hier immer<br />

noch Truppen haben, die nicht wenige Vögel schon vor Jahren<br />

heimschicken wollten. Was könnten wir wirklich ausrichten, wenn<br />

diese nicht mehr hier wären?»<br />

«Dazu kommt noch, dass die Schurkenstaaten <strong>und</strong> ihre<br />

erstaunlich vielen Fre<strong>und</strong>e auch hier ihre Netzwerke haben»,<br />

112


sagt jetzt wieder Horst, «ich möchte lieber nicht daran denken,<br />

was für Triumphmärsche auf unseren Strassen veranstaltet<br />

werden, wenn es den Zombies tatsächlich gelingt, den<br />

angestrebten Endsieg über den bösen <strong>und</strong> dekadenten Westen<br />

zu erreichen.»<br />

«Aber auch dann wird es immer noch Naivlinge geben, die an<br />

das Märchen von ‘Wandel durch Handel’ glauben», erwidert<br />

Peter, «es ist schon unglaublich, dass die Bun<strong>des</strong>regierung sich<br />

so vorführen lassen konnte!»<br />

«Denken wir lieber nicht mehr daran, was für unfähige Leute<br />

damals an der Spitze waren!», wendet wieder Bergmann ein,<br />

«nur schon wenn ich daran denke, dass jemand von denen nach<br />

dem Ausbruch <strong>des</strong> Ukraine-Kriegs davon sprach, dass wir<br />

fünftausend Helme liefern könnten, wird es mir speiübel.»<br />

«Wenn dieser Krieg einmal vorbei ist, wird es ganz oben sicher<br />

bald wieder solche Leute geben!», ruft jetzt noch einer von hinten<br />

nach vorn, «aber vielleicht werden wir das dann nicht mehr<br />

miterleben.»<br />

Schliesslich erreichen sie die Schiessplätze - <strong>und</strong> da sie wissen,<br />

dass es letztlich um ihr eigenes Überleben geht, strengen sie<br />

sich den ganzen Tag lang an. Auch Bergmann <strong>und</strong> Stogitsch<br />

geben ihr Bestes, weil sie zwar als Verbindungsoffiziere<br />

eingesetzt werden sollen, die früher zumin<strong>des</strong>t bei den unteren<br />

Rängen auch als Meldeläufer bezeichnet wurden, aber trotzdem<br />

damit rechnen müssen, dass auch sie die Infanterie-Waffen in<strong>und</strong><br />

auswendig beherrschen müssen.<br />

113


6<br />

Wie es der Generalleutnant angekündigt hatte, versammelten<br />

sich die fast h<strong>und</strong>ert eingerückten Reserve-Offiziere noch einmal<br />

am letzten Abend in der Kaserne, <strong>und</strong> ausser Bergmann <strong>und</strong><br />

Stogitsch wissen jetzt alle, wo genau sie eingeteilt worden sind.<br />

Nach der dritten Nacht seit dem Einrücken, in der Bergmann zu<br />

seinem eigenen Erstaunen noch einmal gut schlafen konnte,<br />

befinden sich jetzt alle in einem Sonderzug, der von den Polen<br />

zur Verfügung gestellt worden ist, in Richtung polnischweissrussische<br />

Grenze.<br />

Nicht nur der bevorstehende Kriegseinsatz lässt bei allen eine<br />

bedrückte Stimmung aufkommen, sondern auch das, was<br />

gerüchteweise sogar bis hierher durchdringt: So wird nicht nur<br />

gemeldet, dass die chinesischen <strong>und</strong> nordkoreanischen<br />

Verstärkungstruppen die Grenze zwischen Russland <strong>und</strong><br />

Kasachstan, das sich auf Staputows Druck hin für neutral<br />

erklären musste <strong>und</strong> sowieso militärisch wenig bis nichts<br />

bewirken könnte, überschritten haben, sondern es wird die fast<br />

noch als schlimmer anmutende Nachricht verbreitet, dass die<br />

iranischen Truppen kurz vor dem Abmarsch in Richtung Israel<br />

stehen. Dazu kommen auch Zehntausende von Irakern, von<br />

denen die meisten Schiiten sind, <strong>und</strong> sogar Türken, die sich wie<br />

befürchtet für den Krieg gegen Russland für neutral erklärt<br />

haben, um jetzt Truppen für diesen Marsch frei zu haben, <strong>und</strong><br />

fast ebenso viele Aserbaidschaner <strong>und</strong> solche Syrer, die bis<br />

heute für den Diktator Al-Aschati gekämpft haben. Nur die<br />

militärisch schwachen Libanesen, die faktisch immer unter der<br />

Kontrolle der Hisbollah-Truppen standen, die wiederum schon<br />

seit Jahrzehnten iranische Vasallen sind, <strong>und</strong> die etwas<br />

kampfstärkeren Jordanier halten sich noch zurück, aber es soll<br />

Anzeichen dafür geben, dass zumin<strong>des</strong>t ein Teil der Letzteren<br />

zum Mitmarschieren gedrängt wird, ansonsten das Land bei<br />

einer Weigerung mit schweren Konsequenzen rechnen müsste.<br />

114


Wie sehr die arabische Welt, von der ein kleiner Teil mit Israel<br />

Frieden geschlossen hat, aber die grosse Mehrheit immer noch<br />

nicht, schon immer zerrissen war, zeigt sich gerade in diesen<br />

Tagen. So sind nicht nur die asiatischen Araber untereinander<br />

zerstritten, sondern auch die afrikanischen - schon verbreiten<br />

sich Gerüchte, dass in ganz Nordafrika <strong>und</strong> zudem in Äthiopien<br />

westfeindliche Truppen putschen, <strong>und</strong> sogar in Ägypten soll es<br />

gewaltig brodeln. Solange dieses sich der neuen Kampfallianz<br />

noch nicht anschliesst, können sich die Israelis nicht nur aus ihrer<br />

Sicht, sondern auch nach der Meinung <strong>des</strong> NATO-<br />

Oberkommandos noch eine Zeit lang halten. Was kommt aber<br />

auf die Welt zu, wenn auch in diesem arabischen Schlüsselland<br />

wie in einem Blutrausch ein erfolgreicher Putsch durchgeführt<br />

<strong>und</strong> der Befehl erteilt wird, ebenfalls gegen Israel zu ziehen?<br />

Wird dann dies die Erfüllung der alten Prophezeiung sein, von<br />

der ihr Feldprediger vorgestern Abend gesprochen hat?<br />

--------------------------------------------------------------------------<br />

Der Generalleutnant hat es richtig vorausgesagt: Da auch Polen<br />

ein grosses Land ist, dauert die Fahrt bis zur polnischweissrussischen<br />

Grenze auch mit dem Zug mehrere St<strong>und</strong>en. In<br />

dieser Zeit ist es erstaunlich ruhig <strong>und</strong> nicht so lärmig wie vor<br />

etwa neunzig Jahren, als nach dem erfolgreich verlaufenen<br />

Feldzug ganze Horden von überheblich Brüllenden durch das<br />

gleiche Land fuhren, um dort das auszuführen, was Staputows<br />

Vorgänger befohlen hatte.<br />

Obwohl die Grenzen auch in den Vorkriegsjahren, als mehrere<br />

100'000 Flüchtlinge aus Asien <strong>und</strong> sogar aus Afrika über diesen<br />

Umweg nach Deutschland gelangen wollten, fast immer offen<br />

waren, weil beide Länder zum Schengenraum gehörten, sind bis<br />

heute die meisten von denen, die jetzt mit dem Zug bis zur<br />

polnisch-weissrussischen Grenze gefahren werden, noch nie in<br />

Polen gewesen. Bergmann <strong>und</strong> Stogitsch, die auch wegen der<br />

Nähe ihrer Heimatorte schon mehrmals auf einen Sprung dort<br />

waren, gehören zu den wenigen Ausnahmen.<br />

115


Während der Fahrt fällt den meisten sofort auf, dass die Häuser<br />

auch dort, wo die ehemaligen deutschen Ostgebiete nicht mehr<br />

hinreichten, sich nicht wesentlich von dem unterscheiden, was<br />

sie von Deutschland her kennen. Bergmann erinnert sich wieder<br />

daran, dass seine Eltern, welche die Zeit der sogenannten<br />

Wende <strong>und</strong> der Wiedervereinigung im Jahr im Gegensatz zu ihm<br />

miterlebt haben, ihm einmal sagten, sie hätten im Fernsehen<br />

einen polnischen Jugendlichen gehört, der schon damals<br />

ankündigte, dass die Grenzen zwischen den beiden Ländern<br />

früher oder später sowieso fallen würden, so dass es dann<br />

eigentlich nicht mehr darauf ankommen würde, wo genau die<br />

ehemaligen deutschen Gebiete liegen.<br />

<strong>Die</strong>se Identität beim Häuserbau fällt denen, die schon weit<br />

herumgereist sind, auch <strong>des</strong>halb bald auf, weil sie etwa in Italien<br />

oder Frankreich ganz andere Häuser gesehen haben, <strong>und</strong> an die<br />

auffallend vielen weissen Bauten in Spanien <strong>und</strong> Griechenland,<br />

wo einige auch schon waren, müssen sie gar nicht erst denken.<br />

Beim Betrachten dieser Häuser <strong>und</strong> auch der vielen Felder wird<br />

es den meisten erst jetzt so richtig klar, dass sie zumin<strong>des</strong>t<br />

zivilisatorisch gesehen eigentlich Seite an Seite mit der Armee<br />

eines Brudervolkes kämpfen, das sich nur durch die Sprache von<br />

ihnen krass unterscheidet. Das hat Bergmann auch schon von<br />

Tschechien gehört, wo er ebenfalls mehrmals war <strong>und</strong> die<br />

gleichen Häuser gesehen hat. So wurden die Tschechen auch in<br />

der kommunistischen Epoche noch viel mehr als die Polen oder<br />

die nah verwandten Slowaken als Deutsche mit slawischer<br />

Zunge bezeichnet, weil sie ebenso tüchtig wie die Einwohner der<br />

ehemaligen DDR waren, wie es hiess. Wäre die Lage nicht so<br />

bitterernst, könnte Bergmann heute über diese Aussagen nur<br />

noch schmunzeln.<br />

Da sie erst gegen den späten Nachmittag am vorgesehenen<br />

Einsatzort ankommen, so dass das Einrichten in den neuen<br />

Unterkünften erst gegen Mitternacht abgeschlossen sein wird,<br />

hält es der Generalleutnant, der im gleichen Zug mitgereist ist,<br />

116


für besser, die beiden Verbindungsoffiziere Bergmann <strong>und</strong><br />

Stogitsch erst am nächsten Tag den polnischen Kommandanten<br />

vorzustellen, mit denen sie direkt zu tun haben werden. Eines<br />

haben die Leute aber schon jetzt erkannt: Ihre Vorgesetzten<br />

haben es nicht direkt so gesagt, aber jetzt, da sie sich nicht allzu<br />

weit von den wahrscheinlichen Kampfgebieten befinden, sehen<br />

sie durch eigene Anschauung bestätigt, was sich schon im<br />

Ukraine-Krieg gezeigt hat. Neben Panzerschlachten haben auch<br />

die alten Schützengräben buchstäblich eine Neubelebung<br />

erfahren; jedenfalls deutet nichts darauf hin, dass sie hier anders<br />

kämpfen werden als ihre Vorgänger in den beiden Weltkriegen.<br />

Auch die Drohnen, die den Kampfpiloten einen Teil der Arbeit<br />

abgenommen haben, konnten nichts daran ändern, dass die<br />

entscheidenden Schlachten immer noch auf dem Boden<br />

ausgetragen werden - <strong>und</strong> zwar mit Bodentruppen selber, mit<br />

Infanterie <strong>und</strong> Panzern, aber auch mit Artillerie.<br />

Es besteht aber immer noch die leise Hoffnung, dass von der<br />

anderen Seite jetzt, da auch Zehntausende von Deutschen zur<br />

Verstärkung der polnischen Truppen eingetroffen sind, ein<br />

Angriff ausbleibt. Viele erinnern sich wieder an die Worte, die<br />

einer der ranghöchsten Militärs vor vielen Jahren so formuliert<br />

hat: Wenn wir den Frieden bewahren wollen, müssen wir uns so<br />

gut auf einen Krieg vorbereiten, dass dieser überflüssig wird. Das<br />

hat sich zwar nicht immer als richtig herausgestellt, weil auch<br />

sehr gut vorbereitete Länder militärisch angegriffen wurden, aber<br />

die Leute hoffen darauf, dass wenigstens ein Teil dieser Worte<br />

auch jetzt zutreffen wird. Sie können sich immer noch nicht so<br />

richtig vorstellen, dass Deutschland, das in der ganzen Welt<br />

schon seit vielen Jahren eine hervorragende Stellung hat <strong>und</strong><br />

dementsprechend angesehen ist, angegriffen wird. Da jetzt auch<br />

Truppen dieses Lan<strong>des</strong> in Polen stehen, kann man es sich<br />

schlicht nicht vorstellen, dass die Russen selbst nach dem<br />

Eintreffen der Verstärkung aus China <strong>und</strong> Nordkorea tatsächlich<br />

angreifen werden. Gerade aus diesem Gr<strong>und</strong> ist es jetzt so<br />

wichtig, die Polen zu verstärken, um das zu verhindern.<br />

117


7<br />

Am nächsten Vormittag tun die hier angekommenen Deutschen<br />

das, was seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr vorgekommen<br />

ist: Sie heben wie in den alten Zeiten Schützengräben aus. <strong>Die</strong><br />

Polen haben zwar schon seit Monaten viel Vorarbeit geleistet,<br />

weil schon der Ukraine-Krieg gezeigt hat, dass auch sie nie ganz<br />

sicher vor einem Angriff sein konnten, aber es gibt immer noch<br />

viel zu tun; schliesslich müssen insgesamt mehr als 300'000<br />

Soldaten so gut wie möglich untergebracht werden.<br />

Allerdings unterscheiden sich die jetzt auszuhebenden<br />

Schützengräben dadurch, dass sie nicht zuvorderst sind, weil auf<br />

den letzten Quadratkilometern bis zur Grenze Panzer zum<br />

Einsatz kommen sollen, <strong>und</strong> dazu sind auch schon Minenfelder<br />

<strong>und</strong> riesige Panzersperren ausgelegt worden, aber noch nicht<br />

überall. Im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg, als die Panzer zu<br />

Beginn noch nicht zum Einsatz kamen, so dass die Infanteristen<br />

sich ganz vorn eingraben mussten, <strong>und</strong> auch zum Zweiten<br />

Weltkrieg, als meistens zuerst die Panzer vorstiessen <strong>und</strong> direkt<br />

hinter ihnen vor allem bei der Wehrmacht <strong>und</strong> bei der Roten<br />

Armee Zehntausende, ja, H<strong>und</strong>erttausende von Soldaten<br />

mitstürmen <strong>und</strong> ihr Leben opfern mussten, wird jetzt genau<br />

darauf geachtet, dass möglichst viele eigene Leute mit dem<br />

Leben davonkommen können. Erst wenn es dem Feind gelingen<br />

sollte, die Panzertruppen ausser Gefecht zu setzen, sollen hier<br />

die Infanteristen zum Einsatz kommen. So makaber das für viele<br />

auch klingen mag, gerade der Ukraine-Krieg hat deutlich gezeigt,<br />

dass die typische Kriegsführung <strong>des</strong> letzten Jahrh<strong>und</strong>erts mit<br />

Panzern noch nicht ausgedient hat, dass sie jedoch nicht mehr<br />

die gleiche ist.<br />

Bergmann <strong>und</strong> Stogitsch wären zwar bereit, bei diesen<br />

Vorbereitungen mitzuhelfen, aber sie werden direkt nach dem<br />

Frühstück <strong>und</strong> dem Antrittsverlesen vom Generalleutnant zu sich<br />

gerufen. Dabei ist dieser selbst auch dabei, weil die zukünftigen<br />

118


anghöchsten Kampfkameraden schliesslich auch ihn kennen<br />

lernen wollen; bei verschiedenen NATO-Manövern waren die<br />

einen oder anderen zwar dabei, aber nie alle zusammen. Neben<br />

Stresemann gesellen sich auch Oberst Hermann Maier <strong>und</strong><br />

Oberstleutnant Wilfried Glanzmann zur Gruppe, die nach<br />

mehreren h<strong>und</strong>ert Metern Fussmarsch sich mit den polnischen<br />

Kommandeuren treffen soll. Dabei haben alle fünf nicht die fein<br />

geschnittenen <strong>und</strong> frisch gebügelten Ausgangsuniformen,<br />

sondern ihre Kampfanzüge angezogen, weil das passender ist.<br />

Schliesslich befinden sie sich jetzt im Krieg, seitdem die<br />

baltischen Staaten direkt angegriffen <strong>und</strong> zum grössten Teil<br />

schon erobert worden sind, <strong>und</strong> durch das Ausrufen <strong>des</strong><br />

Bündnisfalls sind auch die deutschen <strong>und</strong> polnischen Truppen<br />

betroffen, obwohl sie hier noch nicht angegriffen worden sind.<br />

Aus Sicherheitsgründen gehen die fünf den ganzen Weg bis zur<br />

Kommandozentrale <strong>des</strong> benachbarten polnischen Regiments<br />

nur im Schützengraben, der heute offiziell eigentlich nicht mehr<br />

so heisst, aber im militärischen Volksm<strong>und</strong> hat sich dieses Wort<br />

halt noch bis heute gehalten. Wie gut die Polen sich im Verlauf<br />

der letzten paar Monate <strong>und</strong> sogar Jahre vorbereitet haben, zeigt<br />

sich während ihres Marsches deutlich <strong>und</strong> lässt sich nicht mit den<br />

Schützengräben der beiden Weltkriege <strong>und</strong> im Ukraine-Krieg<br />

vergleichen. Im Vergleich zu diesen sind sogar die<br />

Schiessscharten, von denen aus allfällige Invasoren bekämpft<br />

werden sollen, direkt luxuriöse Einrichtungen, <strong>und</strong> noch mehr<br />

fallen die Unterkünfte mit den vielen Betten auf. Sie kommen<br />

sogar noch an einer Kantine vorbei, die so fein eingerichtet<br />

worden ist, dass sie auch über dem Boden einen modernen<br />

Eindruck vermitteln würde.<br />

Sobald die fünf deutschen Offiziere vor der Kommandozentrale<br />

<strong>des</strong> Regiments angekommen sind, werden sie von einem<br />

polnischen Offizier, der dort auf sie gewartet hat <strong>und</strong> als ein<br />

Leutnant zu erkennen ist, in Empfang genommen, aber noch<br />

bevor sie eintreten, können sie schon jetzt sehen, was schon seit<br />

119


vielen Jahrzehnten das Markenzeichen der polnischen Armee<br />

ist: Im Gegensatz zu fast allen anderen Armeen der ganzen Welt<br />

wird nicht mit der offenen rechten Handfläche militärisch<br />

gegrüsst, sondern nur mit dem ausgestreckten Zeige- <strong>und</strong><br />

Mittelfinger. Der Nachteil ist allerdings, dass dieses Grüssen den<br />

polnischen Militärs derart in Fleisch <strong>und</strong> Blut übergegangen ist,<br />

dass in früheren Kriegen Offiziere, Unteroffiziere <strong>und</strong> Soldaten,<br />

die sich in Gefangenschaft als etwas anderes ausgeben wollten,<br />

um ihr Leben zu retten, nur mit einem entsprechenden<br />

Kommando geprüft werden mussten, <strong>und</strong> schon verrieten sie<br />

sich mit diesem Gruss selber.<br />

Als die fünf hereingebeten werden, erkennen sie auf den ersten<br />

Blick sofort, dass auch diese Kommandozentrale geradezu<br />

fürstlich eingerichtet worden ist. Alles, was es braucht, ist da<br />

unten vorzufinden, <strong>und</strong> es ist eigentlich erst jetzt richtig zu<br />

erkennen, wie wichtig die Geheimhaltung sogar bei solchen<br />

scheinbaren Kleinigkeiten ist.<br />

Der Generalleutnant Stresemann, der schon seit vielen Jahren<br />

ein Berufsoffizier ist, hat bei seinen vielen Kontakten mit<br />

ranghohen Offizieren aus fast allen NATO-Staaten schon viel<br />

gesehen, aber auch für ihn ist jetzt einiges neu. So gibt es da<br />

unten neben einer eigentlichen Kantine auch ein kleines<br />

Krankenhaus für die ersten Notfälle, falls es wirklich zu<br />

Kriegshandlungen kommen sollte.<br />

Sobald alle fünf drinnen sind, pflanzen sie sich vor der Gruppe<br />

von polnischen Offizieren, die sie vor sich sehen <strong>und</strong> die jetzt<br />

ebenfalls polnisch-militärisch grüssen, zackig auf <strong>und</strong> grüssen<br />

ebenso zackig, aber auf die deutsche Art, also mit der offenen<br />

rechten Hand. Da Stresemann der Ranghöchste <strong>und</strong> zudem<br />

auch <strong>Die</strong>nstälteste ist, meldet er im dazu passenden zackigen<br />

Ton auf Englisch: «Generalmajor Helmut Stresemann! Ich kann<br />

Ihnen melden, dass ich die beiden Verbindungsoffiziere, von<br />

denen ich gestern berichtet habe, jetzt mitgebracht habe.»<br />

120


Es fällt ihnen auf, dass unter den sieben polnischen Offizieren,<br />

die sie jetzt empfangen, eine Frau dabei ist, die einen ziemlich<br />

zackigen Eindruck vermittelt.<br />

«Und ich bin Generalmajor Jan Kubinski», grüsst der<br />

Ranghöchste unter den Polen ebenfalls auf Englisch zurück, «wir<br />

sind alle sehr froh, dass die deutsche Verstärkung jetzt<br />

eingetroffen ist. Sie können sich ja gut genug vorstellen, wie<br />

erleichtert wir sind. Dank dieser Verstärkung sieht der Feind<br />

vielleicht doch noch von einem Angriff ab, aber wir können auch<br />

jetzt nicht sicher sein.»<br />

Da Stresemann <strong>und</strong> Kubinski sich jetzt zum ersten Mal<br />

persönlich treffen, haben sie sich noch mit ihren Vornamen<br />

vorgestellt, aber wenn man sich einmal kennt, ist das nicht mehr<br />

üblich, vor allem dann nicht, wenn noch Untergebene dabei sind.<br />

Nach Kubinski stellt sich jeder Einzelne mit einem nochmaligen<br />

Gruss den Deutschen vor <strong>und</strong> gibt jedem Einzelnen die Hand,<br />

<strong>und</strong> vor jedem Händegruss grüsst auch jeder Deutsche<br />

militärisch, schliesslich muss auch jetzt alles seine Ordnung<br />

haben. <strong>Die</strong> Namen der sechs polnischen Männer prallen mit<br />

Ausnahme von Kubinski an Bergmann ab, obwohl er von seiner<br />

russischen Prägung her an lange slawische Namen eigentlich<br />

gewöhnt ist. Er kann sich auch <strong>des</strong>halb nicht richtig<br />

konzentrieren, weil die einzige Frau unter den Polen ihm<br />

besonders auffällt. Es ist auch in der heutigen Zeit immer noch<br />

erstaunlich genug, dass es eine Frau geschafft hat, innerhalb der<br />

militärischen Gremien so weit aufzusteigen, dass sie jetzt zu<br />

denen gehört, die Stresemann, Bergmann <strong>und</strong> die anderen<br />

persönlich begrüssen können.<br />

Nachdem die sechs anderen polnischen Männer sich zackig<br />

vorgestellt <strong>und</strong> jedem Deutschen die Hand gedrückt haben, ist<br />

jetzt die Reihe an ihr als Letzter - auf ihren eigenen Wunsch hin,<br />

was die von der anderen Seite aber nicht wissen können. Auch<br />

sie grüsst militärisch mit dem Zeige- <strong>und</strong> Mittelfinger <strong>und</strong> sagt<br />

ziemlich laut: «Ich bin Leutnant Sienkiewicza!».<br />

121


Dann drückt auch sie jedem einzelnen Deutschen die Hand. Als<br />

sie bei Bergmann ankommt <strong>und</strong> sie sich direkt in die Augen<br />

schauen, glaubt er, bei ihr ein schwaches Lächeln zu erkennen,<br />

aber falls er sich täuscht, kann er sich bei ihrem ziemlich<br />

kräftigen Händedruck nicht irren. Zudem fällt ihm auf, dass sie<br />

etwa gleich gross ist wie seine Frau Iris <strong>und</strong> erst noch ähnlich<br />

aussieht, aber die Haarfarbe unterscheidet sich deutlich. Ob sie<br />

diese gefärbt hat oder nicht, fragt er sich jetzt nicht, aber das ist<br />

auch nicht so wichtig.<br />

Nach den Polen sind die vier anderen Deutschen neben<br />

Stresemann dran, um sich vorzustellen, doch da alle einander<br />

die Hand schon gegeben haben, wiederholen sie das jetzt nicht<br />

noch einmal. Auch hier geht es nach der Rangordnung, also<br />

zuerst mit Oberst Maier <strong>und</strong> Oberstleutnant Glanzmann, <strong>und</strong><br />

dann kommt Bergmann noch vor Stogitsch.<br />

«Ich bin Oberleutnant Bergmann!», meldet dieser zackig.<br />

«Aha, Sie sind also der Mann, von dem wir gehört haben»,<br />

entgegnet Kubinski sofort <strong>und</strong> fragt direkt <strong>und</strong> immer noch auf<br />

Englisch: «Welche Sprachen können Sie? Wir haben es zwar<br />

schon gehört, aber es kann nicht schaden, wenn Sie das auch<br />

persönlich sagen.»<br />

«Ich spreche sehr gut Russisch, weil meine Mutter eine<br />

Russland-Deutsche aus Kasachstan ist <strong>und</strong> mit mir immer in<br />

dieser Sprache geredet hat. Zudem spreche ich neben Englisch<br />

auch Französisch, Spanisch <strong>und</strong> Italienisch. Bis vor einer Woche<br />

habe ich diese Sprachen mit Ausnahme <strong>des</strong> Englischen in einem<br />

Berliner Gymnasium unterrichtet. Polnisch kann ich zu etwa zwei<br />

Dritteln verstehen, aber ich kann nur wenig aktiv sprechen.»<br />

«Das macht nichts; wir können hier alle Englisch, wie Sie hören<br />

können, aber gute Russisch-Kenntnisse sind für uns eine<br />

Goldgrube. Viele von uns können das zwar auch, aber wohl nicht<br />

so gut wie Sie.»<br />

Dann kommt auch noch Stogitsch dran, der bei den Polen mit<br />

122


seinen Worten, er könne Polnisch als Sorbe zu h<strong>und</strong>ert Prozent<br />

<strong>und</strong> Russisch wenigstens zur Hälfte verstehen, ein schwaches<br />

Strahlen bewirkt, vor allem wegen <strong>des</strong> ersten Teils dieser<br />

Aussage.<br />

Nach dieser Vorstellungszeremonie ist es aber noch nicht vorbei,<br />

weil Kubinski noch etwas vorbringen will, bevor sich alle für eine<br />

Erfrischung in die improvisierte Untergr<strong>und</strong>-Kantine begeben. So<br />

sagt er, indem er genau Bergmann in die Augen schaut: «Auch<br />

Leutnant Sienkiewicza ist eine Lehrerin. Sie war vorher zu<br />

bescheiden, um Genaueres zu sagen. Neben Englisch <strong>und</strong><br />

Russisch spricht sie auch ausgezeichnet Französisch <strong>und</strong> sogar<br />

Deutsch, doch das werden Sie sicher bald sehen, wenn Sie sich<br />

unterhalten. Sie wird hier die erste Verbindungsperson für euch<br />

sein.»<br />

«Wie genau stellen Sie sich den Einsatz unserer beiden<br />

Dolmetscher vor?», fragt jetzt Stresemann als der ranghöchste<br />

Deutsche.<br />

«Das werden wir entscheiden, wenn wir sie näher kennen gelernt<br />

haben», antwortet Kubinski ohne Zögern, «vorläufig bleiben sie<br />

noch zusammen. Vielleicht haben Sie es ihnen noch nicht<br />

gesagt, aber wir haben abgemacht, dass sie direkt unter<br />

unserem Kommando stehen, falls es vorzeitig zu Kämpfen<br />

kommt <strong>und</strong> sie dann gerade bei uns sind. Es ist sicher auch<br />

Ihnen klar, dass sie dann keine Zeit mehr hätten, um zu ihren<br />

eigenen Einheiten zurückzukehren. Da wir damit rechnen<br />

können, dass der Angriff heute noch nicht erfolgt, können sie<br />

heute die Infanterie-Waffen kennen lernen, die wir benützen. Wie<br />

Sie auch wissen, sind sie mit den euren fast identisch.»<br />

«Ja, ich erinnere mich daran, dass wir das so abgemacht<br />

haben», entgegnet jetzt Stresemann, «die beiden müssen aber<br />

einverstanden sein, etwas so Heikles können wir nicht über ihre<br />

Köpfe hinweg entscheiden.»<br />

Dann dreht er den Kopf zu Bergmann <strong>und</strong> Stogitsch <strong>und</strong> fragt sie<br />

123


direkt: «Sind Sie damit einverstanden, dass Sie unter dem<br />

Kommando unserer polnischen Kameraden stehen, wenn Sie<br />

sich bei einem Angriff gerade hier befinden? Falls es mit der<br />

Verständigung nicht ganz klappen sollte, kann ich Sie<br />

dahingehend beruhigen, als auch bei den Unteroffizieren <strong>und</strong><br />

Soldaten fast alle Englisch sprechen.»<br />

Unsere polnischen Kameraden - das hätte vor neunzig Jahren<br />

noch ganz anders geklungen, sagt sich Bergmann. Dann<br />

antwortet er zackig, indem er nochmals grüsst: «Ich sehe darin<br />

kein Problem.»<br />

«Null Problemo», ergänzt dann Stogitsch salopp <strong>und</strong> grüsst<br />

ebenfalls zackig.<br />

Erneut glaubt Bergmann beim weiblichen Leutnant, die einen so<br />

langen Familiennamen trägt, dass er ihn trotz seiner slawischen<br />

Prägung bald wieder vergessen könnte, ein schwaches Lächeln<br />

zu erkennen, doch er denkt sich nichts weiter dabei. Sie wirkt<br />

zwar tatsächlich attraktiv <strong>und</strong> vermittelt ihm den Eindruck, dass<br />

sie sehr genau weiss, was sie will, aber jetzt sind sie alle im Krieg<br />

- zudem ist er immer noch glücklich verheiratet.<br />

----------------------------------------------------------------------------<br />

Nach dieser kurzen Begrüssungszeremonie begeben sich alle<br />

wie vorgesehen zur improvisierten Kantine, aber bevor sie dort<br />

ankommen, wendet sich der Generalleutnant Bergmann <strong>und</strong><br />

Stogitsch zu <strong>und</strong> sagt ihnen erstaunlich leise, wobei er auch<br />

einen kurzen Blick auf den weiblichen Leutnant wirft: «Ich halte<br />

es für besser, wenn ich Sie drei jetzt allein lasse, damit Sie sich<br />

in Ruhe kennen lernen können. Unsere polnischen Kameraden<br />

müssen mit uns sowieso noch etwas anderes besprechen, von<br />

dem Sie nicht direkt betroffen sind. Also geniessen Sie sich noch<br />

gegenseitig, bevor wir am späten Nachmittag wieder zu unseren<br />

Leuten zurückkehren! Min<strong>des</strong>tens heute gehören Sie noch zu<br />

uns, ab morgen schauen wir weiter.»<br />

124


So begeben sich Bergmann <strong>und</strong> Stogitsch mit der polnischen<br />

Offizierin, von der sie den Vornamen immer noch nicht kennen,<br />

zuerst zu den improvisierten Tresen, wo sie neben einem Kaffee<br />

auch noch ein Sandwich fassen, <strong>und</strong> setzen sich dann an einen<br />

eigenen Tisch, der auch da unten tatsächlich ein solcher ist.<br />

Sobald sie sich gesetzt haben, ergreift Bergmann als Erster das<br />

Wort <strong>und</strong> fragt die Frau, aber noch auf Englisch: «Darf ich mich<br />

vorstellen? Ich heisse Hans.»<br />

«Und ich bin Peter», setzt Stogitsch sofort nach, <strong>und</strong> dann<br />

strecken beide ihr die rechte Hand hin.<br />

«Ich heisse Wanda», entgegnet sie auf Deutsch, während sie<br />

jetzt beiden die Hand ausserhalb militärischer Zeremonien gibt.<br />

Dann sagt sie weiter: «Von jetzt an können wir ruhig Deutsch<br />

miteinander sprechen. Wie der Generalmajor gesagt hat, kann<br />

ich das sehr gut, <strong>und</strong> jetzt könnt ihr beide euch davon<br />

überzeugen, dass diese Worte stimmen. Ich lege sogar Wert<br />

darauf, dass ihr mit mir Deutsch sprecht, weil ich mit euch am<br />

meisten Praxis sammeln kann.»<br />

«Woher kommt es, dass du unsere Sprache so gut kannst?»,<br />

fragt Bergman sofort <strong>und</strong> ergänzt dann: «Soviel ich weiss, lernen<br />

auch bei euch die meisten nur Englisch.»<br />

«<strong>Die</strong> Antwort ist einfach: Ich stamme von Breslau. Zudem hatte<br />

ich eine Grossmutter, die eine halbe Deutsche war, aber weil ihre<br />

Eltern ihr immer nahelegten, nur Polnisch zu sprechen, als alle<br />

Deutschen vertrieben wurden, galt sie als eine Polin <strong>und</strong> durfte<br />

bleiben. Als ich auf die Welt kam, war die Lage schon so<br />

entspannt, dass sie mit mir ungeniert Deutsch sprechen konnte.<br />

Damit hat sie die Gr<strong>und</strong>lage gelegt, von der ich noch heute<br />

profitiere. Ich habe also auch deutsche Wurzeln, aber ich habe<br />

mich immer voll <strong>und</strong> ganz als eine Polin gefühlt.»<br />

«Aha, du kommst also von der Stadt, die heute offiziell Wrocwaw<br />

heisst?», fragt Bergmann sofort weiter.<br />

125


«Genau», antwortet sie keck, «es erstaunt mich, dass du diesen<br />

Namen kennst <strong>und</strong> erst noch korrekt aussprichst. Das können<br />

die meisten Deutschen nicht - <strong>und</strong> wenn sie es können, sagen<br />

die meisten ‘Wroclaw’, was auch nicht ganz korrekt ist.»<br />

«Hast du etwa schon vergessen, was Peter <strong>und</strong> ich können?»,<br />

setzt Bergmann sofort nach, der sich jetzt schon fast zum<br />

Sprecher der beiden aufgeschwungen hat, <strong>und</strong> zu seinem Glück<br />

macht das dem anderen nichts aus.<br />

«Natürlich nicht», antwortet sie nochmals keck, «das wäre ja<br />

wirklich erstaunlich, schliesslich kennt ihr euch in den slawischen<br />

Sprachen offensichtlich ein wenig aus.»<br />

Als wollte er das beweisen, spricht Stogitsch jetzt zu ihr in seiner<br />

Muttersprache ein paar Worte, die Bergmann aber alle verstehen<br />

kann. Darauf entgegnet sie mit einem Lächeln: «Ich glaube es ja,<br />

was vorher über euch gesagt wurde, aber ich bitte euch<br />

nochmals darum, mit mir Deutsch zu sprechen, weil ich nur<br />

selten dazu eine Gelegenheit bekomme.»<br />

Dann hält sie kurz inne, bis ihr etwas Bestimmtes einfällt, das sie<br />

unbedingt auch noch loswerden möchte: «Wenn ihr so gut<br />

Polnisch versteht, wie ihr sagt, würde ich von euch gern wissen,<br />

warum wir euch ‘Niemcy’ nennen.»<br />

«Ich weiss warum», antwortet Stogitsch sofort, «das muss von<br />

eurem Wort ‘niemy’ kommen, das ‘stumm’ bedeutet, aber ich<br />

habe nie genau erfahren, warum die Deutschen diesen Namen<br />

bekommen haben … <strong>und</strong> mit kleinen Abweichungen auch in<br />

allen anderen slawischen Sprachen.»<br />

«<strong>Die</strong> Antwort ist diese: Als die westlichsten slawischen Stämme<br />

vor einem Jahrtausend in der Gegend der Elbe auf die<br />

östlichsten germanischen Stämme trafen <strong>und</strong> mit ihnen sprechen<br />

wollten, blieben sie stumm, weil sie diese nicht verstanden <strong>und</strong><br />

auch nicht verstehen konnten. Dass die Begegnung mit den<br />

nächsten Nachbarn für eine Namensgebung oft entscheidend ist,<br />

zeigt sich ja auch bei euch. So seid ihr bei den Franzosen<br />

126


<strong>des</strong>halb die ‘Allemands’, weil die Alemannen von Frankreich aus<br />

gesehen die am nächsten wohnenden Nachbarn waren.»<br />

«Du kommst also von Breslau», sagt dann Bergmann, nach einer<br />

weiteren kurzen Pause, «aber auch deine Grossmutter ist keine<br />

Erklärung dafür, dass du unsere Sprache so gut gelernt hast.<br />

Soviel ich weiss, erinnern heute nur noch alte Häuser <strong>und</strong><br />

Friedhöfe daran, dass dort früher Deutsche gelebt haben, aber<br />

die Leute sprechen nur noch Polnisch.»<br />

«Auch jetzt ist die Antwort einfach: Ich habe mich trotz allem, was<br />

im Zweiten Weltkrieg geschehen ist, immer für die deutsche<br />

Kultur interessiert, vor allem für die Musik <strong>und</strong> Literatur. Es hat<br />

sicher auch mitgespielt, dass ich mich schon als ein kleines<br />

Mädchen gefragt habe, wie es nur möglich war, dass ein so<br />

hochkulturelles Volk, das einen Beethoven, einen Händel, einen<br />

Bach, einen Goethe <strong>und</strong> einen Schiller <strong>und</strong> noch viele andere<br />

Genies hervorgebracht hat, in eine solche Barbarei fallen konnte.<br />

Um das herauszufinden, musste ich mich eben intensiv mit eurer<br />

Kultur beschäftigen »<br />

«Aber das liegt jetzt schon fast neunzig Jahre zurück», wirft jetzt<br />

Stogitsch dazwischen, «wenn wir wirklich gute Fre<strong>und</strong>e werden<br />

wollen, dürfen wir nicht immer <strong>und</strong> immer wieder mit den alten<br />

Geschichten kommen. <strong>Die</strong> Schuldigen von damals sind schon<br />

lange unter dem Boden - oder sind wir zwei etwa auch<br />

schuldig?»<br />

Bergmann merkt es Wanda an, dass diese Worte ihr nicht<br />

gefallen, aber sie lässt sich nichts anmerken <strong>und</strong> sagt weiter:<br />

«Das Gleiche tat ich auch mit der französischen <strong>und</strong> englischen<br />

Kultur. So habe ich meine Studien im letzten Jahr<br />

abgeschlossen, seitdem unterrichte ich diese drei Sprachen in<br />

einem Gymnasium meiner Heimatstadt.»<br />

«Also genau gleich wie Hans in Berlin», sagt darauf Stogitsch.<br />

«Du kommst also von Berlin?», fragt ihn Wanda, während sie ihm<br />

direkt in die Augen schaut.<br />

127


«Ja - <strong>und</strong> er vom Land in der Nähe von Cottbus, also nicht weit<br />

von Breslau.»<br />

Jetzt merkt es Bergmann dem anderen an, dass diese Antwort<br />

ihn ärgert, weil er gern für sich selbst geantwortet hätte.<br />

Von dieser Minute an stockt ihr Dreiergespräch ein wenig - <strong>und</strong><br />

so wie Wanda Bergmann immer wieder anschaut <strong>und</strong><br />

offensichtlich Mühe hat, ihren Blick von ihm abzuwenden, kann<br />

von aussen leicht geschlossen werden, dass er ihr gefällt <strong>und</strong><br />

Stogitsch eigentlich nur noch ein überflüssiges drittes Rad am<br />

Fahrrad ist. Da Bergmann keinen Ehering trägt, weil er ein<br />

besonderes Problem mit Hautausschlägen hat, <strong>und</strong> sein<br />

Kamerad nebenan Wanda nicht sagt, dass er eigentlich nicht<br />

mehr zu haben ist, kann sie ja nicht wissen, dass eine mögliche<br />

Beziehung nicht möglich ist - <strong>und</strong> zudem sind sie jetzt sowieso in<br />

einem Krieg, der solche Kontakte fast nicht ermöglicht.<br />

So gesehen trifft es sich gut, dass ihre kurze Pausenzeit bald<br />

vorüber ist <strong>und</strong> die beiden Männer wie angekündigt auch mit den<br />

polnischen Infanterie-Waffen vertraut gemacht werden. Auch<br />

jetzt ist Wanda wieder dabei, ja, sie liegt sogar direkt neben<br />

Bergmann, als er zusammen mit ihr die Manipulationen an den<br />

Maschinengewehren lernt, die hier verwendet werden.<br />

Bevor sie gegen den Abend wieder zu ihrer eigenen Einheit<br />

zurückbeordert werden, macht sich Stogitsch einen Spass<br />

daraus, während seiner Ausbildung mit möglichst vielen<br />

polnischen Soldaten Sorbisch zu sprechen, <strong>und</strong> wenn sie im<br />

ersten Moment etwas irritiert reagieren, macht ihm das umso<br />

mehr Spass. Obwohl er an Wanda nicht interessiert ist, ärgert es<br />

ihn ein wenig, dass er bei ihr abgemeldet ist <strong>und</strong> sie kein<br />

Gespräch mehr mit ihm sucht, während es immer klarer wird,<br />

dass sie für Bergmann eine Schwäche zu haben scheint. Er kann<br />

sich nicht vorstellen, dass er mit seinen Worten über den Zweiten<br />

Weltkrieg einen immer noch nicht ganz verheilten w<strong>und</strong>en Punkt<br />

getroffen hat.<br />

128


8<br />

Als Bergmann <strong>und</strong> Stogitsch am nächsten Morgen beim<br />

Frühstück so wie bisher erneut zusammensitzen, merkt es der<br />

eine dem anderen an, dass etwas vorgefallen sein muss. So fragt<br />

Bergmann ihn ungeniert: «Was haben sie dir wieder angetan?»<br />

Dann ergänzt er nach kurzem Zögern: «Komm schon, leer<br />

deinen Kropf!»<br />

«Du hast eine gute Nase», antwortet Stogitsch sofort, «also gut,<br />

wenn du schon jetzt darauf bestehst: Sie haben mich<br />

anderswohin versetzt, das heisst, ich kann heute nicht mehr mit<br />

dir zur gleichen Einheit wie gestern gehen.»<br />

«Warum denn das?»<br />

«Ich finde das sogar logisch. Es gibt in der Bun<strong>des</strong>wehr nicht so<br />

viele Sprachspezialisten, wie wir es sind; also wird einer bei<br />

denen sicher reichen.»<br />

«Weisst du schon, wohin genau es geht?»<br />

«Noch nicht, aber Stresemann wird mir das nach dem<br />

Antrittsverlesen mitteilen.»<br />

Dann legen sie eine kurze Pause ein, in der sie in Ruhe an ihrem<br />

Kaffee schlürfen <strong>und</strong> einen weiteren Bissen vom gestrichenen<br />

Brot zu sich nehmen, aber dann fällt Stogitsch etwas ein, das er<br />

vor ihrer Trennung unbedingt noch loswerden will: «Eigentlich<br />

kann es mir ja gleich sein, wohin ich versetzt werde, aber ich<br />

frage mich trotzdem, warum ich für diese Aufgabe gewählt wurde<br />

<strong>und</strong> nicht du. Das hätte ja auch sein können, immerhin verstehe<br />

ich Polnisch viel besser als du.»<br />

«Das kann ich auch nicht beantworten, da müssen wohl noch<br />

andere Gründe ausschlaggebend sein.»<br />

«Jaja, ich kann es mir schon denken», entgegnet Stogitsch mit<br />

einem schwachen Lächeln», «vielleicht hat auch diese Wanda<br />

129


mitentschieden, weil gestern alle mit guten Augen sehen<br />

konnten, dass du ihr gefällst. Aber ich gönne sie dir, ich bin mit<br />

meiner Fre<strong>und</strong>in zufrieden. Es ist ganz gut, dass ihr zwei<br />

Turteltäubchen allein seid.»<br />

«Erzähl keinen solchen Blödsinn! Du weisst ja auch, dass ich<br />

glücklich verheiratet bin <strong>und</strong> von keiner anderen Frau etwas will.<br />

Zudem habe ich ihr keinen Anlass gegeben, um ihr falsche<br />

Hoffnungen zu machen - jetzt erst recht, da wir kurz vor<br />

Kriegshandlungen stehen.»<br />

«Dann hast du die grosse Aufgabe, ihr schonend beizubringen,<br />

dass du nicht mehr zu haben bist, falls mein Eindruck von<br />

gestern mich nicht täuscht.»<br />

«Das werde ich, darauf kannst du dich verlassen.»<br />

Wie es Stogitsch angekündigt hat, wird er nach dem<br />

Antrittsverlesen von der Truppe aussortiert <strong>und</strong> nach<br />

anderswohin befohlen, wohin Stresemann ihn auch diesmal<br />

persönlich bringen wird. Noch bevor die beiden Dolmetscher<br />

auseinandergehen, umarmen sie sich noch einmal, <strong>und</strong> jeder<br />

sagt dem anderen die Worte zu, die in den letzten Monaten <strong>des</strong><br />

Zweiten Weltkriegs unter den Deutschen sowohl bei den Militärs<br />

als auch bei den Zivilpersonen üblich waren <strong>und</strong> noch bis heute<br />

nicht vergessen sind: «Bleib übrig!»<br />

Das sagen sie auch <strong>des</strong>halb, weil es offensichtlich ist, dass<br />

dieser neue Krieg, der im europäischen Raum im Baltikum<br />

begonnen hat, schon bald auf Polen übergreifen wird. Das zeigt<br />

sich auch darin, dass die UNO, die von Russland <strong>und</strong> China mit<br />

ihren Vetos schon seit Jahren wirkungslos ist, seit dem<br />

Kriegsbeginn praktisch stillgelegt worden ist <strong>und</strong> auch der<br />

Strohmann namens Generalsekretär, der nicht einmal während<br />

<strong>des</strong> Ukraine-Kriegs den Mut aufbrachte, diesen zu verurteilen,<br />

noch kein Wort gesagt hat. So scheint es logisch, dass immer<br />

mehr die Rede davon ist, diese wirkungslose Schwatzbude<br />

aufzulösen <strong>und</strong> sie nach dem Ende dieses dritten Weltkriegs neu<br />

130


zu gründen, wobei dann vor allem die Veto-Rechte der<br />

Grossmächte wegfallen sollen. Faktisch ist die UNO schon jetzt<br />

aufgelöst, was sich am deutlichsten darin zeigt, dass es seit dem<br />

Überfall auf die baltischen Staaten <strong>und</strong> auf Taiwan zu keiner<br />

Versammlung mehr gekommen ist.<br />

---------------------------------------------------------------------------------<br />

Nachdem Bergmann bei der gleichen Einheit wie gestern<br />

empfangen worden ist, kommt er wieder mit Wanda zusammen,<br />

wie er es erwartet hat. Zuerst begeben sie sich nochmals in die<br />

improvisierte Kantine, um sich zu stärken, aber diesmal nimmt<br />

Bergmann keinen Kaffee, sondern einen gezuckerten<br />

Pfefferminztee - das zweite Sandwich lässt er sich allerdings<br />

nicht entgehen.<br />

Sobald sie sitzen, verliert Wanda keine Zeit, um ihm mitzuteilen,<br />

dass sie den ganzen Tag zusammen so verbringen können, wie<br />

sie es für richtig findet. Da er den Umgang mit den polnischen<br />

Waffen schon gestern kennen gelernt hat, können sie es umso<br />

lockerer nehmen.<br />

«Eines würde mich aber interessieren, Wanda», sagt dann<br />

Bergmann in entschiedenem Ton, «es hat Peter <strong>und</strong> mich<br />

ziemlich überrascht, als uns mitgeteilt wurde, dass er an einen<br />

anderen Ort versetzt wird. Hast du das auch mitbekommen?»<br />

«Sicher, weil ich das mitentschieden habe», antwortet sie sofort<br />

mit einem schwachen Lächeln.<br />

«Aber es war doch vorgesehen, dass wir hier beide instruiert<br />

werden, <strong>und</strong> nicht nur einen Tag lang.»<br />

«Ja, das schon, aber Kubinski kam noch gestern Abend zu mir<br />

<strong>und</strong> teilte mir mit, dass sie umdisponieren müssen, weil wir nur<br />

noch wenig Zeit haben. Er liess mir wenigstens die Wahl, für<br />

welchen von beiden ich mich entscheide - <strong>und</strong> ich habe mich für<br />

dich entschieden, weil du mir besser gefällst.»<br />

«War es auch wegen dem, was er gestern so offen gesagt hat?»<br />

131


Da schaut er ihr streng in die Augen, was ihr nicht entgeht, aber<br />

sie antwortet in sicherem Ton: «Ja, das auch, aber es war nicht<br />

der entscheidende Gr<strong>und</strong>; schliesslich habe ich gelernt, viel zu<br />

ertragen. Entscheidend war das Gesamtbild - du hast mir ganz<br />

einfach besser gefallen als er. Deshalb kann ich mit dir auch<br />

besser arbeiten; es geht immerhin um sehr viel, letztlich auch um<br />

unser eigenes Überleben.»<br />

«Glaubst du nicht, dass du jetzt ein wenig übertreibst?»<br />

«Das glaube ich nicht. Wie wür<strong>des</strong>t du reagieren, wenn trotz aller<br />

technischen Finessen von heute plötzlich ein Code auf Russisch<br />

oder Belarussisch durchsickert, der innerhalb von wenigen<br />

Sek<strong>und</strong>en entschlüsselt werden muss? Wir haben in unseren<br />

Reihen zwar auch Spezialisten, aber es kann nie schaden,<br />

zusätzlich solche zu haben, die das Ganze mit einer deutschen<br />

Prägung betrachten. Gerade <strong>des</strong>halb bist auch du für uns<br />

wichtig.»<br />

Dann legen beide eine kurze Pause ein, die sie dazu verwenden,<br />

um sich gegenseitig immer wieder in die Augen zu schauen, <strong>und</strong><br />

ebenso regelmässig wenden sie diese Blicke sofort voneinander<br />

ab, wenn sie sich ertappt fühlen. Sie spüren beide, dass sie<br />

einander gut mögen <strong>und</strong> sich bei ihrer Zusammenarbeit gut<br />

ergänzen werden, aber die Lage ist viel zu ernst, um an mehr zu<br />

denken. So unterlassen es beide, sich gegenseitig zu fragen, ob<br />

sie verheiratet oder sonstwie fest geb<strong>und</strong>en sind oder nicht, <strong>und</strong><br />

zudem scheint es ihnen nicht ratsam, so kurz vor den<br />

Kriegshandlungen, mit denen auch sie jetzt fest rechnen, an<br />

mehr als an eine blosse Fre<strong>und</strong>schaft zu denken.<br />

Schliesslich nimmt Bergmann den Faden von gestern wieder auf<br />

<strong>und</strong> sagt ihr ungeniert: «Ich weiss zwar sehr viel über Polen, aber<br />

bei dem, was Peter gesagt hat, ist mir aufgefallen, dass seine<br />

Worte dir nicht gefallen haben.»<br />

«Du hast Recht, die Worte deines Freun<strong>des</strong> haben mich<br />

tatsächlich ein wenig getroffen.»<br />

132


«Wir sind keine Fre<strong>und</strong>e, dafür kennen wir uns zu wenig gut. Wir<br />

haben uns erst vor wenigen Tagen beim Einrücken zum ersten<br />

Mal gesehen. Ich kann aber schon jetzt sagen, dass wir noch<br />

gute Fre<strong>und</strong>e werden könnten, wenn wir dafür genügend Zeit<br />

hätten. Du nimmst ihm diese Worte aber wohl nicht übel, er hat<br />

es sicher nicht bös gemeint.»<br />

«Er weiss es halt nicht besser <strong>und</strong> kann sich nicht vorstellen,<br />

dass wir die Ereignisse im Zweiten Weltkrieg nicht so einfach<br />

vergessen können wir ihr Deutschen. Als Aggressor ist es von<br />

Natur aus viel leichter, ein schlimmes Verbrechen einfach<br />

abzuhaken, wie das auch bei den Russen <strong>und</strong> in Ostasien bei<br />

den Japanern beobachtet werden kann, aber wer so leidet, wie<br />

wir Polen leiden mussten, kann nicht einfach alles vergessen,<br />

auch nicht nach neunzig Jahren.»<br />

«Das kann ich gut verstehen, aber ihr müsst sehen, dass auch<br />

wir oder genauer unsere Grosseltern <strong>und</strong> Urgrosseltern viel<br />

gelitten haben. Der Verlust unserer Ostgebiete war dabei noch<br />

eine Kleinigkeit im Vergleich zum ganzen Flüchtlingselend mit<br />

mehr als zehn Millionen Vertriebenen aus dem Osten, <strong>und</strong> dazu<br />

kam, dass fast alle Städte in Trümmern lagen <strong>und</strong> neu aufgebaut<br />

werden mussten. Gerade <strong>des</strong>halb sind wir den Amerikanern<br />

noch heute dafür dankbar, dass sie uns mit ihrem Marschall-Plan<br />

wieder auf die Beine geholfen haben. Da konnten die Linken im<br />

geistigen B<strong>und</strong> mit den Rechtsextremen noch so laut stänkern<br />

<strong>und</strong> geifern, es hat sich nichts daran geändert, dass wir den Amis<br />

viel verdanken. So ist es auch klar, dass das damalige West-<br />

Berlin ohne sie von den Sowjets <strong>und</strong> ihren DDR-Vasallen<br />

angegriffen <strong>und</strong> annektiert worden wäre.»<br />

Dann hält er kurz inne <strong>und</strong> da Wanda nichts entgegnet, setzt er<br />

fort: «Wir haben auch nie vergessen, dass es nach dem<br />

Kriegsende nicht weniger als elf Millionen Kriegsgefangene gab,<br />

von denen die meisten noch mehrere Jahre lang warten<br />

mussten, bis sie freigelassen wurden, vor allem jene, die in den<br />

sowjetischen Gulag gebracht worden waren. Es erstaunt nicht<br />

133


weiter, dass diese am schlechtesten dran waren; das passte so<br />

gut zur Sowjetunion, wie es heute zu Russland passen würde.<br />

Noch bis heute gibt es bei denen keine Einsicht; für sie sind<br />

immer nur die anderen die Schwerverbrecher gewesen, <strong>und</strong> sie<br />

gaben immer nur zu, was bereits bekannt war, am krassesten<br />

das Massaker von Katyn. In dieser Beziehung sind die heutigen<br />

Russen genau gleich wie damals die Sowjets. Da ich mehrmals<br />

in Russland war, weiss ich, wie sie dort ticken. Nach dem<br />

Ausbruch <strong>des</strong> Ukraine-Kriegs brach ich den Kontakt zu den<br />

Bekannten ab, weil ich es mir nicht gefallen lassen musste, von<br />

ihnen als Lügner bezeichnet zu werden, als ich ihnen mitteilte<br />

oder genauer noch mitteilen konnte, was in der Ukraine wirklich<br />

ablief. Sie haben nicht einmal gemerkt, dass sie genauso<br />

gehirngewaschen waren wie unsere Vorfahren im Nazi-Reich,<br />

<strong>und</strong> so steht es noch heute.<br />

Das schlimmste rhetorische Verbrechen leistete sich ihr Führer<br />

Staputow, als er den Krieg im Februar 2023 mit der Schlacht von<br />

Stalingrad achtzig Jahre zuvor verglich <strong>und</strong> frech behauptete,<br />

der Angriff auf die Ukraine sei der gleiche Befreiungskampf wie<br />

der von Stalingrad - <strong>und</strong> alle, die dort dabei waren, schwiegen<br />

eisern <strong>und</strong> machten sich vor lauter Angst fast in die Hosen. Fast<br />

noch schlimmer ist, dass er noch heute in der ganzen Welt viele<br />

Fre<strong>und</strong>e hat. So gesehen ist es fast logisch, dass wir heute<br />

diesen weltweiten Krieg haben - er ist die Folge dieser Kriecherei<br />

gegenüber dem Bösen. Solange die Geschäfte mit den<br />

Schurkenstaaten gut liefen, wurde immer gern weggeschaut, vor<br />

allem auch bei uns.»<br />

Wieder legen sie eine kurze Pause ein, bis Wanda trotz der<br />

Geräusche in der Kantine erstaunlich leise sagt: «Was du jetzt<br />

vorgebracht hast, sehen wir in Polen genau gleich. In dieser<br />

Beziehung sind wir uns ähnlich, aber auch sonst, was das Ganze<br />

betrifft. So sind auch wir Mitteleuropäer <strong>und</strong> haben uns immer als<br />

solche gefühlt, <strong>und</strong> auch bei uns gibt es viele Blonde mit blauen<br />

Augen. In einem Bereich unterscheiden wir uns aber deutlich von<br />

134


euch: Ich meine nicht die Verschiedenheit unserer Sprachen,<br />

sondern unserer Völker. Wir sind insgesamt eine viel kompaktere<br />

Einheit als ihr; so gibt es keine so grossen Unterschiede in den<br />

Dialekten <strong>und</strong> in der Mentalität wie bei euch zwischen den Nord<strong>und</strong><br />

Süddeutschen oder zwischen den West- <strong>und</strong> Ostdeutschen.<br />

Dazu kommt noch, dass die meisten von uns im Gegensatz zu<br />

euch römisch-katholisch sind; es gibt zwar auch bei uns religiöse<br />

Minderheiten <strong>und</strong> unter denen vor allem Protestanten, aber der<br />

Katholizismus überwiegt eindeutig. Sicher hast du auch schon<br />

von den Pilgerfahrten zur schwarzen Madonna von<br />

Tschechonstau gehört; diese ziehen sich tagelang dahin, das<br />

kann man sich bei euch gar nicht so richtig vorstellen. Auch<br />

<strong>des</strong>halb heisst es bei uns schon seit Jahrh<strong>und</strong>erten, dass die<br />

Jungfrau Maria die Königin von Polen ist. Ich selbst sehe das viel<br />

lockerer, weil ich nicht strenggläubig bin, aber ich glaube<br />

trotzdem auch an Gott <strong>und</strong> an Jesus Christus - aber eben auf<br />

meine eigene Weise.»<br />

Bergmann muss bekennen, dass er Wanda für so viel Wissen<br />

bew<strong>und</strong>ert, obwohl es auch ihm klar ist, dass die Frauen<br />

insgesamt immer noch unterschätzt werden, was in der ganzen<br />

Welt zu beobachten ist. Viele Männer können sich eben immer<br />

noch nicht vorstellen, dass auch Frauen fähig sind, sich ein<br />

Wissen über Dinge anzueignen, die immer noch als eine<br />

Männersache gelten. Es gibt eben auch Ausnahmen - Wanda<br />

gehört offensichtlich zu diesen.<br />

Noch bevor er etwas entgegnen kann, sagt sie weiter: «Etwas<br />

muss ich noch loswerden, bevor ich es vergesse, <strong>und</strong> wir wissen<br />

nicht mit Sicherheit, wie viel Zeit wir noch haben. Also hör gut zu:<br />

Was ihr Deutschen als eure Ostgebiete bezeichnet, waren für<br />

uns Polen einst die Westgebiete - <strong>und</strong> abgesehen davon verloren<br />

auch bei uns ein paar Millionen ihre Heimat im Osten <strong>und</strong> wurden<br />

dazu gezwungen, genau in euren ehemaligen Ostgebieten ein<br />

neues Leben aufzubauen. Glaubst du wirklich, das sei nicht auch<br />

schwer gewesen? Heute weiss ausserhalb von Polen fast<br />

135


niemand mehr, dass unsere Vorfahren für lange Zeit bis zur<br />

heutigen Oder-Neisse-Grenze <strong>und</strong> sogar darüber hinaus bis zur<br />

Elbe wohnten; als Folge davon gibt es heute noch die Sorben,<br />

zu denen Peter gehört, den ich gestern kennen gelernt habe.<br />

Später, als Polen zusammen mit Litauen, das noch heute ebenso<br />

katholisch ist <strong>und</strong> wo die Jungfrau Maria ebenfalls als ihre<br />

Königin gilt, eine europäische Mittelmacht war <strong>und</strong> zeitweise<br />

sogar fast bis zum Schwarzen Meer reichte, war unsere<br />

Westgrenze zwar zurückgedrängt worden, aber das, was ihr<br />

später als Westpreussen <strong>und</strong> Posen bezeichnet hat, lag immer<br />

noch auf polnischem Gebiet; das ist auch eine Erklärung dafür,<br />

dass diese beiden Lan<strong>des</strong>teile immer katholisch geblieben sind.<br />

<strong>Die</strong>ser Status als europäische Mittelmacht hielt sich lange vor<br />

dem Aufstieg Russlands, aber je steiler dieses aufstieg, <strong>des</strong>to<br />

mehr sank die Macht unserer Doppelmonarchie. Wir können sie<br />

durchaus mit Österreich-Ungarn vergleichen, das noch bis zum<br />

Ersten Weltkrieg eine ähnliche europäische Mittelmacht war.<br />

Was später folgte, als Russland aufgestiegen war, ist neben<br />

dem, was im Zweiten Weltkrieg geschehen ist, noch bis heute<br />

unser zweites nationales Trauma geblieben: <strong>Die</strong> mehrmalige<br />

Aufteilung Polens unter die Grossmächte Preussen, Österreich<br />

<strong>und</strong> Russland. Das könnt ihr im Westen kaum verstehen, aber<br />

die Angst, dass sowas wieder geschehen könnte, ist uns bis<br />

heute geblieben. So haben wir immer mit Sorge verfolgt, wie gut<br />

sich eure verschiedenen Regierungen mit Staputow immer<br />

verstanden haben, sogar noch dann, als die Separatisten in der<br />

Ostukraine schon kurz nach der Annexion der Krim mit dem<br />

Segen Moskaus den ersten Krieg begonnen hatten. Sogar noch<br />

dann geisterte bei euch der Slogan ‘Wandel durch Handel’ unter<br />

anderem mit diesen Ostsee-Pipelines durch die Medien - <strong>und</strong> bei<br />

dieser Gelegenheit muss auch wieder einmal betont werden,<br />

dass eure beiden Bun<strong>des</strong>kanzler, die nach Staputows<br />

Machtübernahme am Ruder waren, ein gerütteltes Mass an<br />

Mitschuld am Ukraine-Krieg haben.<br />

136


Was wir jedoch nie verstehen konnten, war bei euch die<br />

Besetzung <strong>des</strong> Verteidigungsministeriums durch mehrere<br />

Frauen, die offensichtlich unfähig waren, vor allem die letzte;<br />

dabei meine ich nicht nur die Aussage, ihr könntet fünftausend<br />

Helme liefern. Immerhin hat eure neue Bun<strong>des</strong>regierung nach<br />

mehreren Monaten Krieg doch noch eingesehen, dass eine Frau,<br />

die nie gedient hatte <strong>und</strong> von militärischen Dingen nicht die<br />

geringste Ahnung hatte, durch einen Mann ersetzt werden<br />

musste, der selbst gedient hatte. Trotzdem hat sich bei uns ein<br />

schlechtes Gesamtbild gehalten; so sagen bei uns immer noch<br />

viele, dass die Ukraine diesen Krieg hätte gewinnen können,<br />

wenn euer Bun<strong>des</strong>kanzler nicht so führungsschwach gewesen<br />

wäre <strong>und</strong> mit den Waffenlieferungen nicht immer wieder gezögert<br />

hätte. Leider Gottes ist euer Land nun einmal das wichtigste <strong>und</strong><br />

einflussreichste in West- <strong>und</strong> Mitteleuropa; gerade <strong>des</strong>halb wäre<br />

es so wichtig gewesen, einen führungsstarken Bun<strong>des</strong>kanzler zu<br />

haben, wie es zum Beispiel Helmut Schmidt war, der bei uns<br />

immer noch ein hohes Ansehen geniesst. <strong>Die</strong>sem war immer<br />

anzumerken, dass er selbst in einem Krieg gedient hatte <strong>und</strong><br />

<strong>des</strong>halb kein Weichei sein konnte.»<br />

«Wie angesehen er ist, zeigt sich auch darin, dass es in seiner<br />

Heimatstadt Hamburg eine Bun<strong>des</strong>wehr-Hochschule gibt, die<br />

nach ihm benannt ist. Dort war ich vier Jahre lang, so habe ich<br />

dort auch studiert.»<br />

Dann hält auch Bergmann kurz inne, bis ihm etwas einfällt, das<br />

jetzt er loswerden möchte: «Ich nehme an, du hast auch schon<br />

vom Buch ‘Clash of Civilizations’ gehört, das von einem<br />

Endkampf zwischen der sogenannten christlichen <strong>und</strong> der<br />

islamischen Zivilisation redet. In Wirklichkeit verhält es sich ganz<br />

anders: Wir stehen offensichtlich vor einem Endkampf zwischen<br />

zwei Zivilisationen innerhalb der sogenannten christlichen Welt,<br />

während die Moslems zum grössten Teil Zuschauer sind. Dabei<br />

war zur Zeit unserer Wiedervereinigung noch von einem<br />

gemeinsamen europäischen Haus die Rede - <strong>und</strong> tatsächlich<br />

137


glaubte man auch bei uns, dass es mit dem neugebildeten<br />

Russland nach mehr als vierzig Jahren kaltem Krieg einen<br />

echten Frieden geben könnte.»<br />

«Das war auch <strong>des</strong>halb nicht möglich, weil damals im Westen<br />

eines vergessen wurde», wirft jetzt Wanda dazwischen, «es ist<br />

bei euch nie so richtig bekannt geworden, dass die meisten<br />

Russen genauso wie ihre Vorfahren schon seit Jahrh<strong>und</strong>erten an<br />

einem Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem Westen leiden,<br />

<strong>und</strong> zwar sowohl im politischen als auch im kulturellen Bereich.<br />

Gerade <strong>des</strong>halb reagierten sie immer so empfindlich, wenn sie<br />

glaubten, sie würden im Westen nicht richtig ernst genommen,<br />

<strong>und</strong> gerade auch <strong>des</strong>halb ist ihr Führer viele Jahre lang so beliebt<br />

gewesen. Dabei war <strong>und</strong> ist ihre Rückständigkeit offensichtlich:<br />

Während wir in West- <strong>und</strong> Mitteleuropa die alten Feindseligkeiten<br />

aus früheren Jahrh<strong>und</strong>erten schon längst begraben <strong>und</strong> offene<br />

Grenzen haben, sind die Russen immer noch im Denken stehen<br />

geblieben, wie es bis zum Ersten Weltkrieg vorherrschte; sie<br />

liegen also mehr als h<strong>und</strong>ert Jahre zurück. Der deutlichste<br />

Beweis dafür ist die allgemeine Lage vor einem halben<br />

Jahrtausend: Während bei uns genauso wie bei euch <strong>und</strong> in ganz<br />

West- <strong>und</strong> Mitteleuropa die Renaissance blühte, befand sich<br />

Russland unter der Herrschaft <strong>des</strong> Zaren Iwan dem<br />

Schrecklichen immer noch im tiefsten Mittelalter - <strong>und</strong> dieser<br />

Unterschied besteht in der Denkweise noch heute.<br />

Sehen wir es doch klar: Wäre dieses Land wirklich so<br />

fortschrittlich gewesen, wie sie noch heute glauben, hätte ihr Zar<br />

Peter in seinen jungen Jahren nicht nach Deutschland <strong>und</strong><br />

Holland reisen müssen, um inkognito zu schauen, wie Schiffe<br />

gebaut werden, <strong>und</strong> auch über die Kenntnisse <strong>des</strong> Häuserbaus<br />

konnte er nachher einiges mitbringen. Ähnliches geschah später<br />

mit Katharina, die bekanntlich eine Deutsche gewesen war <strong>und</strong><br />

in ihrem eigenen Land gesehen hatte, wie man ein Land richtig<br />

anbaut. Auch dank ihr <strong>und</strong> der Ansiedlung von zahlreichen<br />

deutschen Bauern ist dieses Land auf Vordermann gebracht<br />

138


worden, bis dahin war Russland ein erschreckend rückständiges<br />

Land gewesen. Natürlich hat dazu auch beigetragen, dass die<br />

Leibeigenschaft, die es lange auch bei uns gab, die in Russland<br />

bekanntlich aber erst in der zweiten Hälfte <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

zumin<strong>des</strong>t offiziell abgeschafft wurde, jeden Fortschritt<br />

verhinderte, weil ihre Herren lieber darauf schauten, dass sie ihre<br />

eigene Macht bewahren konnten. Auch ihre Zarin Katharina, die<br />

in ihrer Anfangszeit angeblich Reformen zugunsten der<br />

Leibeigenen einleiten wollte, hat später entscheidend dazu<br />

beigetragen, dass diese soziale Ungerechtigkeit beibehalten<br />

wurde; möglichst viele Männer im Bett waren ihr halt wichtiger<br />

als alles andere, das konnte den Reichen natürlich nur recht sein.<br />

Dazu kam noch, dass sie noch mehr als Peter den russischen<br />

Imperialismus ankurbelte, der noch unter ihrer Herrschaft mit der<br />

Eroberung der Krim begann.»<br />

Dann hält sie kurz inne, bevor sie hinzufügt: «Und noch etwas:<br />

<strong>Die</strong>ser russische Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem<br />

Westen, den ich jetzt erwähnt habe, zeigt sich wie erwähnt sogar<br />

in der Kultur, wo es ein eindeutiges West-Ost-Gefälle gibt.<br />

Kennst du zum Beispiel die Namen vieler Komponisten <strong>und</strong><br />

Schriftsteller aus diesem Land? Tschaikowski, Tolstoj,<br />

Dostojewski <strong>und</strong> Pasternak, die tatsächlich Weltformat<br />

besassen, sind natürlich bekannt - aber sonst? Ich meine damit<br />

nicht nur die Namen an sich, sondern auch Werke, die als solche<br />

von Ewigkeitswert bezeichnet werden können, wie zum Beispiel<br />

die beiden Balletwerke ‘Der Nussknacker’ <strong>und</strong> ‘Der<br />

Schwanensee’ von Tschaikowski’ oder bei den Romanen ‘Krieg<br />

<strong>und</strong> Frieden’ <strong>und</strong> ‘Anna Karenina’ von Tolstoj, ‘<strong>Die</strong> Gebrüder<br />

Karamasow’ von Dostojewski <strong>und</strong> ‘Doktor Schiwago’ von<br />

Pasternak’ - oder auch ‘Quo Vadis’ unseres eigenen<br />

Schriftstellers Henryk Sienkiewicz, der bei uns noch heute<br />

verehrt wird <strong>und</strong> mit dem ich den Namen gemeinsam habe, aber<br />

wir sind nicht verwandt. Dazu haben wir auch noch den<br />

Nationaldichter Adam Mickiewicz, der ebenfalls noch in der<br />

ganzen Welt bekannt ist. Wie steht es aber mit den anderen<br />

139


ussischen Komponisten <strong>und</strong> Schriftstellern? Haben diese auch<br />

nur ein Werk von Ewigkeitswert erschaffen? Strawinski,<br />

Rachmaninow, Mussorgski, Prokofjew <strong>und</strong> wie sie alle heissen<br />

sind heute ausserhalb von Russland schon fast vergessen. Das<br />

Gleiche gilt auch für fast alle Schreibenden, sogar für Gogol <strong>und</strong><br />

Turgenjew <strong>und</strong> für die Dichter Tschechow <strong>und</strong> Puschkin, der ein<br />

besonders fanatischer Nationalist war, oder für Solschenizyn,<br />

der nach dem Zerfall der Sowjetunion noch sagte, es sei ein<br />

gewaltiger Fehler gewesen, die Ukraine <strong>und</strong> Weissrussland in<br />

die Unabhängigkeit zu entlassen.<br />

Was Solschenizyn betrifft, verdanken wir ihm zwar sehr viele<br />

Informationen über den Gulag, doch er war genauso wie<br />

Puschkin <strong>und</strong> viele andere ein glühender Nationalist <strong>und</strong> schrieb<br />

auch <strong>des</strong>halb bewusst in einem Alt-Russisch, das schon vor<br />

h<strong>und</strong>ert Jahren viele als veraltet bezeichneten. Wer gut genug<br />

Russisch kann, wird das bald feststellen, aber ich gehöre nicht<br />

zu ihnen; ich habe diese Sprache zwar auch gelernt, aber nicht<br />

so intensiv wie die westlichen Sprachen, die ich bis vor wenigen<br />

Tagen unterrichtet habe. Mit dem, was Solschenizyn nach dem<br />

Ende der Sowjetunion sagte, wollte er zwar nicht ausdrücken,<br />

dass die Russen diese beiden Lan<strong>des</strong>teile mit militärischer<br />

Gewalt wieder zurückholen sollten, doch er legte mit diesen<br />

Worten genauso wie viele andere den geistigen Nährboden für<br />

den Ukraine-Krieg.<br />

Wieder zurück zur Musik: Stell dir vor, sogar das kleine Volk der<br />

Tschechen hat mit Dvorak <strong>und</strong> Smetana zwei Komponisten von<br />

Weltruf hervorgebracht, <strong>und</strong> auch Chopin, den wir wegen seiner<br />

polnischen Mutter immer als einen Landsmann betrachtet haben<br />

<strong>und</strong> der seine Kindheit <strong>und</strong> Jugend ja in Warschau verbracht hat,<br />

ist noch heute nicht vergessen! Von euch im Westen muss ich<br />

schon gar nicht reden - ich könnte aus dem Stand mehrere<br />

Dutzend Komponisten, Dichter <strong>und</strong> Schriftsteller aus dem<br />

deutschen, französischen, italienischen <strong>und</strong> englischen<br />

Kulturraum aufzählen, weil ich diese vier am besten kenne.<br />

140


<strong>Die</strong>ses West-Ost-Gefälle können wir sogar im Bereich der<br />

Opernmusik sehen: Während Dutzende von Sängerinnen <strong>und</strong><br />

Sängern aus der westlichen Zivilisation in der ganzen Welt<br />

bekannt sind, haben die Russen bis heute nur den Bass Fjodor<br />

Schaljapin <strong>und</strong> eine stark überbewertete Staputow-<br />

Busenfre<strong>und</strong>in hervorgebracht, die sich ungeniert schon mit der<br />

Lan<strong>des</strong>flagge der annektierten ostukrainischen Gebiete gezeigt<br />

hat, die in Katharinas Zeit als ‘Novaja Rossija’ bezeichnet wurde.<br />

Übrigens haben auch wir einen Weltklasse-Sänger<br />

hervorgebracht: Jan Kiepura, der nicht nur bei uns noch heute<br />

nicht vergessen ist <strong>und</strong> immerhin so populär war, dass sogar die<br />

kommunistische Regierung nach seinem Ableben im Jahr 1966<br />

ein Staatsbegräbnis erlaubte, obwohl er im Westen gelebt hatte,<br />

also beim sogenannten Klassenfeind.»<br />

Wieder legt sie eine kurze Pause ein <strong>und</strong> spricht dann weiter:<br />

«Verstehst du jetzt, was ich mit diesem russischen<br />

Minderwertigkeitskomplex meine, der dazu beigetragen hat,<br />

dass der Ukraine-Krieg ausgebrochen ist? Es muss ja ein<br />

gewaltiges Verbrechen gewesen sein, als ein amerikanischer<br />

Präsident Russland als eine Regionalmacht <strong>und</strong> nicht als eine<br />

Weltmacht bezeichnet hat. Dabei hatte er Recht - ein Land, das<br />

auf chinesische Wirtschaftshilfe <strong>und</strong> vor allem auf<br />

nordkoreanische <strong>und</strong> iranische Waffenlieferungen angewiesen<br />

war, um einen solchen Krieg wie den in der Ukraine längere Zeit<br />

führen zu können, kann wirklich nicht als eine Weltmacht<br />

bezeichnet werden, ja, solche Aussagen sind sogar lächerlich.<br />

Das erinnert auch wieder daran, dass die Rote Armee den<br />

sogenannten grossen vaterländischen Krieg vor achtzig Jahren<br />

ohne massive amerikanische Hilfe nie gewonnen hätte, <strong>und</strong><br />

trotzdem verbreiten sie <strong>und</strong> ihre zahlreichen Sympathisanten im<br />

Westen noch heute die Lüge, sie hätten es allein geschafft.<br />

<strong>Die</strong> Politik der verschiedenen russischen Regierungen schon seit<br />

Jahrh<strong>und</strong>erten hat uns wachsam gemacht: Wir haben ja schon<br />

in der Ukraine, aber auch in anderen Ländern wie<br />

141


Tschetschenien, Georgien oder Syrien gesehen, wozu die<br />

russische Soldateska unter Staputows Oberkommando fähig ist;<br />

also wissen wir hier gut genug, was mit uns geschehen könnte,<br />

wenn es den Russen gelingen sollte, nach den baltischen<br />

Staaten auch noch unser Land zu erobern. Dann würden diese<br />

sicher das erledigen, was aus ihrer Sicht das Begleichen von<br />

alten Rechnungen ist.<br />

Dazu kommt noch, dass wir die früheren Erfahrungen mit<br />

Russland immer noch nicht vergessen haben. Insgesamt haben<br />

die Russen min<strong>des</strong>tens so viele Polen umgebracht, wie die Nazis<br />

Juden umgebracht haben, <strong>und</strong> das Gleiche muss auch von den<br />

Ukrainern gesagt werden. Dabei hat dieser Völkermord an den<br />

Ukrainern, die in Russland immer als Kleinrussen bezeichnet<br />

wurden, schon unter den Zaren begonnen, <strong>und</strong> der Höhepunkt<br />

war natürlich der Holomodor, also der bewusst ausgelöste<br />

Hungertod durch Stalin <strong>und</strong> seinen Hauptgehilfen<br />

Chruschtschow, den bekanntesten ukrainischen Verräter. Was<br />

für die Juden die Schoa ist, wie sie es nennen, ist für die Ukrainer<br />

also der Holomodor; beide haben etwa gleich viele Opfer<br />

gekostet, aber nur die Schoa ist richtig bekannt geworden. Was<br />

den Ukrainern angetan wurde, die angeblich fast alle Nazis<br />

waren, was sogar noch während dem Ukraine-Krieg in Russland<br />

behauptet wurde, ist ein Teil der Weltgeschichte, der noch heute<br />

weitgehend ausgeblendet wird - <strong>und</strong> leider auch bei euch.»<br />

«Du weisst wirklich sehr viel», sagt Bergmann anerkennend, als<br />

er wieder einmal zu Wort kommt.<br />

«Warum soll ich das nicht wissen - nur weil ich eine Frau bin? Du<br />

hast sicher auch schon von Marie Curie gehört, die ursprünglich<br />

den Familiennamen Skwodowska trug <strong>und</strong> eine Polin war. Sie<br />

war nicht nur die erste Frau, die einen Nobelpreis gewann,<br />

sondern auch die erste <strong>und</strong> bis heute einzige Frau, die ihn<br />

zweimal bekam, <strong>und</strong> mit der Physik <strong>und</strong> Chemie erst noch in zwei<br />

verschiedenen Bereichen. Noch heute können wir ihr dafür<br />

dankbar sein, dass sie schon vor mehr als h<strong>und</strong>ert Jahren<br />

142


gezeigt hat, wozu auch Frauen fähig sind, aber ich will mich mit<br />

ihr nicht vergleichen. Immerhin habe ich studiert <strong>und</strong> bis vor<br />

kurzem Sprachen unterrichtet, zudem hat Geschichte schon<br />

immer zu meinen Lieblingsfächern gehört. Was ich dir jetzt<br />

gesagt habe, ist auch ein Wissen, das alle sich selbst aneignen<br />

können, wenn sie ausser dem eigenen Vergnügen auch noch<br />

anderes sehen. Wozu gibt es heute das Internet <strong>und</strong> Wikipedia<br />

<strong>und</strong> noch viel anderes? Dazu kommt noch, dass das alles bei<br />

uns als ein notwendiges Gr<strong>und</strong>wissen betrachtet wird, was bei<br />

euch nicht so streng gesehen wird. Wir liegen eben viel näher an<br />

Russland als ihr, <strong>des</strong>halb haben wir auch eine deutlichere Sicht.<br />

Was bei euch manchmal zu sehen war, ist bei uns völlig<br />

ausgeschlossen: Offene Strassendemos, die Staputow<br />

hochleben lassen, wären bei uns schnell vorbei, ja, im<br />

schlimmsten Fall würden sogar Lynchmorde auf offener Strasse<br />

vorkommen.<br />

Du musst eben verstehen, dass wir hier alle so geladen sind,<br />

dass wir aufpassen müssen, um nicht selber durchzudrehen. Im<br />

Gegensatz zu euch sehen wir viel direkter, wie viel Leid in der<br />

Ukraine <strong>und</strong> indirekt auch in Russland bewirkt worden ist.<br />

Immerhin sind im Ukraine-Krieg fast eine Million Männer auf<br />

beiden Seiten gefallen, was zugleich bedeutet, dass sie mehrere<br />

100'000 Ehefrauen <strong>und</strong> Millionen von Kindern zurückgelassen<br />

haben, <strong>und</strong> dazu kommen mehrere 100'000 Invalide auf beiden<br />

Seiten. Du kannst dir selbst gut genug vorstellen, welche soziale<br />

Zeitbombe schon jetzt tickt. Gerade <strong>des</strong>halb sind wir umso<br />

wütender, dass Staputow mit seiner ganzen widerlichen<br />

Verbrecherbande immer noch an der Macht ist <strong>und</strong> fast die<br />

ganze Welt mit ihm wieder Geschäfte macht, als ob dieser Krieg<br />

nie stattgef<strong>und</strong>en hätte. So gesehen kann ich all jene gut<br />

verstehen, die immer wieder sagen, dass diese Welt von Teufeln<br />

regiert wird, auch wenn die von der faschistischen russischen<br />

Staatskirche sogar jetzt noch von einem gerechten christlichen<br />

Kampf reden. Perverser geht es wirklich nicht mehr.»<br />

143


«Ja, so ähnlich haben auch der Generalleutnant Stresemann am<br />

Tag unseres Einrückens <strong>und</strong> ein Tag später Major Schleyer<br />

gesprochen, der für uns hier als Feldprediger wirkt. <strong>Die</strong>ser hat<br />

sogar mehrere Verse aus der Bibel vorgelesen <strong>und</strong> so ausgelegt,<br />

dass wir jetzt tatsächlich kurz vor dem ganz grossen Krieg stehen<br />

könnten, der dort vorausgesagt wird.»<br />

«Du meinst wohl die Geschichte von Gog <strong>und</strong> Magog. Ja, diese<br />

ist auch bei uns bekannt <strong>und</strong> wird dementsprechend viel zitiert -<br />

<strong>und</strong> jetzt sogar noch mehr als vorher. Es sieht wirklich so aus,<br />

dass es der Beginn eines solchen Kriegs ist, aber ich will die<br />

Hoffnung nicht aufgeben, dass es vielleicht doch noch eine<br />

Wende gibt.»<br />

«<strong>Die</strong>sen Glauben habe ich aber verloren. Solange die Tyrannen<br />

der Schurkenstaaten weiter an der Macht bleiben <strong>und</strong> trotz all<br />

ihrer Verbrechen immer noch so viele Fre<strong>und</strong>e in der ganzen<br />

Welt haben, kann ich nicht mehr an sowas glauben. Es scheint<br />

wirklich so, als ob die teuflischen Mächte, von denen Major<br />

Schleyer gesprochen hat, immer mehr die Oberhand gewinnen.<br />

<strong>Die</strong> Rechnung ist bei denen einfach: Je mehr Menschen durch<br />

Kriege umkommen oder schwer verletzt werden, <strong>des</strong>to mehr<br />

freuen sie sich - das ist schon immer so gewesen. In diesem<br />

Punkt gebe ich unserem Feldprediger Recht.»<br />

Schon denkt Bergmann, ihr erstes Gespräch, das sie nur unter<br />

vier Augen geführt haben, sei jetzt vorbei, doch dann fällt Wanda<br />

noch etwas ein, das sie auch noch loswerden will, <strong>und</strong> so sagt<br />

sie fast hastig: «Nach allem, was ich dir jetzt gesagt habe,<br />

kommst du sicher zum Schluss, dass auch ich genauso wie die<br />

meisten Polen auf die Russen oder genauer auf ihren Staat einen<br />

tiefen Hass empfinde. Du darfst aber nicht vergessen, dass wir<br />

im Gegensatz zu euch schon seit Jahrh<strong>und</strong>erten ihre direkten<br />

Nachbarn sind <strong>und</strong> durch sie unendlich viel Leid erfahren<br />

mussten. Das hat natürlich viel Hass geschürt - <strong>und</strong> zwar so viel,<br />

dass meine Eltern, Grosseltern <strong>und</strong> Urgrosseltern ihn auch in der<br />

kommunistischen Epoche, als wir offiziell Brudernationen waren,<br />

144


gespürt <strong>und</strong> sogar gepflegt haben. <strong>Die</strong>ser Hass war auch<br />

<strong>des</strong>halb so tief, weil in all diesen Jahrh<strong>und</strong>erten, seitdem Polen<br />

keine Mittelmacht mehr ist, von Russland aus kein einziges Mal<br />

irgendein Wort <strong>des</strong> Bedauerns gekommen ist <strong>und</strong> es dort immer<br />

als selbstverständlich <strong>und</strong> gottgegeben gesehen wurde, dass sie<br />

anderen Völkern ein Leid zufügen <strong>und</strong> sie unterdrücken durften.<br />

Das würden dir die Angehörigen von Minderheitenvölkern<br />

jederzeit bestätigen, wenn du dieses Land einmal intensiv<br />

bereisen könntest, aber dieses zehnjährige Zeitfenster seit dem<br />

Ende der Sowjetunion bis zur Machtübernahme Staputows, als<br />

das noch möglich war, gibt es heute ja nicht mehr. Das einzige<br />

Mal, dass von dort aus halbwegs eine Entschuldigung kam,<br />

geschah unter Gorbatschow, als er sich für das entschuldigte,<br />

was in Katyn geschehen war - aber auch erst dann, als es<br />

offensichtlich war, dass nicht die SS-Truppen, sondern die<br />

Sowjets die Täter gewesen waren, <strong>und</strong> das nicht länger<br />

verheimlicht werden konnte. In diesem Bereich seid ihr<br />

Deutschen ganz anders, weil euer Bedauern <strong>und</strong> eure<br />

Entschuldigungen echt wirken.<br />

Gerade was das Hassen betrifft, bekommen die Russen als<br />

Ganzes - also auch jene, die heute ausserhalb Russlands leben,<br />

weil auch sie vieles nicht zugeben -, seit dem Ukraine-Krieg in<br />

ganz Europa einen ähnlichen Hass zu spüren, den im letzten<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert schon ihr Deutschen erfahren musstet. Wie wir<br />

gesehen haben, kann sowas min<strong>des</strong>tens zwei Generationen<br />

oder sogar drei dauern, bis der Hass allmählich erlischt. Der<br />

jetzige Hass auf die Russen, die wir Hunnen <strong>und</strong> zum Teil<br />

genauso wie die Ukrainer auch noch Orks nennen, wird aber<br />

noch stärker sein, weil sie jetzt nicht nur einen zweiten Krieg<br />

innerhalb von wenigen Jahren vom Zaun gerissen haben,<br />

sondern auch noch die Hilfe von asiatischen Armeen geholt<br />

haben. Deshalb müssen wir aufpassen, dass wir nicht gleich<br />

werden wie sie. Ich kann all jene gut verstehen, die jeden<br />

einzelnen Staputow-Anhänger am liebsten öffentlich erschiessen<br />

oder aufhängen würden, ja, ich habe auch schon gehört, dass<br />

145


wieder der Scheiterhaufen aus dem Mittelalter eingeführt werden<br />

sollte. Es ist zwar schwer, in dieser immer brutaleren Welt, an<br />

der auch die vier mächtigen Schurkenstaaten eine starke<br />

Mitschuld tragen, noch an irgendeine Menschlichkeit zu glauben,<br />

aber wir dürfen trotzdem nicht aufgeben.<br />

Was ich dir aber noch sagen wollte, ist dies: <strong>Die</strong> slawischen<br />

Völker hassen sich untereinander zwar schon seit Jahrh<strong>und</strong>erten<br />

- also nicht nur zwischen den Polen <strong>und</strong> Russen <strong>und</strong> jetzt auch<br />

zwischen den Ukrainern <strong>und</strong> Russen -, aber eines haben wir alle<br />

gemeinsam: Ich meine nicht die Grammatik unserer Sprachen,<br />

die überall zu mehr als neunzig Prozent identisch ist, <strong>und</strong> auch<br />

nicht den Wortschatz, der zu etwa zwei Dritteln gleich oder<br />

ähnlich ist, sondern das Wesen der Frauen. Vielleicht weisst du<br />

das auch schon, dass bei den Slawen viel mehr als bei den<br />

Germanen <strong>und</strong> Romanen, den beiden anderen grossen Völkern<br />

in Europa, immer auch viele Frauen mitgekämpft haben, zum Teil<br />

sogar an vorderster Front, <strong>und</strong> nicht nur in der Roten Armee, wo<br />

es im Zweiten Weltkrieg sogar ganze Frauenbataillone gab.<br />

<strong>Die</strong>ses natürliche Denken, direkt an der Seite der Männer zu<br />

sein, wenn es um Leben <strong>und</strong> Tod geht, drückt sich auch im<br />

Alltagsleben aus. Was bei euch als russische Seele bezeichnet<br />

wird, ist bei uns die polnische Seele. Natürlich müssen auch wir<br />

immer noch um unsere Rechte kämpfen, aber der Umgang<br />

zwischen den beiden Geschlechtern ist nicht so verkrampft wie<br />

vor allem bei euch in Mittel- <strong>und</strong> Nordeuropa, was ich selbst<br />

schon persönlich beobachtet habe. Für uns bedeutet es immer<br />

noch sehr viel, zusammen mit den Männern für etwas zu<br />

kämpfen - aber eben zusammen <strong>und</strong> nicht gegeneinander, weil<br />

wir sie halt immer noch lieben. Gerade <strong>des</strong>halb finden wir das<br />

ganze Emanzen-Geschrei im Westen gewaltig übertrieben, aber<br />

auch das, was ihr als Gendern bezeichnet, ist uns immer noch<br />

fremd - wir finden es sogar lächerlich.»<br />

Schon glaubt Bergmann, dass ihr Gespräch zu einem Ende<br />

gekommen ist, doch dann fällt Wanda noch etwas ein, das sie<br />

146


unbedingt auch noch loswerden will: «Vielleicht hast du das bis<br />

heute nie erfahren, weil das im Westen nie so richtig bekannt<br />

geworden ist, aber wir spüren hier umso deutlicher, was dieser<br />

neue Krieg neben viel Leid zusätzlich bewirkt hat. Dass die<br />

Russen jetzt in ganz Europa verhasst sind <strong>und</strong> das noch<br />

jahrzehntelang bleiben werden, habe ich vorher schon gesagt.<br />

Es kommt aber noch etwas, das nicht mit Hass zu tun hat, aber<br />

direkt mit diesem Krieg zusammenhängt: Es ist der Bruch einer<br />

jahrh<strong>und</strong>ertelangen Fre<strong>und</strong>schaft - <strong>und</strong> zwar zwischen den<br />

Polen <strong>und</strong> den Ungarn. Das ist eines der erstaunlichen<br />

Phänomene in der Geschichte Europas, was ich sowohl von<br />

Polen als auch von Ungarn gehört habe. <strong>Die</strong>se Fre<strong>und</strong>schaft<br />

bestand nicht nur wegen der gemeinsamen Religion, weil die<br />

meisten Polen <strong>und</strong> Ungarn katholisch waren, sondern setzte sich<br />

über alle Grenzen hinweg, obwohl die beiden Völker nicht immer<br />

direkte Nachbarn waren. Auch dann, als Polen im 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert als unabhängiges Land offiziell nicht existierte <strong>und</strong><br />

Ungarn ab dem Jahr 1868 die zweite regionale Grossmacht<br />

innerhalb <strong>des</strong> Habsburgerreiches wurde, änderte sich an dieser<br />

Fre<strong>und</strong>schaft nichts, ja, nicht einmal dann, als die beiden Länder<br />

miteinander verfeindet waren, vor allem im Zweiten Weltkrieg.<br />

Heute besteht diese Fre<strong>und</strong>schaft aber nicht mehr, unsere<br />

Regierung hat sie in diesen Tagen offiziell aufgekündigt. Das<br />

haben wir vor allem diesem Urbanjok zu verdanken, dem die<br />

Fre<strong>und</strong>schaft mit dem Jahrh<strong>und</strong>ert-Verbrecher Staputow viel<br />

wichtiger ist als dieser jahrh<strong>und</strong>elange B<strong>und</strong>, der bis heute alle<br />

Hindernisse auch über ideologische Grenzen hinweg<br />

überw<strong>und</strong>en hat. <strong>Die</strong>ses bewusste Abseitsstehen gerade jetzt,<br />

da es um das Überleben unseres Lan<strong>des</strong> geht, ist umso<br />

tragischer, als dieser Diktator vom Volk ja ganz legal gewählt<br />

worden ist, <strong>und</strong> auch jetzt ist in Ungarn nichts davon zu hören,<br />

dass diese Politik sich ändern sollte. Auf solche Fre<strong>und</strong>e können<br />

wir gut verzichten, in diesem Punkt gebe ich unserer Regierung<br />

Recht.»<br />

147


---------------------------------------------------------------------------<br />

Wie es vorgesehen war, verbringen Bergmann <strong>und</strong> Wanda den<br />

zweiten Teil <strong>des</strong> Vormittags <strong>und</strong> nachher den ganzen Nachmittag<br />

bei den polnischen Truppen, <strong>und</strong> es ist offensichtlich, dass es<br />

Wanda geniesst, dass sie das Recht bekommen hat, den Tag so<br />

einzuteilen, wie sie selbst es für richtig findet. Da Bergmann sich<br />

gut genug vorstellen kann, wie geladen die Stimmung ist,<br />

unterlässt er es, seine Russisch-Kenntnisse bei den Polen direkt<br />

anzuwenden, aber es ist auch nicht notwendig. Er versteht<br />

Polnisch ja etwa zu zwei Dritteln; also macht es ihm nichts aus,<br />

dass nicht alle auf Englisch antworten, wenn er direkt mit ihnen<br />

spricht. Er staunt darüber, wie kontaktfreudig Wanda ist, die ihn<br />

bei jeder Gelegenheit ihren Landsleuten vorstellt - <strong>und</strong> zwar so<br />

intensiv, dass er am Abend froh ist, wieder zu seinen eigenen<br />

Leuten zurückkehren zu können.<br />

Eines ist ihm im Verlauf dieses Tages aber auch aufgefallen: Es<br />

wird immer offensichtlicher, dass er ihr tatsächlich gefällt, wie es<br />

Peter Stogitsch heute Morgen schon gesagt hat, doch er denkt<br />

sich noch nichts weiter dabei.<br />

148


9<br />

Kaum hat sich Bergmann am nächsten Morgen wieder bei der<br />

direkt benachbarten polnischen Einheit, wo Wanda schon auf ihn<br />

gewartet hat, wieder an einen Kantinentisch gesetzt, verliert sie<br />

keine Zeit, um ihm zu sagen: «Ich muss dir etwas mitteilen.»<br />

«Was denn?», fragt er Böses ahnend, «wollen sie jetzt auch uns<br />

trennen?»<br />

«Ganz im Gegenteil», antwortet sie mit einem schwachen<br />

Strahlen, «wir haben nochmals einen ganzen Tag für uns allein.»<br />

«Was heisst das genau?»<br />

«Wir können einen weiteren Tag zusammen verbringen … aber<br />

diesmal bei deinen Leuten.»<br />

«Warum erfahre ich das erst jetzt? Weder Stresemann noch<br />

Kubinski haben etwas in dieser Richtung angedeutet.»<br />

«Auch ich habe das erst gestern Abend erfahren, nachdem du<br />

schon zu deinen eigenen Leuten zurückgekehrt warst.<br />

Offensichtlich haben die beiden das sehr spät entschieden.»<br />

Dann hält sie kurz inne - <strong>und</strong> da sie merkt, dass er nicht<br />

begeistert zu sein scheint, fragt sie, indem sie ihm streng in die<br />

Augen schaut: «Freust du dich denn gar nicht darüber, dass wir<br />

einen weiteren Tag zusammen verbringen können?»<br />

Mit dieser offenen Frage hat er nicht gerechnet, doch er denkt<br />

jetzt keineswegs daran, dass er bei dieser Frau, die wegen ihres<br />

stets entschiedenen Auftretens bei vielen Männern erst auf den<br />

zweiten Blick gefallen könnte, die an ihm aber offensichtlich<br />

Gefallen gef<strong>und</strong>en hat, schwach werden <strong>und</strong> damit ehebrüchig<br />

werden könnte, wie er es sieht.<br />

Es fällt ihm viel mehr etwas anderes ein, was er jetzt ungeniert<br />

auch so sagt: «Doch, Wanda, ich freue mich, aber ich mache mir<br />

149


auch darüber Sorgen, was dort mit dir geschehen könnte.»<br />

«Was denn? Mich kann nichts erschrecken - ich bin schliesslich<br />

eine welterfahrene Offizierin, auch wenn ich bis heute noch nie<br />

über Mittel- <strong>und</strong> Nordeuropa hinausgekommen bin; zudem war<br />

ich einmal auch schon in Russland.»<br />

Da zögert er kurz <strong>und</strong> sagt dann auffallend langsam: «Ich möchte<br />

nicht, dass du das alte Wort zu hören bekommst, das vor allem<br />

von den Nazis verwendet wurde, aber es ist noch bis heute nie<br />

ganz ausgestorben.»<br />

«Welches Wort?»<br />

«Du hast es vielleicht auch schon gehört: Polackenweib. Direkt<br />

sagt es heute niemand mehr, aber indirekt, also hinter dem<br />

Rücken, kann es immer noch gehört werden. <strong>Die</strong> meisten, die ich<br />

in den letzten paar Tagen ein wenig kennen gelernt habe,<br />

scheinen zwar gute Typen zu sein, aber man kann eben nie<br />

wissen.»<br />

«Mach dir darüber keine Sorgen!», entgegnet sie zu seinem<br />

Erstaunen mit einem Lachen im Gesicht, «was meinst du, woran<br />

ich mich schon gewöhnt habe? Wir Polen wissen, dass die<br />

Deutschen uns nie wirklich gemocht, sondern insgeheim<br />

verachtet haben, <strong>und</strong> nicht nur wegen den verlorenen<br />

Ostgebieten, um die bei euch zum Teil immer noch getrauert<br />

wird. Viele von euch haben die Polen früher sogar offen gehasst,<br />

aber was die Russen uns schon seit Jahrh<strong>und</strong>erten antun, ist viel<br />

schlimmer. <strong>Die</strong> Deutschen haben uns im Zweiten Weltkrieg mehr<br />

als fünf Jahre lang fürchterlich leiden lassen, doch die Russen<br />

verachten <strong>und</strong> hassen uns schon seit der Zeit <strong>des</strong> Zaren Peter,<br />

der ein grosser gewesen sein soll. <strong>Die</strong>ser Hass kam auch daher,<br />

weil Polen das einzige slawische Land war, das es mit Russland<br />

nicht nur kulturell, sondern auch militärisch aufnehmen konnte.<br />

Ich habe nur einen Bereich kennen gelernt, in dem die Polen mit<br />

den Russen immer gut ausgekommen sind.»<br />

«Welchen meinst du?»<br />

150


«Das erstaunt dich vielleicht - ich meine den Zirkus. Da ich früher<br />

viele solche Vorstellungen besuchte <strong>und</strong> dabei auch einen<br />

kleinen Einblick hinter die Kulissen bekam, konnte ich das sehen.<br />

Doch die Zirkusleute sind bekanntlich schon immer ein<br />

besonderes Völklein über alle Grenzen hinweg gewesen. Bei<br />

den Polen drückt sich das noch zusätzlich dadurch aus, dass<br />

viele Zirkus-Orchester in ganz Europa sich aus Leuten aus<br />

unserem Land zusammensetzen, was vielleicht auch du nicht<br />

weisst. Das ist bei uns genauso Tradition, wie die<br />

Bühnenarbeiter, die alles vorbereiten, fast nur aus Marokko<br />

kommen, das eine ähnliche Zirkus-Tradition kennt wie wir.»<br />

«Das habe ich tatsächlich noch nie gehört. Bei meinen wenigen<br />

Besuchen in einem Zirkus ist mir das nicht aufgefallen.»<br />

Dann halten beide kurz inne, bis Wanda mit einem Lächeln sagt:<br />

«Mach dir also keine Sorgen! Im Vergleich zu dem, was die<br />

Russen gegen uns sagen, ist euer deutsches Wort<br />

‘Polackenweib’ direkt noch harmlos.»<br />

-------------------------------------------------------------------------------<br />

Zu Bergmanns grosser Fre<strong>und</strong>e fällt der Empfang für Wanda bei<br />

seinen eigenen Leuten gut aus. Sie wissen ja, dass auch die<br />

Polen Verbindungsoffiziere zu ihnen stellen, wie auch er ein<br />

solcher ist. Zudem schätzen die Deutschen die<br />

Kampfbereitschaft ihrer Nachbarn, nur würden sie das nie offen<br />

zugeben. Bergmann bekommt das Wort «Polackenweib» also<br />

kein einziges Mal zu hören, auch nicht hinter dem Rücken, <strong>und</strong><br />

was er nicht hört, muss ihn auch nicht weiter beschäftigen.<br />

Ein einziges Mal hört er jedoch etwas, das ihm nicht gefällt, als<br />

einer von hinten ruft, während sie durch die Schützengräben<br />

schlendern, die dank der Vorarbeit durch die Polen jetzt schneller<br />

als geplant fertig ausgegraben sind: «Hast du jetzt ein neues<br />

Liebchen?»<br />

Er tut aber so, als hätte er das nicht gehört, doch es ist ihm klar,<br />

dass Wanda diese Worte verstanden hat.<br />

151


Er ahnt es richtig: Wanda hat diese Worte nicht nur verstanden,<br />

sondern fühlt gerade auch wegen ihnen mehr innere Kämpfe, als<br />

es ihr lieb ist. Da sie jetzt kurz vor einem Krieg stehen <strong>und</strong> sie<br />

immer noch nicht richtig weiss, ob ihr Verbindungskollege<br />

überhaupt frei ist, hat sie sich lange dagegen gewehrt, für ihn<br />

irgendetwas zu empfinden, <strong>und</strong> zudem sind sie sich erst gestern<br />

zum ersten Mal begegnet. Solche Zeiten, welche die letzten<br />

Lebensst<strong>und</strong>en sein könnten, haben aber schon immer auch<br />

besondere Gefühle hochkommen lassen, <strong>und</strong> gerade bei Wanda<br />

drückt sich das umso klarer aus, als sie schon seit vielen<br />

Monaten nach mehreren verunglückten Bekanntschaften wieder<br />

allein ist. Dabei hätte sie gerade jetzt so gern einen Mann an ihrer<br />

Seite, der sie liebt <strong>und</strong> versteht <strong>und</strong> immer zu ihr steht, was auch<br />

immer geschieht.<br />

Ob dieser Bergmann wohl der richtige ist, auch wenn sie nur<br />

noch kurze Zeit zusammen sein könnten? Da er keinen Ehering<br />

trägt <strong>und</strong> auch sonst nichts angedeutet hat, dass er verheiratet<br />

ist oder zumin<strong>des</strong>t eine feste Fre<strong>und</strong>in hat, ertappt sie sich dabei,<br />

dass sie sich tatsächlich Hoffnungen macht. So erlebt sie nach<br />

der Rückkehr zu ihren eigenen Truppen eine unruhige Nacht <strong>und</strong><br />

wacht immer wieder auf. Ist es wohl mehr als nur ein Zufall, dass<br />

die beiden sich gerade in diesen kritischen Tagen kennen gelernt<br />

haben? Sie hat sich zwar noch nicht fest in ihn verliebt, wie es<br />

auch früher immer eine gewisse Zeit gebraucht hat, bis sie ihr<br />

Herz an jemanden verlor, aber sie würde sich gern verlieben.<br />

-----------------------------------------------------------------------------<br />

Am nächsten Vormittag dürfen die beiden wieder ein paar<br />

St<strong>und</strong>en zusammen verbringen. Noch bevor er wieder in ihrer<br />

Einheit auftaucht, bereitet sich Wanda diesmal besonders auf<br />

ihre nächste Begegnung vor. Sie hat sich zwar schon immer<br />

besonders hübsch gemacht, wenn sie wusste, dass sie<br />

jemanden treffen würde, der mehr als nur eine einfache<br />

Bekanntschaft war, aber diesmal noch etwas mehr. Allerdings<br />

verzichtet sie darauf, sich extra noch zu schminken, weil das<br />

152


nicht zur jetzigen Lage kurz vor einem Krieg <strong>und</strong> zudem nicht zu<br />

ihrer Uniform passen würde. Bei einer Ausgangsuniform, die<br />

auch sie für besondere Armeeanlässe immer gern getragen hat,<br />

würde das nicht schief angesehen, aber sicher bei einer solchen<br />

Kampfuniform, die auch sie da unten so wie alle anderen trägt.<br />

Als die beiden schliesslich wieder zusammensitzen <strong>und</strong> sich<br />

noch einmal bei einem Kaffee mit Kuchen stärken, fühlt Wanda,<br />

wie sie immer mehr hin- <strong>und</strong> hergerissen wird, weil sie unbedingt<br />

gern wissen möchte, ob zwischen ihnen beiden mehr als nur eine<br />

lockere militärische Fre<strong>und</strong>schaft möglich ist. So kann sie sich<br />

nicht länger beherrschen, während sie über weniger wichtige<br />

alltägliche Dinge sprechen: Plötzlich legt sie beide Hände über<br />

die seinen <strong>und</strong> hört gar nicht mehr darauf, was er gerade sagt.<br />

Dabei schaut sie ihm direkt in die Augen, aber sie hält sich noch<br />

mit einem Lächeln zurück. Da er die Hände nicht sofort wegzieht,<br />

denkt sie tatsächlich, sie würde jetzt nichts Falsches machen.<br />

Allerdings schaut er sie auffallend lange an, bis er leise sagt: «Ich<br />

weiss, was du mir jetzt sagen willst, aber wir dürfen nicht einmal<br />

daran denken.»<br />

«Warum denn nicht?», fragt sie verunsichert.<br />

«Weil ich verheiratet bin … <strong>und</strong> erst noch glücklich verheiratet.»<br />

<strong>Die</strong>se Worte treffen sie so sehr, dass sie ihre Hände von den<br />

seinen sofort wegzieht. Trotzdem erholt sie sich so schnell von<br />

dieser Enttäuschung, dass sie in gefasstem Ton sagt: «Das kann<br />

ich ja nicht wissen, weil du keinen Ehering trägst.»<br />

«Es gibt auch solche, die keinen tragen», entgegnet er für ihren<br />

Geschmack erstaunlich gelassen, «bei mir ist es kein<br />

Geldmangel gewesen, sondern ein medizinischer Gr<strong>und</strong>. Ich<br />

habe immer Hautausschläge bekommen, wenn ich etwas an<br />

einen Finger steckte, aber auch Armbanduhren konnte ich nie<br />

tragen.»<br />

«Ah, <strong>des</strong>halb hast du auch keine Uhr bei dir.»<br />

153


«Es gibt nur wenige Menschen, die diesen körperlichen Defekt<br />

haben - ich gehöre zu diesen.»<br />

«Schade, dass du schon vergeben bist!», sagt sie darauf, aber<br />

ohne den Blick von ihm abzuwenden. Sie hat eben schon zu viele<br />

negative Erfahrungen hinter sich, als dass sie gleich nach hinten<br />

kippen könnte, doch er merkt es ihr an, dass sie sehr enttäuscht<br />

ist.<br />

«Du bist eine liebe Frau», entgegnet er ohne Zögern, um sie<br />

aufzumuntern, «jeder Mann, der dich bekommt, kann sich<br />

glücklich schätzen.»<br />

«Du bist nicht der Erste, der mir solche Worte sagt. Ich hatte<br />

eben nicht viel Glück mit Männern, obwohl ich es immer wieder<br />

versucht habe. Vielleicht lag es auch an mir selber, weil ich<br />

anspruchsvoll bin <strong>und</strong> zudem mit meinem Wissen viele Männer<br />

abgeschreckt habe. Noch heute sehen es viele nicht gern, dass<br />

eine Frau ihnen den Eindruck vermittelt, sie sei ihnen intellektuell<br />

überlegen. Ich nehme an, das ist bei euch ebenfalls so.»<br />

«Ja, da hast du Recht. Wie gesagt, du bist eine liebe Frau, so<br />

dass ich mir wirklich etwas Festes vorstellen könnte, wenn ich<br />

frei wäre, aber ich will meiner Iris treu bleiben, so wie sie es auch<br />

mit mir ist.»<br />

«Sie heisst also Iris», sagt sie darauf leise <strong>und</strong> mit einem<br />

auffallend traurigen Blick, der ihm nicht entgeht.<br />

«Ja - sie ist wie ich in Berlin aufgewachsen, aber wir haben uns<br />

erst auf der Bun<strong>des</strong>wehr-Akademie in Hamburg kennen gelernt.<br />

Wir sind schon ein paar Jahre zusammen.»<br />

«Hast du auch Kinder <strong>und</strong> noch Geschwister? Bis jetzt haben wir<br />

eigentlich nie über Persönliches gesprochen, obwohl wir schon<br />

zwei Tage zusammen verbracht haben.»<br />

«Kinder nicht, aber ich habe noch eine Schwester, die auch<br />

verheiratet <strong>und</strong> noch kinderlos ist, <strong>und</strong> meine Eltern. Sie wohnen<br />

alle ebenfalls in Berlin.»<br />

154


«Und ich habe noch einen Bruder, der schon verheiratet ist, <strong>und</strong><br />

auch noch meine Eltern. Sie wohnen alle ebenfalls noch in<br />

Breslau.»<br />

«Eigentlich ist es schon fast unheimlich, wie viel wir zwei<br />

gemeinsam haben - wir haben sogar den gleichen Beruf.»<br />

«Eben - gerade <strong>des</strong>halb schmerzt es ein wenig, dass ich weiter<br />

allein bleiben werde. Ich hätte mir mit dir wirklich etwas vorstellen<br />

können.»<br />

«Du machst auf mich aber nicht den Eindruck, dass du dich<br />

schon verliebt hast. Oder täusche ich mich etwa?»<br />

Da legt sie eine Pause ein, indem sie ihn fest anschaut, <strong>und</strong> sagt<br />

dann auffallend leise: «Das noch nicht ganz, aber es wäre sicher<br />

bald geschehen, weil ich ganz einfach spüre, dass wir zwei gut<br />

zusammenpassen würden. Ich kann es jedoch verstehen, dass<br />

du deiner Frau treu bleiben willst. Zudem will ich in meiner letzten<br />

Minute nicht als Ehebrecherin ins Jenseits eingehen - <strong>und</strong> diese<br />

letzte Minute könnte schon bald kommen.»<br />

«So streng darfst du das nicht sehen. In solchen Zeiten wie<br />

diesen kann sowas schnell vorkommen, aber sicher nicht mit mir.<br />

Wenn es wirklich so steht, wie du sagst, möchte ich Iris mit einem<br />

sauberen Gewissen wieder begegnen. Allerdings können<br />

Gefühle auch schwer täuschen, erst recht in dieser Zeit. Wir<br />

wissen ja nicht, wie viele Tage uns noch bleiben, bis es mit den<br />

Kämpfen richtig losgeht. So wie die Gesamtlage aussieht, glaube<br />

ich nicht, dass wir vom Krieg doch noch verschont werden. Wie<br />

man hört, ist die Eroberung <strong>des</strong> Baltikums schon fast<br />

abgeschlossen; also können wir leicht ausrechnen, dass wir die<br />

Nächsten sind.»<br />

«Trotzdem tut es mir weh, dass wir nicht zusammenkommen<br />

können.»<br />

«Aber Wanda, du siehst doch auch, dass wir ständig von<br />

anderen Leuten umgeben sind!»<br />

155


«Glaubst du nicht, dass ich meine Beziehungen habe? Was<br />

meinst du, warum Kubinski mir so viel Freiheit lässt? Ich habe zu<br />

ihm einen guten Draht, was uns beiden jetzt zugutekommt.<br />

Schliesslich sprechen nur wenige Polen so gut Deutsch wie ich,<br />

also bin ich für die weiter oben eine wichtige Person.»<br />

«Wir zwei können ja trotzdem gute Fre<strong>und</strong>e sein, ohne dass<br />

bittere Gefühle zurückbleiben.»<br />

«Gerade diese Worte kann ich aber nicht mehr hören. Nach<br />

meinen eigenen Erfahrungen bleiben immer bittere Gefühle<br />

zurück, wenn man einmal intim zusammen gewesen ist. Dabei<br />

kommt es nicht darauf an, warum genau es zu einer Trennung<br />

gekommen ist. Ich weiss zwar nicht, wie viele Frauen du vor Iris<br />

hattest <strong>und</strong> wie du darüber denkst, aber ich habe das immer so<br />

empf<strong>und</strong>en.»<br />

Dann hält sie wieder kurz inne, bis ihr endlich wieder einfällt,<br />

woran sie vorher noch gedacht hat. So fragt sie in fast bittendem<br />

Ton: «Hast du übrigens ein Foto deiner Frau?»<br />

«Aber sicher», antwortet er ohne Zögern, ohne sich zu fragen,<br />

warum sie jetzt eine solche Aufnahme sehen will, <strong>und</strong> ergänzt<br />

mit einem Lächeln: «Fast alle tragen im Feld solche Fotos bei<br />

sich. Meinst du etwa, ich sei darin anders?»<br />

Dann zieht er aus einer seiner Innentaschen eine Aufnahme <strong>und</strong><br />

streckt sie Wanda hin. <strong>Die</strong>se nimmt sich Zeit, sie anzuschauen,<br />

aber ohne sie zu berühren, <strong>und</strong> sagt dann leise: «Eine hübsche<br />

Frau - <strong>und</strong> zudem sieht sie mir ähnlich. Ihr scheint auf den ersten<br />

Blick wirklich gut zusammenzupassen.»<br />

Darauf zögert sie ein wenig, bis sie weiterspricht: «Da ich jetzt<br />

leider keinen festen Fre<strong>und</strong> habe, kann ich nur eine Aufnahme<br />

meiner Eltern <strong>und</strong> noch eine mit meinem Bruder <strong>und</strong> seiner Frau<br />

anbieten, aber wenigstens das.»<br />

Dann zieht sie gleich zwei Fotos aus einer ihrer Innentaschen<br />

<strong>und</strong> zeigt sie Bergmann - <strong>und</strong> zusammen mit einem Kreuzlein.<br />

156


10<br />

Schon am nächsten Tag, als Bergmann gerade bei seinen<br />

eigenen Leuten weilt, wird sowohl bei den Deutschen als auch<br />

bei den Polen die höchste Alarmstufe ausgerufen. Dafür gibt es<br />

gleich zwei offensichtliche Gründe: Während auf der Insel<br />

Taiwan die Hauptstadt Taipeh von den Festland-Chinesen<br />

inzwischen eingenommen worden ist <strong>und</strong> die Verteidiger nur<br />

noch wenige Stützpunkte auf dem Land <strong>und</strong> in den Bergen<br />

halten, die allerdings sehr gut ausgebaut worden sind, so dass<br />

eine endgültige Eroberung sich noch über mehrere Wochen lang<br />

hinziehen könnte, wird in Moskau in triumphalem Ton gemeldet,<br />

dass die Eroberung der drei bisher unabhängigen baltischen<br />

Staaten endgültig abgeschlossen ist <strong>und</strong> der Feind kapituliert<br />

hat.<br />

Da er gut genug weiss, wie sehr er den Westen provozieren<br />

kann, <strong>und</strong> das auch immer wieder gern getan hat, lässt es sich<br />

Staputow höchstpersönlich nicht nehmen, in seinem<br />

atombombensicheren Bunker irgendwo in Russland eine<br />

Ansprache an die Welt zu halten, wobei er wieder sein sattsam<br />

bekanntes hämisches Grinsen zeigt. Auch jetzt spricht er so wie<br />

bisher Russisch, weil er weiss, dass diese Worte direkt in die<br />

ganze Welt übersetzt werden:<br />

«Hier spricht Iwan Iwanowitsch Staputow, der Präsident der<br />

Russischen Föderation <strong>und</strong> Oberbefehlshaber der russischen<br />

Streitkräfte. Was ich jetzt der Welt mitteilen kann, ist dies: Vor<br />

wenigen St<strong>und</strong>en hat unsere Armee die drei bisher<br />

unabhängigen Staaten Estland, Lettland <strong>und</strong> Litauen endgültig<br />

erobert. <strong>Die</strong> feindlichen Streitkräfte haben kapituliert <strong>und</strong> geben<br />

bereits ihre Waffen ab.<br />

Damit hat Russland das Gebiet zurückgeholt, das<br />

jahrh<strong>und</strong>ertelang zu ihm gehört hat, <strong>und</strong> ein weiteres grosses<br />

Ziel erreicht. So wie ein grosser Teil der ehemaligen Ukraine <strong>und</strong><br />

157


dazu Belarus wieder heimgeholt worden sind, so wird auch das<br />

Baltikum wieder bei uns eingegliedert. <strong>Die</strong> baltischen Völker<br />

werden zuerst für einige Zeit direkt von Moskau aus regiert, bis<br />

die neue Lage sich eingependelt hat <strong>und</strong> wieder Einheimische<br />

eingesetzt werden können, aber wir garantieren, dass die<br />

Lan<strong>des</strong>sprachen <strong>und</strong> auch die freie Religionsausübung nicht<br />

verboten werden. Wer diese neue Eroberung mit dem vergleicht,<br />

was im Jahr 1940 unter Stalin geschehen ist, irrt sich also<br />

gewaltig. Eines stelle ich jedoch klar: <strong>Die</strong>smal wird Russland das<br />

Baltikum, das für uns strategisch immer so wichtig war, nie mehr<br />

hergeben - auch <strong>des</strong>halb nicht, weil unsere Exklave Kaliningrad<br />

jetzt endlich wieder eine Landverbindung mit Russland hat. So<br />

ist es klar, dass dieser Teil von Europa auch in den letzten paar<br />

Jahrzehnten seit dem Ende der Sowjetunion immer ein Ziel von<br />

uns gewesen ist. <strong>Die</strong> Balten haben immer befürchtet, dass sie<br />

von unseren Streitkräften eines Tages wieder direkt angegriffen<br />

werden könnten, <strong>und</strong> sie haben Recht bekommen. Jetzt sind sie<br />

wieder ein natürlicher Bestandteil von Russland, wie es auch<br />

noch viele andere Völker sind.<br />

Mit der Rückeroberung dieser drei Staaten, die bald ebenfalls in<br />

die Russische Föderation eingegliedert werden, hat sich zugleich<br />

etwas gezeigt, das der Westen nie so richtig wahrhaben wollte,<br />

weil er sich zu sehr auf die Amerikaner verlassen hat. Nur diese<br />

eine Frage: Wo war in diesen wenigen Tagen die amerikanische<br />

Hilfe, die während Jahrzehnten immer wieder versprochen<br />

worden war? Wie steht es wirklich mit diesem sogenannten<br />

Bündnisfall nach dem fünften Artikel? <strong>Die</strong> Wirklichkeit sieht so<br />

aus, dass es in Washington für besser gehalten wurde, das<br />

Baltikum zu opfern, als mit Russland einen Atomkrieg zu<br />

riskieren - <strong>und</strong> ich betone an dieser Stelle ganz klar, dass es auch<br />

weiter so bleiben wird. Wer hier in Europa wirklich entscheidet,<br />

sind wir Russen <strong>und</strong> nicht die Amerikaner. Wenn sie nicht wollen,<br />

dass noch weitere Länder von uns wieder erobert <strong>und</strong> ins alte<br />

Russische Reich eingegliedert werden, wird die amerikanische<br />

Regierung mit Sicherheit nochmals nachgeben. Verlasst auch<br />

158


also nicht mehr auf die Worte, die von Washington <strong>und</strong> vom<br />

Hauptquartier der NATO in Brüssel kommen! Jetzt ist endgültig<br />

klar geworden, dass all diese Worte nur Lippenbekenntnisse<br />

waren, weil auch der Feind immer gewusst hat, dass in Europa<br />

nur Russland die Nation Nummer eins ist <strong>und</strong> niemand anders;<br />

schliesslich stellen wir immer noch die meisten Einwohner - <strong>und</strong><br />

mit unseren Bodenschätzen in Sibirien sind wir immer noch die<br />

wirtschaftlich stärkste Macht. Das haben unsere Verbündeten<br />

<strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>e in der ganzen Welt ja schon vor langem<br />

eingesehen: Mit der Weltmacht Russland legt sich niemand an,<br />

jetzt erst recht nicht mehr.<br />

Noch etwas zu Schweden <strong>und</strong> Finnland: Ihr tut gut daran, euch<br />

vor Russland zu fürchten, aber ihr seid nie das Hauptziel<br />

gewesen. <strong>Die</strong>ses hat immer in der Rückeroberung der bisher neu<br />

eingegliederten Länder bestanden - <strong>und</strong> dieses Ziel haben wir<br />

jetzt erreicht. Was sollen wir denn mit Finnland machen, das<br />

keine Bodenschätze hat <strong>und</strong> wo sich fast nichts anbauen lässt?<br />

Zudem sind wir nicht so dumm wie damals Stalin, der allein dort<br />

oben eine Million Mann sinnlos geopfert hat; wir haben noch nicht<br />

vergessen, wozu die Finnen militärisch fähig sind. Und warum<br />

sollten wir Schweden angreifen? Wir wissen sehr wohl, dass die<br />

Überquerung der Ostsee mit einem zu grossen Risiko verb<strong>und</strong>en<br />

wäre, <strong>und</strong> es ist uns schon seit Jahrzehnten bekannt, dass die<br />

Insel Gotland zu einer ähnlichen militärischen Festung wie<br />

Taiwan ausgebaut worden ist. Allerdings sieht die jetzige Lage<br />

so aus, dass diese Insel von unseren chinesischen Verbündeten<br />

trotzdem bald erobert wird - das kann euch immerhin als eine<br />

Warnung dienen.<br />

Wir haben also keine weiteren militärischen Ziele mehr, aber wir<br />

stellen dafür die Bedingung, dass Schweden <strong>und</strong> Finnland ihren<br />

Austritt aus der NATO erklären <strong>und</strong> wieder neutral werden, wie<br />

sie es früher jahrzehntelang waren; schliesslich fühlen wir uns<br />

von dort aus immer noch bedroht. Eine weitere Bedingung ist,<br />

dass wir von Polen, von der Tschechischen Republik <strong>und</strong> von<br />

159


Rumänien fordern, dass die dort stationierten NATO-Raketen,<br />

die für uns ebenfalls eine Bedrohung sind, wieder abgezogen<br />

werden, <strong>und</strong> wir geben der NATO eine Woche lang Zeit, bis sie<br />

ihre Entscheidung bekanntgibt. Ich wiederhole es: Eine Woche!<br />

<strong>Die</strong>se Zeit wird für eine Antwort genügen.<br />

Auch wenn im Westen immer wieder behauptet worden ist, dass<br />

die Raketen in Polen, in der Tschechischen Republik <strong>und</strong> in<br />

Rumänien keine Atomraketen sind, glauben wir immer noch,<br />

dass dies nur Lügen waren. Aber selbst wenn diese Worte<br />

stimmen, haben wir jetzt ja gesehen, wie wenig wert sie sind. <strong>Die</strong><br />

Amerikaner, die immer noch glauben, sie müssten die Politik in<br />

Europa, der nicht ihr Kontinent ist, ständig mitbestimmen, haben<br />

schon das Baltikum fallen gelassen, weil sie eine direkte<br />

Konfrontation mit Russland scheuen, wenn es wirklich darauf<br />

ankommt, <strong>und</strong> genau gleich würden sie handeln, wenn wir<br />

weitere Länder angreifen würden. Verlasst euch also nicht mehr<br />

auf diesen sogenannten amerikanischen Schutzschild <strong>und</strong> tut<br />

das, was wir jetzt vor allem von den von mir genannten fünf<br />

Ländern fordern, damit es in Europa endgültig wieder Frieden<br />

geben kann! Wir haben in diesen Tagen sicher deutlich genug<br />

bewiesen, dass die Worte aus Washington <strong>und</strong> Brüssel immer<br />

nur leere Versprechungen gewesen sind. Von jetzt an wird in<br />

Europa nichts mehr ohne Russland entschieden; jetzt ist es<br />

endgültig deutlich geworden, dass wir - <strong>und</strong> nur wir - die stärkste<br />

europäische Macht sind. Wir haben immer noch genügend<br />

Leute, die kämpfen können, <strong>und</strong> genügend wirtschaftliche<br />

Ressourcen, die weitere Kriege ermöglichen, wenn sie uns wie<br />

damals die Spezialoperation in der Ukraine aufgezwungen<br />

werden.<br />

Akzeptiert also unsere Forderungen, wenn ihr nicht wollt, dass<br />

wir uns gezwungen sehen, unseren Feldzug zugunsten der<br />

endgültigen Befriedung Europas fortzusetzen! Es wird also bei<br />

euch entschieden: Entweder ein Friede, in den auch Russland<br />

fest eingeb<strong>und</strong>en wird - oder weitere Kriege. Wir stehen dafür gut<br />

160


gerüstet bereit.»<br />

Das ist die erste Rede, der anzumerken ist, dass sie improvisiert<br />

zusammengestellt worden ist. Das zeigt sich auch darin, dass<br />

Staputow nur von Europa gesprochen hat <strong>und</strong> auf die Ereignisse<br />

r<strong>und</strong> um Taiwan nicht näher eingegangen ist. Dabei gäbe es<br />

auch von dort einiges zu berichten: Berauscht vom Erfolg seiner<br />

eigenen Truppen <strong>und</strong> auch der verbündeten Russen hat Mao Li-<br />

Tsching bereits durchblicken lassen, dass diese Insel<br />

keineswegs das letzte Ziel gewesen sein muss. Japan <strong>und</strong><br />

Südkorea werden zwar nicht direkt erwähnt, aber es werden<br />

Drohungen nach den Philippinen <strong>und</strong> dem Gebiet gesendet, das<br />

früher als Französisch-Indochina bezeichnet wurde, <strong>und</strong> sogar<br />

nach Thailand, wo ebenfalls schon seit Jahrh<strong>und</strong>erten auch eine<br />

starke chinesische Minderheit lebt. Vor lauter Drang, auch diese<br />

genauso wie die russischen Minderheiten in Europa wieder<br />

heimzuholen, scheint es kein Thema mehr zu sein, dass die<br />

versuchte chinesische Invasion in Vietnam im Jahr 1979 kläglich<br />

gescheitert ist. Es wurde in Peking zwar nur als eine Strafaktion<br />

von mehreren Wochen bezeichnet, weil die Vietnamesen es<br />

gewagt hatten, die mit China verbündete kambodschanische<br />

Regierung von Steinzeit-Kommunisten zu stürzen <strong>und</strong> das Land<br />

vorübergehend zu besetzen, aber diese Worte haben nie<br />

glaubwürdig gewirkt. Es war tatsächlich eine militärische<br />

Niederlage, die nicht schöngeredet werden konnte, <strong>und</strong> es ist<br />

noch heute nicht vergessen, dass die kampferfahrenen<br />

Vietnamesen den Chinesen nur <strong>des</strong>halb nicht überlegen waren,<br />

weil diese nun einmal viel mehr Soldaten ins Feld schicken<br />

konnten.<br />

Der Vietnamkrieg gegen die USA liegt jetzt zwar schon ein<br />

halbes Jahrh<strong>und</strong>ert zurück - <strong>und</strong> gerade weil die US-Amerikaner<br />

damals erkannten oder genauer erkennen mussten, zu welcher<br />

Opferbereitschaft die Vietnamesen fähig sind, würden sie es<br />

heute gern sehen, wenn sie offiziell Verbündete wären, um die<br />

immer deutlicher werdenden chinesischen Expansionsgelüste<br />

161


einzudämmen, die sich immer mehr nicht als bloss<br />

wirtschaftliche erweisen. Sie sehen jedoch ein, dass die<br />

Regierung in Hanoi ein solches Bündnis für ein zu grosses<br />

politisches Risiko hält, weil Li-Tsching das als einen Gr<strong>und</strong> für<br />

einen neuen Angriff sehen könnte - <strong>und</strong> diesmal mit Atomwaffen.<br />

Es scheint ohnehin seltsam, dass damals ein Krieg geführt<br />

wurde, der die Ausbreitung <strong>des</strong> Kommunismus in Indochina<br />

verhindern sollte, wie es offiziell hiess, weil Vietnam heute nach<br />

den Aussagen von Leuten, die dieses Land bereist haben, den<br />

gleichen kapitalistischen Eindruck wie China vermittelt. Wofür<br />

wurden also die beiden Kriege geführt? Im ersten von 1945 bis<br />

1954 ging es wenigstens noch darum, das Land vom längst<br />

überfälligen französischen Kolonialismus zu befreien, was sogar<br />

in den USA eingesehen wurde - aber warum wurde der zweite<br />

geführt, der im April 1975 endete?<br />

So wie überall in der Welt wird über diese triumphale Rede<br />

Staputows auch in der Einheit heftig diskutiert, der Oberleutnant<br />

Bergmann offiziell immer noch zugeteilt ist, auch wenn er viel Zeit<br />

beim direkt benachbarten polnischen Bataillon verbringt.<br />

«<strong>Die</strong>ser Feigling kann auch nur so dick auftragen, weil er in<br />

einem atombombensicheren Bunker hockt», sagt einer sofort,<br />

sobald die Rede beendet ist, die auch im Schützengraben unten<br />

übertragen wurde.<br />

«Dazu kommt noch, dass er das nur <strong>des</strong>halb kann, weil er weiss,<br />

dass die Chinesen <strong>und</strong> Nordkoreaner schon bald eintreffen»,<br />

ergänzt ein weiterer.<br />

«In dieser einen Woche, in der das Ultimatum läuft, können sich<br />

die gelben Zombies noch in aller Gemütlichkeit einrichten, bevor<br />

sie alle zusammen auf uns losgehen», meint noch einer.<br />

Dann wirft ein Vierter in die R<strong>und</strong>e: «Gerade <strong>des</strong>halb können wir<br />

ihm nicht trauen. Vor dem Ukraine-Krieg hat es schon einmal<br />

geheissen, sie wollen nicht angreifen, <strong>und</strong> es wurden sogar<br />

demonstrativ Truppen von der Grenze abgezogen.»<br />

162


«Von Moskau sind schon seit der Zeit <strong>des</strong> Zweiten Weltkriegs<br />

immer nur Lügen gekommen», sagt jetzt noch einer.<br />

«Machen wir uns nichts vor!», erwidert ein weiterer, «sogar wenn<br />

der Westen jetzt auf die Forderungen dieses Jahrh<strong>und</strong>ert-<br />

Verbrechers eingehen sollte, würde er weiter angreifen. Das ist<br />

so sicher wie das Amen in der Kirche.»<br />

«In einer Kirche, die in Russland diesen Krieg immer noch<br />

gutheisst, weil er angeblich einer heiligen Sache dient», gibt jetzt<br />

auch noch Bergmann seinen Teil dazu.<br />

«Wenn auch du so re<strong>des</strong>t, steht es wirklich schlimm», sagt dann<br />

noch einer - <strong>und</strong> alle, die diese Worte hören, wissen sofort,<br />

worauf er anspielt. Er wird zwar nicht mehr so wie in den ersten<br />

Tagen damit hochgenommen, dass er ein halber Russe ist,<br />

obwohl er immer wieder betonte, er sei genauso wie seine Eltern<br />

ein echter Deutscher, aber es ist halt immer noch ein Stück<br />

hängen geblieben; wenigstens ist ihm aber nie unterstellt<br />

worden, er könnte sich zu einem Verräter entwickeln.<br />

-------------------------------------------------------------------------------<br />

In dieser einen Woche, in der Staputows Ultimatum läuft, wird<br />

über alle diplomatischen Kanäle von Washington bis Warschau<br />

<strong>und</strong> Bukarest heiss diskutiert, <strong>und</strong> im NATO-Hauptquartier findet<br />

an jedem einzelnen Tag eine Krisensitzung statt. Soll man auf<br />

diese Forderungen wirklich eingehen oder nicht? Während eine<br />

kleine Minderheit, der erstaunlich viele Deutsche angehören, die<br />

Meinung vorbringt, man könnte es mit Russland ja noch einmal<br />

versuchen, weil schliesslich an der Behauptung, es sei kurz vor<br />

der deutschen Wiedervereinigung im Jahr 1990 versprochen<br />

worden, dass die NATO sich nicht nach Osten ausweiten würde,<br />

etwas Wahres dran sei, tritt die Mehrheit entschieden dagegen<br />

auf. Es wird einmal mehr daran erinnert, dass ein solches<br />

Versprechen nie schriftlich bestätigt wurde <strong>und</strong> dass es zudem<br />

die Sowjetunion im Jahr 1990 immer noch gab <strong>und</strong> niemand sich<br />

vorstellen konnte, dass dieses Riesenreich sich nur ein Jahr<br />

163


später auflösen würde <strong>und</strong> als Folge davon auch mit dem<br />

Warschauer Pakt, dem sich alle osteuropäischen<br />

Vasallenstaaten hatten anschliessen müssen, das Gleiche<br />

geschehen würde.<br />

Das einleuchtendste Argument ist aber immer noch, dass<br />

Staputow das Abkommen von 1994, in dem der Ukraine für den<br />

Fall, dass sie alle dort stationierten Atomraketen an Russland<br />

abtreten würde, die Anerkennung der Grenzen von 1991<br />

zugesichert worden war, skrupellos gebrochen wurde. <strong>Die</strong><br />

Annexion der Krim im März 2014, also nur zwanzig Jahre später,<br />

war der erste Schritt zu dem, was heute seit dem Ukraine-Krieg<br />

als Zeitenwende bezeichnet wird, <strong>und</strong> später folgten die von<br />

Staputow inszenierten <strong>und</strong> jahrelang unterstützten Kämpfe der<br />

ostukrainischen Separatisten, bis schliesslich im Februar 2022<br />

die Invasion der Ukraine begonnen wurde, die am Ende mit<br />

einem Teilerfolg für Russland endete.<br />

Nicht wenige erinnern auch wieder daran, dass der von<br />

ostukrainischen Separatisten mit russischen Raketen bewirkte<br />

Abschuss eines Passagierflugzeugs nur wenige Wochen nach<br />

der Krim-Annexion wohl auch Staputows Handschrift tragen<br />

musste, obwohl dieser immer bestritt, dass Russland damit<br />

etwas zu tun hatte, aber die Tatsache, dass die<br />

Hauptverantwortlichen, die ausfindig gemacht werden konnten,<br />

in Russland Unterschlupf fanden, spricht eindeutig für seine<br />

Mitschuld - es ist schlicht nicht vorstellbar, dass eine solche Tat<br />

ohne sein Mitwissen ausgeführt werden konnte. Am meisten<br />

geladen ist man noch heute in den Niederlanden, das am<br />

meisten To<strong>des</strong>opfer zu beklagen hatte, <strong>und</strong> es wird wieder<br />

einmal daran erinnert, dass auch etwa h<strong>und</strong>ert Kinder im<br />

abgeschossenen Flugzeug gesessen hatten.<br />

So wird sowohl im NATO-Hauptquartier als auch zwischen dem<br />

amerikanischen Präsidenten <strong>und</strong> seinen Verbündeten tagelang<br />

diskutiert - <strong>und</strong> mit der Zeit überwiegt die Meinung, dass<br />

Staputow bisher je<strong>des</strong> einzelne Abkommen gebrochen hat <strong>und</strong><br />

164


ihm auch nach einem Abzug der geforderten Raketen <strong>und</strong> selbst<br />

nach dem Versprechen in Stockholm <strong>und</strong> Helsinki, dass<br />

Schweden <strong>und</strong> Finnland ihren Austritt aus der NATO<br />

bekanntgeben, nicht zu trauen ist. Hat man nicht schon vor<br />

neunzig Jahren Hitler auf ähnliche Weise immer wieder<br />

nachgegeben, bis nach dem Überfall auf Polen am 1. September<br />

1939 endlich eingesehen wurde, dass mit einem solchen kein<br />

wirklicher Frieden möglich war? <strong>Die</strong> Parallelen zur heutigen Zeit<br />

sind erschreckend deutlich.<br />

In diesen Tagen, in denen im Westen heiss diskutiert wird, ohne<br />

dass man sich zu einer endgültigen Antwort an den Erpresser in<br />

Moskau durchringen kann, trifft die angekündigte Verstärkung<br />

durch chinesische <strong>und</strong> nordkoreanische Truppen tatsächlich ein.<br />

Da die drei ehemals unabhängigen baltischen Staaten bereits<br />

erobert sind <strong>und</strong> durch ungeniert gezeigten Terror auch auf<br />

offener Strasse sichergestellt wird, dass keine Unruhen<br />

ausbrechen, können es sich die Russen leisten, dort allein für<br />

Ordnung zu sorgen. Gerade <strong>des</strong>halb, weil ein Mehrfrontenkrieg<br />

schon immer geplant war, was auch im Westen so gesehen<br />

wurde, ist Staputow umso erleichterter, dass die Truppen der<br />

Verbündeten gerade noch rechtzeitig eintreffen <strong>und</strong> sich<br />

kriegsmässig einrichten können.<br />

Es ist offensichtlich, dass der Hauptangriff - falls dieser<br />

tatsächlich erfolgen sollte - von Weissrussland <strong>und</strong> Kaliningrad<br />

aus starten wird, weil die meisten direkt vor der polnischweissrussischen<br />

Grenze stationiert werden, <strong>und</strong> auch Staputow<br />

hat das in seiner Rede angedeutet. <strong>Die</strong> nackten Tatsachen<br />

scheinen für ihn zu sprechen: Gegenwärtig stehen jetzt im Osten<br />

Mitteleuropas nur etwas mehr als 300'000 Deutsche <strong>und</strong> Polen<br />

einem Riesenheer von fast einer Million Russen, Chinesen <strong>und</strong><br />

Nordkoreanern gegenüber. Auf den ersten Blick scheinen die<br />

Aggressoren allein wegen ihrer Anzahl Soldaten, aber auch<br />

wegen der fehlenden Skrupel ihrer Führer im Vorteil zu sein,<br />

während die Verteidiger sich nur darauf berufen können, dass sie<br />

165


ihre eigene Heimat verteidigen. Wie lange kann das aber noch<br />

gutgehen - werden die Invasoren tatsächlich zuschlagen?<br />

Auch jetzt läuten im Westen wieder Millionen von<br />

Kirchenglocken, wie das schon vor Jahren auch vor dem<br />

Ausbruch von anderen Kriegen geschah. Können diese jetzt<br />

noch helfen? Bis jetzt konnten sich Staputow, Li-Tsching <strong>und</strong> Kim<br />

der Dritte <strong>und</strong> ihre immer noch zahlreichen Fre<strong>und</strong>e in der<br />

ganzen Welt damit herausreden, dass es eigentlich nur<br />

innereuropäische <strong>und</strong> innerasiatische Kriegshandlungen waren,<br />

welche die Welt nicht direkt betrafen <strong>und</strong> an denen so wie immer<br />

sowieso nur die USA <strong>und</strong> die NATO schuld waren. Wenn aber<br />

die chinesischen <strong>und</strong> nordkoreanischen Truppen tatsächlich<br />

zusammen mit den neu aufgestellten russischen Divisionen in<br />

Polen einfallen, wird es endgültig ein dritter Weltkrieg sein, um<br />

den bisher immer nur herumgeredet worden ist - <strong>und</strong> dann wird<br />

es auch wirtschaftlich all jene treffen, die bisher geglaubt haben,<br />

sie seien im fernen Asien, Afrika <strong>und</strong> Lateinamerika noch sicher.<br />

In dieser einen Woche, in der mit dem nächsten grossen Krieg<br />

gerechnet wird, gehen erschreckende Meldungen, die nicht nur<br />

vom Nahen Osten, sondern auch noch von Afrika eintreffen, fast<br />

unter. Während nördlich von Israel wie schon mehrmals<br />

angedroht ein internationales Heer, das unter iranischer Führung<br />

steht, sich aber auch aus Zehntausenden von Irakern, Syrern<br />

<strong>und</strong> sogar Türken <strong>und</strong> Aserbaidschanern <strong>und</strong> zudem auch dort<br />

aus Chinesen <strong>und</strong> Nordkoreanern zusammensetzt, in Richtung<br />

Israel in Marsch gesetzt wird, geschieht das Gleiche in Afrika.<br />

Solange in Ägypten noch eine Regierung am Ruder war, die<br />

keinen Krieg mit Israel wollte, konnte davon ausgegangen<br />

werden, dass die immer wieder zitierte uralte biblische<br />

Prophezeiung von Gog <strong>und</strong> Magog sich weiter nicht erfüllen<br />

würde, aber vor kurzem ist es den Israel-Feinden, die schon<br />

vorher an der Regierung mitbeteiligt werden mussten, tatsächlich<br />

gelungen, die alleinige Macht zu übernehmen. So wie vom Iran<br />

<strong>und</strong> Irak <strong>und</strong> von der Türkei aus mehrere 100'000 Mann gegen<br />

166


Israel in Marsch gesetzt worden sind, ist jetzt auch von Afrika aus<br />

ein international zusammengesetztes Riesenheer unter<br />

ägyptischer Führung unterwegs. Da dieses viel näher an Israel<br />

liegt als das nördliche <strong>und</strong> östliche Heer, werden sie viel<br />

schneller als ihre neuen Verbündeten dort sein, um diesen Staat,<br />

den die besonders Fanatischen unter ihnen schon immer<br />

auslöschen wollten, endgültig zu zerschlagen.<br />

--------------------------------------------------------------------------------<br />

In diesen wenigen Tagen, die bis zum Ablaufen von Staputows<br />

Ultimatum noch verbleiben, ereignet sich dort, wo Oberleutnant<br />

Bergmann verkehrt, auch zu seinem eigenen Erstaunen nichts<br />

Besonderes. Er bleibt weiter der erste Verbindungsmann<br />

zwischen den Deutschen <strong>und</strong> Polen, während Peter Stogitsch<br />

vermutlich das Gleiche irgendwo anders tut; seit er von dieser<br />

Einheit abgezogen worden ist, hat Bergmann von ihm nichts<br />

mehr gehört, weil alle Handy-Verbindungswege aus<br />

Sicherheitsgründen blockiert sind. Es ist natürlich immer<br />

deutlicher zu spüren, dass die Spannungen zunehmen, aber<br />

solange die Woche noch nicht ganz vorüber ist, besteht immer<br />

noch eine kleine Hoffnung. Auch Wanda, die jetzt zwar weiss,<br />

dass Bergmann verheiratet ist, mit dem sie aber trotzdem noch<br />

gern zusammen ist, verkehrt manchmal noch bei den Deutschen,<br />

aber nicht so viel wie er bei den Polen, weil Generalmajor<br />

Kubinski es für besser hält, dass sie jetzt mehr bei den eigenen<br />

Leuten bleibt.<br />

167


11<br />

Nur einen Tag, bevor das Ultimatum abläuft, ertönen in ganz<br />

Polen Tausende von Sirenen, <strong>und</strong> auch in den Schützengräben<br />

vor der polnisch-weissrussischen Grenze wird Alarm gegeben.<br />

Noch bevor eine Antwort aus Washington <strong>und</strong> Brüssel<br />

abgewartet wird, hat Staputow offensichtlich den Befehl zum<br />

Angriff gegeben, <strong>und</strong> da die chinesischen <strong>und</strong> nordkoreanischen<br />

Truppen auf dem europäischen Territorium ihm ebenfalls<br />

unterstellt sind, betrifft dieser Befehl auch sie. Zu diesem<br />

Zeitpunkt befindet sich Bergmann bei den Polen - <strong>und</strong> gemäss<br />

den abgemachten Worten, dass er gerade dort bleibt, wo die<br />

Kämpfe allenfalls ausbrechen, bleibt er jetzt tatsächlich bei<br />

ihnen.<br />

«Es geht los!», brüllt jetzt ein Offizier ihm auf Englisch zu, «jetzt<br />

können Sie nicht mehr zurück!»<br />

«Das ist mir klar!», brüllt er zurück, «aber ich brauche jemanden,<br />

der mir die Gurten hält!»<br />

Damit meint er die Patronengurten für das Maschinengewehr.<br />

«Das mache ich!», ruft Wanda, die gerade neben ihm steht, ohne<br />

zu zögern, aber immerhin fragt sie den zuständigen Hauptmann<br />

mit Namen Strapinski: «Sind Sie damit einverstanden?»<br />

«Natürlich, wir können jetzt alle gebrauchen!», antwortet dieser<br />

sofort <strong>und</strong> brüllt dann, so laut er kann: «Es geht los! Alle in<br />

Stellung!»<br />

Da die vielen Maschinengewehre jeden dritten Meter bereits<br />

geladen <strong>und</strong> damit schiessbereit sind, fällt es Bergmann nicht<br />

schwer, sofort eines zu finden <strong>und</strong> sich hinter den Lauf zu<br />

klemmen, nachdem er sich den Kampfhelm übergestülpt hat.<br />

Wanda tut das Gleiche, dann legt sie sich rechts neben ihn hin<br />

<strong>und</strong> sagt laut, obwohl noch keine Schüsse zu hören sind: «Wenn<br />

ich nicht mit dir leben kann, will ich wenigstens mit dir sterben!»<br />

168


«Unsinn, wir sterben nicht!», sagt er ebenso laut zurück, «wenn<br />

es Gott wirklich gibt, wird er uns helfen!»<br />

«Jesus, Maria <strong>und</strong> Josef! - Hoffentlich bekommst du Recht!»<br />

Dann halten sie sich so wie Zehntausende von anderen links <strong>und</strong><br />

rechts von ihnen schussbereit, aber es geschieht vorerst noch<br />

nichts. Im Gegensatz zum Ukraine-Krieg, als die russische Seite<br />

noch einen Überraschungsmoment ausnützen konnte, greift der<br />

Feind diesmal nicht sofort mit Panzer- <strong>und</strong> Infanterie-Truppen an,<br />

sondern lässt sich zuerst noch auf ein Artillerie-Duell ein, das es<br />

aber auch in sich hat. Da die Kriegsvorbereitungen auf beiden<br />

Seiten der Grenze monatelang gedauert haben, konnte leicht<br />

ausgerechnet werden, dass die Russen zuerst versuchen<br />

würden, so viel wie möglich zusammenzuschiessen. Dazu hat<br />

auch beigetragen, dass die Polen ganz vorn noch vor den<br />

eigenen Panzertruppen Minenfelder ausgelegt haben, die auch<br />

Panzer vernichten können - die Infanterie-Truppen, denen jetzt<br />

auch Bergmann angehört, befinden sich also nicht so wie in den<br />

beiden Weltkriegen <strong>und</strong> im Ukraine-Krieg zuvorderst, sondern<br />

ein paar h<strong>und</strong>ert Meter weiter hinten. Wenn die von der anderen<br />

Seite sie von nahe bekämpfen wollen, müssen sie also zuerst an<br />

den Minenfeldern <strong>und</strong> an den Panzern vorbei, was das eigene<br />

Überleben ein wenig erleichtert - zumin<strong>des</strong>t hoffen alle darauf.<br />

Gerade in diesen wenigen St<strong>und</strong>en, in denen von der anderen<br />

Seite buchstäblich aus allen Rohren gefeuert wird <strong>und</strong> zudem<br />

Angriffe mit Drohnen <strong>und</strong> Kampfflugzeugen erfolgen, zeigt es<br />

sich, mit welchem ungeheuren Arsenal die russische,<br />

chinesische <strong>und</strong> nordkoreanische Armee ausgerüstet sind. Sie<br />

haben von Asien ja nicht nur mehrere 100'000 Soldaten<br />

mitgebracht, sondern auch zahlreiche Panzer, Minenräumer,<br />

Artilleriegeschütze <strong>und</strong> Kampfflugzeuge, <strong>und</strong> mit diesen gelingt<br />

es dem Feind tatsächlich, auch in den Reihen weiter hinten<br />

Verluste zu bewirken. <strong>Die</strong> Deutschen <strong>und</strong> Polen können sich<br />

zwar noch halten, doch bei der Wucht dieser Angriffe, die nach<br />

den Worten <strong>des</strong> Feldpredigers Schleyer nur von unten bewirkt<br />

169


werden kann, braucht es schon jetzt viel Optimismus, um daran<br />

zu glauben, dass diese Angriffe auf längere Sicht wirksam<br />

abgewehrt werden können.<br />

Was am meisten enttäuscht, ist wie schon beim Angriff auf die<br />

baltischen Staaten, die jetzt wieder zum Grossrussischen Reich<br />

gehören, die Reaktion der US-amerikanischen Regierung.<br />

Obwohl sie auch jetzt wieder ankündigt, dass sie diesen Angriff<br />

nicht hinnehmen <strong>und</strong> angemessen reagieren werde, zögert sie<br />

immer noch, bis zum Äussersten zu gehen - <strong>und</strong> wo genau<br />

könnten sie Atomwaffen einsetzen, ohne den eigenen<br />

Verbündeten zu schaden? Auf der anderen Seite ist auch dies<br />

klar: Das Baltikum, das schon vor diesem Krieg auch im Westen<br />

erstaunlich viele - <strong>und</strong> nicht nur Staputow-Fre<strong>und</strong>e - als einen<br />

natürlichen Bestandteil Russlands gesehen haben, konnte noch<br />

geopfert werden. Wenn jedoch die deutsch-polnischen<br />

Verteidigungslinien fallen, wird sich das auf ganz Mitteleuropa,<br />

ja, im schlimmsten Fall auf ganz Europa auswirken. Gerade hier<br />

wird die rote Linie, die vor allem Staputow bis zum Ermüden<br />

immer wieder zitiert hat, eindeutig überschritten - <strong>und</strong> wer kann<br />

jetzt wirklich helfen? Eigentlich nur noch der liebe Gott.<br />

<strong>Die</strong> Empörung ist in der Welt draussen dort, wo man sich mit der<br />

NATO noch verb<strong>und</strong>en fühlt, zwar gross, aber das ist auch keine<br />

Hilfe - <strong>und</strong> von der faktisch aufgelösten UNO ist ebenfalls nichts<br />

mehr zu vernehmen. Nur eines bleibt bisher aus: Jetzt kann der<br />

erneut wortbrüchige Staputow nicht mehr behaupten, Russland<br />

führe einen weiteren Verteidigungskrieg, <strong>und</strong> auch von seinen<br />

immer noch zahlreichen Fre<strong>und</strong>en von Kuba, Nicaragua <strong>und</strong><br />

Venezuela über einen grossen Teil von Afrika bis zu den<br />

russlandfre<strong>und</strong>lichen asiatischen Staaten ist ebenfalls nichts<br />

mehr zu hören. Trotzdem glaubt jetzt kaum noch jemand an eine<br />

Wende - die Welt befindet sich tatsächlich im dritten Weltkrieg,<br />

der seit Jahrzehnten immer wieder befürchtet wurde, aber erst<br />

jetzt in vollem Ausmass ausgebrochen ist.<br />

-------------------------------------------------------------------------------<br />

170


Noch bevor der erste Kriegstag vorbei ist, werden die vordersten<br />

deutschen <strong>und</strong> polnischen Truppen noch einmal überrascht:<br />

Plötzlich sehen sie, wie die von der anderen Seite zu Tausenden<br />

<strong>und</strong> Abertausenden auf ihre Stellungen zurennen - dabei sind die<br />

massiven Bombardierungen auf alle möglichen Ziele noch längst<br />

nicht abgeschlossen werden. Können die Kommandanten dort<br />

drüben tatsächlich so unvernünftig sein? Es scheint ihnen<br />

offensichtlich nichts auszumachen, schon jetzt unzählige eigene<br />

Soldaten zu opfern, aber man hat ja schon im Ukraine-Krieg<br />

gesehen, wozu Staputow <strong>und</strong> seine stets Ja sagenden<br />

Stiefelknechte fähig sind. Spielt jetzt wohl der Korea-Effekt mit,<br />

wie er manchmal auch genannt wird? Glauben sie tatsächlich,<br />

sie können die Stellungen wie vor mehr als siebzig Jahren<br />

einfach so überrennen, nur weil sie eine dreifache, wenn nicht<br />

gar vierfache Übermacht haben? Zählt bei denen ein einzelnes<br />

Menscheneben tatsächlich nichts?<br />

Allerdings bleibt jetzt keine Zeit mehr, um mehr darüber<br />

nachzudenken. Schon ertönen die lauten Befehle: «Der Feind<br />

kommt! Alle in Stellung! Feuer frei!»<br />

«<strong>Die</strong> Hunnen kommen!», ruft darauf einer, der sich in der Nähe<br />

von Bergmann befindet.<br />

«Spinnen die Orks?», ruft ein weiterer, «wollen die etwa über<br />

Minenfelder rennen?»<br />

«Das macht denen nichts aus, sie sind ja Zombies!», schreit<br />

noch einer.<br />

Noch bevor sich alle Schützen hingelegt haben, ruft noch einer,<br />

der sich etwas weiter von Bergmann befindet: «<strong>Die</strong>smal wird sich<br />

Korea nicht wiederholen! <strong>Die</strong>smal kommt ihr an uns nicht<br />

vorbei!»<br />

Schliesslich ruft noch einer nach vorn: «Für Gott, Polen <strong>und</strong><br />

Europa! Hört ihr mich da vorn?»<br />

Dann geht es tatsächlich los. Noch einmal schaut Bergmann zu<br />

171


Wanda, die direkt neben ihm liegt <strong>und</strong> ihm durch Zunicken zu<br />

verstehen gibt, dass auch sie bereit ist, <strong>und</strong> schon rattert er los.<br />

Es kommt ihm selber seltsam vor, dass er jetzt hinter einem<br />

Maschinengewehr liegt <strong>und</strong> ziellos nach vorn feuert, ohne dass<br />

er auch nur einen von der anderen Seite deutlich sehen kann. Er<br />

schiesst <strong>und</strong> schiesst <strong>und</strong> kann nur noch knapp an seine Frau,<br />

an seine Schwester <strong>und</strong> an seine Eltern denken, die er<br />

zurücklassen musste <strong>und</strong> die jetzt um ihn bangen, weil ja auch<br />

sie wissen, dass er ganz vorn stationiert ist <strong>und</strong> die ersten<br />

Kämpfe ausgebrochen sind. Noch einmal denkt er an Iris, die<br />

nicht einmal weiss, dass er inzwischen eine Frau kennen gelernt<br />

hat, mit der er sich durchaus etwas hätte vorstellen können,<br />

wenn er noch frei gewesen wäre. Schon ertappt er sich dabei,<br />

dass er von sich selbst in der Vergangenheit denkt, als wäre er<br />

nicht mehr am Leben. Dabei ist er immer noch so lebendig wie<br />

zuvor <strong>und</strong> feuert so wie Zehntausende links <strong>und</strong> rechts von ihm<br />

aufs Geratewohl nach vorn, ohne sicher zu sein, ob er jemanden<br />

von der anderen Seite überhaupt trifft.<br />

Nach etwa einer halben St<strong>und</strong>e, in der die Lafetten immer<br />

heisser angelaufen sind, scheint denen auf der anderen Seite ein<br />

erster kleiner Durchbruch zu gelingen. Es ist zwar immer noch<br />

zu sehen, wie Panzer, Minen <strong>und</strong> auch Menschen in die Luft<br />

gesprengt werden, doch das Menschenreservoir ist anscheinend<br />

so gross, dass diese paar H<strong>und</strong>ert Verluste sie nicht mehr davon<br />

abhalten können, in wenigen Minuten auf sie loszustürmen.<br />

Erst jetzt, da sie sich immer mehr nähern, hört Bergmann, wie<br />

die von der anderen Seite sogar mit einem Gebrüll losstürmen,<br />

wie er das von vielen Wildwest- <strong>und</strong> Kriegsfilmen kennt. Schon<br />

bei seinen Kinobesuchen oder wenn er zu Hause solche Filme<br />

schaute, fragte er sich, warum bei einem Angriff immer so<br />

gebrüllt wurde. Bei den indigenen Amerikanern, wie sie heute<br />

genannt werden müssen, konnte er das noch nachvollziehen,<br />

weil das zu ihren Ritualen gehörte, aber nicht bei so modernen<br />

Armeen, die auch die Russen, Chinesen <strong>und</strong> Nordkoreaner ins<br />

172


Feld schicken können … sollte man eigentlich meinen. Jetzt kann<br />

er das sogar aus eigener Anschauung miterleben.<br />

Da ihm <strong>und</strong> Wanda nichts anderes übrigleibt, feuern sie weiter<br />

wie die Zehntausenden links <strong>und</strong> rechts neben ihnen nach vorn,<br />

<strong>und</strong> es kommt ihm tatsächlich so vor, dass er jetzt den einen oder<br />

anderen trifft. Das ist sicher nicht schön, wie das der<br />

Feldprediger Schleyer erst vor einer Woche gesagt hat, aber<br />

auch jetzt gilt der alte Spruch: Entweder der andere oder ich.<br />

Auch er hat nicht den geringsten Zweifel daran, dass die von der<br />

anderen Seite Wanda <strong>und</strong> ihn <strong>und</strong> die zahlreichen Kameraden<br />

nebenan ohne die geringste Gnade niedermähen würden, wenn<br />

es ihnen gelingen sollte, ihre Stellungen zu stürmen. Jetzt kann<br />

ihnen wirklich nur noch der Herrgott helfen, wenn es ihn gibt. Nur<br />

er allein könnte jetzt noch dieses Massenheer zerschlagen …<br />

Es dauert fast eine St<strong>und</strong>e lang, in der aus allen Rohren auf die<br />

von der anderen Seite gefeuert wird - <strong>und</strong> die erste<br />

Abwehrschlacht muss offensichtlich zugunsten der Verteidiger<br />

ausgegangen sein, obwohl sie auch unter ihnen wegen <strong>des</strong><br />

immer noch laufenden Artilleriefeuers Verluste gekostet hat. Auf<br />

jeden Fall ziehen sich die Angreifer jetzt zurück, wohl um sich<br />

neu zu formieren. Oberleutnant Bergmann, den es durch die<br />

Kriegsumstände zu den polnischen Truppen verschlagen hat, so<br />

dass er jetzt mit ihnen kämpft, <strong>und</strong> Leutnant Sinkiewicza haben<br />

diesen ersten Ansturm aber überlebt; Wanda befindet sich<br />

immer noch direkt neben ihm <strong>und</strong> bereitet die nächsten Gurten<br />

vor. Erst als sie sicher sind, dass der erste Ansturm tatsächlich<br />

vorbei ist, entspannen sie sich ein wenig <strong>und</strong> schauen sich lange<br />

an, wobei sie ihre verschiedenen Helme aus zwei verschiedenen<br />

Armeen immer noch auf dem Kopf behalten.<br />

«Geht es dir noch gut?», fragt er sie leise.<br />

«Ja … auch dank dir.»<br />

Dabei schenkt sie ihm ein schwaches Lächeln, das vielleicht das<br />

letzte ist, das er von einer Frau oder überhaupt von einem<br />

173


Menschen noch sehen wird. Eigentlich hat er immer damit<br />

gerechnet, dass er ein solches Lächeln von seiner Iris<br />

bekommen wird, aber in diesen Minuten, die voraussichtlich die<br />

letzten in seinem Leben sind, ist er froh, dass jetzt Wanda ihm<br />

zulächelt. Auch sie wird bis zum letzten Augenblick an seiner<br />

Seite kämpfen, wie auch Iris das tun würde - dabei weiss er nicht<br />

einmal, wo genau sie jetzt ist <strong>und</strong> ob sie überhaupt noch lebt ...<br />

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Während alle den zweiten Ansturm erwarten <strong>und</strong> ihre<br />

Maschinengewehre, deren Rohre in dieser Pause wieder ein<br />

wenig abkühlen können, zusammen mit den immer noch vielen<br />

Patronengurten vorbereiten <strong>und</strong> noch einmal kontrollieren, ob die<br />

Handgranaten <strong>und</strong> sogar Bajonette, die für den Fall von<br />

Nahkämpfen eingesetzt werden müssten, immer noch am<br />

richtigen Ort sind, ist gleich von zwei Seiten ein Ruf zu hören, der<br />

nicht mit den hiesigen Kämpfen zusammenhängen kann. Da die<br />

von der anderen Seite mit dem zweiten Ansturm immer noch<br />

zuwarten, hören auch Bergmann <strong>und</strong> seine Kampfgefährtin<br />

genauer hin - <strong>und</strong> was sie zu hören bekommen, erschreckt sie<br />

genauso wie alle anderen.<br />

«<strong>Die</strong> erste Atombombe ist gezündet worden!»<br />

«Nicht möglich!», schreit jetzt ein anderer.<br />

«Doch, soeben ist es bestätigt worden!», ruft jetzt ein Offizier.<br />

«Wo denn genau - <strong>und</strong> von wem?», fragen jetzt gleich mehrere.<br />

Dann erklingen viele Stimmen durcheinander.<br />

«<strong>Die</strong>ser verdammte, verfluchte Staputow!»<br />

«Gott soll ihn mit einem Blitz erschlagen!»<br />

«Und dann soll der Teufel ihn direkt holen!»<br />

«Es könnte aber auch eine Bombe der gelben Zombies sein!»<br />

«Oder von den Amis - aber wo?»<br />

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«Sicher nicht die Amis! <strong>Die</strong> haben wegen den beiden Bomben<br />

über Japan noch heute ihre Skrupel - auch jetzt noch!»<br />

«Dann also doch die Hunnen <strong>und</strong> die Orks!»<br />

«Jesus, Maria <strong>und</strong> Josef! - Jetzt sind wir alle verloren!»<br />

So wird wild <strong>und</strong> laut gerufen, aber nicht von Bergmann <strong>und</strong> erst<br />

recht nicht von Wanda, die in diesem Abschnitt die einzige Frau<br />

ist. Zuerst bleibt er vor lauter Erschütterung mehr als eine Minute<br />

lang in sich zusammengesunken, erst dann schaut er zu ihr<br />

hinüber … <strong>und</strong> erkennt, dass sie hemmungslos weint. Obwohl<br />

sie vor lauter Tränen fast nichts sieht, nimmt sie wahr, dass er<br />

sie jetzt direkt anschaut, <strong>und</strong> ohne zu zögern <strong>und</strong> weiter<br />

nachzudenken, ob sie richtig handelt, zieht sie den Helm ab,<br />

stürzt sich in seine Arme <strong>und</strong> hält ihn fest. Zuerst ist er völlig<br />

überrascht, aber dann hält auch er sie fest <strong>und</strong> drückt ihr sogar<br />

einen Kuss auf die Stirn, während er seinen Helm weiter trägt.<br />

Er hat zwar Wanda geküsst, doch er denkt auch jetzt an Iris, an<br />

seine Schwester <strong>und</strong> an seine Eltern. Wenn diese Meldungen<br />

von der ersten gezündeten Atombombe tatsächlich stimmen - wo<br />

könnte das erste Ziel gewesen sein <strong>und</strong> wer hat zuerst<br />

angefangen? Breslau, Wandas Heimatstadt, die strategisch nie<br />

wichtig war, wird es kaum sein, aber er erinnert sich wieder<br />

daran, dass Staputow <strong>und</strong> seine Stiefelknechte immer wieder<br />

damit gedroht haben, dass Berlin <strong>und</strong> Warschau zu den ersten<br />

Zielen gehören würden. Hat es tatsächlich eine der beiden<br />

Hauptstädte getroffen? Es wäre von Kaliningrad oder von<br />

Weissrussland aus ja eine Kleinigkeit gewesen, es hätte nur<br />

wenige Minuten gedauert.<br />

Während er Wanda, die immer noch weint, weiter umarmt hält<br />

<strong>und</strong> sogar seinen Kopf an den ihren lehnt, kann er fast nichts<br />

mehr denken, doch dann erinnert er sich plötzlich wieder an<br />

Major Schleyers Worte - <strong>und</strong> er zieht den Helm ebenfalls ab.<br />

Er sagt sich entsetzt: Jetzt hat die Apokalypse begonnen …<br />

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