Perspectives 2023-4
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<strong>Perspectives</strong><br />
in Inclusive Social Development<br />
Anthroposophic<br />
4· <strong>2023</strong>
Inhalt<br />
deutsch<br />
Beiträge und Berichte<br />
Platos Erkenntnisstufen und der<br />
pädagogische Ethos ........................... 4<br />
von Jürgen Peters<br />
Gewaltfreie (Heil-)pädagogik .................. 18<br />
Umsetzung und Perspektiven der<br />
Rainbow Fondation in Sri Lanka<br />
von Christiane Drechsler, Nur Erdem, Angelika Wiehl<br />
Musik als Weg zu Selbstvertrauen,<br />
Selbstwirksamkeit und sozialer Kompetenz<br />
bei erwachsenen Lernenden<br />
mit Assistenzbedarf .......................... 34<br />
Eine Fallstudie zum Musikunterricht des SAFA<br />
(Verband Sozialkunst für Familien, Taiwan)<br />
von Hsieh, Shu-Ling<br />
Religion und Spiritualität<br />
in der inklusiven sozialen Entwicklung ......... 52<br />
4. bis 6. Oktober <strong>2023</strong> – Kleine Herbstkonferenz der<br />
Freien Hochschule für Geisteswissenschaft<br />
Eine persönliche Reflexion<br />
von Wiebke Lösken-Sturm<br />
Bericht über die Jugendtagung im<br />
Camphill Newton Dee <strong>2023</strong> .................... 58<br />
Gemeinschaftsbildung – Wie können wir uns<br />
unsere Zukunft (neu) vorstellen?<br />
11. – 14. Mai <strong>2023</strong>, Newton Dee<br />
vom Organisationsteam der Jugendtagung<br />
Editorial<br />
Jan Göschel<br />
Anthroposophisch orientierte Ansätze in der Heilpädagogik<br />
und inklusiven Sozialgestaltung treffen weltweit auf<br />
unterschiedliche soziale Aufgabenstellungen und müssen<br />
sich in die verschiedensten kulturellen Kontexte integrieren,<br />
um zu Antworten auf spezifische Problemstellungen<br />
angemessen und in der lokalen Situation anschlussfähig<br />
beitragen zu können. Shu-Ling Hsieh bietet uns einen<br />
Einblick in Bildungsprozesse im Musikunterricht mit drei<br />
jungen Erwachsenen mit einem Tuberösen-Sklerose-Komplex<br />
in Taiwan. Aus Interviews mit den Teilnehmenden,<br />
und mit Referenz auf anthroposophische Literatur und taiwanesische<br />
pädagogische Konzepte zeigt sie subtile Lernprozesse<br />
auf. Der Beitrag von Drechsler, Erdem und Wiehl<br />
stellt die Herausforderung dar, eine dringend notwendige<br />
kindgerechte gewaltfreie Pädagogik in Sri Lanka<br />
einzuführen, ohne von aussen mit kulturfremden Konzepten<br />
und Wertesystemen kommend dabei selbst übergriffig<br />
zu werden. Daneben steht der Beitrag von Jürgen<br />
Peters, der anhand von Platons Erkenntnislehre sieben<br />
Momente auf dem Weg zu einer handlungsleitenden pädagogischen<br />
Erkenntnis skizziert. Ergänzt werden diese<br />
Beiträge durch Berichte und Reflexionen von zwei besonderen<br />
Tagungen.<br />
Ich wünsche Ihnen eine inspirierende Weihnachtszeit<br />
und einen guten Weg ins neue Jahr!
Content<br />
english<br />
Articles and Reports<br />
Plato’s Steps to Understanding and the<br />
Pedagogical Ethos .............................. 4<br />
by Jürgen Peters<br />
Nonviolent (Therapeutic) Education .............. 18<br />
Implementation and Prospects of the<br />
Rainbow Foundation in Sri Lanka<br />
by Christiane Drechsler, Nur Erdem, Angelika Wiehl<br />
Music as a Path to Self-confidence, Self-efficacy<br />
and Interpersonal Skills for Adult Learners<br />
with Disabilities ............................... 35<br />
A Case Study of Music Classes offered by SAFA<br />
(Social Arts for Families Association, Taiwan)<br />
by Hsieh, Shu-Ling<br />
Religion and Spirituality in Inclusive<br />
Social Development ............................ 53<br />
4 th -6 th Oct <strong>2023</strong> –<br />
Small Autumn Conference of<br />
the School of Spiritual Science<br />
A Personal Reflection<br />
by Wiebke Lösken-Sturm<br />
Report on the Youth Conference in<br />
Camphill Newton Dee <strong>2023</strong> ..................... 58<br />
Community Building –<br />
How can we (re-)imagine our future?<br />
11 th -14 th May <strong>2023</strong>, Newton Dee<br />
by the Youth Conference <strong>2023</strong> Organizing Team<br />
Editorial<br />
Jan Göschel<br />
Anthroposophically oriented approaches<br />
in therapeutic education<br />
and inclusive social development<br />
encounter different social tasks<br />
worldwide and must integrate<br />
themselves into a wide variety of<br />
cultural contexts to make their<br />
contribution to specific questions<br />
in a way that is appropriate to and<br />
compatible with the local situation.<br />
Shu-Ling Hsieh offers us an insight into educational<br />
processes in music lessons with three young adults with<br />
tuberous sclerosis complex in Taiwan. From interviews<br />
with the participants, and with references to anthroposophical<br />
literature and Taiwanese pedagogical concepts, she<br />
makes subtle learning processes visible. The contribution<br />
by Christiane Drechsler, Nur Erdem and Angelika Wiehl<br />
presents the challenge of introducing an urgently needed<br />
child-centered, non-violent pedagogy in Sri Lanka, without<br />
violating boundaries and imposing culturally alien concepts<br />
and value systems from the outside. In addition, you<br />
will find a contribution by Jürgen Peters, who uses Plato’s<br />
theory of knowledge to outline seven moments on the way<br />
to a pedagogical insight that guides action. These contributions<br />
are complemented by reports and reflections<br />
from two special conferences.<br />
I wish you an inspiring Christmas season and a good start<br />
into the new year!
Platos<br />
Erkenntnisstufen<br />
und der<br />
pädagogische Ethos<br />
Plato’s Steps<br />
to Understanding<br />
and the<br />
Pedagogical Ethos<br />
von Jürgen Peters<br />
by Jürgen Peters<br />
In seinem Buch Der Messias legt Diether Lauenstein eine<br />
siebenstufige Erkenntnisfolge nach Plato vor (Lauenstein<br />
1972, S. 23 ff.). In dem vorliegenden Beitrag soll diese Einteilung<br />
in methodischer Hinsicht dazu dienen, die Entwicklung<br />
pädagogischer Beziehungen zu betrachten.<br />
Platos siebenstufige Erkenntnis vollzieht sich Lauenstein<br />
zufolge in den folgenden Schritten:<br />
In his book The Messiah, Diether Lauenstein presents Plato’s<br />
seven-step epistemological sequence (1972, p. 23 ff.).<br />
This paper breaks down the sequence methodically to<br />
help us understand the development of pedagogical relationships.<br />
According to Lauenstein, Plato’s seven steps toward understanding<br />
are as follows:<br />
• Die Sinneswahrnehmung (aísthesis)<br />
• Der Name (ónoma)<br />
• Die Vorstellung oder die Meinung (dóxa)<br />
• Der definierte Begriff (lógos)<br />
• Das zutreffende Bild (eídolon) –<br />
und in Platos Dialogen (der Mythos)<br />
• Die Dialektik oder das vielseitige<br />
Fragen und Antworten in guter Absicht (Dialektik)<br />
• Die Sache selbst, welche sich der Einsicht nur in vielen<br />
Anläufen erschliesst und zu der die Sprache als<br />
ohnmächtiges Instrument nur wie ein Wink hinführt<br />
(Wesensbegegnung).<br />
• Sensory perception (aísthesis)<br />
• Name (ónoma)<br />
• Imagination, idea or opinion (dóxa)<br />
• Defined concept (lógos)<br />
• True image (eídolon) – and in Plato’s Dialogues (mythos)<br />
• Dialectic, or many-sided questioning and answering<br />
in good faith (dialectic)<br />
• The thing itself, which is only revealed to our insight<br />
with repeated attempts, and at which language, a<br />
weak instrument, can only hint (Encountering the<br />
true essence).<br />
Es fällt auf, dass sich hier bild- und worthafte Erfahrungen<br />
abwechseln, bis die letzte Stufe schliesslich in eine bildund<br />
wortlose Sphäre führt.<br />
Ein erster Zugang zu dieser Stufenfolge kann durch die<br />
Betrachtung einer Liebesbeziehung gegeben werden.<br />
Wenn man Gestalt oder Gesicht des oder der Geliebten<br />
zum ersten Mal sieht und man wie gebannt ist von diesem<br />
Eindruck, dann bewegt man sich im Feld der aísthesis.<br />
Ein wenig später erfährt man den Namen des Gegenüber<br />
(ónoma). Den Namen des oder der Geliebten auszusprechen<br />
ist mehr als eine blosse Bezeichnung, in dem Namen<br />
ist zugleich auch das Wesen ahnungsweise spürbar. Mit<br />
dem Bereich der Vorstellung (dóxa) sind wir in der Regel<br />
gut vertraut: Wir können nicht aufhören, an ihn oder<br />
sie zu denken und tun dies meist dadurch, dass wir Vorstellungen<br />
bilden. Die Stufe des lógos ist dagegen schon<br />
anspruchsvoller. Durch einen starren Begriff lässt sich si-<br />
It is interesting to note that image-based and language-based<br />
experiences alternate in these steps, until the last step<br />
finally leads to a word-less and image-less sphere.<br />
We can see this sequence in the example of a romantic<br />
relationship. The first time we see a beloved and are as<br />
if captivated by our impression, we are in the sphere of<br />
aísthesis. Soon after, we learn the name of this person<br />
(ónoma). Pronouncing the name of our beloved is more<br />
than a simple designation: In the name, we can sense something<br />
of the essence of our beloved. Most of us are very<br />
familiar with the realm of imagination or idea (doxa): We<br />
cannot stop thinking about the person and we usually do<br />
this by forming ideas and imaginations. The stage of ló-<br />
4<br />
Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>
Jürgen Peters hat Mathematik und Pädagogik studiert und<br />
als Oberstufenlehrer für Mathematik und Physik an mehreren<br />
Waldorfschulen unterrichtet. Anschliessend war er in<br />
Deutschland und den USA über viele Jahre in der Lehrerausbildung<br />
tätig. 2012 erfolgte eine Promotion zu dem Thema<br />
Resilienz und individuelle Verhaltensmuster. Seit 2013 ist<br />
er als Lehrkraft für besondere Aufgaben im Fachbereich<br />
Bildungswissenschaft der Alanus Hochschule in Forschung<br />
und Lehre tätig. (Kontakt: juergen.peters@alanus.edu)<br />
Jürgen Peters studied mathematics and education<br />
and taught mathematics and physics at several<br />
Waldorf schools. He then worked in teacher training<br />
in Germany and the USA for many years. In<br />
2012, he completed a doctorate on the topic of<br />
resilience and individual behavior patterns. Since<br />
2013, he has been working as a lecturer in the Department<br />
of Educational Science at Alanus University<br />
in research and teaching.<br />
(Contact: juergen.peters@alanus.edu)<br />
Aísthesis has to do with unfiltered perception that is not<br />
yet dampened by any habitual thoughts like «I recognize<br />
this» or «this is that» or «this is Hubert». In this pure perception<br />
there is always something that we do not yet know<br />
– at least not in this moment – and that has not yet been<br />
assigned a concept or solidified into an idea. In everyday<br />
life, we become aware of aísthesis when, in the face of an<br />
unusual experience – for example, an overwhelming natu-<br />
5<br />
cher kein menschliches Wesen erfassen, aber wie verhält<br />
es sich mit einem lebendigen Begriff? Dies wäre ein Begriff,<br />
der dynamisch ist und der sich wie durch die gesamte<br />
Biographie eines Menschen hindurchzieht. Wenn man<br />
imstande ist, derartige Begriffe zu bilden, vertieft sich das<br />
Verständnis. Danach kommen wir in den Bereich des Mythos:<br />
Könnten wir einen Mythos über den Geliebten oder<br />
die Geliebte schreiben, der das Wesen dieses Menschen<br />
ganz erfasst und dies schliesslich in ein Bild verdichten?<br />
Welches Gemälde würde entstehen, wenn sich darin das<br />
Wesen der geliebten Person Ausdruck verschaffen wollte?<br />
Dieser bildhaften Sphäre schliesst sich wiederum ein worthafter<br />
Bereich an. Wohlmeinende Fragen werden gestellt<br />
und rückhaltlose Antworten gegeben. Wir begeben uns<br />
auf die Reise einer Erkundung des eigenen Wesens in einer<br />
gemeinsame Sphäre des Austauschs. Auch die Fragen<br />
und Antworten, die uns das Leben stellt, gehören dazu:<br />
Können wir erahnen, wie die geliebte Person sich bei einer<br />
Herausforderung verhalten würde? Schliesslich geschieht<br />
in der siebten Stufe eine Wesensbegegnung, Erfahrungen<br />
von Nähe und Verbundenheit ohne Worte und Bilder. Dieser<br />
Siebenschritt wird in der folgenden Betrachtung auf<br />
die pädagogische Beziehung bezogen.<br />
Aísthesis<br />
Aísthesis bezeichnet die ungefilterte Wahrnehmung, die<br />
noch durch keine bekannten Vorstellungen wie «das kenne<br />
ich schon», «das ist dies» oder «das ist Hubert» abgedämpft<br />
ist. In dieser reinen Wahrnehmung ist immer etwas,<br />
das man noch nicht kennt – jedenfalls nicht in diesem<br />
Moment – und das noch mit keinem Begriff belegt und<br />
zu einer Vorstellung geronnen ist. Im Alltag werden wir<br />
der aísthesis gewahr, wenn angesichts einer ungewöhnlichen<br />
Erfahrung – zum Beispiel einer überwältigenden<br />
Naturerscheinung – unser Verstand plötzlich stillsteht und<br />
wir ganz eins werden mit dem Wahrnehmungsstrom, der<br />
dynamischen Charakter besitzt. Die Label-Schnellfeuerka-<br />
gos, on the other hand, is more challenging. Obviously, no<br />
human being can be comprehended with a rigid concept,<br />
but what about a living concept? This would be a concept<br />
that is dynamic and that permeates a person’s entire biography.<br />
If we are able to form this kind of concept, we<br />
deepen our understanding. Then we come to the realm of<br />
mythos: Could we write a story about our beloved that encompasses<br />
the essence of this person and then condense<br />
it into an image? What kind of painting would be created if<br />
our beloved’s essence were to be expressed within it? This<br />
image-based stage is followed again by a language-based<br />
stage. Well-intentioned questions are asked and wholly<br />
candid answers are given. We embark on a journey of selfdiscovery<br />
in a space of mutual exchange. The questions<br />
and answers that life asks us and gives us are also a part of<br />
this: Can we intuit how our beloved person would behave<br />
in the face of a challenge? Finally, in the seventh stage, there<br />
is a meeting of our true beings; we experience closeness<br />
and connection without words or images. Below, we will<br />
consider this seven-stage process as it relates to pedagogical<br />
relationships.<br />
Aísthesis
none unseres Verstandes steht plötzlich still und wir befinden<br />
uns plötzlich in einem energetischen Zusammenhang.<br />
Um diesen Unterschied bewusst zu erleben, kann die folgende<br />
Übung hilfreich sein: Man gehe zweimal für fünf<br />
bis acht Minuten durch von Menschen geschaffene Räume<br />
und durch die Natur. Beim ersten Mal versuche man, jeden<br />
Gegenstand, auf den zufällig der Blick fällt, innerlich mit<br />
einem Begriff oder Namen zu belegen, ohne diesen laut<br />
auszusprechen (also: Tasse, Tisch, Stuhl, Vorhang, Pflanze,<br />
Katze usw.) In der zweiten Runde durch den gleichen<br />
Parcours versuche man die Belegung mit Vorstellungen<br />
und Begriffen bewusst zu unterdrücken. Teilnehmende<br />
von Seminaren berichten regelmässig, dass die erste Runde<br />
in der Regel als anstrengend erlebt wird und dass in der<br />
zweiten die Wahrnehmung entspannter ist und lebendiger<br />
erlebt wird.<br />
Welche Bedeutung hat dies nun in einer pädagogischen<br />
Beziehung zu den uns Anvertrauten? Sehen wir noch richtig<br />
hin, wenn wir glauben, einen Menschen zu «kennen»?<br />
An einem Menschen, mit dem man sehr vertraut ist, können<br />
wir die Stimmungslage ohne weiteres spüren. Bei einer<br />
grösseren Gruppe von Jugendlichen kann dies bereits<br />
eine Herausforderung sein. Mir ist als Klassenbetreuer<br />
einmal das Folgende passiert: Der Hauptunterricht verlief<br />
aus meiner Sicht unauffällig, aber am Nachmittag sprach<br />
mich der Religionslehrer an, der die letzte Stunde in meiner<br />
Klasse unterrichtet hatte und berichtete mir, dass ein<br />
Schüler aus der Klasse am Morgen an der Bushaltestelle<br />
überfallen worden sei. Jemand hatte ihm ein Messer an<br />
den Hals gehalten und sein Geld gefordert. Hätte ich das<br />
nicht bemerken müssen? Auch wenn die Gruppe aus mehr<br />
als 40 Schülerinnen und Schülern besteht, sollte dies<br />
möglich sein, wenn wir über eine wache, freie – von festen<br />
Vorstellungen freie – Aufmerksamkeit verfügen. Zeichenübungen<br />
können dabei helfen, Bewegung in die eigenen<br />
Fixierungen zu bringen. Man versuche zu Hause die Hände<br />
eines Schülers zu zeichnen – um zu bemerken, dass<br />
man keine Ahnung hat, wie diese wirklich aussehen. Auch<br />
wenn die Übung völlig scheitert, am folgenden Tag wird<br />
man die Hände sehen, vielleicht zum ersten Mal.<br />
Die folgende Begebenheit führt bereits über zur zweiten<br />
platonischen Stufe, ónoma, betrifft aber auch noch den<br />
Wahrnehmungsaspekt. In einer anderen Klasse hatte ich<br />
einmal zwei eineiige Zwillinge zu unterrichten, Barbara<br />
und Marlene 1, die man äusserlich nicht unterscheiden<br />
konnte, zumal sie sich auch gleich kleideten und ihre Kleidung<br />
teilweise sogar austauschten. Eine erfolgversprechende<br />
Strategie bestand lehrerseits darin, zunächst in einen<br />
kurzen Dialog zu gehen, denn vom Wesen her waren<br />
ral phenomenon – our mind suddenly stops and we become<br />
completely one with the stream of perception, which<br />
has a dynamic character. Our mind’s rapid-fire labelling<br />
gun is abruptly quiet and we suddenly find ourselves in an<br />
energetic context.<br />
If we want to experience this contrast consciously, the following<br />
exercise can be helpful: Walk twice, for five to eight<br />
minutes, through human-made spaces and then through<br />
nature. The first time, try to inwardly assign a concept or<br />
name to each object your gaze falls on, without saying it<br />
out loud (cup, table, chair, curtain, plant, cat, etc.). In the<br />
second walk-through of the same spaces, try to consciously<br />
refrain from attaching ideas and concepts to what you<br />
see. Seminar participants regularly report feeling stressed<br />
during the first round and perceiving in a more relaxed<br />
and lively manner in the second walk-through.<br />
What is the significance of this in a pedagogical relationship<br />
with someone entrusted to us? Are we really looking<br />
when we believe we «aknow» a person? We are able to easily<br />
sense the mood of one person we are very familiar with.<br />
But with a larger group of adolescents, this can be challenging.<br />
This happened to me once as a class advisor: As far<br />
as I was concerned, our main lesson proceeded as usual,<br />
but that afternoon the religion teacher told me that one of<br />
the students in my class had been mugged that morning<br />
at the bus stop. Someone had held a knife to his throat and<br />
demanded his money. Shouldn’t I have noticed this? Even<br />
in a group of over 40 students, it should be possible if we<br />
are awake, free from fixed ideas, and attentive. Drawing<br />
exercises can help bring movement into our fixed ideas.<br />
If we try, at home, to draw one of our students’ hands, we<br />
will likely realize that we have no idea what they actually<br />
look like. But even if the exercise is a complete failure, the<br />
next day we will see those hands, perhaps for the first time.<br />
This next incident begins to lead us to the second platonic<br />
stage, ónoma, but also still has to do with perception: In<br />
another class I once had identical twins, Barbara and Marlene<br />
1 , who could not be told apart outwardly, especially as<br />
they dressed alike and even shared clothing. A promising<br />
strategy on the part of the teacher was to start with a short<br />
dialogue, because these two young ladies were very different<br />
in character. After two sentences, we could usually tell<br />
which twin we were speaking with and use the right name,<br />
which they both very much appreciated. It was almost<br />
as if they were playing a game in hopes of being «seen»<br />
as different people. One day, Barbara appeared wearing<br />
6<br />
Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>
On the level of aísthesis, every name has its own sound<br />
quality. Here, something musical comes into play – a music<br />
of speech sounds that are meant to fit the being to whom<br />
the name applies. When we say a name out loud, we are addressing<br />
something deeper in a person. After an operation<br />
I had as a child, the doctors called my first name to pull me<br />
out of anesthesia. And what layer is called to with the cry,<br />
«Lazarus, come out!» – a cry that is said to have raised the<br />
dead? Pronouncing a name speaks to something deeper<br />
in the personality of the person being addressed. Are we<br />
aware of this when we call the names of our students?<br />
A name can also act as the key to a guarded secret, as in the<br />
case of Rumpelstiltskin. Only the spoken name can release<br />
the spell. If the name isn’t said with certainty, the associated<br />
invocative power is lacking. This invocation can take<br />
on a magical character, as in the case of the healing of the<br />
Gerasene man possessed by demons: «My name is Legion,<br />
for we are many» (Mark 5:9). First, the numinous multiplicity<br />
of the intruding demons must be condensed into one<br />
name, which can then be used to address them and bind<br />
them with a healing power. A name is thus also closely<br />
connected with the mystery of the spoken (true) word.<br />
In addition to calling a name out loud [German: rufen], there<br />
is another meaning we attribute to the word «name»: reputation<br />
[German: Ruf]. Someone who has «made a name<br />
for themselves» has a reputation, which surrounds them<br />
like a cloak. What does the sound of a student’s name evoke<br />
in us? Are we able to perceive the «reputation» behind<br />
it, which is perhaps still germinal and may develop later?<br />
Perhaps, then, we might be able to sense a person’s «true<br />
name», which doesn’t appear phonetically, but which reveals<br />
a human being’s depth. Adam was tasked with na-<br />
7<br />
diese beiden jungen Damen sehr verschieden. Nach zwei<br />
Sätzen wusste man dann meistens, mit wem man sprach<br />
und konnte auch den richtigen Namen aussprechen, was<br />
die Beiden sehr zu schätzten wussten. Man könnte fast<br />
meinen, sie hätten es bei diesem Spiel nur darauf angelegt<br />
in ihrer Person «gesehen» zu werden. Eines Tages erschien<br />
Barbara mit einer Brille – und das ganze Kollegium atmete<br />
auf! Denn jetzt war es ja klar: B wie Barbara und Brille. Eine<br />
riskante Reduktion, der dann auch eine Kollegin zum Opfer<br />
fiel, als sie Barbara zum Unterricht mit «Guten Morgen,<br />
Brille» begrüsste. Aber in gewisser Weise unterläuft uns<br />
allen fortwährend dieses Missgeschick, wenn wir unsere<br />
Wahrnehmungen zu schnell mit vermeintlich sicheren<br />
Vorstellungsinhalten überdecken. Um die Geschichte abzuschliessen:<br />
Einige Wochen später wurde die Zwillingsschwester<br />
dieses Spiels müde und erschien fortan ebenfalls<br />
mit einer Brille – die natürlich identisch war –, obwohl<br />
sie gar keine Sehhilfe benötigte.<br />
Ónoma<br />
Unter dem Aspekt der Aísthesis hat jeder Name seine<br />
eigene Klangqualität. Hier kommt etwas Musikalisches<br />
ins Spiel, eine Lautmusik, die dem Wesen angemessen<br />
sein sollte, dem der Name zugeschrieben wird. Mit dem<br />
lauten Aussprechen des Namens wird etwas Tieferes im<br />
Menschen angesprochen. Bei einer frühen Operation im<br />
Kindesalter riefen mich die Ärzte nach der OP beim Vornamen,<br />
um mich aus der Narkose zu holen. Und welche<br />
Schicht wird gar mit dem Ruf «Lazarus, komm heraus!»<br />
angerufen, der sprichwörtlich von den Toten erweckt wird.<br />
Das Aussprechen des Namens spricht etwas Tiefes in der<br />
Persönlichkeit des Angesprochenen an. Haben wir dies im<br />
Bewusstsein, wenn wir die Namen unserer Schülerinnen<br />
und Schüler aussprechen?<br />
Der Name kann daher auch wie ein Schlüssel zu einem<br />
gehüteten Geheimnis wirken, wie es bei Rumpelstilzchen<br />
der Fall ist. Erst das Aussprechen löst den Zauber. Ist der<br />
Name nicht bekannt, dann fehlt auch die damit verbundene<br />
Macht der Anrufung. Diese Anrufung kann magischen<br />
Charakter annehmen, wie bei der Heilung des Besessenen<br />
von Gerasa: «Mein Name ist Legion, denn unserer sind<br />
viele.» (Markus 5,9). Erst muss die numinose Vielheit der<br />
eingedrungenen Dämonen auf einen Namen verdichtet<br />
werden, worüber dann das Ansprechen und in diesem Beispiele<br />
eine heilende Macht ausgeübt werden kann. Der<br />
Name hängt somit auch mit dem Geheimnis des gesprochenen<br />
(wahren) Wortes eng zusammen.<br />
Aus dem lautlichen Ruf des Namens kann auch ein weiterer<br />
Ruf entstehen. Wenn jemand sich «einen Namen gemacht<br />
hat», dann besitzt er einen Ruf, der ihn umgibt wie<br />
glasses [German: Brille], and the whole faculty breathed a<br />
sigh of relief! Now it was always clear: B for Barbara and<br />
Brille (glasses). A risky reduction that one of my colleagues<br />
fell victim to when she greeted Barbara one morning with,<br />
«Good morning, Brille!» But in a way, we are all making this<br />
mistake all of the time, if we overlay our perceptions too<br />
quickly with supposedly safe ideas or opinions. To finish<br />
the story: Several weeks later the other twin got tired of<br />
this game and appeared from then on with identical glasses,<br />
even though she didn’t need them.<br />
Ónoma
ein schützender Mantel. Was ruft der Klang des Namens<br />
einer Schülerin oder eines Schülers in uns hervor? Sind wir<br />
in der Lage, den dahinterstehenden, vielleicht noch keimhaften<br />
«Ruf» wahrzunehmen, der sich vielleicht später erst<br />
entwickeln wird? Vielleicht können wir dann den «wahren<br />
Namen» eines Menschen erahnen, der nicht lautlich in Erscheinung<br />
tritt, der aber das Tiefere eines Menschen offenbart.<br />
Adam hatte im Paradies den Auftrag bekommen,<br />
allen Tieren Namen zu geben und man kann sich nicht gut<br />
vorstellen, dass er hier nur Bezeichnungen vorgenommen<br />
hat. Vielmehr durfte er dies tun, weil dem Menschen die<br />
Kraft gegeben war, mit einem Wort ein Wesen zu erfassen.<br />
Wenn wir etwas «beim Namen nennen» dann haben wir<br />
den entscheidenden Punkt getroffen. Diesen können wir<br />
ebenso verfehlen wie auch treffen, wenn wir einen Jugendlichen<br />
auf etwas ansprechen, das ihn oder uns betroffen<br />
hat. Auch hierbei müssen wir den richtigen Ton anschlagen,<br />
was wiederum zeigt, wie sehr die Sphäre des Namens<br />
auch mit der Welt der Klänge und schliesslich mit der Musik<br />
zu tun hat.<br />
Dóxa<br />
Haben wir uns erst einmal auf der Grundlage einer Erfahrung<br />
eine Meinung von einer Sache oder einem Menschen<br />
gebildet, dann kann es schwierig werden, diese wieder abzulegen,<br />
wenn sie nicht mehr stimmig ist. Die eigenen Vorstellungen<br />
flexibel und beweglich zu halten, zählt sicher<br />
zu den zentralen Aufgaben bei der Erziehung und Begleitung<br />
von Kindern und Jugendlichen. Die Pflanze bietet uns<br />
ein Übungsfeld, auf dem wir eine innere Anschauung von<br />
einer Metamorphose gewinnen können. Die Pflanze kann<br />
somit als Zeitgestalt begriffen werden und war für Goethe<br />
als solche auch in der Vorstellung dynamisch präsent:<br />
«Wenn ich mein Auge schloss und den Kopf senkte und<br />
mir die Blume genau im Zentrum meines Sehorgans vorstellte,<br />
entsprangen diesem Herzen neue Pflanzen, die<br />
farbige Blütenblätter und grüne Blätter hatten. … Ich<br />
konnte die Produktion nicht anhalten, die solange anhielt,<br />
wie meine Kontemplation andauerte, sich weder<br />
beschleunigend noch verzögernd.» (Goethe, S. 273)<br />
Auch der Mensch entwickelt sich im Laufe der Biographie<br />
in Form einer Zeitgestalt, die jedoch nicht von vornherein<br />
determiniert ist. Daher wäre ein direkter Vergleich nicht<br />
sinnvoll. Aber genauso, wie in der Eichel das Potential zum<br />
ausgewachsenen Baum vorhanden ist, lassen sich auch im<br />
heranwachsenden Menschen Potentiale entdecken. Wie<br />
können wir uns schulen, diese besser wahrzunehmen?<br />
Wenn unsere Intuition uns dabei nicht hilft, gibt es noch<br />
ming all of the animals in Paradise, and it is hard to imagine<br />
that he simply made random designations. Rather, he<br />
was able to do this because human beings had been given<br />
the power to capture the essence of a being with a word.<br />
When we «call something by its name», we have reached<br />
the decisive point. This point is just as easy to miss as to<br />
hit when we speak to a young person about something<br />
that happened to us or them. It is important to find the<br />
right «tone», which in turn shows how closely the sphere<br />
of naming is related to the world of sounds and ultimately<br />
to music.<br />
Dóxa<br />
Once we have formed an opinion of a thing or a person based<br />
on an experience, it can be difficult to discard it if it is<br />
no longer valid. Keeping our own ideas flexible and agile is<br />
certainly one of our central tasks in educating and guiding<br />
children and adolescents. Plants offer us the opportunity<br />
to gain insight into metamorphosis. Therefore, plants can<br />
be understood as temporal beings and, as such, were dynamically<br />
present in Goethe’s imagination:<br />
«When I closed my eyes, lowered my head and imagined<br />
the flower exactly in the center of my vision, new plants<br />
sprang from this heart, with colorful petals and green<br />
leaves. … I couldn’t stop this generation, which lasted as<br />
long as my concentration held, neither speeding up nor<br />
slowing down.» (Goethe, p. 273)<br />
Human beings also develop throughout our biographies<br />
as temporal entities, but our development is not predetermined.<br />
A direct comparison to plants would therefore<br />
would therefore not be meaningful. But just as the potential<br />
for a full-grown tree is present in an acorn, we can also<br />
discover potential in growing human beings. How can we<br />
train ourselves to better perceive it?<br />
If our intuition isn’t helping, there is another possibility:<br />
to give the young people access to the world and closely<br />
observe how they react to it. This requires careful observation<br />
and complete attention, as their reactions can be<br />
small and subtle and easy to miss. A classic example is one<br />
well known to class teachers: Put two students – possibly<br />
with the same temperament – together, and it is almost<br />
impossible to predict what will happen. It is essential that<br />
we accompany this with close observation (aísthesis); otherwise,<br />
these moments will pass unnoticed. The students<br />
8<br />
Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>
eine andere Möglichkeit: den Jugendlichen Weltzugänge<br />
ermöglichen und dabei genau beobachten, wie sie darauf<br />
reagieren. Hier ist unsere exakte Beobachtung und volle<br />
Aufmerksamkeit gefragt, denn die Reaktion kann klein<br />
und unscheinbar ausfallen und wir können leicht darüber<br />
hinwegsehen. Der Klassiker in dieser Hinsicht ist eine<br />
Massnahme, die Lehrkräften wohlbekannt ist: Man setzt<br />
zwei Schüler zusammen – eventuell mit dem gleichen<br />
Temperament – und es ist nahezu unvorhersehbar, was<br />
geschehen wird. Dies muss allerdings von einer genauen<br />
Beobachtung (Aísthesis) begleitet werden, sonst werden<br />
diese Momente unbemerkt vorüber gehen. Der Schüler ändert<br />
plötzlich sein Verhalten und wir sehen ihn zugleich<br />
anders, weil wir unsere Dóxa erweitert haben.<br />
Ich hatte einmal einen Schüler mit ADHS-Diagnose in meiner<br />
Klasse, der während des Unterrichts ständig mit seinen<br />
Nachbarn redete und nebenbei immer noch mit anderen<br />
Dingen beschäftigt war – er konnte auch stets meine letzten<br />
drei Sätze wiederholen, wenn ich ihn aufrief. Es war für mich<br />
eine grosse pädagogische Herausforderung, ihn sinnvoll<br />
in den Unterricht einzubinden. Als wir die Arbeit an einem<br />
Klassenspiel begannen, kam dieser Schüler nach der ersten<br />
Besprechung zu mir und sagte, dass er gern die Beleuchtung<br />
übernehmen würde. In den nächsten Wochen zeigte er Fähigkeiten,<br />
die ich bisher an ihm nicht wahrgenommen hatte:<br />
Er war mit seiner Aufmerksamkeit überall präsent und täglich,<br />
am Ende der Proben, wenn alle gegangen waren, kam<br />
er zu mir und wies mich auf technische Missstände hin, die<br />
wir beheben müssten: Eine defekte Lampe, eine Stolperfalle<br />
hinter der Bühne, ein Wackelkontakt im Sicherungskasten…<br />
So ging es fast jeden Tag und für mich wurde dieser junge<br />
Mann ein verantwortungsvoller und zuverlässiger Mitarbeiter,<br />
weil ich mich voll und ganz auf ihn verlassen konnte<br />
und er Dinge wahrnahm, die mir völlig entgingen. Diese Erfahrung<br />
veränderte mein Gesamtbild – meine Dóxa - über<br />
diesen Schüler vollständig und dies wiederum veränderte<br />
auch unser Verhältnis zueinander. In den folgenden Wochen<br />
entwickelten wir gemeinsame Absprachen unser beider<br />
Verhalten betreffend – welche Unterstützung er von mir<br />
brauchte, um besser in den Unterricht einsteigen zu können<br />
und welche Verhaltensweisen er in bestimmten Phasen des<br />
Unterrichts nach Möglichkeit unterlassen sollte. Diese Verabredungen<br />
wirkten sich nachhaltig positiv aus und wurden<br />
auch bei Bedarf neu angepasst. Diese Erfahrung hatte meine<br />
festgefahrene Dóxa aufgebrochen und wieder in eine dynamische<br />
verwandelt – was letztendlich die Lehrer-Schüler-Beziehung<br />
verändert hat.<br />
Wenn wir neue Weltbezüge für Schülerinnen und Schüler<br />
ermöglichen, haben auch wir selbst die Möglichkeit, eine<br />
neue Erfahrung zu machen, vorausgesetzt, wir sind aufmerksam<br />
genug. Wenn man will, kann man dies auch zu<br />
einer Übung machen – in Anlehnung an die Zeichen-Übung<br />
will suddenly change their behavior, and we will also see<br />
them differently, because we have expanded our dóxa.<br />
I once had a student with an ADHD diagnosis in my class,<br />
who constantly talked with his neighbors during class and<br />
was always busy doing other things at the same time. He<br />
was also always able to repeat my last three sentences<br />
when I called on him. It was quite a pedagogical challenge<br />
for me to integrate him into the lessons in a meaningful<br />
way. When we began to work on our class play, this student<br />
came to me and said that he would like to take on the<br />
stage lighting. In the following weeks, he showed abilities<br />
that I had not noticed in him before: He was present and<br />
aware of every aspect of the rehearsals, and at the end of<br />
rehearsal, after everyone else had left, he would come to<br />
me and draw my attention to technical issues that needed<br />
to be fixed: a broken light, a tripping hazard backstage, a<br />
loose connection in the fuse box … This went on almost<br />
every day and the young man became a responsible and<br />
reliable collaborator. I was able to rely on him completely,<br />
and he noticed things that completely escaped me. This<br />
experience changed my overall picture – my doxa – of this<br />
student entirely, which in turn changed our relationship.<br />
In the weeks that followed, we developed mutual agreements<br />
about how we should both behave – what support<br />
he needed from me in order to better connect with the lessons,<br />
and what behavior he should refrain from in certain<br />
sections of the class, if possible. These agreements had a<br />
lasting positive effect and were also readjusted as needed.<br />
This experience had shaken up my entrenched dóxa and<br />
made it dynamic again, which also changed our teacherstudent<br />
relationship.<br />
When we allow our students to form new relationships to<br />
the world, we are also allowing ourselves to have new experiences,<br />
as long as we are paying enough attention. This<br />
can also be made into an exercise – similar to the drawing<br />
exercise for aísthesis – in which we predict behavior and<br />
then reflect, afterward, on whether, to what extent and<br />
why the prediction was wrong.<br />
Lógos<br />
Describing a human being with a single concept – no matter<br />
how complex – is certainly already a reduction. But lógos,<br />
as a creative force, may come much closer to the essence<br />
of a person if we ask ourselves, «Why is this person here?<br />
9
zur Aísthesis, indem man vorher für sich eine Prognose zu<br />
dem Verhalten entwickelt und dann nachträglich darüber<br />
reflektiert, ob, wieweit und aus welchem Grund die Prognose<br />
falsch war.<br />
Lógos<br />
Einen Menschen durch einen Begriff – und sei er noch so<br />
komplex – zu beschreiben, ist sicherlich bereits eine Reduktion.<br />
Aber der Lógos im Sinne einer schöpferischen<br />
Kraft kommt dem Wesen eines Menschen vielleicht schon<br />
näher, wenn wir uns fragen: «Warum ist dieser Mensch<br />
hier? Was will er erschaffen? Was will er in diesem Leben<br />
lernen?» Wenn wir uns die hierbei entstehende Idee im Sinne<br />
des Beuys-Schülers Johannes Stüttgen 2 mehr als Energie<br />
denn als eingefrorenen Begriff erfahren, dann kommen<br />
wir den treibenden Kräften in der Biographie näher.<br />
Schliesslich lässt sich dieses Ziel oder dieser Sinn wieder<br />
in ein Wort verdichten. Man kann damit zunächst bei sich<br />
selbst anfangen und sich fragen, was die zentralen Anliegen<br />
im eigenen Leben sind: «Welches Thema zieht sich<br />
wie ein roter Faden durch die bedeutungsvollen Ereignisse<br />
in unserem Leben? Warum bin ich hier? Was suche ich? Bei<br />
welchem einen Wort verspüren wir dabei die grösste Resonanz?»<br />
Diese Verdichtung kann uns helfen, bei zukünftigen<br />
Entscheidungen abzuspüren, welche Konsequenzen<br />
ein Entschluss auf unser zentrales Lebensthema haben<br />
könnte.<br />
Wenn wir dieses eine, zentrale Thema bei einem jugendlichen<br />
Menschen finden wollen, brauchen wir eine fliessende<br />
bewegliche Dóxa-Kultur. Unsere Vorstellungen, die<br />
wir zu diesem Menschen gebildet haben, müssen so beweglich<br />
sein, dass sie auch offen sind für zukünftige Entwicklungen.<br />
Unserer kontinuierlichen Beobachtung können<br />
wir stets weitere Hinweise entnehmen, worum es für<br />
diesen Menschen in seinem Leben gehen könnte. Der hier<br />
verwendete Konjunktiv soll unterstreichen, dass letztendlich<br />
die weitere Entwicklung von den freien Entscheidungen<br />
des Individuums bestimmt wird, sofern diese Freiheit<br />
erreicht wird. Wir üben diese Verdichtung auf ein zentrales<br />
Thema also in aller Vorläufigkeit, dennoch macht es einen<br />
Unterschied, ob wir zu einem Jugendlichen ein vorläufiges<br />
zentrales Thema erspüren oder nicht. Denn dies wirkt<br />
wie eine Hypothese, die modifiziert oder auch wiederlegt<br />
werden kann. Machen wir uns das zentrale Thema nicht<br />
bewusst, dann fallen uns die widersprüchlichen Wahrnehmungen<br />
dazu nicht auf und wir lernen nichts dazu. Wir<br />
entwickeln dann keinen individuellen, lebendigen Lógos<br />
für diese Person.<br />
What do they want to accomplish? What do they want to<br />
learn in this life?» If we experience the resulting idea as<br />
energy rather than as a frozen concept, as described by<br />
Beuys’ student Johannes Stüttgen, we can more closely approach<br />
the driving forces in the person’s biography.<br />
Ultimately, this goal or meaning can be condensed back<br />
into one word. We can begin by asking ourselves what the<br />
central themes are in our own life: «What theme runs like a<br />
common thread through the meaningful events in my life?<br />
Why am I here? What am I looking for? What one word resonates<br />
most strongly with me?» Condensing in this way<br />
can help us sense the consequences a potential decision<br />
might have on the central theme of our life.<br />
If we want to find this central theme in a young person’s<br />
life, we need a fluid, flexible dóxa culture. The ideas we<br />
have about this person must be flexible enough that they<br />
are open to future developments. Continuous observation<br />
can provide us with further clues as to what this human<br />
being’s life might be about. The subjunctive mood used<br />
here is intended to emphasize that, ultimately, further development<br />
is determined by the individual’s free decisions,<br />
provided this freedom is achieved. So we practice this<br />
condensing into a central theme completely provisionally.<br />
But whether we sense a provisional central theme for a<br />
young person or not makes a difference, because it works<br />
like a hypothesis that can be modified or even refuted. If<br />
we do not become aware of this central theme, then we<br />
also don’t notice contradictory perceptions and we don’t<br />
learn anything. Then, we cannot develop an individual, dynamic<br />
lógos for this person.<br />
10<br />
Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>
Eídolon-Mythos<br />
Wir Menschen lieben Geschichten. Sonst würden wir keinen<br />
Erzählungen lauschen oder serienweise Filme anschauen.<br />
Ganz besonders lieben wir aber die authentische Geschichte,<br />
wenn jemand eine Erfahrung mit uns teilt – dann wird<br />
sie auch Teil unserer Welterfahrung. Ein Mythos ist wie ein<br />
Flussbett, in dem die Energie eines gesamten Kulturkreises<br />
fliesst. In diesen kann ich als Individuum eintauchen und<br />
Katharsis erfahren, wenn ich spüre, dass meine persönliche<br />
Erfahrung verbunden ist mit einer allgemeinen menschlichen<br />
Erfahrung, die ich mit vielen anderen teile.<br />
Können wir zu einem Menschen, den wir lieben oder einem<br />
Heranwachsenden, der uns anvertraut ist, einen Mythos<br />
schaffen? Ein Narrativ, das so sprechend ist, dass es das<br />
Wesen des Menschen beschreibt, so wie Prometheus durch<br />
den nach ihm benannten Mythos charakterisiert ist?<br />
Wir haben im Kollegenkreis einmal an einer Charakterisierung<br />
der Oberstufenklassen von der 9. bis 12. gearbeitet,<br />
und zwar unabhängig von einer konkreten einzelnen<br />
Klasse, mit dem Ziel, eine Art Urbild für jede Klassenstufe<br />
zu finden. So könnte man auch für jede Klassenstufe<br />
nach einem passenden Mythos suchen. Ein Jugendlicher<br />
in der 9. Klasse etwa hat eine Affinität zur Prometheus-Gestalt.<br />
Wie der «Knabe, der Disteln köpft» (Goethe 1982),<br />
erprobt er seine Macht gegen jedwede Form von Obrigkeit.<br />
Er ist im Prozess, sein eigenes Feuer zu entdecken<br />
und das zu finden, wofür er brennt. Er will Autonomie erlangen<br />
– gegenüber Eltern und Lehrkräften. Für die Erprobung<br />
seiner neuen Möglichkeiten nimmt er Nachteile und<br />
Sanktionen in Kauf. Im rhythmischen Teil des Unterrichts<br />
in einer neunten Klasse wurde meiner Erfahrung nach Goethes<br />
Prometheus-Gedicht immer begeistert aufgenommen<br />
und mit Energie rezitiert, obwohl eigentlich zumeist eine<br />
gewisse Goethe-Übersättigung vorlag. Wenn wir also eine<br />
neunte Klasse betreten, können wir an der Tür kurz innehalten<br />
und uns bewusstmachen, zu wem wir gleich sprechen<br />
werden.<br />
Der Jugendliche aus der 10. Klasse gleicht Odysseus. Er entdeckt<br />
sein selbständiges Denken und wird erfinderisch. Rudolf<br />
Steiner weist darauf hin, dass dies die Lebensphase ist,<br />
in der die Intelligenzentwicklung ihren Höhepunkt erreicht,<br />
es fehlt ihr nur die Erfahrung. Im Mathematikunterricht wird<br />
es möglich, in der Gruppenarbeit eigene Beweise entwickeln<br />
zu lassen. Die kreativen Ansätze und ungewöhnlichen Lösungen<br />
der Schülerinnen und Schüler dieser Altersstufe haben<br />
mich immer wieder überrascht. Erfreut stellte ich im<br />
Rahmen eines Sabbaticals an einer Waldorfschule in den<br />
USA fest, dass es dort in der 10. Klasse eine Odysseus-Epoche<br />
gab. Die Schülerinnen und Schüler üben darin unter anderem<br />
Bogenschiessen und fertigen dazu ihren eigenen Bogen<br />
an. Auch im intellektuellen Feld lernen sie, ihr eigenes<br />
Eídolon-mythos<br />
We human beings love stories. Otherwise we wouldn’t<br />
listen to tales or watch serial films or television shows.<br />
But we especially love authentic stories, when someone<br />
shares an experience with us – these become part of our<br />
experience of the world. A myth is like a riverbed in which<br />
the energy of an entire culture flows. As an individual, I<br />
can immerse myself in it and experience catharsis when I<br />
sense that my personal experience is connected with a universal<br />
human experience that I share with many others.<br />
Can we create a mythos for a person we love or a young<br />
person entrusted to our care? A narrative so meaningful<br />
that it describes the essence of the person, as Prometheus<br />
is characterized by his eponymous myth?<br />
Our faculty circle once worked on a characterization of the<br />
high school (9 th through 12 th ) grades, independent of a single,<br />
concrete class, with the goal of finding a kind of archetype<br />
for each grade level. You could also look for a mythos<br />
that fits each grade level. 9th graders, for example, have an<br />
affinity to the figure of Prometheus. Just like the «boy who<br />
beheads thistle» (Goethe 1982), they test their strength<br />
against every form of authority. They are in the process<br />
of discovering their own fire – of finding what lights them<br />
up. They want to gain autonomy from parents and teachers.<br />
They are willing to risk penalties and punishments<br />
for testing their new abilities. In my experience, 9 th graders<br />
have enthusiastically received and recited Goethe’s Prometheus<br />
poem in the rhythmic section of class, despite<br />
a general Goethe overload. So when we enter a 9 th grade<br />
classroom, we might pause at the door and remember who<br />
we are about to speak to.<br />
10 th graders are like Odysseus. They are discovering their<br />
independent thinking and becoming inventive. Rudolf<br />
Steiner points out that this is the phase of life in which<br />
the development of intelligence reaches its peak, but accompanied<br />
by a lack of experience. It is now possible for<br />
students to develop their own mathematical proofs in<br />
groups. The creative approaches and unusual solutions<br />
from students in this age group have always amazed<br />
me. During a sabbatical at a Waldorf school in the USA, I<br />
was delighted to discover that the 10 th grade there has an<br />
Odysseus main lesson block. During this block, the students<br />
practice archery and make their own bows, among<br />
other things. On the intellectual plane, they also learn to<br />
sharpen their tools and to aim at and hit a target. And we<br />
11
Werkzeug zu schärfen, ein Ziel anzuvisieren und zu treffen.<br />
Und wir können uns schliesslich fragen: Worüber würde ich<br />
mit Odysseus sprechen, wenn ich ihn persönlich träfe?<br />
Wenn man morgens in eine 11. Klasse geht, ist die Unruhe<br />
aus der 9. Klasse vollends vergangen. Stille und Introvertiertheit<br />
breiten sich aus. Viele haben bereits einen Führerschein<br />
für einen Motorroller und erscheinen mit Helm<br />
und Schutzkleidung. Manchmal entsteht der Eindruck,<br />
man sei in die Gesellschaft von Rittern eingetreten. Es ist<br />
die Gestalt des Parzivals, die den 11.-Klässlerinnen und<br />
-klässlern am meisten ähnelt. Sinnfragen stehen an der<br />
Tagesordnung. Viele sind bereits durch erste Liebeserfahrungen<br />
und Trennungen hindurchgegangen und werden<br />
sich der Konsequenzen ihrer eigenen Taten bewusst. Zugleich<br />
tritt jedoch auch eine erste Vorahnung des eigenen<br />
beruflichen Schicksals in das Bewusstsein, was gut zu den<br />
Erfahrungen des Berufspraktikums passt, das in der Regel<br />
in dieser Altersstufe erfolgt. Den eigenen Weg finden im<br />
Moment der Bewusstwerdung der eigenen Individualität,<br />
hinein in eine Gesellschaft mit ihren gesetzten Regeln –<br />
das ist die Aufgabe, vor die sich ein 17-jähriger Mensch<br />
gestellt sieht. Und er oder sie muss lernen, die richtigen<br />
Fragen zu stellen, an sich selbst und an die Gesellschaft.<br />
Wenn man den Lehrplan der 12. Klasse betrachtet, dann<br />
taucht ein Thema immer wieder auf: Überblick über das<br />
Ganze. Man kann sich in der Vielfalt verlieren, wenn man<br />
keine für sich stimmigen Zusammenhänge findet. Genau<br />
dies ist die Aufgabe der Lehrlinge zu Sais, so wie Novalis<br />
sie beschreibt (1997), wenn sie in die Natur geschickt werden<br />
und das Gesammelte in Reihen ordnen, so dass ein<br />
höherer Sinn sichtbar wird. Ist diese Fähigkeit genügend<br />
herangereift, sich in der verwirrenden Vielfalt der Welt<br />
zurechtzufinden, werden sie von dem Meister (oder der<br />
Meisterin) fortgeschickt, was heute ja kollektiv mit dem<br />
Schulabschluss geschieht.<br />
Zum Mythos gehört auch das Eídolon, das Bild, das mehr<br />
als tausend Worte sagt, das verdichtet ist und als Orientierung<br />
dienen kann. Wenn wir derartige Mythen oder Bilder<br />
zu Gruppen oder auch Einzelnen im Hintergrund für uns<br />
selbst bewegen, dann können sie uns helfen, die richtige<br />
Ansprache zu finden. Schliesslich würden wir mit Prometheus<br />
anders reden als mit Odysseus. Zu Prometheus<br />
würden wir vielleicht sagen: Ich werde kämpfen – bist du<br />
dabei? Die Frage an Odysseus könnte lauten: Hast du eine<br />
Idee, wie wir das am besten anpacken? Mit Parzival könnten<br />
wir darüber sprechen, ob diese Tat wirklich unsere<br />
eigene ist und keine Übernahme von fremden Werten. Und<br />
die Lehrlinge zu Sais würden uns etwas darüber sagen,<br />
welchen Zusammenhang ihre Taten und Ziele mit dem<br />
grossen Ganzen haben.<br />
can ask ourselves, «What would I talk about with Odysseus<br />
if I met him in person?»<br />
When I enter an 11 th grade class in the morning, the 9 th<br />
grade restlessness is completely gone. Silence and introversion<br />
prevail. Many already have a scooter license and<br />
appear with a helmet and protective clothing. I sometimes<br />
have the impression that I have entered the company of<br />
knights. 11 th graders most closely resemble the figure of<br />
Parzival. Questions of meaning are the order of the day.<br />
Many have already gone through their first experiences of<br />
love and breakups and are becoming aware of the consequences<br />
of their own actions. At the same time, they are<br />
beginning to have inklings of their professional destiny,<br />
which fits in well with the professional internship that is<br />
usually part of the curriculum at this age. Finding their<br />
own way in a society with set rules, at the same moment<br />
they are becoming aware of their own individuality – that<br />
is the task facing the 17-year-old. And they must learn to<br />
ask the right questions, of themselves and of society.<br />
If we look at the 12 th grade syllabus, one theme crops up<br />
again and again: the big picture. It is easy to get lost in the<br />
multiplicity if we cannot find a context that is meaningful<br />
to us. This is exactly the task of the Apprentices at Sais,<br />
as described by Novalis (1997), who are sent out into nature<br />
and then organize what they have gathered into rows,<br />
in order to see a higher meaning. Once this capacity has<br />
sufficiently matured for them to be able to find their way<br />
in the confusing multiplicity of the world, they are sent<br />
away by the Master (or Mistress), an event which parallels<br />
today’s high school graduation.<br />
The eídolon, the image worth a thousand words that is<br />
condensed and can serve as orientation, also belongs to<br />
mythos. If we hold such myths or images in the back of<br />
our minds when working with groups or even individuals,<br />
they can help us find the right approach. After all, we<br />
would speak differently to Prometheus than to Odysseus.<br />
To Prometheus, we might say, «I’m going to fight; are you<br />
with me?» While our question to Odysseus might be, «Do<br />
you have any ideas about the best way to go about this?»<br />
With Parzival, we might consider whether this action is really<br />
authentic to us, or whether it might be an adoption of<br />
someone else’s values. And the apprentices at Sais would<br />
tell us something about how their actions and goals fit into<br />
the larger picture.<br />
These images are meant as examples and should be understood<br />
as a possible approach to the ‹mood of an age<br />
12<br />
Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>
Diese Bilder sind hier beispielhaft gemeint und sollen als<br />
eine mögliche Annäherung an die ‹Stimmung einer Altersstufe›<br />
verstanden werden – denn letztendlich geht es ja um<br />
die Entwicklung von individuellen Bildern. Diese Beispiele<br />
können aber dazu anregen, überhaupt mit derartigen Bildern<br />
umzugehen.<br />
Dialektik<br />
«Was ist herrlicher als Gold?» fragte der König. «Das<br />
Licht», antwortete die Schlange. «Was ist erquicklicher als<br />
Licht?» fragte jener. «Das Gespräch» 3 , antwortete diese.<br />
Wir alle kennen Gespräche, in denen echte Begegnung erfahren<br />
wird und nach denen alle Beteiligten mehr wissen<br />
als vorher, Gespräche in aller Offenheit und guter Absicht,<br />
die allerdings auch einen geschützten Raum benötigen,<br />
um sich nach ihrem eigenen Tempo zu entfalten.<br />
Können wir aber bewusst in einen solchen Dialog eintreten?<br />
Claus Otto Scharmer hat dazu vier Felder beschrieben<br />
(Isaac 2002, S. 216 ff.), die jeweils nacheinander durchlaufen<br />
werden müssen, um schliesslich in das Feld eines generativen<br />
Dialogs einzutreten, der die oben beschriebenen<br />
Qualitäten besitzt. Am Anfang einer Begegnung oder eines<br />
Gesprächs befinden wir uns zunächst im Feld des talking<br />
nice. Ein höflicher Austausch findet statt, bei dem jeder<br />
versucht, den anderen nicht «auf die Füsse zu treten», also<br />
eher ein typisches Partygespräch, bei dem man mehr oder<br />
weniger über Belangloses spricht und kritische Themen<br />
vermeidet. Der Übergang zum zweiten Feld, dem talking<br />
tough geschieht durch einen Widerspruch: Einer der Beteiligten<br />
geht in eine Gegenposition zu einer Haltung oder<br />
zu einer ausgesprochenen Meinung, was schnell zu einer<br />
hitzigen Debatte führen kann. Selbstverständlich können<br />
die gegensätzlichen Positionen aber auch ganz sachlich<br />
vorgetragen werden. Der springende Punkt ist: Die Fronten<br />
verhärten und es scheint keinen Ausweg aus dieser<br />
festgefahrenen Situation zu geben.<br />
Der Schritt in das dritte Feld, in den reflektiven Dialog, geschieht<br />
nur dann, wenn einer der Kontrahenten beginnt,<br />
sich zu öffnen und seine darunterliegenden Annahmen<br />
offenlegt – dazu muss er oder sie diese (stillschweigenden)<br />
Annahmen aber selbst kennen. Ausserdem braucht<br />
es ein gegenseitiges Vertrauen, einen geschützten Raum.<br />
David Bohm nennt dies den Container (Bohm 1998). Er ist<br />
die Kraft, welche die Gesprächsteilnehmer zusammenhält,<br />
so dass sie die Situation nicht einfach verlassen, oder ihnen<br />
der Ausgang des Gesprächs gleichgültig ist. Die Pflege<br />
dieses gemeinsamen Raumes gehört zu einer guten Gesprächskultur.<br />
Ziel des reflektiven Dialogs kann es natürlich<br />
auch sein, die eigenen Annahmen zunächst einmal gemeinsam<br />
zu erkunden.<br />
group› – because ultimately the focus is on the development<br />
of individual images. But these examples might inspire<br />
us to begin to work with these kinds of images in the<br />
first place.<br />
Dialectic<br />
«What is more glorious than gold?» asked the king.<br />
«Light,» replied the serpent. «What is more refreshing<br />
than light?» asked the king. «Conversation 3 ,» replied the<br />
latter.<br />
We are all familiar with conversations in which true meetings<br />
of minds take place – conversations after which all<br />
participants understand more than they did before; conversations<br />
that are completely open and well-intentioned,<br />
but which also require a safe space in which to unfold at<br />
their own pace.<br />
But can we consciously enter into a dialogue of this kind?<br />
Claus Otto Scharmer described four spaces (Isaac 2002, P. 216<br />
ff.), we must first pass through in order to finally enter into<br />
a space of generative dialogue that has the qualities described<br />
above. At the beginning of an encounter or a conversation,<br />
we find ourselves in the talking nice space. This<br />
is a polite exchange in which everyone tries not to «step on<br />
the other’s toes» – typical cocktail talk, in which everyone<br />
talks about more or less trivial matters and avoids critical<br />
topics. The transition to the second space, talking tough, is<br />
brought about by a disagreement: One of the participants<br />
takes an opposing position to an attitude or to an expressed<br />
opinion, which can quickly lead to a heated debate.<br />
Of course, opposing positions can also be expressed in a<br />
quite objective manner. The crucial point is that the two<br />
sides become more rigid and there doesn’t appear to be a<br />
way out of this deadlocked situation.<br />
The transition into the third space, reflective dialogue, only<br />
happens when one of the opposing parties begins to open<br />
up and reveal their underlying assumptions – but in order<br />
to do so, they must first be aware of these (tacit) assumptions.<br />
This also requires mutual trust, and a safe space. David<br />
Bohm calls this safe space the container (Bohm 1998).<br />
This is the force that holds the participants together so<br />
that they are not indifferent to the outcome of the conversation,<br />
and do not simply leave the situation. Maintaining<br />
this shared space is an important part of a culture of good<br />
communication. Of course, one goal of reflective dialogue<br />
can also be to begin to explore our assumptions together.<br />
13
Generell ist es beim Übergang ins dritte Feld hilfreich, von<br />
der Meinungsebene auf die Erfahrungsebene zu wechseln<br />
und diejenigen Erlebnisse zu beschreiben, welche uns zur<br />
ausgesprochenen Meinung geführt haben. Wenn der Gesprächspartner<br />
dieser Geste folgt und ebenfalls beginnt,<br />
von seinen meinungsbildenden Erfahrungen zu sprechen,<br />
dann besteht die Chance zu einer gemeinsamen Reflektion<br />
auf unterschiedlichen Quellen. Wenn dies gelingt,<br />
verändert sich meist auch die Stimmung des Gesprächs:<br />
Aus Gegnern können Partner werden, die das Thema gemeinsam<br />
erkunden.<br />
Das vierte Feld, der generative Dialog, ist deutlich schwieriger<br />
zu erreichen: Hier müssen die individuellen, vergangenheitsbezogenen<br />
Erfahrungen wiederum losgelassen<br />
werden, damit etwas Zukünftiges, für alle Beteiligten<br />
Neues entstehen kann. In dieser Art von Gesprächen entsteht<br />
eine gemeinsame Idee, und am Ende ist oft gar nicht<br />
feststellbar, von wem diese Idee eigentlich stammt. In dieser<br />
Phase verändert sich auch der Zeitfluss, während im<br />
dritten Feld eine Verlangsamung stattfindet, scheint im<br />
Feld des generativen Dialogs die Zeit keine Rolle mehr zu<br />
spielen.<br />
Bei jedem dieser drei Feldübergänge müssen die Gesprächsteilnehmer<br />
etwas loslassen, um eine neue Gesprächsebene<br />
zu erreichen. Im ersten Schritt sind dies die<br />
gesellschaftlichen Konventionen, im zweiten Schritt müssen<br />
sie aufhören, sich hinter ihren Meinungen zu verstecken<br />
und sich persönlich sichtbar machen und schliesslich<br />
müssen sie sich von ihrer persönlichen Geschichte lösen.<br />
Daraus lässt sich für den Einzelnen keine Gesprächstechnik<br />
ableiten; man kann die Übergänge zwar moderierend<br />
unterstützen, aber sie erfordern immer die Bereitschaft<br />
und die Mitwirkung aller Beteiligten.<br />
Einige Wochen nach den Sommerferien wurde der Unterricht<br />
in einer von mir betreuten Klasse nach und nach mühsamer.<br />
Was ich auch versuchte, ich konnte trotz einer hohen<br />
Vertrautheit (Container) die Schülerinnen und Schüler<br />
mit meinen Themen und mit meiner Art der Ansprache<br />
nicht mehr erreichen, obwohl ich methodisch viel ausprobiert<br />
hatte. Irgendwann mitten im Hauptunterricht, als<br />
das Unterrichtsgespräch besonders zäh wurde, beschloss<br />
ich spontan die Klasse mit meiner Sicht der Dinge offen<br />
zu konfrontieren (Übergang zu talking tough). Ich sagte<br />
ihnen, ich könne sie jetzt nicht mehr unterrichten, denn<br />
ich hätte das Gefühl, sie nicht mehr zu erreichen. Schweigen<br />
in der Klasse, vielleicht auch Betroffenheit. Einer Eingebung<br />
folgend, schlug ich vor, jeder, der wolle, könne<br />
doch einmal an die Tafel gehen und dort aufschreiben,<br />
was ihn oder sie gerade am meisten beschäftigte. Überraschenderweise<br />
gab es hier Zustimmung und im Laufe<br />
In transitioning into the third space, it is generally helpful<br />
to switch from the level of opinion to the level of experience,<br />
and to describe the experiences that led to the opinion<br />
we have expressed. If our conversation partner follows<br />
this example and also begins to speak of their opinionbuilding<br />
experiences, we have the opportunity to reflect<br />
together on the different sources. If this is successful, the<br />
mood of the conversation usually shifts: Opponents can<br />
become partners who explore the topic together.<br />
The fourth space, generative dialogue, is significantly<br />
more difficult to reach: Individual, past experiences must<br />
be let go of in order for something future-bearing – something<br />
new for all participants – to arise. In this kind of<br />
conversation, a shared idea emerges, and in the end it is<br />
often not even possible to determine who actually came<br />
up with the idea. In this space, the flow of time is also<br />
altered: While a slowing seems to occur in the third space,<br />
in the generative dialogue space, time seems to no longer<br />
play a role at all.<br />
In each of these three transitions, the conversation participants<br />
must let go of something in order to reach a new<br />
level of conversation. In the first step this is social conventions;<br />
in the second step they must stop hiding their opinions<br />
and become transparent; and finally, they must let go<br />
of their personal history/perspective. This cannot be used<br />
as a conversational technique for individuals – we can support<br />
these transitions by moderating, but the technique<br />
always requires the willing cooperation of all involved.<br />
Several weeks after summer break, teaching in one of my<br />
classes began to be more and more difficult. No matter<br />
what I tried, and despite a high level of trust (container)<br />
and attempts with various methods, I was no longer able<br />
to reach my students with my topics and approach. At<br />
some point in the middle of a main lesson block, when<br />
the class discussion became especially tough, I decided to<br />
confront the class openly with my perspective on things<br />
(transition to talking tough). I told them I could no longer<br />
teach them because I felt like I couldn’t get through to<br />
them anymore. The class was silent, perhaps dismayed.<br />
Following an intuition, I suggested that anyone who wanted<br />
to could go to the blackboard and write down what was<br />
most bothering them.<br />
Surprisingly, they agreed to this, and in the next ten minutes,<br />
many individuals came forward to write out what<br />
was bothering them (transition to reflective dialogue):<br />
stress with a boyfriend or girlfriend, a lack of understan-<br />
14<br />
Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>
der nächsten zehn Minuten gingen immer wieder Einzelne<br />
nach vorn und schrieben auf, was sie bedrückte (Übergang<br />
in den reflektiven Dialog): Stress mit der Freundin/dem<br />
Freund, Unverständnis der Eltern, Probleme mit Drogen,<br />
Orientierungslosigkeit, Gefühle von Ausgeschlossenheit,<br />
Alleinsein… Als dann schliesslich die ganze Tafel vollgeschrieben<br />
war, wurde uns gemeinsam bewusst, dass die<br />
Schule im Leben der Schülerschaft offenbar gar keine Rolle<br />
spielte: Tatsächlich hatte kein einziger Beitrag an der<br />
Tafel etwas mit der Schule zu tun. Ein langes gemeinsames<br />
Schweigen folgte (an der Grenze zu Feld 4, dem generativen<br />
Dialog). Schliesslich wurde in einem Gespräch<br />
darüber klar, dass nicht die Lehrkraft allein etwas daran<br />
ändern könnte, sondern dass dies die Aufgabe aller Beteiligten<br />
war. Auch wenn in dieser Situation der Übergang<br />
in das vierte Feld nicht vollständig vollzogen wurde, hatte<br />
dieser Moment eine nachhaltige Wirkung. In den nächsten<br />
Tagen und Wochen kamen immer wieder einzelne Schüler<br />
nach dem Unterricht zu mir und wünschten sich bestimmte<br />
Themen für den Unterricht oder eine andere Form des<br />
Herangehens. Die Schülerinnen und Schüler hatten offensichtlich<br />
Mitverantwortung übernommen und brachten<br />
nun offen zum Ausdruck, was ihnen nicht gefiel und was<br />
ihnen fehlte. Dieses eine Gespräch veränderte die gesamte<br />
Unterrichtssituation in den darauffolgenden Monaten.<br />
Wir können lernen, Aufmerksamkeit dafür zu entwickeln,<br />
wenn wir im Gespräch mit einer Klasse oder im Kollegium<br />
in einem der ersten beiden Felder feststecken, welche Intuitionen<br />
oder Ideen uns dabei unterstützen könnten, um<br />
den Dialog auf eine neue Ebene zu befördern. Als ob man<br />
beginnen würde, innerlich in eine andere Richtung zu lauschen.<br />
Das wäre die Kunst der Dialektik im Sinne Platos.<br />
Wesensbegegnung<br />
Zu dieser letzten Erkenntnisstufe kann nicht mehr viel gesagt<br />
werden, da er mit Worten oder Bildern nicht mehr beschrieben<br />
werden kann. Aber wir kennen alle Momente der<br />
Stille im gemeinsamen Tun, in denen eine Einvernehmlichkeit<br />
herrscht, die keine Worte mehr braucht. So wie die Stille<br />
und das Schweigen in der im letzten Abschnitt geschilderten<br />
Szene im Klassenzimmer. Obwohl nichts gesagt<br />
wird, gibt es eine Erfahrung von Nähe und Begegnung. Oft<br />
wird uns diese Qualität erst im Nachhinein bewusst. Dann<br />
kann es uns gehen wie den Jüngern zu Emmaus, die nachher<br />
zueinander sagten «Brannte uns nicht das Herz in der<br />
Brust, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn<br />
der Schrift erschloss?» (Lk 24,30–32). Ich kann mir zumindest<br />
gut vorstellen, dass auf diesem Weg nicht nur geredet wurde,<br />
sondern dass man auch schweigend nebeneinander<br />
ging, den Blick auf das gleiche Ziel gerichtet. Und so wie<br />
ding from their parents, problems with drugs, a lack of<br />
direction, feelings of isolation and loneliness…. When the<br />
whole board was filled, we realized together that school<br />
was clearly not important in these students’ lives: Not a<br />
single note on the board had anything to do with school. A<br />
long silence followed (on the edge of area 4, generative dialogue).<br />
Finally, in discussion, it became clear that teachers<br />
alone could not do anything to change the situation – this<br />
task required the cooperation of everyone involved. Even<br />
though the transition to the fourth area was not completed<br />
in this situation, this moment had a lasting impact. In<br />
the following days and weeks, many individual students<br />
came to me after class and requested specific topics for<br />
class or different approaches. The students had clearly<br />
taken on some of the responsibility and were now openly<br />
expressing what they didn’t like and what they were missing.<br />
This single conversation changed the entire teaching<br />
situation in the months that followed.<br />
When we are stuck in one of the first two areas with a class<br />
or colleagues, we can learn to develop awareness for which<br />
intuitions or ideas might support us in taking the dialogue<br />
to a new level. It is like beginning to listen inwardly, in a<br />
new direction. This is the art of dialectic as understood by<br />
Plato.<br />
Encountering the true essence<br />
Not much can be said of this last step in understanding, as<br />
it can no longer be described with words or pictures. But<br />
we all know moments of quiet in shared action, in which<br />
there is consensus that no longer needs words, just like<br />
the quiet in the classroom described in the last section.<br />
Although nothing is said, there is an experience of intimacy<br />
and meeting. Often, we first become aware of this<br />
quality after the fact. Then we may feel like the disciples<br />
at Emmaus, who said to each other afterwards, «Did not<br />
our hearts burn within us as he talked with us on the journey<br />
and revealed the meaning of the Scriptures to us?» (LK<br />
24, 30-32). I, at least, can well imagine that there was not<br />
only talk on this journey, but that they also walked quietly<br />
side by side, their gaze fixed on the same goal. And just as<br />
dialectic («revealed the meaning of the Scriptures to us»)<br />
can be seen as preliminary to the seventh level, all of the<br />
preceding stages can of course be seen as preparation for<br />
the highest level of understanding. We would therefore do<br />
well to consciously continue practicing all of the individual<br />
levels.<br />
15
die Dialektik («uns die Schrift erschloss») als eine Vorstufe<br />
zur siebten Ebene betrachtet werden kann, können natürlich<br />
alle vorangehenden Stufen als Vorbereitung auf die<br />
höchste Erkenntnis gesehen werden. Wir tun daher gut daran,<br />
alle einzelnen Stufen bewusst immer weiter zu üben.<br />
Obwohl die hier skizzierte siebenstufige Erkenntnisfolge<br />
aufeinander aufbaut, sind die einzelnen Schritte doch so<br />
aufeinander bezogen, dass man sie auch rückwärts durchlaufen<br />
kann: Ein neues Eídolon kann zu einer vertieften<br />
und neuen Wahrnehmung führen und ein offener Dialog<br />
zu einer neuen Dóxa. Wer kennt nicht die Erfahrung, dass<br />
nach einem tiefen, persönlichen Gespräch mit einem vielleicht<br />
bisher nicht so gut bekannten Menschen sich plötzlich<br />
dessen Gesicht zu verändern scheint? Diese Erfahrung<br />
konnte ich in den individuellen Jahresgesprächen mit<br />
Oberstufenschülerinnen und -schülern jedenfalls immer<br />
wieder machen. Der Dialog kann uns eine neue Sichtweise<br />
ermöglichen, der wir dann auch in der sinnlichen Wahrnehmung<br />
begegnen. Der Weg Platos muss also nicht unbedingt<br />
nur ein aufsteigender sein, man kann die Stufenleiter<br />
auch wieder hinabsteigen, um sich tiefer mit dem zu<br />
verbinden, was uns im Alltag direkt umgibt.<br />
Although the seven-step process outlined here builds<br />
upon itself, the individual steps are interrelated in such a<br />
way that we can also move through them in the opposite<br />
direction: A new eídolon can lead to new and deeper perceptions<br />
and open dialogue can lead to a new dóxa. Who<br />
hasn’t had the experience, after a deep, personal conversation<br />
with someone we perhaps hadn’t known that well,<br />
that their face suddenly looks different to us? I have had<br />
this experience time and again with high school students<br />
during our annual individual advisor meetings. Dialogue<br />
can open us to new perspectives, which we then also encounter<br />
in sensory perception. So Plato’s path must not<br />
necessarily ascend; we can also descend the steps, in order<br />
to more deeply connect with our everyday surroundings.<br />
Translation from German by Tascha Babitch<br />
Anmerkungen<br />
1<br />
Die Namen wurden geändert.<br />
2<br />
Vortrag in einem Seminar am Institut für Waldorfpädagogik in Witten<br />
Annen 2004.<br />
3<br />
Aus Goethes Märchen<br />
Notes<br />
1<br />
Names have been changed<br />
2<br />
Lecture in a seminar at the Institute for Waldorf Education in Witten<br />
Annen 2004<br />
3<br />
The Green Snake and the Beautiful Lily (Goethe)<br />
Literatur<br />
Lauenstein, D. (1971): Der Messias – eine biblische Untersuchung. Urachhaus,<br />
Stuttgart ||| Isaac, W. (2002): Der Dialog als Kunst gemeinsam zu<br />
denken. EHP Organisation ||| Goethe, J. W. (1982): Prometheus. Werke Bd.<br />
1: Gedichte und Epen I: Gedichte in zeitlicher Anordnung. C. H. Beck, München<br />
||| Goethe, J. W. (o. J.): Sophienausgabe. 2. Abt. Band 7. C. H. Beck,<br />
München ||| Novalis (1997): Gedichte. Die Lehrlinge zu Sais. Reclam, Ditzingen.<br />
16<br />
Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>
17
Gewaltfreie<br />
(Heil-)pädagogik<br />
Umsetzung und Perspektiven der<br />
Rainbow Fondation in Sri Lanka<br />
Nonviolent<br />
(Therapeutic) Education<br />
Implementation and Prospects of the<br />
Rainbow Foundation in Sri Lanka<br />
Von Christiane Drechsler, Nur Erdem, Angelika Wiehl<br />
by Christiane Drechsler, Nur Erdem, Angelika Wiehl<br />
Einleitung<br />
Introduction<br />
Seit dem Frühjahr 2021 herrscht in Sri Lanka eine politisch<br />
und wirtschaftlich äusserst angespannte Lage. Als 2022<br />
die hier zu Grunde liegende wissenschaftliche Studie stattfand,<br />
fehlte es oft an Treibstoff, um zur Arbeitsstelle, in<br />
die Schule oder Kita zu fahren; stundenweise wurde der<br />
Strom abgestellt und im ganzen Land verbrachten Menschen<br />
wartend auf den Strassen und schliefen in Autos;<br />
viele konnten ihre Ziele nur zu Fuss oder per Fahrrad erreichen.<br />
Seit Ausbruch des Bürgerkriegs 1980 erlebt die Bevölkerung<br />
in Sri Lanka immer wieder Krisen. «Aber die jetzige<br />
Situation empfinden viele schlimmer als Bürgerkriege<br />
oder die Folgen des Tsunamis», so erzählt Sabrina, eine<br />
Mitarbeiterin der Rainbow Fondation. Die Rainbow Fondation<br />
ist eine von Martin Henrich gegründete heilpädagogische<br />
Initiative, die im Südwesten der Insel eine Preschool<br />
betreibt und sich um Kinder mit Behinderungen und mittellose<br />
Familien kümmert. Kinder aus sozialschwachen<br />
Verhältnissen, aber vor allem Kinder mit Einschränkungen<br />
oder Behinderungen haben in Sri Lanka kaum Möglichkeiten,<br />
eine ihnen angemessene schulische und berufliche<br />
Bildung zu erhalten. Viele Menschen wissen nicht, was sie<br />
mit sogenannten «Behinderten» oder «Lernschwachen»<br />
anfangen sollen und wie sie mit ihren unangepassten oder<br />
herausfordernden Verhaltensweisen umgehen können.<br />
Pädagogische Fachkräfte der Kitas und Schulen sind nicht<br />
auf inklusive oder individualisierende Umgangsweisen<br />
vorbereitet. Üblicherweise können sie an den Eingängen<br />
zu pädagogischen Institutionen ein Stöckchen nehmen,<br />
um Kindern, die sich nicht anpassen, die stören oder den<br />
Since spring 2021, Sri Lanka has been facing a politically<br />
and economically tense situation. When the research<br />
study underlying the text was conducted in 2022, there<br />
was often a shortage of fuel, making it difficult for people<br />
to commute to work, school, or daycare. Electricity was<br />
frequently cut off for hours, leaving people stranded on<br />
the streets or sleeping in their cars. Many had to resort to<br />
walking or cycling to reach their destinations. Since the<br />
outbreak of the civil war in 1980, the population of Sri<br />
Lanka has experienced recurring crises. «But many people<br />
perceive the current situation as worse than civil wars or<br />
the aftermath of the tsunami,» says Sabrina, a staff member<br />
of the Rainbow Foundation.<br />
The Rainbow Foundation is a therapeutic educational initiative<br />
founded by Martin Henrich, operating a preschool<br />
in the southwest of the island, dedicated to children with<br />
disabilities and from socioeconomically disadvantaged<br />
backgrounds. Especially those with disabilities, have limited<br />
opportunities to receive proper education and professional<br />
training in Sri Lanka. Many people are unsure of<br />
how to handle individuals labeled as «disabled» or children<br />
with «learning difficulties» and how to address their<br />
non-conforming or challenging behaviours. Educators in<br />
schools and daycare centres are not prepared for inclusive<br />
or individualized approaches. Typically, they can take<br />
a stick from the wall at the entrances to educational institutions<br />
to threaten or even strike children who do not<br />
conform, disrupt, or fail to meet expected standards. Alt-<br />
18<br />
Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>
Christiane Drechsler, Prof.<br />
Dr. phil.; Studium der Erziehungswissenschaft,<br />
Philosophie<br />
und Neuerer Deutscher<br />
Literaturwissenschaft; Leitung<br />
der Behindertenhilfe im<br />
DRK Kreisverband Segeberg;<br />
Leitung des Bachelorstudiengangs<br />
für Heilpädagogik am<br />
Institut für Waldorfpädagogik,<br />
Inklusion und Interkulturalität der Alanus<br />
Hochschule am Studienzentrum Mannheim.<br />
Christiane Drechsler, Prof. Dr. phil.; studied<br />
Educational Science, Philosophy and Modern<br />
German Literature; Head of Disability Care at<br />
DRK Kreisverband Segeberg; Head of the Bachelor's<br />
degree course in Curative Education<br />
at the Institute for Waldorf Education, Inclusion<br />
and Interculturality at Alanus University,<br />
Mannheim Study Center.<br />
Nur Erdem, B.A.<br />
Waldorfpädagogik;<br />
Forschungsprojekt<br />
bei der<br />
Rainbow-Foundation<br />
in Sri<br />
Lanka; Studentin<br />
im M.A. Waldorfpädagogik<br />
mit<br />
Schwerpunkt Inklusion<br />
am Institut für Waldorfpädagogik,<br />
Inklusion und Interkulturalität der<br />
Alanus Hochschule in Mannheim.<br />
Nur Erdem, B.A. Waldorf Education; research<br />
project at the Rainbow Foundation<br />
in Sri Lanka; student in the M.A. Waldorf<br />
Education with a focus on inclusion at the<br />
Institute for Waldorf Education, Inclusion<br />
and Interculturality at Alanus University<br />
in Mannheim.<br />
Angelika Wiehl, Dr. Phil.;<br />
Magisterstudium in Germanistik,<br />
Romanistik, Kunstgeschichte;<br />
Mitbegründerin,<br />
Klassen- und Oberstufenlehrerin<br />
der Freien Waldorfschule<br />
Wolfsburg; Coaching<br />
und Mediation für Pädagogen;<br />
Hochschuldozentin für<br />
Erziehungswissenschaft und<br />
Waldorfpädagogik am Institut für Waldorfpädagogik,<br />
Inklusion und Interkulturalität der Alanus Hochschule<br />
in Mannheim. Angelika Wiehl, Dr. Phil. Dr. Phil.;<br />
Master's degree in German, Romance languages and<br />
literature, art history; co-founder, class and senior<br />
teacher at the Freie Waldorfschule Wolfsburg; coaching<br />
and mediation for teachers; university lecturer<br />
in educational science and Waldorf education at<br />
the Institute for Waldorf Education, Inclusion and<br />
Interculturality at Alanus University in Mannheim.<br />
verlangten Leistungen nicht genügen, zu drohen oder sie<br />
zu schlagen. Diese übliche erzieherische Massnahme widerspricht<br />
zwar der von Sri Lanka ratifizierten UN-Kinderkonvention,<br />
wird aber in der pädagogischen Praxis nicht in<br />
Frage gestellt. Verbote, das Stöckchen zu verwenden, sind<br />
kaum wirksam. Daher versuchen die Mitarbeitenden der<br />
Rainbow Fondation nach ihren Möglichkeiten eine gewaltfreie<br />
Pädagogik vorzuleben vorzuleben und Lehrkräften in<br />
Schulen im lokalen Umfeld in eine gewaltfreie Pädgogik<br />
einzuführen.<br />
Durch eine Forschungsarbeit, die im Jahr 2022 am Institut<br />
für Waldorfpädagogik, Inklusion und Interkulturalität der<br />
Alanus Hochschule am Standort Mannheim, als Abschluss<br />
des Bachelorstudiums der Waldorfpädagogik von Nur Erdem<br />
durchgeführt sowie von Christiane Drechsler und<br />
Angelika Wiehl wissenschaftlich begleitet wurde, konnte<br />
mittels leitfadengestützter Interviews nachgewiesen werden,<br />
wie selbstverständlich in Sri Lanka im alltäglichen<br />
Umgang, aber nur in seltenen Fällen rechtlich verfolgt,<br />
die Anwendung von körperlicher Züchtigung und anderen<br />
Strafmassnahmen gegenüber Kindern und Jugendlichen<br />
ist. Es wurde deutlich, dass durch die auf anthroposophisch-heilpädagogischen<br />
Ansätzen arbeitende Gemeinschaft<br />
der Rainbow Fondation ein grundsätzlicher Wandel<br />
im gewaltfreien Umgang mit Kindern und Jugendlichen<br />
zwar eingeleitet werden kann, aber erst durch eine Professionalisierung<br />
der pädagogischen Fachkräfte, durch die<br />
Ausbildung einer anerkennenden und wertschätzenden<br />
Haltung sowie durch zu erlernende professionelle Strategien<br />
des gewaltfreien Umgangs eine nachhaltige Veränderung<br />
bewirkt werden kann. Der im Rahmen der Studie<br />
für den Umgang mit herausforderndem Verhalten vorgeschlagene<br />
Low Arousal-Ansatz birgt die Möglichkeit einer<br />
hough this common disciplinary measure contradicts the<br />
UN Convention on Rights of the Child ratified by Sri Lanka,<br />
it is rarely questioned in pedagogical practice. Bans on<br />
using the stick are hardly effective. Therefore, the staff of<br />
the Rainbow Foundation strives to lead by example, promoting<br />
non-violent pedagogy to the best of their abilities<br />
and introducing nonviolent attitudes and approaches to<br />
teachers in local schools..<br />
Through a research project conducted in 2022 at the Institute<br />
for Waldorf Pedagogy, Inclusion, and Interculturality<br />
at the Alanus University of Arts and Social Sciences<br />
in Mannheim, as part of Nur Erdem’s bachelor’s degree in<br />
Waldorf Pedagogy and academically supervised by Christiane<br />
Drechsler and Angelika Wiehl, it was demonstrated<br />
through guided interviews that the use of physical punishment<br />
and other punitive measures against children and<br />
adolescent is a common practice in everyday life in Sri Lanka,<br />
albeit rarely legally prosecuted. It became evident that<br />
a fundamental shift towards non-violent interaction with<br />
children and adolescents can be initiated by the Rainbow<br />
Foundation community, which operates on anthroposophic<br />
therapeutic principles. However, sustainable change<br />
can only be achieved through the professionalization of<br />
educators, the development of an accepting and appreciative<br />
attitude, and the acquisition of professional strategies<br />
for non-violent interactions. The Low Arousal approach<br />
proposed in the study for dealing with challenging behaviour<br />
offers the possibility of a practical expansion of the<br />
19
praxisorientierten Erweiterung des auf die Camphill-Bewegung<br />
zurückgehenden B.R.I.D.G.E.-Konzepts der Rainbow<br />
Fondation. Eine wirksame Ergänzung könnte die praxisbezogene<br />
Schulung mit Achtsamkeitsübungen in Anlehnung<br />
an Rudolf Steiners Nebenübungen sein. Erweitert um diese<br />
Vorschläge werden die Ergebnisse der wissenschaftlichen<br />
Studie für eine Professionalisierung im anthroposophisch<br />
heilpädagogischen Feld dargestellt.<br />
Ansätze der Camphill-Bewegung in<br />
der Rainbow Fondation<br />
Der Gründer und Vordenker der Rainbow Foundation,<br />
Martin Henrich, bezieht sich in seinen konzeptionellen Gedanken<br />
ausdrücklich auf wesentliche Elemente der 1939<br />
von Karl König in Aberdeen/Scotland begründeten Camphill-Bewegung,<br />
die er in Folge spezifisch für die jeweiligen<br />
Anforderungen von Zielgruppe und Land modifizierte.<br />
Leitend für Karl König (1902-1966) war der Gedanke<br />
der Gleichwertigkeit von Menschen mit und ohne Behinderungen<br />
und zwar in einer nicht nur für die damalige Zeit radikalen<br />
Art und Weise, sondern grundsätzlich: Menschen<br />
mit und ohne Behinderung sind in jeder Hinsicht gleichwertig<br />
und gleich-berechtigt, denn – wie Steiner kritisch<br />
bemerkt – es handele sich «nie um eine eigentliche Erkrankung<br />
des geistigen und seelischen Lebens selber» (Steiner<br />
1999, S. 257). Entscheidend ist also, das Geistig-Seelische<br />
des Menschen als unverletzlich anzuerkennen und ihm<br />
«die volle Würde des Menschseins» (Drechsler 2019b, S. 34) zuzusprechen.<br />
Diese Erkenntnis impliziert einen würdigen<br />
Umgang mit Menschen mit Behinderung, gleichzeitig aber<br />
auch die Aufforderung, die Betroffenen im Umgang und<br />
im Ringen mit ihrer Behinderung durch individuelle und<br />
angepasste Therapien zu unterstützen. Seit Gründung<br />
Camphills 1939 wurden in unterschiedlichen Bereichen<br />
medizinische und künstlerische Therapieformen entwickelt<br />
und ausdifferenziert. Ihnen ist gemein, dass sie die<br />
Selbstheilungskräfte im Individuum anregen sollen, um<br />
das unverletzte Geistige im Menschen in seinem Bemühen<br />
um das Ergreifen und Umgestalten der geschädigten Leiblichkeit<br />
bestmöglich zu fördern.<br />
Eine zentrale Idee der Camphill-Bewegung ist das Zusammenleben<br />
von Menschen mit und ohne Behinderungen<br />
in einer dörflichen Gemeinschaft, die Eigen-Arten der<br />
Einzelnen respektiert und diese als Beitrag zu einem sozialen<br />
Organismus der Bereiche Leben, Arbeit und Kultur<br />
versteht. Einen dabei zu berücksichtigen menschlichen<br />
Entwicklungsaspekt bildet die Ich-Reife um das 21. Lebensjahr;<br />
sie verlangt, die individuellen Therapien in den<br />
B.R.I.D.G.E. concept developed by the Rainbow Foundation,<br />
which is rooted in the Camphill movement. An effective<br />
addition could be practical training with mindfulness<br />
exercises inspired by Rudolf Steiner’s Supplementary<br />
Exercises. These suggestions, when integrated, present the<br />
results of the research study as a foundation for professionalization<br />
in the field of anthroposophic therapeutic<br />
education.<br />
Approaches from the Camphill Movement<br />
in the Rainbow Foundation<br />
The founder and visionary behind the Rainbow Foundation,<br />
Martin Henrich, explicitly draws on key elements of<br />
the Camphill Movement, which was established in Aberdeen,<br />
Scotland, in 1939 by Karl König. He subsequently<br />
modified these elements to suit the specific requirements<br />
of the target audience and the country. Karl König (1902-<br />
1966) was guided by the principle of the equality of individuals<br />
with and without disabilities. This principle was<br />
not only radical for its time but fundamentally transformative:<br />
individuals with and without disabilities are equal<br />
in every respect and equally entitled. As Rudolf Steiner<br />
critically observed, disabilities are «never actually a disease<br />
of the spiritual and soul life itself» (Steiner 1999, p. 257).<br />
Therefore, it is crucial to recognize the inviolability of the<br />
spiritual and soul aspects of a person and to attribute to<br />
them «the full dignity of being human» (Drechsler 2019b, p.<br />
34). This insight implies treating individuals with disabilities<br />
with dignity and, at the same time, the obligation to<br />
support them in working with and integrating their disabilities<br />
through individually tailored therapies. Since the<br />
founding of Camphill in 1939, various forms of medical<br />
and artistic therapies have been developed and refined in<br />
different areas. What they have in common is their aim<br />
to stimulate the self-healing forces within the individual,<br />
allowing the unharmed spiritual aspect within a person<br />
to be nurtured as they strive to grasp and transform their<br />
impaired physicality to the best of their ability.<br />
A central idea of the Camphill Movement is the coexistence<br />
of individuals with and without disabilities in a village-like<br />
community that respects the unique qualities of each person<br />
and sees them as contributing to a social organism encompassing<br />
life, work, and culture. An important aspect<br />
of human development to consider in this context is the<br />
maturation of the ego around the age of 21. It requires that<br />
20<br />
Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>
Hintergrund treten zu lassen zugunsten einer gemeinsamen<br />
Gestaltung des sozialen Umfelds, in dem die oder<br />
der Einzelne Möglichkeiten des Wohnens, der Arbeit und<br />
der künstlerischen Betätigung findet, die ihrer oder seiner<br />
Persönlichkeit am besten entsprechen (Drechsler 2008, 2009,<br />
2019a). Unschwer kann man erkennen, wie modern dieser<br />
Ansatz über 80 Jahre nach seiner Entwicklung anmutet:<br />
Menschen mit Behinderungen sind keinesfalls Individuen,<br />
deren gemeinsames Merkmal das Vorliegen mindestens<br />
eines Defizits ist, sondern Individualitäten, einzigartig wie<br />
jeder Mensch ohne Behinderungen auch. Dennoch wird<br />
der Unterstützungsbedarf nicht ignoriert. Wie dieser aussehen<br />
soll und kann, entwickelt sich jedoch aus einer tiefen<br />
Erkenntnis des Wesens eines Gegenübers und seiner<br />
Bedürfnisse, nicht aus der Orientierung an den Vorgaben<br />
einer auf Grund äusserer Kriterien definierten Normalität.<br />
Der moderne Ansatz der Personenzentrierung des Bundesteilhabegesetzes<br />
findet hier ein Beispiel.<br />
Der Wertschätzung des Individuums steht das Wissen um<br />
die Wirksamkeit einer guten Gemeinschaft gegenüber,<br />
in der – Steiners (1905/06, S. 213) soziales Hauptgesetz als<br />
Grundlage für ein gesundes Zusammenleben beachtend<br />
– die Stärken der Individuen zum Wohl Aller eingesetzt<br />
werden, jedoch darauf vertraut wird, dass die Schwächen<br />
der Individuen durch den Einsatz der Mitglieder der Gemeinschaft<br />
kompensiert werden können – das Ideal einer<br />
inklusiven Gesellschaft.<br />
Das B.R.I.D.G.E-Konzept<br />
der Rainbow Fondation<br />
In den Arbeitsbereichen der Rainbow Foundation finden<br />
sich die oben angeführten Impulse aus der Camphill-Bewegung<br />
wieder. In besonderer Weise führt Martin Henrich<br />
einige dieser Impulse in seinem B.R.I.G.D.E-Konzept weiter,<br />
das Verbindungen der Initiative zu ihren Unterstützerinnen<br />
und Unterstützern weltweit pflegt:<br />
• Zunächst steht das B für das Wort bridge (Brücke),<br />
das eine mögliche verbindende Funktion zwischen<br />
den auf Sri Lanka lebenden Volksgruppen thematisiert,<br />
die in der Vergangenheit aus unterschiedlichen<br />
Gründen immer wieder in Konflikte gerieten.<br />
Da die beiden grössten Volksgruppen, Singhalesen<br />
und Tamilen, unterschiedliche Sprachen sprechen,<br />
wird durch das gemeinsame Erlernen der englischen<br />
Sprache eine Verständigung miteinander, aber auch<br />
international möglich. Dabei soll keine Gruppe auf die<br />
eigene Sprache verzichten und somit in eine schwächere<br />
Position geraten. Die Rainbow Foundation pflegt<br />
daher den Englischunterricht in all ihren Institutionen.<br />
individual therapies take a back seat in favour of a collaborative<br />
shaping of the social environment where everyone<br />
can find housing, work, and artistic activities that best align<br />
with their personality (Drechsler 2008, 2009, 2019a). It is easy to<br />
recognize how contemporary this approach appears over<br />
80 years after its inception: individuals with disabilities<br />
are by no means defined by a shared deficit, but are unique,<br />
just like any person without disabilities. Nevertheless,<br />
the need for support is not ignored. However, the nature<br />
of this support evolves from a deep understanding of an<br />
individual’s essence and their needs, rather than conforming<br />
to external criteria defining normality. This modern<br />
approach aligns with the person-centred approach of the<br />
German Federal Participation Act (Bundesteilhabegesetz).<br />
The appreciation of the individual is balanced by the knowledge<br />
of the effectiveness of a strong community, where,<br />
in accordance with Steiner’s (1905/06, p. 213) Fundamental<br />
Social Law, the strengths of individuals are harnessed for<br />
the benefit of all. It also places trust in the community’s ability<br />
to compensate for the weaknesses of individuals—the<br />
ideal of an inclusive society.<br />
The B.R.I.D.G.E Concept of<br />
the Rainbow Foundation<br />
The Rainbow Foundation’s work in its various domains reflects<br />
the influences mentioned earlier from the Camphill<br />
Movement. Martin Henrich, in particular, extends some<br />
of these influences in his B.R.I.D.G.E concept, which fosters<br />
connections between the initiative and its supporters<br />
worldwide:<br />
• B for Bridge: The first letter, B stands for bridge, signifying<br />
a potential connecting function between the<br />
various ethnic groups living in Sri Lanka, which have<br />
historically been involved in conflicts for various reasons.<br />
Since the two largest ethnic groups, the Sinhalese,<br />
and Tamils, speak different languages, the common<br />
acquisition of the English language serves as a<br />
means of communication among them and internationally.<br />
This approach ensures that no group must<br />
forsake its native language and thereby be placed in<br />
a weaker position. The Rainbow Foundation, therefore,<br />
emphasizes English language lessons across all its<br />
institutions.<br />
21
• Rehabilitation für R: Die Rainbow Foundation bietet<br />
unterschiedliche Therapieformen und Assistenzen<br />
an, um eine Verbesserung der Lebenslagen und die<br />
Rehabilitation der Menschen mit Behinderungen zu<br />
erreichen. Gleichzeitig werden Arbeitsplätze für Erwachsene<br />
geschaffen, damit jede bzw. jeder einen<br />
Beitrag zum Leben in der Gemeinschaft leisten kann.<br />
• Integration für I: Gemeint ist in diesem Zusammenhang<br />
die Unterstützung von Waisen in der Form, dass<br />
ihnen eine Wohnsituation zur Verfügung gestellt wird,<br />
in der sie ihre Entwicklung fördernde Bedingungen<br />
finden, um Selbstverantwortung und Verantwortung<br />
für Andere übernehmen können.<br />
• Direct help für D: Finanzielle Unterstützungen werden<br />
für bedürftige Menschen eingeworben und direkt<br />
ausgezahlt. Auf diese Weise entsteht an Stelle einer<br />
anonymen Spende eine Brücke von Mensch zu Mensch<br />
und somit die konkrete Hilfe für ein Individuum.<br />
• German Sponsors für G: Eine andere Form der Brückenbildung<br />
entsteht durch regelmässige Spenden<br />
zumeist aus Deutschland und einigen Menschen in<br />
Sri Lanka, die für die Rainbow Foundation arbeiten.<br />
Durch persönliche Kontakte kann die Sponsorenschaft<br />
verfolgen, wie sich das Projekt entwickelt, und<br />
sie bekommet auf diese Weise Einblick in die Kultur<br />
Sri Lankas.<br />
• Empowerment für E: Den Menschen, die von der<br />
Rainbow Foundation unterstützt werden, wird die<br />
Fähigkeit zur Vertretung der eigenen Rechte und der<br />
Erfüllung der persönlichen Bedürfnisse sowie das Zutrauen,<br />
das Leben aus eigener Kraft gestalten zu können,<br />
vermittelt.<br />
Gewalttätiger Umgang in pädagogischen<br />
Institutionen in Sri Lanka<br />
Ein Lagebericht<br />
Obwohl Sri Lanka im Gegensatz zu den Nachbarländern<br />
in Südasien viel mehr Zeit und Geld in das Bildungssystem<br />
steckt, wird dessen Qualität und Relevanz kritisiert (Dundar<br />
et al., S. 2). Durch die wiederholt ausbrechenden Konflikte<br />
u. a. zwischen Tamilen und Singhalesen sind viele Schulen<br />
ganz oder teilweise zerstört; es fehlt an Lehrmaterial<br />
und Unterricht findet vielfach nicht statt (Kurtenbach et al.,<br />
2010). Das Bildungsangebot ist in Hinblick auf relevante<br />
Bildungsinhalte und moderne Lehr- und Lernmethoden<br />
• Rehabilitation for R: The Rainbow Foundation offers<br />
various forms of therapy and assistance to improve<br />
the living conditions and rehabilitation of individuals<br />
with disabilities. Simultaneously, it creates job opportunities<br />
for adults, enabling each person to contribute<br />
to community life.<br />
• Integration for I: In this context, integration involves<br />
providing support to orphans by offering them a living<br />
environment where they can find conditions conducive<br />
to their development, allowing them to take on<br />
self-responsibility and responsibility for others.<br />
• Direct Help for D: The Foundation raises financial<br />
support for those in need and disburses it directly. Instead<br />
of an anonymous donation, this approach creates<br />
a bridge from one person to another, providing<br />
concrete assistance to an individual.<br />
• German Sponsors for G: Another form of bridgebuilding<br />
occurs through regular donations, primarily<br />
from Germany, and some individuals in Sri Lanka who<br />
work for the Rainbow Foundation. Through personal<br />
connections, sponsors can track the project’s progress<br />
and gain insight into Sri Lankan culture.<br />
• Empowerment for E: The Rainbow Foundation imparts<br />
the ability to advocate for one’s own rights and<br />
fulfil personal needs to the individuals it supports.<br />
It conveys confidence that they can shape their lives<br />
through their own efforts.<br />
Violent Practices in Educational<br />
Institutions in Sri Lanka<br />
A Situation Report<br />
Despite Sri Lanka investing more time and resources in its<br />
education system compared to neighbouring South Asian<br />
countries, its quality and relevance have faced criticism<br />
(Dundar et al., p. 2). Ongoing conflicts, including those between<br />
Tamils and Sinhalese, have led to the destruction of<br />
many schools, with a lack of teaching materials and widespread<br />
disruptions to education (Kurtenbach et al., 2010). The<br />
educational offerings are insufficient in terms of relevant<br />
content and modern teaching and learning methods, thus<br />
failing to contribute to the development of the potential of<br />
children and young people (ibid.).<br />
22<br />
Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>
nicht bedarfsgerecht und kann daher zur Entwicklung der<br />
Potenziale von Kindern und Jugendlichen nicht beitragen<br />
(ebd.).<br />
Gemäss der Erziehungsverordnungen von Ceylon aus dem<br />
Jahre 1939 waren Prügelstrafen für Kinder und Jugendliche<br />
in Sri Lanka bis Ende des 20. Jahrhunderts erlaubt (Zoysa<br />
et al., 2021). Auch nachdem Sri Lanka die UN-Konventionen<br />
der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes unterschrieben<br />
und dadurch wie alle Vertragsstaaten vereinbart<br />
hat, entsprechende Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial-<br />
und Bildungsmassnahmen umzusetzen, um das Kind<br />
vor jeder Form körperlicher Gewaltanwendung und Schadenszufügung<br />
zu schützen, findet immer noch körperliche<br />
Gewalt in pädagogischen Institutionen statt (UNICEF<br />
e.V., 1989, S. 1). Mit der Änderung des Paragraphen Nr. 22<br />
des Strafgesetzbuches von 1995 durch das Parlament der<br />
Demokratisch Sozialistischen Republik Sri Lanka wurde<br />
die Gewalt gegen Kinder als Straftatbestand deklariert. Da<br />
jedoch körperliche Gewaltanwendungen häufig im häuslichen<br />
und privaten Bereich vorkommen, scheinen diese<br />
durch eine weitgehende kulturelle Akzeptanz legitimiert<br />
(Zoysa et al., 2021). Eine Studie 2010 an 22 Schulen des Bezirks<br />
Gamapha ergab, dass in 80% der Schulen keine Gesetze<br />
gegen Gewalthandlungen bekannt sind und keine Regelungen<br />
bestehen, die körperliche Gewaltanwendung durch<br />
Lehrkräfte verbieten (Wijeratne et al., 2015, S. 138). Die unklare<br />
Gesetzeslage schützt also nicht vor körperlicher Gewaltanwendung<br />
(ebd.). Schliesslich begründen Lehrkräfte ihre rigiden<br />
Disziplinarmassnahmen mit der Unterfinanzierung<br />
und Überfüllung der Schulen (ebd.).<br />
Allerdings zeigt eine neuere Studie von 2017, an der 948<br />
Schülerinnen und Schüler sowie 459 Lehrkräfte teilnahmen,<br />
dass 74,7% der Lehrkräfte sehr wohl die rechtlichen,<br />
regulatorischen und administrativen Rahmenbedingungen<br />
in Bezug auf die Disziplinierung von Kindern und Jugendlichen<br />
in pädagogischen Einrichtungen bekannt sind und<br />
nur 22,4% durch mangelnde Ausbildung keine genauen<br />
Kenntnisse davon haben (Zoysa et al., 2021, o.S.). Etwa 80% der<br />
Schulkinder geben an, dass sie mindestens eine Erfahrung<br />
mit körperlicher Bestrafung im Schuljahr vor der Studie erlebt<br />
haben; dagegen geben 61,9% der Lehrkräfte an, im<br />
gleichen Zeitraum mindestens eine Strategie der körperlichen<br />
Strafe angewendet zu haben (ebd.). Die von Schulkindern<br />
und Lehrkräften am häufigsten genannten Strafmassnahmen<br />
umfassen das Still-Stehen-Müssen im Unterricht,<br />
das Kneifen ins Ohr und und Schläge auf das Gesäss mit<br />
einem Stock oder einem anderen harten Gegenstand (ebd.).<br />
Eine junge Frau, die 2018 bei der Rainbow Foundation ihr<br />
Freiwilliges Soziales Jahr absolvierte, berichtet, dass körperliche<br />
Gewalt an Kindern in den Schulen im örtlichen Umfeld<br />
an der Tagesordnung sei und in vielen Klassenräumen<br />
ein Schlagstock sichtbar an der Wand hinge. Ausserdem<br />
According to the Education Regulations of Ceylon from<br />
1939, corporal punishment for children and adolescents<br />
in Sri Lanka was allowed until the end of the 20th century<br />
(Zoysa et al., 2021). Even after Sri Lanka signed the United Nations<br />
Convention on the Rights of the Child and committed,<br />
like all treaty states, to implement legislative, administrative,<br />
social, and educational measures to protect children<br />
from any form of physical violence and harm, physical<br />
violence still occurs in educational institutions (UNICEF e.V.,<br />
1989, p. 1). With the amendment of Section No. 22 of the<br />
Penal Code in 1995 by the Parliament of the Democratic<br />
Socialist Republic of Sri Lanka, violence against children<br />
was declared a criminal offense. However, since physical<br />
violence often occurs in the domestic and private sphere, it<br />
seems to be legitimized by widespread cultural acceptance<br />
(Zoysa et al., 2021).<br />
A study in 2010 at 22 schools in the Gamapha district revealed<br />
that in 80% of the schools, there was no awareness<br />
of laws against violent acts, and there were no regulations<br />
prohibiting physical violence by teachers (Wijeratne et al., 2015,<br />
p. 138). The unclear legal framework does not effectively<br />
protect against physical violence (ibid.). Finally, teachers<br />
justify their strict disciplinary measures by pointing to underfunding<br />
and overcrowding in schools (ibid.).<br />
However, a more recent study from 2017, involving 948<br />
students and 459 teachers, indicates that 74.7% of teachers<br />
are indeed aware of the legal, regulatory, and administrative<br />
frameworks regarding the discipline of children<br />
and adolescents in educational institutions, with only<br />
22.4% lacking precise knowledge due to inadequate training<br />
(Zoysa et al., 2021, n.p.). Approximately 80% of students<br />
reported experiencing at least one instance of physical punishment<br />
in the school year before the study. In contrast,<br />
61.9% of teachers admitted to employing at least one form<br />
of physical punishment during the same period (ibid.). The<br />
most mentioned disciplinary measures by both students<br />
and teachers include standing still in class, ear pinching,<br />
and hitting on the buttocks with a stick or another hard<br />
object (ibid.).<br />
A young woman who completed her Voluntary Social Year at<br />
the Rainbow Foundation in 2018 reports that physical violence<br />
against children is commonplace in the schools in the<br />
local area, with many classrooms displaying a cane visibly<br />
on the wall. Moreover, these canes are readily available for<br />
purchase in small shops, as it is considered commonplace to<br />
own and use them. Other volunteers also testify that physical<br />
23
könnten die Schlagstöcke in jedem kleinen Laden gekauft<br />
werden, denn es sei eine Selbstverständlichkeit, sie<br />
zu besitzen und zu verwenden. Auch andere im Freiwilligendienst<br />
Tätige bezeugen, dass Schläge als Bestrafung<br />
in den Schulen im Umfeld eingesetzt werden, und zwar<br />
trotz Beschwerden, Gesprächen und dem Versprechen,<br />
dass sie unterlassen würden. Von einem weiteren Vorfall<br />
berichtet eine Ehrenamtliche der Rainbow Foundation, als<br />
während einer Theaterprobe an einer solchen Schule auf<br />
einen Schüler, der sich noch umziehen musste, gewartet<br />
wurde. Da die Tür des Umkleideraums nicht verschlossen<br />
war, konnte sie beobachten, wie ein anderer Mitschüler<br />
diesem verspäteten Schüler die Hose herunterzog. Die<br />
zuständige Klassenlehrerin bekam diesen Vorfall mit und<br />
zur Bestrafung schlug sie ihm auf das unbedeckte Gesäss.<br />
Seit 2017 ist Sri Lanka Partnerland der Globalen Partnership<br />
to End Violence Against Children, die zur Beendigung von<br />
Gewalt gegen Kinder und Jugendliche auffordert (End Corporal<br />
Punishment, 2021). In ihrem Bericht an den UN-Ausschuss<br />
für die Rechte des Kindes im Jahr 2017 verpflichtete<br />
sich die Regierung von Sri Lanka, ihre Gesetze zu reformieren,<br />
um körperliche Züchtigung in allen Bereichen zu<br />
verbieten (ebd.). Den uns bekannten Berichten zufolge wird<br />
es in der Realität nicht ohne weitere Interventionen und<br />
professionelle Schulungen möglich sein, körperliche Gewalt<br />
in pädagogischen Institutionen zu unterbinden (ebd.).<br />
Denn Aggressionen und Gewaltanwendungen flammen<br />
durch jahrzehntelange Bürgerkriege in allen Teilen der Bevölkerung<br />
immer wieder auf und politische Anspannungen<br />
sorgen – wie der Tsunamis im Jahre 2004 – für eine unausgewogene<br />
Entwicklung vor allem im Bildungsbereich Sri<br />
Lankas. Die gesamte Situation verlangt grundsätzliche, an<br />
den UN-Konventionen orientierte Veränderungen im Politischen,<br />
Wirtschaftlichen und Sozialen, damit menschenwürdige<br />
Lebensverhältnisse in Sri Lanka für alle möglich<br />
werden. Eine wertschätzende und entwicklungsfördernde<br />
Pädagogik kann einen wesentlichen Beitrag leisten.<br />
Low Arousal Approach und Selbsterziehung<br />
als Professionalisierungsstrategien<br />
bei herausforderndem<br />
Verhalten<br />
Der aus England stammende Low Arousal-Ansatz findet<br />
in Deutschland zunehmend Verbreitung in (heil-)pädagogischen<br />
Einrichtungen, indem alle Mitarbeitenden<br />
im Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen<br />
geschult werden. Als vorbildlich erweist sich die von<br />
strikes are used as a form of punishment, even in the face of<br />
complaints, discussions, and promises to cease such practices.<br />
Another incident is recounted by a volunteer at the Rainbow<br />
Foundation during a theatre rehearsal, where they were<br />
waiting for a student who still needed to change. Since the<br />
dressing room door was not locked, she witnessed another<br />
student pulling down the latecomer’s pants. The responsible<br />
class teacher witnessed this incident and, as a punishment,<br />
struck the exposed buttocks of the student.<br />
Since 2017, Sri Lanka has been a partner country of the<br />
Global Partnership to End Violence Against Children,<br />
which calls for an end to violence against children and<br />
adolescents (End Corporal Punishment, 2021). In its report to<br />
the UN Committee on the Rights of the Child in 2017, the<br />
Sri Lankan government committed to reforming its laws<br />
to prohibit corporal punishment in all areas (ibid.). According<br />
to reports available to us, it will not be possible to<br />
effectively eliminate physical violence in educational institutions<br />
without further interventions and professional<br />
training. Decades of civil conflict in all parts of the population<br />
have repeatedly fueled aggression and violence, and<br />
political tensions, much like the 2004 tsunami, have led to<br />
an imbalanced development, especially in Sri Lanka’s education<br />
sector. The overall situation calls for fundamental<br />
changes in the political, economic, and social spheres,<br />
aligned with UN conventions, to make dignified living<br />
conditions possible for all in Sri Lanka. A respectful and<br />
development-oriented pedagogy can make a significant<br />
contribution to this endeavour.<br />
Low Arousal Approach and self-education<br />
as professionalization strategies<br />
for challenging behaviour<br />
The Low Arousal Approach, originating from England, is<br />
gaining increasing traction in (special) educational institutions<br />
in Germany, with all staff being trained in dealing<br />
with challenging behaviours. The training offered by Thomas<br />
Feilbach, which focuses on handling individuals with<br />
disabilities and non-compliant behaviours, has proven to<br />
be exemplary. In <strong>2023</strong>, we conducted this training as part<br />
of a continuing education program at the Institute for Waldorf<br />
Education, Inclusion, and Interculturality in Mannheim.<br />
During this training, clear connections emerged<br />
24<br />
Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>
Thomas Feilbach angebotene Aus- und Fortbildung zum<br />
Umgang mit Menschen mit Behinderungen und nicht angepassten<br />
Verhaltensweisen, die wir <strong>2023</strong> im Rahmen<br />
einer Hortfortbildung am Institut für Waldorfpädagogik,<br />
Inklusion und Interkulturalität in Mannheim angeboten<br />
haben. Dabei zeigten sich deutliche Bezüge zwischen<br />
den anzustrebenden Qualitäten und Fähigkeiten des Low<br />
Arousal-Ansatzes und den Achtsamkeitsübungen Rudolf<br />
Steiners (Barth & Wiehl <strong>2023</strong>, S. 163ff.). Um diese Aspekte erweitert<br />
werden die im Rahmen der Studie mit leitfadengestützten<br />
Interviews erarbeiteten Möglichkeiten und<br />
präventiven Massnahmen einer gewaltfreien Pädagogik<br />
vorgestellt.<br />
Low Arousal bedeutet niedere Erregbarkeit, die bei herausfordernden<br />
Verhaltensweisen und Situationen zur Deeskalation<br />
beiträgt. «Herausforderndes Verhalten ist ein<br />
Verhalten, das den Menschen um die betreffende Person<br />
Probleme bereitet» (Hejlskov Elvén 2017, S. 17) bzw. das den<br />
Vorstellungen von funktionierenden Menschen oder der<br />
sozialen Norm entsprechenden Umgangsweisen (Fröhlich-<br />
Gildhoff et al. 2020, S. 12) nicht entspricht. Unterschieden wird<br />
zwischen gefährlichen Verhaltensweisen wie Schlagen,<br />
Treten, Beissen, den eigenen Kopf gegen die Wand schlagen,<br />
Eigen- und Fremdverletzungen und problematischem<br />
Verhalten wie Verweigern, Beleidigen, in die eigene Hand<br />
beissen, sich in den Arm schneiden, letztlich auch Stören,<br />
andere Ärgern, Provozieren sowie freche oder verletzende<br />
Bemerkungen. Selbst- und Fremdverletzen gilt es zu unterbinden,<br />
indem in der Situation zum Schutze aller sofort<br />
interveniert wird; um hingegen mit störenden oder als<br />
unpassend eingestuften Verhaltensweisen umgehen und<br />
Veränderungen einleiten zu können, bedarf es langfristiger<br />
Strategien (Hejlskov Elvén 2017, S. 13f.). Erfahrungsgemäss<br />
sind spontane oder aggressive Reaktionen nur kurzfristig,<br />
aber nicht nachhaltig wirksam.<br />
Generell wird in den Schulungen nach dem Low Arousal<br />
Approach davon ausgegangen, dass sich Menschen richtig<br />
verhalten, die es im Prinzip können, und dass sich Menschen<br />
selten bis nie herausfordernd verhalten, wenn es<br />
ihnen gut geht (Feilbach o.J.). Die Gründe, es nicht zu tun, mögen<br />
in einer Überforderung bezüglich der Inhalte und Aufgaben<br />
oder in nicht angemessenen Bedingungen des Lebens<br />
und Arbeitens liegen. Entscheidend ist, dass nicht die<br />
Schuld auf Andere oder Personen des Umfelds geschoben<br />
wird, sondern die Bedürfnisse des einzelnen Menschen<br />
geklärt und realistische Anforderungen gestellt werden,<br />
sodass Menschen ihre individuell und sozial passenden<br />
Lebensbedingungen vorfinden.<br />
Die Grundprinzipien des Low Arousal Approach umfassen<br />
elementare Strategien zur Deeskalation nach Andrew<br />
McDonnell (2010). Offensichtlich ist, dass die Häufigkeit<br />
und Intensität von herausfordernden Verhaltensweisen<br />
between the desired qualities and skills of the Low Arousal<br />
Approach and Rudolf Steiner’s mindfulness exercises<br />
(Barth & Wiehl <strong>2023</strong>, p. 163ff.). This discussion expands upon the<br />
possibilities and preventive measures of non-violent pedagogy<br />
developed during the study through semi-structured<br />
interviews.<br />
Low Arousal refers to reduced excitability, which contributes<br />
to de-escalation in challenging behaviours and situations.<br />
«Challenging behaviour is behaviour that causes<br />
problems for the people around the individual» (Hejlskov Elvén<br />
2017, p. 17) or behaviour that does not conform to the expectations<br />
of functioning individuals or socially accepted<br />
norms of behaviour (Fröhlich-Gildhoff et al. 2020, p. 12). Challenging<br />
behaviour can be categorized into dangerous behaviours<br />
such as hitting, kicking, biting, banging one’s head<br />
against the wall, self-injury, and harming others, as well<br />
as problematic behaviours such as refusal, insults, self-biting,<br />
self-cutting, disruptive actions, teasing, provocation,<br />
and rude or offensive remarks. Self-injury and harm to others<br />
must be prevented through immediate intervention<br />
in the situation to protect everyone. However, dealing with<br />
disruptive or inappropriate behaviours and effecting longterm<br />
change requires ongoing strategies (Hejlskov Elvén 2017,<br />
p. 13f.). Spontaneous or aggressive reactions are typically<br />
effective in the short term but not sustainable in the long<br />
run.<br />
In general, training in the Low Arousal Approach assumes<br />
that individuals behave correctly when they can do so, and<br />
that people rarely or never exhibit challenging behaviour<br />
when they are feeling well (Feilbach n.d.). The reasons for<br />
not behaving correctly may lie in being overwhelmed by<br />
content and tasks or in inappropriate living and working<br />
conditions. What is crucial is not to blame others or the<br />
individuals in their environment but to clarify the needs<br />
of each individual and set realistic expectations so that<br />
people can find living conditions that are individually and<br />
socially suitable.<br />
The basic principles of the Low Arousal Approach encompass<br />
fundamental de-escalation strategies based on Andrew<br />
McDonnell (2010). It is evident that the frequency<br />
and intensity of challenging behaviours increase as physiological<br />
arousal levels rise. For those in proximity or with<br />
pedagogical responsibilities, the relationship between<br />
physiological arousal and general performance capability<br />
plays a significant role in handling critical situations.<br />
Therefore, it is essential to assess the level of arousal as-<br />
25
mit steigendem physiologischen Erregungsniveau (Arousal<br />
Level) zunehmen. Auf Seiten der nahestehenden Personen<br />
oder pädagogisch Verantwortlichen spielt für den Umgang<br />
mit kritischen Situationen der Zusammenhang von<br />
physiologischer Erregung und der allgemeinen Fähigkeit<br />
des Agierens (Performanz) eine massgebliche Rolle. Daher<br />
gilt es den Grad der Erregung einzuschätzen, der mit<br />
einem problematischen Verhalten einhergeht. Unterschieden<br />
werden drei Low Arousal-Niveaus: Zeigt sich das Verhalten<br />
im Normalbereich, im Auslösebereich oder bereits<br />
in der Krise mit Gefahr einer Eskalation. Sich diese Lagen<br />
bewusst zu machen, ist Bedingung für jede Art des Eingreifens<br />
bzw. die Entwicklung von Strategien (Feilbach o.J.).<br />
Die Anwendung des Low Arousal Ansatzes verlangt allerdings<br />
in Theorie und Praxis ein fundiertes Erkennen und<br />
Verstehen der Menschen, ihrer Lagen und Bedarfe. Dafür<br />
wurde von Ulrike Barth und Angelika Wiehl (<strong>2023</strong>) die phänomenologisch-reflexive<br />
Methode der Wahrnehmungsvignetten<br />
entwickelt. Wahrnehmungsvignetten sind kurze<br />
beschreibende Texte, die besondere und auffallende<br />
Momente mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen<br />
festhalten (ebd., S. 119), die in einem dreiphasigen Prozess<br />
reflektiert werden (ebd., S. 176ff.). Sie offenbaren einerseits<br />
tiefere Schichten der Verhaltens- und Ausdrucksweisen<br />
eines Menschen, andererseits regen sie an, vorurteilssensibel<br />
mit diesen umzugehen, die eigene Haltung zu<br />
überdenken und ggf. neu zu justieren (ebd., S. 147 ff.). Die<br />
Methode der Wahrnehmungsvignetten kann einerseits<br />
für Teambesprechungen genutzt werden, um sich gerade<br />
auch in Bezug auf deeskalierende Umgangsformen im Sinne<br />
des Low Arousal-Ansatzes zu verabreden; andererseits<br />
für die Selbsterziehung und Professionalisierung in pädagogischen<br />
Arbeitsfeldern. Denn es zeigen sich deutliche<br />
Bezüge zwischen den Anforderungen für abzustimmende<br />
Handlungspläne und Strategien bei herausfordernden Situationen<br />
und den von Steiner entwickelten sogenannten<br />
Nebenübungen (2022) ergänzt um die Rückschau- (Steiner<br />
2019) und Vorschau-Übung (Scharmer 2022, S. 122).<br />
Die Übungsreihe, die von Steiner ursprünglich als Basis<br />
einer meditativen Schulung geschaffen wurde, umfasst im<br />
Wesentlichen die Ausbildung von folgenden Eigenschaften:<br />
1) Gedankenkontrolle als Konzentration im Denken<br />
und Vorstellen, 2) Initiative und Willensaktivität, 3) Gelassenheit,<br />
4) Unbefangenheit und Positivität, 5) Unvoreingenommenheit,<br />
6) Inneres Gleichgewicht und 7) tägliche<br />
Rück- und Vorschau (Barth & Wiehl <strong>2023</strong>, S. 160 ff.). Angeregt<br />
durch die Hortfortbildung <strong>2023</strong> (Akademie für Waldorfpädagogik<br />
Mannheim) unter dem Thema Pädagogische<br />
Haltung bewahren und gestalten mit Thomas Feilbach<br />
konkretisierte sich der Zusammenhang dieser Übungen<br />
sociated with problematic behaviour. Three levels of Low<br />
Arousal are distinguished: behaviour occurring within the<br />
normal range, behaviour in the triggering range, and behaviour<br />
in the crisis range with a risk of escalation. Being<br />
aware of these situations is a prerequisite for any form of<br />
intervention or the development of strategies (Feilbach n.d.).<br />
However, the application of the Low Arousal Approach<br />
requires a thorough understanding of individuals, their<br />
situations, and their needs in both theory and practice. To<br />
address this need, Ulrike Barth and Angelika Wiehl (<strong>2023</strong>)<br />
developed the phenomenological-reflective method of<br />
perception vignettes. Perception vignettes are short descriptive<br />
texts that capture special and striking moments<br />
with children, adolescents, and adults (ibid., p. 119) and are<br />
reflected upon in a three-phase process (ibid., p. 176ff.). On<br />
one hand, they reveal deeper layers of a person’s behavior<br />
and expressions; on the other hand, they encourage individuals<br />
to handle them with sensitivity, reconsider their<br />
own attitudes, and, if necessary, adjust them (ibid., p. 147 ff.).<br />
The method of perception vignettes can be used for team<br />
meetings, particularly in terms of agreeing on de-escalation<br />
approaches in line with the Low Arousal Approach.<br />
It can also be used for self-education and professionalization<br />
in pedagogical fields. There are clear connections<br />
between the requirements for coordinated action plans<br />
and strategies in challenging situations and Rudolf Steiner’s<br />
so-called Subsidiary Exercises (2022), supplemented<br />
by the retrospective exercise (Steiner 2019) and the prospective<br />
exercise (Scharmer 2022, p. 122).<br />
The series of exercises, originally created by Steiner as a<br />
basis for meditative training, essentially includes the development<br />
of the following qualities: 1) Thought control<br />
as concentration in thinking and visualization, 2) initiative<br />
and will activity, 3) composure, 4) openness and positivity,<br />
5) impartiality, 6) inner balance, and 7) daily retrospective<br />
and prospective reflection (Barth & Wiehl <strong>2023</strong>, p. 160ff.). Inspired<br />
by the <strong>2023</strong> after-school training at the Academy<br />
for Waldorf Education in Mannheim on the topic of Maintaining<br />
and Shaping Pedagogical Attitude with Thomas<br />
Feilbach, the connection between these exercises and the<br />
fundamentals of the Low Arousal Approach became clear.<br />
Openly perceiving and closely observing a person or situation<br />
requires thought control (1) without associations and<br />
assumptions; rescuing and resolving a difficult situation<br />
demands initiative and presence of mind (2), and in special<br />
cases, appropriate restraint; initiating de-escalation<br />
26<br />
Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>
mit den Grundlagen des Low Arousal-Ansatzes. Das offene<br />
Wahrnehmen und genaue Beobachten eines Menschen<br />
oder einer Situation bedarf der Gedankenkontrolle (1)<br />
ohne Assoziationen und Vermutungen; das Retten und<br />
Lösen einer schwierigen Situation verlangt initiatives und<br />
geistesgegenwärtiges Handeln (2) und in besonderen Fällen<br />
die entsprechende Zurückhaltung; das Einleiten einer<br />
Deeskalation erfordert Gelassenheit (3); geht es darum<br />
einzuschätzen, was eine gute oder eine problematische Situation<br />
ausmacht, bewährt sich die Haltung der Positivität<br />
(4); um für die Perspektiven einer anderen Person offen zu<br />
sein, ist Unbefangenheit (5) notwendig; wenn in herausfordernden<br />
Situationen eine Regulation – statt Strafmassnahmen<br />
oder unzulässigen Gewaltanwendungen – bewirkt<br />
werden soll, ist inneres Gleichgewicht (6) von Nutzen; vergessen<br />
wird oft die persönliche Nachsorge – wie Thomas<br />
Feilbach (o. J.) besonders hervorhebt, um problematische<br />
Situationen zu verarbeiten und neuen Mut zu fassen, eignen<br />
sich die Rückschau- und die Vorschau-Übung (7). Indem<br />
das Tagesgeschehen rückwärts und dabei die besonderen<br />
oder belastenden Momente angeschaut werden, um<br />
das Gelungene oder das Nichtgelungene zu sehen, können<br />
Fragen und Möglichkeiten für ein zukünftiges Handeln aufleuchten<br />
und bei einer morgendlichen Vorschau zu neuen<br />
Handlungsimpulsen werden.<br />
Claus Otto Scharmer wendet die morgendliche Vorschau-<br />
Übung an, um an den «Nachklang der Nacht» bewusst anzuknüpfen<br />
und um «Herausforderungen von einem inneren<br />
Ort aus [zu] begegnen, der in der entstehenden Zukunft<br />
gegründet ist» (Scharmer 2022, S. 122). Es zeigt sich immer<br />
deutlicher, dass Selbsterziehung durch die Nebenübungen<br />
zwar oft empfohlen wird – so auch in dem Interview mit<br />
Martin Henrich –, die Zeitlage aber der auf die Praxis gerichteten<br />
und Menschen unmittelbar zu Gute kommenden<br />
Achtsamkeit und Wertschätzung bedarf. Die von Steiner<br />
empfohlenen Übungen sind für die Selbstentwicklung<br />
vorgesehen und dienlich; aber erst in der Verbindung beispielsweise<br />
mit dem Low Arousal Ansatz ermöglichen sie<br />
die Ausbildung und Weiterentwicklung eines Ethos für die<br />
pädagogische Praxis, das wiederum Grundlage und Orientierung<br />
gerade auch im Umgang mit herausfordernden<br />
Situationen sein kann. Nicht auf die einmal gebildete Haltung<br />
und die eingeübten Handlungsweisen kommt es an,<br />
sondern auf die stetige Erneuerung «durch Üben für die<br />
pädagogischen Belange – ein Weg der Selbstentwicklung<br />
und Professionalisierung» (Barth & Wiehl <strong>2023</strong>, S. 174.).<br />
calls for composure (3); when assessing what makes a situation<br />
good or problematic, a positive attitude (4) proves<br />
valuable; being open to another person’s perspective requires<br />
impartiality (5); achieving regulation instead of punitive<br />
measures or inappropriate violence in challenging<br />
situations benefits from inner balance (6); often forgotten<br />
is personal aftercare - as emphasized by Thomas Feilbach<br />
(n.d.), to process challenging situations and muster new<br />
courage, the retrospective and prospective exercises (7)<br />
are suitable. By looking back at the day’s events and examining<br />
the special or challenging moments, one can identify<br />
questions and possibilities for future action, and during<br />
a morning preview, these moments can turn into new impulses<br />
for action.<br />
Claus Otto Scharmer uses the morning preview exercise<br />
to consciously connect with the «resonance of the night»<br />
and to «encounter challenges from an inner place that is<br />
grounded in the emerging future» (Scharmer 2022, p. 122). It<br />
is becoming increasingly clear that self-education through<br />
the so-called Subsidiary Exercises is often recommended<br />
- as in the interview with Martin Henrich – but the timing<br />
requires a focus on mindfulness and appreciation that directly<br />
benefits individuals in practice. Steiner’s recommended<br />
exercises are intended for self-development and are<br />
beneficial, but it is in combination with approaches like the<br />
Low Arousal Approach that they enable the formation and<br />
ongoing development of an ethos for pedagogical practice,<br />
which in turn can serve as a foundation and guide, especially<br />
in dealing with challenging situations. It’s not about<br />
the once-formed attitude and rehearsed actions, but about<br />
the continuous renewal «through practice for pedagogical<br />
matters - a path of self-development and professionalization»<br />
(Barth & Wiehl <strong>2023</strong>, p. 174).<br />
Results of expert interviews<br />
To gain insight into the conditions in educational institutions<br />
and the handling of violence in Sri Lanka, qualitative<br />
expert interviews were conducted as part of Nur Erdem’s<br />
bachelor’s thesis. Three individuals who work within or<br />
in the vicinity of the Rainbow Foundation, including a hotel<br />
owner, the founder of the Rainbow Foundation, and a<br />
Rainbow Foundation employee, volunteered to participate.<br />
Their data and statements were used for the research.<br />
In the following sections, the methodology and analysis of<br />
the interviews will be presented.<br />
27
Ergebnisse der<br />
Expertisen-Interviews<br />
Um Einblick in die Verhältnisse an pädagogischen Institutionen<br />
und den Umgang mit Gewaltanwendungen in Sri<br />
Lanka zu bekommen, wurden im Rahmen ihrer Bachelor-<br />
Arbeit von Nur Erdem leitfadengestützte qualitative Expertinnen-<br />
und Experteninterviews durchgeführt. Dafür<br />
stellten sich drei Personen zur Verfügung, die im Rahmen<br />
oder im Umkreis der Rainbow Fondation arbeiten, eine<br />
Hotelbesitzerin, der Gründer der Rainbow Fondation und<br />
eine Mitarbeiterin der Rainbow Fondation. Auf diese Weise<br />
konnten Einschätzungen von direkt beteiligten und somit<br />
gestaltenden und handelnden Personen ebenso wie einer<br />
im Sozialraum tätigen Person in die Auswertung einbezogen<br />
werden. Sie willigten ein, dass ihre Daten und Aussagen<br />
für die wissenschaftliche Arbeit genutzt werden<br />
dürfen. Im Folgenden werden die Methode und die Auswertung<br />
der Interviews vorgestellt.<br />
Die Methode der qualitativen Expertinnen- und Experteninterviews<br />
ist ein systematisches und theoriegeleitetes<br />
Verfahren der Datenerhebung in Form von Befragung jeweils<br />
einer Person (Kaiser 2021, S. 9). Die Gütekriterien dieser<br />
Interviewmethode liegen in der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit<br />
der Datenerhebung und -auswertung, der<br />
theoriegeleiteten Vorgehensweise, der Neutralität und<br />
Offenheit der Forschenden gegenüber neuen Erkenntnissen<br />
und Deutungsmustern (ebd., S. 13). Im Rahmen eines<br />
vierwöchigen Forschungspraktikums in der Rainbow Fondation<br />
wurden von Nur Erdem drei teilstrukturierte Expertinnen-<br />
und Experteninterviews geführt, die – bis auf<br />
das dritte Interview – mit einer offenen Frage begannen<br />
und mit fünf strukturierenden, jeweils bestimmte Themen<br />
behandelnden Fragen fortsetzten. Den zu Befragenden<br />
wurde ein Leitfaden in englischer Sprache vorgelegt, der<br />
die Forschungsfrage und fünf Schlüsselfragen umfasste,<br />
damit sich die Beteiligten orientieren und das Interview auf<br />
eine dreiviertel Stunde begrenzen konnten. Leitfaden und<br />
Interviews sind in der 2022 am Institut für Waldorfpädagogik,<br />
Inklusion und Interkulturalität in Mannheim von<br />
Nur Erdem eingereichten Bachelorarbeit dokumentiert<br />
und nach den Methoden der qualitativen Inhaltsanalyse<br />
(Mayring 2015) ausgewertet. In der folgenden Darstellung zitieren<br />
und paraphrasieren wir auszugsweise die auf das<br />
Thema Gewaltanwendung bezogenen Aussagen aus der<br />
Bachelorarbeit von Nur Erdem, um an einigen Beispielen<br />
das pädagogische Handeln in Sri Lanka einschätzen und<br />
notwendige Veränderungen aufzeigen zu können.<br />
Nach einem einstimmenden Gespräch mit den Interviewpartnerinnen<br />
und -partnern wurde eine Einstiegsfrage ge-<br />
The method of qualitative expert interviews is a systematic<br />
and theory-guided data collection procedure involving<br />
interviewing one person at a time (Kaiser 2021, p. 9). The<br />
quality criteria of this interview method lie in the intersubjective<br />
comprehensibility of data collection and analysis,<br />
the theory-guided approach, and the researcher’s<br />
neutrality and openness to new insights and patterns of<br />
interpretation (ibid., p. 13). As part of a four-week research<br />
internship at the Rainbow Foundation, Nur Erdem conducted<br />
three semi-structured expert interviews, which began<br />
with an open question and continued with five structuring<br />
questions, each addressing specific topics—except for<br />
the third interview. The interviewees were provided with<br />
an English-language guide containing the research question<br />
and five key questions to help them orient themselves<br />
and limit the interview to about three-quarters of an<br />
hour. The guide and interviews are documented in Nur Erdem’s<br />
bachelor’s thesis submitted in 2022 to the Institute<br />
for Waldorf Education, Inclusion, and Interculturality in<br />
Mannheim and analysed using qualitative content analysis<br />
methods (Mayring 2015). In the following presentation, we<br />
will quote and paraphrase selected statements from Nur<br />
Erdem’s thesis related to the topic of violence to assess<br />
pedagogical practices in Sri Lanka and highlight necessary<br />
changes.<br />
After an initial discussion with the interviewees, an introductory<br />
question was posed: «What have your experiences<br />
been in recent years in educational institutions regarding<br />
the use of violence by staff and teachers against children<br />
and adolescents?» The first two interviewees provided detailed<br />
accounts of experiences with acts of violence in educational<br />
institutions, while the third person had no direct<br />
experience with this in Sri Lanka but contributed insights<br />
into changing the situation. For our research question,<br />
only the statements from the first and second interviews<br />
are relevant, so the third interview will not be discussed<br />
here.<br />
The first person, a woman from the surrounding local<br />
community of the Rainbow Foundation, provides a detailed<br />
account of her nine-year-old son’s experience with violence<br />
at the hands of a teacher. Her son had been physically<br />
assaulted by the teacher because he hadn’t completed<br />
his homework. One afternoon, the mother received a call<br />
that her son had fainted multiple times and was now being<br />
treated in a hospital. Later, she learned that her son’s condition<br />
had been caused by the teacher. However, a doctor<br />
28<br />
Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>
stellt: «Wie waren in den letzten Jahren Ihre Erfahrungen<br />
in pädagogischen Einrichtungen mit durch Mitarbeitende<br />
und Lehrkräfte ausgeübtem Gewaltumgang gegenüber<br />
Kindern und Jugendlichen?» Die ersten beiden Interviewpartner<br />
berichten ausführlich über Erfahrungen mit Gewalthandlungen<br />
in pädagogischen Institutionen, während<br />
die dritte Person damit in Sri Lanka keine Berührungen gehabt<br />
hat, aber Gesichtspunkte zur Veränderung der Lage<br />
beiträgt. Für unsere Fragestellung sind nur die Aussagen<br />
des ersten und zweiten Interviews relevant, weshalb das<br />
dritte hier keine Beachtung findet.<br />
Die erste Person, eine Frau aus dem Sozialraum der Rainbow<br />
Fondation, schildert ausführlich die Gewalterfahrungen<br />
ihres neunjährigen Sohnes, der von einer Lehrperson<br />
geschlagen wurde, weil er seine Hausaufgaben nicht gemacht<br />
hatte. Die Mutter erhielt an einem Nachmittag einen<br />
Anruf, ihr Sohn sei mehrfach ohnmächtig geworden und<br />
würde jetzt in einem Krankenhaus behandelt. Später erfährt<br />
die Mutter, dass der Zustand des Sohnes durch die<br />
Lehrerin herbeigeführt worden sei. Allerdings hat eine<br />
Ärztin Zweifel und bietet ein Gespräch mit dem Sohn an.<br />
Dieser hatte offenbar wegen nicht erledigter Hausaufgaben<br />
Angst vor der Lehrerin und hatte sich deshalb in die Hose<br />
gemacht. Das ereignete sich vor der ganzen Klasse, sodass<br />
die Kinder lachten und die Lehrerin ihn dafür bestrafte. Er<br />
musste vor dem Klassenzimmer auf die Knie gehen und<br />
so die ganze Schulstunde verbringen. Eigentlich wollte er<br />
nicht mehr in die Schule gehen und versetzte sich deshalb<br />
wiederholt in Ohnmacht. Die Ärztin empfahl der Mutter das<br />
Selbstbewusstsein des Sohnes zu stärken; diese behielt ihn<br />
zunächst eine Woche zuhause und kontaktierte die Schulleitung,<br />
die der Lehrkraft die Klassenführung entzog.<br />
Das zweite Expertengespräch wurde mit Martin Henrich,<br />
dem Gründer der Rainbow Fondation, der zunächst ausführlich<br />
über seine Bewegründe berichtet, in Sri Lanka die<br />
heilpädagogische Arbeit mit Menschen mit Behinderungen<br />
und Unterstützungsbedarf zu verwirklichen. Nach seinen<br />
Erfahrungen mit Gewalthandlungen gefragt, stellt sich heraus,<br />
dass er «selbst keinerlei persönliche Erfahrungen mit<br />
Gewalt gemacht hat, sondern der Umgang mit Gewalt innerhalb<br />
des Kindergartens und im therapeutischen Bereich, in<br />
der Tagespflege erfahren wurde.» Ihm fällt das bereits oben<br />
beschriebene Beispiel einer Freiwilligen ein, als vor einer<br />
Theateraufführung eine Lehrkraft einem Jungen auf das unbedeckte<br />
Gesäss schlug; anschliessend habe die Freiwillige<br />
mit den Schülerinnen, Schülern und der Lehrkraft das<br />
Gespräch gesucht und der Schüler, der das Eingreifen der<br />
Lehrerin ausgelöst hatte, habe sich entschuldigt und von<br />
sich aus gesagt, dass es ein unfaires Verhalten gewesen sei.<br />
Als weiteres auch oben erwähntes Beispiel werden die<br />
Stöckchen genannt, deren Gebrauch die Freiwilligen ablehnten.<br />
Dann schildert Martin Henrich eine Erfahrung aus<br />
had doubts and offered to speak with the son. It turned out<br />
that he had been afraid of the teacher due to his unfinished<br />
homework and had wet himself in front of the entire class,<br />
which resulted in the other children laughing at him. In<br />
response, the teacher punished him by making him kneel<br />
outside the classroom for the entire school period. He<br />
no longer wanted to go to school and repeatedly feigned<br />
fainting. The doctor recommended that the mother work<br />
on boosting her son’s self-esteem. Initially, she kept him<br />
home for a week and contacted the school administration,<br />
which subsequently revoked the teacher’s classroom management<br />
responsibilities.<br />
The second expert interview was conducted with Martin<br />
Henrich, the founder of the Rainbow Foundation, who initially<br />
discussed his reasons for establishing therapeutic<br />
educational work with people with disabilities and support<br />
needs in Sri Lanka. When asked about his experiences<br />
with violence, it became evident that he had «not personally<br />
experienced any violence but had encountered the use<br />
of violence in a kindergarten and in the therapeutic field,<br />
in daycare.» He recalled the example described earlier in<br />
which a teacher had slapped a boy on the bare buttocks<br />
before a theatre performance. Afterward, a volunteer engaged<br />
in a conversation with the students and the teacher.<br />
The boy who had prompted the teacher’s intervention apologized<br />
and spontaneously acknowledged that his behaviour<br />
had been unfair.<br />
Another example mentioned, as discussed earlier, involved<br />
the use of sticks, which the volunteers rejected. Martin<br />
Henrich then described an experience from the work<br />
of the Rainbow Foundation involving a «disabled young<br />
man who was raised very strictly.» His mother only had<br />
to «pick up a blade of grass, and he would immediately<br />
behave calmly and decently». Martin Henrich humorously<br />
recounted an incident where he tried the same «trick» with<br />
a twig on the same boy but did not achieve the same result.<br />
He considered it a «success» when the child took the twig<br />
from him «with a laugh» and tossed it away. Nur Erdem, in<br />
her analysis, underlines his «pedagogical attitude regarding<br />
dealing with violence» and highlights the joy «of having<br />
built such a relationship with the boy that that is free<br />
from fear.» From the conversations with Martin Henrich, it<br />
becomes clear that «he rejects the use of violence and promotes<br />
a protective pedagogy.» His pedagogical attitude is<br />
an expression of non-violence, «for which his organization<br />
advocates and stands.»<br />
29
der Arbeit der Rainbow Fondation mit einem «behinderten<br />
jungen Mann ..., der sehr streng erzogen wurde.» Seine<br />
Mutter musste nur «einen Grashalm in die Hand» nehmen,<br />
«woraufhin er sich sofort ruhig und anständig benahm».<br />
«Mit einem Schmunzeln auf dem Gesicht» berichtet Martin<br />
Henrich von dem «Trick» mit einem Zweig, den er bei dem<br />
Jungen ausprobiert habe, ohne dieselbe Reaktion zu erreichen.<br />
Er wertet es als «Erfolg», dass das Kind ihm den<br />
Zweig «lachend aus der Hand» nahm und wegschmiss.<br />
Das unterstreiche, so Nur Erdem auswertend, «seine pädagogische<br />
Haltung in Bezug auf Gewaltumgang» und er<br />
thematisiere damit die Freude, «eine solche Beziehung zu<br />
dem Jungen aufgebaut zu haben, die ohne Angst besteht».<br />
Aus den Gesprächen mit Martin Henrich könne man deutlich<br />
seine «ablehnende Haltung zum Gewaltgebrauch und<br />
die Förderung einer beschützenden Pädagogik herauskristallisieren».<br />
Seine pädagogische Haltung sei Ausdruck<br />
eines gewaltfreien Umgangs, «für den sich seine Organisation<br />
einsetzt und steht».<br />
Folgen wir den weiteren Interviewaussagen und den Auswertungen,<br />
bestätigen sich Gewalterfahrungen. Im ersten<br />
Fall betreffen sie direkt die Familie, im zweiten Fall sind<br />
es Beobachtungen der Freiwilligen, die ihr Soziales Jahr<br />
in der Rainbow Fondation verbringen. Beide Male geht es<br />
um verletzende und beschämende Handlungsweisen von<br />
Lehrkräften in lokalen Schulen Kindern gegenüber.<br />
Im strukturierten Teil der Interviews geht es um weitere<br />
Erfahrungen mit Gewaltanwendung und die Schwierigkeiten,<br />
einen gewaltfreien Umgang mit Kindern und Jugendlichen<br />
zu ermöglichen; die in fünf Kategorien geordneten<br />
Aussagen werden hier exemplarisch vorgestellt.<br />
1) Es stellt sich heraus, dass die Lehrkräfte keine Universität<br />
besucht und im Allgemeinen keinen Abschluss<br />
für den Lehrberuf gemacht haben, lediglich ein teaching<br />
college besucht hätten, aber nicht für den Umgang mit<br />
jüngeren Kindern ausgebildet seien – wie die im ersten<br />
Interview beschriebene junge Klassenlehrerin. Nach<br />
Einschätzung von Nur Erdem unterstreiche dies, «dass<br />
nicht ausgebildete pädagogische Fachkräfte gar keine<br />
Möglichkeit haben, eine gewaltfreie Methode auszuüben,<br />
da ihnen gar kein alternativer Umgang mit herausforderndem<br />
Verhalten bekannt ist und sie in Stresssituationen<br />
überfordert sind und versuchen die Kontrolle<br />
über Situationen zu bewahren, indem mit Strafen und<br />
Konsequenzen reagiert wird».<br />
2) Ein Problem, den gewaltfreien Umgang einzuführen,<br />
liege – so Martin Henrich – auch darin, dass die Mitarbeitenden<br />
der Rainbow Foundation, die die lokalen Lehrkräfte<br />
professionell begleiten, aus dem Ausland seien<br />
und nicht das Gefühl verbreiten wollten, sie wüssten,<br />
Following the additional interview statements and their<br />
evaluations, experiences of violence are confirmed. In<br />
the first case, they directly affect the family, while in the<br />
second case, they are observations made by volunteers<br />
spending their Social Year at the Rainbow Foundation.<br />
Both instances involve hurtful and humiliating actions by<br />
teachers in local schools towards children.<br />
In the structured part of the interviews, further experiences<br />
with violence and the difficulties in facilitating a<br />
non-violent approach with children and adolescents are<br />
discussed. The statements, categorized into five groups,<br />
are presented here as examples.<br />
1) It emerges that the teachers have not attended university<br />
and generally have not received formal training<br />
for the teaching profession; they have only attended a<br />
teaching college but are not trained to work with younger<br />
children. This aligns with the description of the young<br />
class teacher provided in the first interview. According<br />
to Nur Erdem’s assessment, this underscores that «untrained<br />
educational professionals have no possibility of<br />
practicing a non-violent method, as they are not aware<br />
of any alternative approach to challenging behaviour<br />
and are overwhelmed in stressful situations, attempting<br />
to maintain control over situations by reacting with punishments<br />
and consequences.»<br />
2) Martin Henrich also points out that a challenge in introducing<br />
non-violent practices is that the staff at the<br />
Rainbow Foundation, who are providing guidance to the<br />
local teachers, are foreigners, and they do not want to<br />
convey the feeling that they know better. This illustrates<br />
«the difficulty of showing, as an outsider, that such<br />
behaviour [referring to violence] is not conducive to selfimage<br />
and learning, without being didactic,» as Nur Erdem<br />
deduces from the statements.<br />
3) Furthermore, it is learned from the second interviewee<br />
that violence in Sri Lanka is a structural problem and<br />
is considered «normal». Students perceive it as good<br />
because otherwise, they would not do their homework.<br />
Ultimately, there is the belief that «if you don’t hit your<br />
child, you don’t love it». As illustrated by an incident at<br />
the Rainbow Foundation's own pre-school, there is bewilderment<br />
when a kindergarten teacher is prevented<br />
from hitting a child. The second expert also mentions<br />
that parents are afraid to «raise their voice» because<br />
they do not want to «endanger their children through<br />
any expression or action».<br />
4) Violence is prevalent in the form of hitting with sticks<br />
or other physical punishments; for instance, children<br />
30<br />
Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>
wie es besser ginge. Das veranschauliche «die Schwierigkeit,<br />
als Aussenstehende zu zeigen, dass ein solcher<br />
Umgang [gemeint ist Gewaltanwendung] für das Selbstbild<br />
und das Lernen nicht förderlich ist, ohne dabei eine<br />
belehrende Wirkung zu erzeugen», schliesst Nur Erdem<br />
aus den Aussagen.<br />
3) Von dem zweiten Interviewpartner ist ausserdem zu<br />
erfahren, dass Gewalt in Sri Lanka ein strukturelles Problem<br />
sei, sie als «normal» gelte und die Schülerschaft auf<br />
Befragen sie als gut empfänden, denn sonst würden sie<br />
ihre Hausaufgaben nicht erledigen. Schliesslich gelte:<br />
«Wer sein Kind nicht schlägt, liebt es nicht.» Oder, wie ein<br />
Vorfall im eigenen Kindergarten der Rainbow Foundation<br />
zeigt, wird mit Verständnislosigkeit reagiert, wenn<br />
eine Kindergärtnerin daran gehindert wird, ein Kind zu<br />
schlagen. Schliesslich hätten Eltern Angst, so der zweite<br />
Experte, «ihre Stimme zu erheben», weil sie ihre Kinder<br />
«nicht durch irgendeine Äusserung oder Handlung gefährden<br />
möchten».<br />
4) Verbreitet ist der Gewaltumgang in Form von Schlagen<br />
mit dem Stock oder anderen körperliche Strafen; beispielsweise<br />
müssen sich Kinder hinhocken, ihre Hände<br />
überkreuzt halten und werden an den Ohren gezogen,<br />
«und das kann dann über Stunden [dauern]». Die ausgeübte<br />
Gewalt bewirke bei Kindern grundsätzlich Angst,<br />
auch vor den netten Lehrkräften.<br />
5) Zur Frage nach einem gewaltfreien Umgang mit Kindern<br />
werden verschiedene Möglichkeiten bedacht: Lehrkräfte<br />
sollten überhaupt auf den gewaltfreien Umgang<br />
aufmerksam gemacht und dafür geschult werden; für<br />
den Umgang mit herausfordernden Situationen käme es<br />
darauf an, die Gefühle in den Griff zu bekommen; die<br />
Interaktionen der Lehrkräfte mit den Kindern müssten<br />
gestärkt werden, dann würden sich die Kinder auch besser<br />
verhalten; schliesslich könnten rhythmische Übungen<br />
mit den Kindern gemacht werden; Werbespots sollten<br />
darauf aufmerksam machen, dass Kinder «durch<br />
Prügelstrafen verängstigt werden»; eine «starke Persönlichkeitsbildung»<br />
und wenn Kinder keine Angst hätten,<br />
sei auch wirtschaftlich von Nutzen; aus dem Kind könne<br />
man alles auch ohne Gewalt herauslocken und seine Resilienz<br />
stärken. Schliesslich kommt Martin Henrich auf<br />
die Waldorfpädagogik zu sprechen: «Wenn man den heilpädagogischen<br />
Kurs von Steiner anguckt, dann sind da<br />
natürlich Beispiele drin, wie ich ein Kind fördern kann,<br />
indem man auch mögliche Behinderungen, in den damaligen<br />
Verhältnissen vollkommen neuen Art und Weise<br />
erklärt, das ist das eine.» Das andere sei die «Selbsterziehung»,<br />
aus der sich «viel Neues und Erkennendes zum<br />
Thema Gewaltfreiheit und unterstützende Pädagogik<br />
sich entwickeln» könne.<br />
are made to squat, cross their hands, and have their ears<br />
pulled, «and this can last for hours». The violence inflicted<br />
generally causes fear in children, even in the presence<br />
of kind teachers.<br />
5) Regarding the question of a non-violent approach to<br />
children, various possibilities are considered: teachers<br />
should be made aware of and trained in non-violent methods;<br />
it is essential to control one’s emotions when dealing<br />
with challenging situations; interactions between<br />
teachers and children should be strengthened, leading<br />
to improved behaviour in children; rhythmic exercises<br />
with children could be implemented; advertisements<br />
should draw attention to the fact that children «are<br />
frightened by corporal punishment»; strong personality<br />
development and the absence of fear in children are<br />
also economically beneficial; everything can be drawn<br />
out from a child without the use of violence, strengthening<br />
their resilience. Finally, Martin Henrich discusses<br />
Waldorf education: «If you look at Steiner’s special education<br />
course, there are, of course, examples of how to<br />
support a child, including explaining possible disabilities<br />
in completely new ways for the times. That’s one<br />
aspect.» The other aspect is «self-education», which can<br />
lead to «new insights and understanding regarding nonviolence<br />
and supportive pedagogy».<br />
Outlook<br />
The statements and analyses from the interviews clearly<br />
demonstrate that various challenges need to be overcome<br />
and that achieving a non-violent approach to children and<br />
adolescents in educational institutions as a binding and<br />
widely supported concern is a long journey. The interviews<br />
provide only some recommendations, the responsible<br />
implementation of which lies entirely in the hands<br />
of those living and working in Sri Lanka. It is evident that<br />
there is a need to establish a legal and political framework<br />
for institutional pedagogy in accordance with the UN Convention<br />
on the Rights of the Child. Additionally, there is<br />
a need for the renewal and commitment to education for<br />
all pedagogical professions and practical qualifications.<br />
Finally, everyone needs to develop an awareness of nonviolent,<br />
respectful, and peace-promoting interactions based<br />
on cultural and religious traditions, coupled with the<br />
abandonment of hurtful and shaming practices with children,<br />
adolescents, and all individuals.<br />
31
Ausblick<br />
Die Aussagen und Auswertungen der Interviews zeigen<br />
deutlich, dass ganz verschiedene Schwierigkeiten zu bewältigen<br />
sind und dass es ein weiter Weg ist, den gewaltfreien<br />
Umgang mit Kindern und Jugendlichen in pädagogischen<br />
Institutionen als ein verbindliches und von möglichst<br />
vielen Menschen getragenes Anliegen zu realisieren. Aus<br />
den Interviews können lediglich einige Empfehlungen abgelesen<br />
werden, deren verantwortungsbewusste Umsetzung<br />
vollständig in den Händen derer liegt, die in Sri Lanka<br />
leben und arbeiten. Deutlich ist, dass es einen rechtlichen<br />
und politischen Rahmen für die institutionelle Pädagogik<br />
gemäss der UN-Kinderkonvention zu schaffen gilt. Dann<br />
bedarf es der Erneuerung und Verpflichtung der Ausbildungen<br />
für alle pädagogischen Berufe und der praxisbezogenen<br />
Qualifikationen. Schliesslich benötigen alle ein<br />
auf den kulturellen und religiösen Traditionen basierendes<br />
Bewusstsein für einen gewaltfreien, wertschätzenden<br />
und friedenstiftenden Umgang verbunden mit dem Verzicht<br />
auf verletzende und beschämende Umgangsweisen<br />
mit Kindern, Jugendlichen und allen Menschen. Sicherlich<br />
kann ein Lichtblick in der erwähnten Selbsterziehung gesehen<br />
werden, die z.B. durch die erwähnten Nebenübungen<br />
von Steiner unterstützt werden kann. Allerdings können<br />
sie durch einen erlebten Praxisbezug – wie am Beispiel<br />
der Ausbildung eines pädagogischen Ethos gezeigt – wirksam<br />
mit den sozialen Aufgaben verbunden werden. Darüber<br />
hinaus ist für den professionellen und institutionellen<br />
pädagogischen Rahmen eine Ausbildung erforderlich, die<br />
nicht nur Wissen und Kompetenzen vermittelt, sondern<br />
eine fundamentale Selbstbildung bereits einschliesst.<br />
Dazu gehören vielfältige, die angehenden pädagogischen<br />
Fachkräfte in ihrer Selbstentwicklung fördernde Bildungsangebote,<br />
die den Sinn von Bildung als eine Aufgabe der<br />
Humanisierung erleben lassen. Wertschätzung auf allen<br />
Ebenen öffnet Tore für eine zukunftsfähige und friedenstiftende<br />
Pädagogik, die von jeder und jedem noch heute<br />
durch persönliches Engagement realisiert werden kann. In<br />
diesem Sinne möchten wir der Rainbow Fondation nicht<br />
nur unsere Forschungsergebnisse und Überlegungen<br />
dazu schenken, sondern allen dort Tätigen für ihren unermüdlichen<br />
Einsatz für ein gemeinsames und humanes<br />
Leben danken.<br />
Certainly, a ray of hope can be seen in the mentioned selfeducation,<br />
which can be supported by practices such as<br />
the subsidiary exercises mentioned by Steiner. However,<br />
they can become effective when connected with social<br />
tasks through practical experience, as demonstrated in<br />
the example of the development of a pedagogical ethos.<br />
Furthermore, a comprehensive education is required for<br />
the professional and institutional pedagogical framework,<br />
one that not only imparts knowledge and competencies<br />
but also includes fundamental self-education. This entails<br />
diverse educational offerings that promote the self-development<br />
of aspiring educators and allow them to experience<br />
the purpose of education as a task of humanization.<br />
Appreciation at all levels opens doors for a sustainable<br />
and peace-promoting pedagogy that can be realized<br />
through personal commitment by everyone today. In this<br />
spirit, we not only wish to present our research findings<br />
and considerations to the Rainbow Foundation but also<br />
express our gratitude to all those working there for their<br />
tireless efforts towards a shared and humane life.<br />
Translation from German by Nur Erdem<br />
32<br />
Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>
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33
Musik als Weg<br />
zu Selbstvertrauen, Selbstwirksamkeit und sozialer<br />
Kompetenz bei erwachsenen Lernenden mit Assistenzbedarf<br />
Eine Fallstudie zum Musikunterricht des SAFA<br />
(Verband Sozialkunst für Familien, Taiwan)<br />
von Hsieh, Shu-Ling<br />
Von 2001 bis 2010 arbeitete Shu-Ling mit Menschen aus Familien zusammen, die von TSC betroffen<br />
sind und leistete vor allem medizinische Hilfe, die sich an den Bedürfnissen der Patienten orientierte.<br />
Von 2010-2020 absolvierte sie in Taiwan eine jahrzehntelange IPMT-Ausbildung, eine Ausbildung zur<br />
Waldorflehrerin und schloss das CESTT-Programm erfolgreich ab. Im Jahr 2019 gründete sie SAFA, um<br />
Familien und Patienten mit besonderen Bedürfnissen durch eine Vielzahl künstlerischer Aktivitäten zu<br />
unterstützen. 2022 schloss sie ihr Studium an der NTUA mit einem Master in AHE ab. Das Hauptaugenmerk<br />
bei ihrer Arbeit liegt auf der Begleitung von Familien mit besonderen Bedürfnissen, um sie bei<br />
ihrem Streben nach einem ausgeglicheneren Leben zu unterstützen.<br />
Das vorliegende Projekt befasst sich mit der Dynamik<br />
zwischen einer Serie von Musikstunden, die speziell für<br />
erwachsene Lernende mit Assistenzbedarf konzipiert wurden,<br />
und den Menschen, die diesen Musikunterricht in Anspruch<br />
nehmen. Es wird untersucht, wie der auf Lernende<br />
mit Tuberösem-Sklerose-Komplex speziell abgestimmte<br />
Musikunterricht Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl und<br />
soziale Kompetenz fördern kann. Auf der Grundlage von<br />
Berichten und Interviews bietet das Projekt Betreuenden<br />
und Einrichtungen die Möglichkeit, Verständnis für die<br />
Wirkung von künstlerischer Erziehung auf Lernende mit<br />
Assistenzbedarf zu entwickeln.<br />
Hintergrund<br />
Ich bin Mutter eines jungen Erwachsenen mit Tuberöser<br />
Sklerose. Seit mein Sohn die Diagnose erhielt, habe ich<br />
nach Wegen gesucht, mit dieser Krankheit umzugehen<br />
und Menschen, die an ihr leiden, darüber zu informieren.<br />
Als mein Sohn 2003 eingeschult werden sollte, stiess ich<br />
auf eine Waldorfstudie mit dem Titel «Erziehung zur Freiheit»<br />
(Carlgren, 1998). Ich war beeindruckt von Rudolf<br />
Steiners Beispiel, das zeigte, wie er als Privatlehrer einem<br />
Kind mit Behinderung, das als nicht beschulbar galt, durch<br />
praktischen Unterricht so helfen konnte, dass es die Schule<br />
wie «normale» Kinder besuchen und einen Hochschulabschluss<br />
erlangen konnte. Das gab mir Hoffnung, denn<br />
mein Sohn, der kurz vor der Einschulung stand, hatte<br />
potentiell lernbehindernde Krampfanfälle und Hydrozephalus<br />
(verbunden mit Hirntumoren und Knötchen auf der<br />
Hirnrinde).<br />
Als Musiklehrerin in Taiwan hatte ich fast 20 Jahre lang mit<br />
jungen Menschen mit Unterstützungsbedarf gearbeitet<br />
und immer wieder die Rückschläge beobachtet, die sie im<br />
Kunstunterricht erleben mussten. Oft werden sie von den<br />
Lehrpersonen ignoriert oder zurechtgewiesen, wodurch<br />
ihnen das Lernen von Musik und anderen Künsten extrem<br />
erschwert wurde. Mein Sohn begann zum Beispiel in der 4.<br />
Klasse mit Blockflötenunterricht. Ein qualifizierter Flötenlehrer<br />
war speziell eingestellt worden, um seine Klasse zu<br />
unterrichten. Nach der ersten Stunde bat mich mein Sohn,<br />
in der nächsten Woche nicht wieder hingehen zu müssen.<br />
In der dritten Woche begann er verzweifelt zu beten:<br />
«Wenn es doch nur morgen ein Erdbeben oder einen Taifun<br />
geben würde, damit ich nicht zum Blockflötenunterricht<br />
gehen muss!» Dieses Mal schenkte ich seiner Bitte<br />
mehr Aufmerksamkeit. Auf Nachfragen fand ich heraus,<br />
dass mein Sohn in der ersten Flötenstunde nicht mitkam,<br />
weil er seine Finger nicht so schnell bewegen konnte wie<br />
der Rest der Klasse. Er musste hinterher nachsitzen und<br />
wurde von dem Lehrer angeschrien und ausgeschimpft.<br />
Als ich das hörte, stimmte ich zu, meinen Sohn während<br />
des Blockflötenunterrichtes in die Bibliothek zu bringen.<br />
Eine Stunde nach dieser Entscheidung bekam er jedoch<br />
zum ersten Mal seit sieben Jahren wieder Anfälle. Um ihm<br />
zu helfen, die Angst vor dem Blockflötenspiel zu überwinden,<br />
entwickelte ich Blockflötenstunden speziell für ihn<br />
auf Grundlage der anthroposophischen Heilpädagogik:<br />
34<br />
Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>
Music as a Path<br />
to Self-confidence, Self-efficacy, and Interpersonal Skills<br />
for Adult Learners with Disabilities<br />
A Case Study of Music Classes offered by SAFA<br />
(Social Arts for Families Association, Taiwan)<br />
by Hsieh, Shu-Ling<br />
From 2001-2010, Shu-Ling has been collaborating with individuals from families affected by TSC, primarily<br />
providing medical assistance based on the patients' needs. From 2010-2020 in Taiwan, she engaged<br />
in a decade-long IPMT training, completed Waldorf education teacher training, and successfully finished<br />
the CESTT program. In 2019, she founded SAFA to support families and patients with special needs<br />
through a variety of artistic activities. In 2022, she graduated from the NTUA, earning a Master's degree<br />
in AHE. Her main focus in her work is to accompany families with special needs, offering support in their<br />
pursuit of a more balanced life.<br />
This project focuses on the dynamic between a series of<br />
music lessons customized for adult disabled learners, and<br />
the disabled learners who attend these lessons. It explores<br />
how attending music lessons specially tailored to learners<br />
with Tuberous Sclerosis Complex could cultivate learners’<br />
confidence, sense of self-worth, and ability to interact with<br />
fellow human beings. Through narrations and interviews,<br />
the project suggests to caregivers and institutions a way<br />
of understanding the impact of arts education for disabled<br />
learners.<br />
Background<br />
I am a parent of a young adult with Tuberous Sclerosis.<br />
Ever since my son was diagnosed, I have embarked on a<br />
quest to explore methods to approach this disease and to<br />
provide education for those with this disease. When my<br />
son was about to attend primary school in 2003, I came<br />
across the study on Waldorf Education report, Education<br />
Towards Freedom (Carlgren 1998), and was drawn to the<br />
idea, exemplified by Rudolf Steiner, that a practical style<br />
of education under the guidance of a home teacher could<br />
cultivate a disabled child, previously deemed unable to attend<br />
school, to the point that he or she could eventually<br />
get through the education system like typical children and<br />
receive a high school diploma. To me, this was hope, as my<br />
child about to be enrolled suffered from problems such<br />
as seizure and hydrocephalus (connected with tumors in<br />
his brain and nodules on the cerebral cortex), all of which<br />
could impede learning.<br />
I have worked with disabled students in Taiwan for almost<br />
20 years in my music teaching career and have vividly witnessed<br />
the setbacks these learners experience in art-related<br />
classes. They are ignored or reprimanded by many<br />
instructors, making learning music, or any other form of<br />
art an incredibly difficult thing to do. For example, in 4th<br />
grade, my son began to have recorder classes in elementary<br />
school, with a professional instructor being specifically hired<br />
to come in and teach this class. After the first class, my<br />
son asked me if he could be exempted from it next week.<br />
In the third week, he began to pray desperately, «Could<br />
there be an earthquake or typhoon tomorrow? So, I would<br />
not have to go to school and learn recorder...». This time,<br />
his remark drew my attention. Through inquiry, I discovered<br />
that during the first day of recorder class, my child was<br />
not able to keep up because he could not move his fingers<br />
as fast as the rest of his classmates. As a result, he was<br />
ordered by the instructor to stay after class for additional<br />
lessons, which were carried out with yelling and scolding.<br />
After learning this, I agreed to have my son taken to the<br />
library whenever it was time for recorder classes.<br />
However, an hour after this decision was made, he began<br />
to have seizures for the first time in seven years. To help<br />
my son overcome the fear of playing the recorder, I crafted<br />
a recorder lesson specifically for him, modeling it after an<br />
anthroposophical approach to therapeutic education:<br />
35
1. Ich besorgte je eine Blockflöte für mich<br />
und meinen Sohn.<br />
2. Ich wählte ein beliebtes Lied aus.<br />
3. Mein Sohn und ich sangen das Lied<br />
nebeneinanderstehend.<br />
4. Ich liess meinen Sohn das Lied singen und<br />
spielte dazu Blockflöte.<br />
5. Dann tauschten wir: ich sang das Lied und<br />
er spielte langsam Blockflöte dazu, eine Note nach<br />
der anderen, während ich die Noten sang.<br />
Nach einem Monat mit dieser Routine konnte mein Sohn<br />
das ganze Lied alleine spielen. Dass er sich erfolgreich die<br />
Fähigkeit aneignete, selbstständig Blockflöte zu spielen,<br />
lässt mich vermuten, dass der Hauptgrund, warum Kinder<br />
mit Unterstützungsbedarf wegen Stress und Angst nicht<br />
zum Unterricht gehen wollen, nicht in ihrer Behinderung<br />
liegt, sondern an einem Mangel an Selbstbewusstsein, der<br />
überwunden werden kann.<br />
Da ich selbst Performing Arts studiert habe, war mir der<br />
Zusammenhang zwischen dem Erlernen einer Kunst und<br />
dem Stärken von Selbstvertrauen bewusst. Ich wusste,<br />
dass Erfolgserlebnisse möglich sind, wenn man sich an<br />
das Auftreten gewöhnt, z.B. indem man ein Instrument<br />
spielen lernt. Wenn man lernt, mit anderen zusammen zu<br />
spielen, gewinnt man soziale Kompetenzen; und Erfolgserlebnisse<br />
und soziale Kompetenz können das Selbstvertrauen<br />
stärken. Das Gleiche gilt für andere Performance-<br />
Künste wie Gesang oder Tanz. Wenn man aus dem Reigen<br />
der darstellenden Künste eine findet, die zu einem passt,<br />
so ist das eine gute Grundlage für inneres Wachstum. Der<br />
folgende Bericht begleitet drei junge Menschen mit Tuberösem<br />
Sklerose-Komplex bei einem Forschungsprojekt<br />
zur Selbsterziehung durch Musikunterricht.<br />
Jedes Kind ist einzigartig und kommt mit eigenen Begabungen,<br />
Interessen oder Behinderungen auf die Welt, die<br />
Ausdruck seiner einmaligen Individualität sind. Aufgrund<br />
dieser Eigenschaften gestalten Kinder ihren persönlichen<br />
Lebensweg. Erzieherinnen und Erzieher sollten diese individuellen<br />
Eigenschaften beobachten und kennenlernen,<br />
damit sie jedes Kind in seiner Ganzheit verstehen können<br />
(Glöckler et al. 2006).<br />
Nach Steiner ist Schule ein Ort, an dem man lernt, Menschen<br />
zusammenzubringen, Gesellschaft zu gestalten<br />
und Menschlichkeit zu entwickeln. «Wer an seine Schulzeit<br />
zurückdenkt, weiss auch, wie oft man sich schlecht<br />
oder ‚leer‘, nicht akzeptiert, gemobbt oder ausgegrenzt<br />
gefühlt hat – und wie das Lebensfreude und Gesundheitsgefühl<br />
beeinträchtigen kann» (Glöckler, 2020). Menschen mit<br />
Assistenzbedarf haben täglich mit Herausforderungen zu<br />
1. I prepared a recorder for both myself and my son.<br />
2. I chose a popular song.<br />
3. My son and I sang the song side by side.<br />
4. I had my son sing the song, and<br />
I played along with the recorder.<br />
5. I had my son switch roles with me; this time, I sang<br />
the song, and he played the recorder, slowly, one note<br />
at a time as I sang the notes.<br />
After a month of this routine, my son could play the entire<br />
song by himself. The fact that he successfully acquired<br />
the ability to play recorder on his own suggests to me that<br />
whenever a disabled child is distraught, feeling that he or<br />
she could not keep up, and is afraid to go to class, the<br />
biggest reason might not be his disability, but the fear and<br />
anxiety that derive from a lack of self-confidence, which<br />
could all be overcome.<br />
As a graduate of a performing arts university, I understood<br />
the correlation between learning art and building<br />
self-confidence. I understood that by acquiring the skills<br />
to perform, such as learning to play a musical instrument,<br />
one could acquire a sense of achievement, build a set of<br />
social skills, and accumulate confidence through these. By<br />
being able to play an instrument, people gain a sense of<br />
achievement; by being able to play with others, they gain<br />
social skills; by having both a sense of achievement and<br />
social skills, they acquire confidence. The same could be<br />
achieved by learning to perform other types of art, whether<br />
singing or dancing. From all the different types of performing<br />
arts, if one could find a type that suits his or her<br />
character, he or she would have found the soil for selfgrowth.<br />
The following research project invites readers to join the<br />
three research participants (all of whom suffer from Tuberous<br />
Sclerosis Complex) on their quests for self-cultivation,<br />
through attending music classes.<br />
Every child comes into this world as a unique being. Each<br />
has a unique talent, interest, or disability, which gives rise<br />
to a spirit unique to himself. These characteristics also<br />
help the child build his personal pathway toward life. A<br />
child’s unique qualities are what educators ought to observe<br />
and learn, so they can understand each child as a<br />
whole being (Glöckler et al. 2017/2006).<br />
Steiner believed a school is a place where one is taught<br />
how to unite people, build society, and develop humankind.<br />
However, if at school, an individual is «not accepted,<br />
36<br />
Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>
kämpfen, sei es auf körperlicher Ebene wegen ihrer Behinderungen<br />
oder seelisch, weil sie von der Gesellschaft<br />
ausgegrenzt werden. Es lohnt sich, nicht nur in der Schule,<br />
sondern auch in der Erwachsenenbildung zu untersuchen,<br />
wie ein sorgfältig ausgearbeiteter Unterricht ihnen helfen<br />
kann, diese Herausforderungen zu bewältigen. Das vorliegende<br />
Projekt geht dieser Frage am Beispiel von Musikunterricht<br />
für Erwachsene nach.<br />
Vom Solospiel abgesehen ist Musik eine darstellende Kunst<br />
mit einer sozialen Dimension, da man nicht alleine auftritt<br />
(Shi Ze Yao, 2002). Der Musikpädagoge Percy Buck weist darauf<br />
hin, dass man sich beim gemeinsamen musikalischen<br />
Auftritt auf bestimmte Regeln einigen muss. Rhythmus,<br />
Tonart, Lautstärke, Note, Einsätze und das Beenden des<br />
Musikstücks sind Beispiele für solche Regeln. Sie ermöglichen<br />
den Aufführenden das Zusammenarbeiten im selben<br />
Raum zur selben Zeit. Buck sieht dieses Teilen von<br />
Raum und Zeit als eine Form von Sozialisierung (Buck 1988).<br />
Steiner (2013) wies auch darauf hin, dass die plastischen<br />
Künste zur Individualisierung beitragen, während Musik<br />
und Poesie im gemeinsamen Erleben und Geniessen das<br />
soziale Miteinander fördern.<br />
Nach Yasuji Murai können Lernende mit Assistenzbedarf<br />
im gemeinsamen Musikunterricht auch die Fähigkeit entwickeln,<br />
in ihrem Spiel gegenseitig subtile Veränderungen<br />
in Lautstärke und Rhythmus wahrzunehmen. So können<br />
sie nicht nur feine musikalische Nuancen erleben, sondern<br />
werden darüber hinaus auch achtsamer anderen Menschen<br />
und ihrem Umfeld gegenüber. Das Erwerben dieser<br />
Fähigkeiten, so Murai, erleichtert soziale Kontakte und<br />
zwischenmenschliche Beziehungen (Yasuji Murai 2019). Nach<br />
Steiner ist es die Musik, die unser wahres Menschsein ausmacht.<br />
Musikhören öffnet die Körpersinne. Die Sinne, mit<br />
denen wir Rhythmus wahrnehmen, sind es auch, die uns<br />
den Zugang zu persönlichen Erfahrungen, Erinnerungen<br />
und Emotionen erschliessen. Wenn wir Musik hören, öffnet<br />
sich der ganze Körper und lauscht (Brown 2016).<br />
Forschungsmethodik<br />
Ziel des Forschungsprojektes ist es, aus der Anthroposophie<br />
heraus die Wirkung des Musikunterrichts auf die<br />
Teilnehmenden zu untersuchen. Die vorliegende Studie<br />
konzentriert sich auf drei junge Menschen im Alter von<br />
24 bis 31 Jahren, die beim SAFA Musikunterricht erhalten.<br />
SAFA steht für Social Arts for Families Association (Verband<br />
Sozialkunst für Familien). Diese 2019 gegründete<br />
Organisation will Menschen mit Assistenzbedarf und ihre<br />
Familien dazu anregen und ihnen dabei helfen, ihr Potenzial<br />
zu entfalten und so Selbstvertrauen aufzubauen und<br />
ihr Selbstwertgefühl zu stärken.<br />
but bullied, or ostracized instead, how would this affect<br />
their health and joy for life?» (Glöckler 2021/2020) Paulo Freire,<br />
the Brazilian education specialist, suggests that this<br />
individual may develop a tendency to self-help, rejecting<br />
other people’s aid and relying on his own action to solve<br />
problems; a type of self-actualization Freire coins as «Love<br />
Operation» (Freire 2019/1970). Disabled individuals live with<br />
hardships every day. These may be physical hardships<br />
caused by their disabilities. These may also be psychological<br />
hardships caused by their exclusion from society. How<br />
a meticulously crafted lesson could help them cope with<br />
these hardships is worth studying, not only in school, but<br />
also in adult education. This project pursues this question<br />
in the context of music education for adults.<br />
Steiner proposes, if human beings could use music as the<br />
basis for socializing, this could push humankind from a<br />
sentimental development to a logical development, thus<br />
building a more harmonious society (Steiner 2013). Apart<br />
from the act of playing solo, music is a performing art with<br />
a social dimension, because one does not perform alone<br />
(Shi Ze Yao 2002). Music educator Buck points out that to perform<br />
together, musicians need to draft a set of rules, which<br />
all could adhere to. Rhythm, key, volume, note, the moment<br />
to begin the piece, and the moment to wrap up the<br />
piece, are all examples of those rules. Those rules enable<br />
performers to cooperate in a shared space and time; to<br />
Buck, several individuals cooperating in a shared space<br />
and time, is a form of socializing (Buck 1988).<br />
According to Yasuji Murai, attending a group music class,<br />
students with disabilities would still accumulate the skill<br />
to notice the slight changes in the volume and rhythm of<br />
their classmates. This acute skill not only enables a disabled<br />
student to enjoy the nuance of music, but also to pay<br />
attention to the people and the surroundings beside them.<br />
And once they acquire the latter skill, socializing and human<br />
interaction would become easier (Yasuji Murai, 2019).<br />
Steiner suggests that music is what makes us truly human.<br />
Listening to music opens up our body’s senses. The senses<br />
that enable us to catch rhythms also enable us to tap into<br />
our personal experiences, our memories, and our emotions.<br />
When music enters our ears, our entire body opens up<br />
and listens (Brown 2019/2016).<br />
Research methods<br />
The purpose of the research is to explore the effects of music<br />
classes on the participants through the lens of Anthroposophy.<br />
This study focuses on three participants aged 24<br />
to 31 in music lessons at SAFA. SAFA is the acronym of Social<br />
Arts for Families Association. Established in 2019, the<br />
37
In diesem Projekt werden die Pseudonyme Shan, Mei und<br />
Zhen verwendet, die im Mandarin-Chinesisch für die Tugenden<br />
Güte, Schönheit und Wahrheit stehen, denn ganz<br />
gleich, mit welchen Schwierigkeiten diese Menschen in<br />
ihrem Kampf mit dem Tuberkulose Komplex in Krankenhäusern<br />
und zuhause konfrontiert waren bzw. werden,<br />
sie sind stets gut, schön und wahrhaftig und haben eine<br />
überaus positive Einstellung zum Leben. Alle drei wurden<br />
mit Tuberösem Sklerose-Komplex diagnostiziert, einer<br />
seltenen Erbkrankheit. Durch Mutation kommt es zur abnormen<br />
Entwicklung von Nerven und Myelinscheiden, was<br />
wiederum das Entstehen von Knötchen und Tumoren in<br />
bestimmten Organen zur Folge hat, meistens in Hirn, Nieren,<br />
Herz und Lunge. Anfälle, Lern- und Verhaltensstörungen<br />
und eine allgemeine Entwicklungsverzögerung sind<br />
häufig.<br />
Durch die Geschichten der Teilnehmenden und Interviews,<br />
in denen sie selbst zu Wort kommen, zeichnet das<br />
Forschungsprojekt ein lebhaftes Bild ihres musikalischen<br />
Abenteuers nach.<br />
Sowohl in Einzel- als auch in Gruppengesprächen haben<br />
die Teilnehmenden Gelegenheit, frei über sich zu sprechen.<br />
Beim Einzelgespräch werden sie in eine entspannte<br />
Umgebung eingeladen, wo sie sich ohne Einschränkung<br />
oder Zeitdruck äussern können. Beim Gruppengespräch<br />
können sie sich gegenseitig beim Sprechen zuhören und<br />
das vorher Gesagte kommentieren.<br />
Die Teilnehmenden berichten nach und nach über ihre<br />
Lebenserfahrungen; diese Berichte werden durch Beobachtungen<br />
ihrer Betreuer:innen und ihres Musiklehrers<br />
Chen ergänzt. Die Betreuenden sprechen über die Lernerfahrungen<br />
der Teilnehmenden von ihrer Geburt bis zur<br />
Gegenwart und der Musiklehrer beschreibt seine Beobachtungen<br />
aus dem Musikunterricht. Aufgrund seiner Beobachtung<br />
und Interaktion mit den Teilnehmenden kann der<br />
Musiklehrer etwas zum Selbstvertrauen jedes einzelnen,<br />
zu ihrem Umgang miteinander und ihren persönlichen<br />
Werten sagen. So entsteht ein rundes Bild davon, wie die<br />
Teilnehmenden ihr Leben meistern.<br />
association aimed at inspiring those with disabilities and<br />
their families, and moreover helping disabled individuals<br />
discover their potential, so they would have a foundation<br />
to build confidence and self-worth.<br />
In this research, we will use the pseudonyms Shan, Mei,<br />
and Zhen. These names represent the virtues of kindness,<br />
beauty, and truth in Mandarin Chinese, because no matter<br />
the hardships these individuals have faced or will continue<br />
to face, fighting Tuberous Sclerosis Complex in and<br />
out of hospitals, they have always been kind, beautiful,<br />
and true; having the brightest attitudes towards life. These<br />
three participants are diagnosed with Tuberous Sclerosis<br />
Complex, a rare genetic disease. The mutation leads to<br />
the abnormal development of nerves and myelin sheaths,<br />
which further leads to the growth of nodules and tumors<br />
in certain organs. Organs affected often include but are<br />
not limited to the brain, kidneys, heart, and lungs. Common<br />
symptoms are seizures, mental disabilities, behavioral<br />
disorders, and overall developmental delay.<br />
By narrating the participants’ stories and interviewing<br />
them, giving them a chance to speak for themselves, the<br />
research paints a vivid picture of the participants’ musical<br />
adventure.<br />
Through both one-on-one and group interviews, the participants<br />
get to talk about themselves freely. In a one-onone<br />
interview, a participant is invited by the interviewer to<br />
a no-pressure environment in which the participant can<br />
express himself without restraint and without strict time<br />
limits. In a group interview, on the other hand, the participants<br />
can listen to their fellow participants as they speak,<br />
and can further build on the interview by commenting on<br />
what has been previously brought up.<br />
As the participants gradually unfold their life experiences,<br />
their stories are further supplemented by their caregivers<br />
and music teacher, Instructor Chen. While their caregivers<br />
give us insights into participants’ experiences in learning<br />
things, from birth until now, Instructor Chen shares with<br />
us his observations from the music class. Through observing<br />
and interacting with the participants, Instructor Chen<br />
shares with us each participant’s level of confidence, interaction<br />
pattern with classmates, relationship with classmates,<br />
and personal values. By uniting the perspectives of the<br />
participants, their caregivers, and their teacher, we get to<br />
see the full picture of how the participants live their lives.<br />
38<br />
Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>
Aufbau des Musikunterrichts<br />
Format of the music class<br />
Der SAFA Musikunterricht besteht aus zweistündigen Unterrichtseinheiten,<br />
die dreimal monatlich sonntags stattfinden.<br />
Ziel des Unterrichtes ist es, die Schülerinnen und<br />
Schüler für das Zusammenspiel im Orchester vorzubereiten.<br />
Jede Unterrichtseinheit hat vier Abschnitte:<br />
1. Einzelunterricht<br />
2. Thematischer Unterricht<br />
3. Einzelprobe<br />
4. Gruppenprobe<br />
Im ersten Abschnitt, beim Einzelunterricht, haben die<br />
Schülerinnen und Schüler Gelegenheit, neue Fähigkeiten<br />
zu erwerben und zu üben. Im thematischen Teil können<br />
sie ihren spezifischen Teil des Musikstückes üben. In der<br />
Einzelprobe können sie alleine für sich üben, während der<br />
Lehrer herumgeht und ihre Fortschritte überwacht. Bei der<br />
Gruppenprobe kommen alle als Orchester zusammen.<br />
Der Lehrer hat darüber hinaus die Möglichkeit, zwischen<br />
dem dritten und vierten Abschnitt eine Probe mit Unterstützung<br />
einzufügen. In dieser Zeit stehen den Schülerinnen<br />
und Schülern, die mehr Hilfe beim Notenlesen oder<br />
beim Üben bestimmter Teile des Musikstückes benötigen,<br />
Hilfslehrkräfte zur Seite.<br />
Einmal im Jahr steht das Orchester auf der Bühne. Dabei<br />
geht es nicht nur darum, dass die Studierenden ihre Fortschritte<br />
präsentieren, sondern mit den Auftritten überwinden<br />
sie auch ihr Lampenfieber und gewinnen Mut zu<br />
zwischenmenschlichen Begegnungen. Die Forschungsteilnehmenden<br />
haben die Möglichkeit, unterschiedliche<br />
Praxismethoden wie Solo-, Ensemblespiel und Begleitung<br />
zu üben. Insbesondere das Ensemble-Spiel und Begleiten<br />
helfen ihnen, sich weniger auf sich selbst und mehr auf andere<br />
zu konzentrieren, wodurch sie Fähigkeiten wie Interaktion<br />
und Gruppenarbeit stärken können.<br />
Die Solostücke werden individuell zugeteilt. Der Lehrer<br />
wählt für jeden ein Stück aus, das am besten zu ihrer Persönlichkeit,<br />
Reife, musikalischen Fähigkeit und persönlichen<br />
Bedürfnissen passt. Natürlich spielen dabei auch<br />
die Qualität des einzelnen Stückes und der Jahresplan des<br />
Orchesters eine Rolle.<br />
At SAFA, music classes consist of a two-hour lesson held<br />
on Sundays, three times a month. The lesson’s aim is to<br />
teach students to perform together as an orchestra. Each<br />
class can be divided into four stages:<br />
1. Individual lesson<br />
2. Thematic lesson<br />
3. Individual rehearsal<br />
4. Group rehearsal<br />
The first stage, individual lesson, is the time when students<br />
requiring additional skills practice get their extra practice<br />
time. The thematic lesson is the time when each student<br />
gets to practice their distinctive parts in the music piece.<br />
Individual rehearsal is the time when students rehearse by<br />
themselves, and the teacher walks around and monitors<br />
their progress. Group rehearsal is the time when students<br />
rehearse together as an entire orchestra.<br />
In addition, in the middle of the third and the fourth stage,<br />
the instructor may insert an extra stage, called assisted<br />
rehearsal. During this stage, students who require extra<br />
help with reading the music sheet or extra guidance on<br />
practicing certain sections of the music piece, get their<br />
help, provided by teacher assistants sitting side by side<br />
with the students.<br />
Once a year, this student orchestra performs on stage.<br />
The purpose is not only to present their progress but also,<br />
through performing on stage, to forge their courage to<br />
face the crowd and interact with people. For the research<br />
participants, methods by which they practice their instruments<br />
include solo, ensemble, and accompaniment. These<br />
various practice methods, especially ensemble and accompaniment,<br />
invite the participants to shift their focus away<br />
from themselves to others (their fellow classmates) so they<br />
have a chance to build the skills for interacting with people<br />
and participating in groups.<br />
How a solo piece is assigned to each person is individually<br />
tailored. The teacher matches each participant to a piece<br />
most compatible with their personality, maturity, music<br />
ability, and personal needs. Of course, the symbol each<br />
piece represents, and the annual agenda of the student<br />
orchestra affect the piece chosen for each student as well.<br />
Empathie, Selbsterkenntnis und<br />
Zwischenmenschliches beim Proben<br />
Im Musikunterricht erwerben erwachsene Lernende durch<br />
einen schrittweisen und hierarchischen Ansatz praktische<br />
musikalische Fähigkeiten, die sie beim gemeinsamen Proben<br />
weiter verfeinern. Indem sie Schritt für Schritt lernen<br />
und das Gelernte üben, können sie die Nuancen jedes Mu-<br />
39
sikstücks, vom Rhythmus bis zum Zusammenklang, geniessen;<br />
sie lernen, sich auf ihre Mitstudierenden einzulassen<br />
und bilden sich durch das musikalische Üben weiter.<br />
Steiner (in Glöckler et al., 2006) beschreibt, dass wir durch Erziehung<br />
Einblick in die Welt und unsere Mitmenschen<br />
erhalten. Darüber hinaus eröffnet uns Erziehung auch<br />
Einsichten in das, was im Leben wesentlich ist. Lehrende<br />
sollten sich nicht darauf konzentrieren, Lehrinhalte oberflächlich<br />
zu erklären, sondern stattdessen künstlerisch<br />
vorgehen. Die folgende Situation ist typisch für den SAFA<br />
Musikunterricht:<br />
Der Unterricht dient nicht nur dazu, den Lernenden<br />
das Musizieren beizubringen, sondern will ihnen auch<br />
die Fähigkeit vermitteln, mit anderen Studierenden zusammen<br />
zu spielen, deren Spiel einzuschätzen und sich<br />
gegenseitig dabei zu helfen, besser zu werden. Während<br />
einer Übungssequenz, sass Zhen in einer Ecke des<br />
Klassenzimmers und versuchte, die Griffe für ein Gitarrenstück<br />
auszuarbeiten. Nach einer Weile kam Mei mit<br />
seiner Gitarre und setzte sich zu ihm. Mei sprach mit<br />
Zhen über das Schlagen und Zupfen der Saiten in einem<br />
Teil des Musikstückes. Der Musiklehrer, Chen, hatte beobachtet,<br />
wie Zhen alleine für sich übte und die Gelegenheit<br />
für eine Zusammenarbeit gesehen. Deshalb hatte er<br />
Mei gebeten, zu Zhen zu gehen, ihm zu helfen und so<br />
mit ihm zusammenzuspielen.<br />
Glöckler (2020) hält es für zu willkürlich, Menschen allein<br />
nach ihren akademischen Leistungen zu beurteilen, weil<br />
man dabei nie das ganze Bild sieht. Die beschriebene Zusammenarbeit<br />
von Mei und Zhen war von Chen bewusst<br />
als Zweierprozess geplant, denn Lernende können gleichzeitig<br />
auch Lehrende für ihre Mitstudierenden sein. Wird<br />
ein neues Stück eingeführt, so werden es einige immer<br />
schneller lernen als andere, und die schneller Lernenden<br />
können die langsameren unterrichten. Dabei lernen sie<br />
gleichzeitig etwas, denn das Unterrichten ist ein selbstreflexiver<br />
Prozess, bei dem man das eigene Wissen evaluieren<br />
und eventuelle Wissenslücken entdecken kann.<br />
Das gründliche Vorbereiten und Gestalten des Unterrichts<br />
sind wesentlich für den Lernprozess. Indem sie den Lernenden<br />
zuhört, ergänzt die Lehrperson deren musikalische<br />
Lernerfahrung als Kreislauf zwischen Lehren und Lernen.<br />
Der Psychologe Andrew Solomon (2012) beschreibt,<br />
dass jeder Mensch unterschiedliche Bedürfnisse hat und<br />
wie wichtig es ist, dass Lehrpersonen diese individuellen<br />
Bedürfnisse erkennen. Beim Unterrichten von Menschen<br />
mit Assistenzbedarf geht es darüber hinaus auch darum,<br />
den Unterricht auf diesen Erkenntnissen aufzubauen.<br />
Empathy, self-recognition and<br />
interpersonal interaction through<br />
rehearsal<br />
In the music classes, adult learners acquire hands-on music<br />
skills via a step-by-step and hierarchical approach, and<br />
further refine these skills through collaborative rehearsal<br />
with their classmates. Through learning step by step and<br />
rehearsing what they have learned, learners get to enjoy<br />
the nuance of each music piece, from rhythm to chord,<br />
develop interaction skills with their classmates, and have<br />
their spirits refined by exposing themselves to music.<br />
Steiner (in Glöckler et al. 2017/2006) describes that it is education<br />
that gives us insight into the world and the people<br />
around us. It also gives us insight into the essence of life.<br />
A teacher should, instead of focusing on explaining the<br />
superficial meaning of the content taught, go for an artistic<br />
approach when it comes to teaching. This is a characteristic<br />
scene from a SAFA music class:<br />
The main purpose of the class is not just to teach learners<br />
how to play music, but to give them the skill to play<br />
with their classmate as a group, evaluating how each<br />
other plays and helping each other to improve. During<br />
a sectional practice, Zhen was in the corner of the classroom<br />
trying to figure out the fingerstyle of a guitar piece.<br />
After a while, Mei brought his guitar to sit down with<br />
Zhen. Mei guided Zhen through the strumming and plucking<br />
portion of the music sheet. It was Instructor Chen<br />
who spotted Zhen practicing by himself, and he knew<br />
this could be a great opportunity for group practice, so<br />
he urged Mei to join Zhen, teaching Zhen and playing<br />
with Zhen at the same time.<br />
Glöckler (2021/2020) believes that valuing an individual solely<br />
by their academic performance is too arbitrary, and that<br />
by doing so, we miss the big picture of each individual. The<br />
sectional practice between Mei and Zhen, described above,<br />
was deliberately planned by Instructor Chen as a two-way<br />
class. Each learner can both be a student and a teacher to<br />
their fellow classmates. When a new piece is introduced,<br />
there will always be some who will master it faster than<br />
others do. The faster ones can act as teachers to the slower<br />
ones. When the faster ones are teaching, they are also learning<br />
at the same time, as teaching is a self-reflective process<br />
that allows them to evaluate their knowledge. This is<br />
when they find out if they have a knowledge gap or not.<br />
40<br />
Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>
Chen, der Musiklehrer, sagt:<br />
Obwohl wir die Studierenden hier wie gewöhnliche Lernende<br />
behandeln, vereinfachen wir den Unterricht. Der<br />
Fortschritt ist zwar langsam, aber er findet definitiv statt.<br />
Wir haben keine festen Massstäbe für die Beurteilung der<br />
Lernenden, sondern gehen auf jede/n von ihnen individuell<br />
ein und geben ihnen die Möglichkeit, ihre eigenen<br />
Massstäbe zu setzen. Das Verhältnis zwischen Lehrenden<br />
und Lernenden ist wichtig. Auch sollten wir den Mut<br />
haben, kontinuierlich zu lernen und wir sollten verstehen,<br />
dass unsere Schülerinnen und Schüler wirklich verantwortungsbewusst<br />
sind.<br />
Zhen sagt:<br />
Chen, unser Lehrer, bittet uns zunächst, einzeln zu üben.<br />
Wenn wir offensichtliche Fehler machen oder unser Spiel<br />
sich nicht richtig anhört, korrigiert er uns und hilft uns,<br />
unseren eigenen Stil zu finden.<br />
Laut Steiner (1989) sollten Lehrpersonen ihre Schülerinnen<br />
und Schüler gut kennen. Daher betont er, wie wichtig es<br />
ist, die Lernenden zu begleiten und zu beobachten, denn<br />
das ist für die Unterrichtsplanung entscheidend. Sobald<br />
man als Lehrperson die Lernenden gut kennt, kann man<br />
den Unterricht ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten gemäss<br />
sorgfältig planen und in Phasen aufbauen. Dieser Aufbau<br />
unterstützt die Lernenden und verhilft ihnen zu einer soliden<br />
Grundlage, auf der sie in Zukunft neues Wissen leichter<br />
aufnehmen können. In jeder Phase vermitteln die Hinweise<br />
des Lehrers und die Übungen, die er den Lernenden<br />
zuweist, nicht nur neue Erkenntnisse, sondern sie helfen<br />
ihnen auch selbständig zu lernen, denn diese Fähigkeit<br />
brauchen sie, wenn keine Lehrkräfte zur Verfügung stehen.<br />
Während neu Gelerntes die musikalischen Fähigkeiten<br />
der Studierenden stärkt, wird ihr Lernprozess durch<br />
autonomes Lernen effizienter.<br />
Zhens Betreuer sagt:<br />
Zunächst gibt der Lehrer, Chen, den Lernenden die Möglichkeit,<br />
mit der Musik in Berührung zu kommen und<br />
Freude daran zu haben. Dann gibt er ihnen ein Notenblatt,<br />
das auf ihre individuellen Fähigkeiten abgestimmt<br />
ist. Laut Chen «ist es nicht der Sinn dieser Musikgruppe,<br />
dass alle die gleichen Töne hervorbringen und wie Roboter<br />
zusammenspielen.»<br />
Die Lernenden mit Assistenzbedarf können musikalisch<br />
Fortschritte machen, weil ihr Lehrer sie versteht und weil<br />
sie ihren Lehrer verstehen. Chen kann sie genau beobachten<br />
und auf ihre Eigenschaften und Bedürfnisse achten.<br />
Auf dieser Grundlage kann er dann eine entsprechende<br />
Lehrmethode entwickeln, die es den Lernenden wiederum<br />
ermöglicht, den Lehrplan, die Anleitungen und vor allem<br />
auch ihren Lehrer, seine Erwartungen und sein Interesse<br />
Comprehensive preparation and arrangement of teaching<br />
have an important impact on the learning of the learners.<br />
Through listening to the learners, a teacher perfects the<br />
learners’ music learning experience as a cycle between teaching<br />
and learning. Solomon (2015/2012), the psychologist,<br />
describes each individual as having different needs, and it<br />
is important for the teacher to find out what each student’s<br />
needs are. When it comes to teaching disabled learners, it<br />
Is not only important to find out the learners’ different<br />
needs, but also to build the class around those needs.<br />
Instructor Chen says:<br />
Although we treat the students here as ordinary learners,<br />
we do simplify the teaching. The progress is slow,<br />
but they do progress. Instead of having a fixed standard<br />
by which we measure each learner, we approach every<br />
student uniquely, giving each one the opportunity to set<br />
their own standards. As a teacher, we must have good<br />
connections with our students. We should also have the<br />
courage to never stop learning and the notion that our<br />
learners are indeed responsible.<br />
Zhen says:<br />
Instructor Chen asks students to first practice individually.<br />
If we made obvious mistakes, if the way we play<br />
sounds odd to him, he will correct us and help us make<br />
adjustments, in a way that we could perform in our own<br />
style.<br />
According to Steiner (2019a), a teacher should know his learners<br />
well. Thus, he emphasizes the importance of accompanying<br />
the learners and observing them, which are crucial<br />
steps for class planning. Once a teacher knows his learners<br />
well, he could, based on the characteristics of his learners,<br />
arrange the class into stages, and carefully plan each stage.<br />
The stage-to-stage structure scaffolds the learners, helping<br />
them build a solid foundation on which they could absorb<br />
new knowledge more easily in the future. In every stage, the<br />
teacher’s reminder and the assigned exercises not only give<br />
learners new knowledge, but also help them build the skill<br />
to learn autonomously, an ability for one to teach oneself<br />
when teachers are not around. While new knowledge makes<br />
learners better musicians, the skill to learn autonomously<br />
makes them more efficient learners.<br />
Zhen’s support person says:<br />
First, Instructor Chen gives learners the opportunity to<br />
get in touch with music and enjoy it. Then, he gives each<br />
learner a music sheet tailored to each one’s condition.<br />
According to Instructor Chen, «Having everyone produce<br />
identical notes and play robotically together is not the<br />
point of forming this band.»<br />
41
an ihrem Wohlbefinden zu verstehen. Laut Buck (1988) Disabled learners are able to learn music because first, the<br />
beruht diese Beziehung auf gegenseitigem Zuhören von teacher understands these learners; and second, these learners<br />
understand their teacher, and vice versa. Instructor<br />
Lehrperson und Lernenden.<br />
Steiner (2013) weist darauf hin, dass Menschen, die bei Chen has the ability to observe his learners acutely and take<br />
anderen in ihrer Umgebung keine Wärme finden, sich innerlich<br />
abwenden und den Austausch mit anderen auf ein out learners’ characteristics and needs, Instructor Chen can<br />
notes of their characteristics and needs. With the notes ab-<br />
Minimum beschränken. Wärme ist etwas, was Menschen devise a teaching method compatible with his learners. This<br />
ausstrahlen und was andere in der Beziehung spüren. Die suitable teaching method in turn enables the disabled learners<br />
to understand the curriculum, the instructions, and<br />
Wärme, die Lehrpersonen ihren Lernenden entgegenbringen,<br />
kann deren Lernerlebnis bedeutend verbessern. Shan moreover, the teacher; his expectation and also his care for<br />
sagt über die Empathie des Lehrers:<br />
them. This relationship, according to Buck (1988), is the listening<br />
effect between the teacher and the learners.<br />
Wenn ich beim Üben ein Problem habe, setzt sich der As Steiner (2013) states, when an individual can no longer<br />
Lehrer zu mir und nimmt sich die Zeit, mir zu helfen. Er find warmth from people or things around them, he will<br />
kennt mich und unterstützt mich mit einer Lehrmethode,<br />
die zu mir passt.<br />
action with others. Warmth is something emitted by a hu-<br />
shut down his mind in an attempt to minimize his interman<br />
being and felt by another through the interaction between<br />
them. The warmth an instructor emits to his learners<br />
Mei erzählt:<br />
Am wichtigsten ist für mich, dass der Lehrer mich nicht<br />
can help the learners have a better learning experience. On<br />
wie einen Behinderten behandelt. Er erwartet, dass ich<br />
the empathy of the instructor, Shan comments:<br />
wie ein normaler Mensch spiele, und wenn ich damit<br />
wirklich Schwierigkeiten habe, hilft er mir. Er lässt mich<br />
In sectional practices, if I encounter a problem, the instructor<br />
will sit down and spend time assisting me. The<br />
immer wissen, dass er jederzeit für mich da ist.<br />
Zhen sagt:<br />
instructor knows my character and will assist me with a<br />
Er gibt kein Ziel vor. Du findest ein Stück, das du spielen teaching method suitable to me.<br />
willst und er arrangiert es so, dass du es spielen kannst.<br />
Mei shares:<br />
Denn es ist dein Stück. Es soll dir jedes Mal Spass machen,<br />
wenn du es spielst.<br />
The most important thing is that the instructor will not<br />
treat me as a disabled human being. He would like me<br />
to perform as if I were an ordinary person, but when I<br />
Von Fachkundigkeit abgesehen, sind Einfühlungsvermögen<br />
und Achtung vor den Menschen die wichtigsten Eigen-<br />
really have difficulty doing so, he will come and help.<br />
The instructor always lets me know that he will be here<br />
schaften von Lehrenden, die ihnen auch Zugang zu ihren<br />
with me, always.<br />
Schülerinnen und Schülern geben. Das ermöglicht optimales<br />
Lernen und wachsendes Selbstvertrauen.<br />
Zhen says:<br />
He will not assign a goal for you. You find a piece you<br />
Chen sagt über Shan:<br />
want to play and the instructor will rearrange it for you,<br />
Für Shan muss der Unterricht sorgfältig gestaltet werden,<br />
denn er stürzt sich oft zu schnell und übereifrig in<br />
in a fashion suitable for you to play. Because this is your<br />
piece; it has to give you happiness whenever you play it.<br />
eine Aufgabe und wenn seine harte Arbeit nicht zum Erfolg<br />
führt, wird er nervös oder gibt sich selbst die Schuld<br />
Aside from his professionalism, an instructor’s empathy<br />
an seinen Misserfolgen. Das heisst, man muss ihm im<br />
and respect for people are key ingredients that open the<br />
Unterricht ein Ziel vorgeben, auf das er hinarbeiten<br />
door of his learners’ minds. When a learner opens up the<br />
kann, aber es muss ein erreichbares Ziel sein.<br />
door of his mind, it is the optimal time for him to learn<br />
Chen über Zhen:<br />
things and build self-recognition.<br />
Er ist sehr verkrampft. Er ist auch sehr still. Punktierte<br />
Instructor Chen on Shan:<br />
Noten frustrieren ihn immer. Mir ist aufgefallen, dass<br />
For Shan, his classes need to be meticulously designed,<br />
sein Problem nicht darin besteht, dass er nicht spielen<br />
because he often dives into things too quickly and too<br />
kann, sondern darin, dass er Angst hat, dass er vielleicht<br />
zealously, and when his hard work does not pay off, he<br />
nicht spielen könnte. Beim Einzelunterricht erwähnte<br />
gets nervous or blames himself for his failures. So, for<br />
er die Teile, die er nicht spielen konnte. Ich sagte ihm:<br />
his class, you do have to give him a goal to work for, but<br />
this has to be a goal attainable for him.<br />
42 Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>
«Mach dir keine Sorgen. Versuch einfach, es zu spielen.»<br />
Danach konnte er diese Teile tatsächlich spielen.<br />
Chen über Zhen und Shan:<br />
Wenn ich Zhen beim Spielen zuschaue, sehe ich, wie ihm<br />
die Hände schwitzen, wie sich die Ellbogen zusammenziehen<br />
und die Handgelenke verkrampfen. Das steht in<br />
totalem Gegensatz zu dem Gesichtsausdruck, den er<br />
nach aussen zeigt. Das gleiche bei Shan. Wenn er spielt,<br />
sage ich ihm plötzlich, dass er aufhören soll. Nach einer<br />
Pause gebe ich ihm ein Zeichen, dass er weiterspielen<br />
soll. Ich lasse ihn plötzlich anhalten, wenn ich merke,<br />
dass er nervös wird. Das ist eine unwillkürliche Reaktion<br />
bei ihm. Manchmal fordere ich ihn auch auf durchzuatmen,<br />
denn wenn er beginnt, den Atem anzuhalten, verkrampft<br />
er sich, weil das Spielen eines Instrumentes eine<br />
grosse Herausforderung für ihn ist.<br />
Aufgrund ihrer Beobachtungen können Lehrpersonen<br />
Schlüsse bezüglich der gegenwärtigen mentalen und körperlichen<br />
Befindlichkeit ihrer Lernenden ziehen, die sich<br />
auf ihr Lernverhalten auswirkt, und so ihre Selbstverwirklichung<br />
besser unterstützen. Lernende können Selbstvertrauen<br />
entwickeln, wenn sie spüren, dass ihr Befinden<br />
verstanden und ihr Fortschritt bestätigt wird. Das heisst,<br />
dass Lehrpersonen, die ihre Schülerinnen und Schüler in<br />
vielfacher Hinsicht verstehen, ihnen helfen können, innere<br />
Ruhe und Ausgeglichenheit zu finden und sich letztendlich<br />
selbst zu akzeptieren und anzuerkennen.<br />
Die soziale Dimension von Musik<br />
Instructor Chen on Zhen:<br />
He is very stiff. He is also very quiet. He is always frustrated<br />
by a dotted note. I discovered that his problem is not<br />
that he doesn’t know how to play; the problem is that he<br />
worries that he might not know how to play. When we<br />
were in a one-on-one lesson, he told me about the parts<br />
that he couldn’t play. I told him not to worry. Just try to<br />
play it. Afterward, he was actually able to play the part.<br />
Instructor Chen on Zhen and Shan:<br />
Through watching Zhen play, how his hands sweat, how<br />
his elbows contract, and how his wrists convulse, I can<br />
tell that in his mind he is experiencing a surge of emotion<br />
and he is trying to restrain himself, which is absolutely<br />
different from the facial expression he is showing<br />
on the outside. Shan is the same. When he is playing, I<br />
will suddenly tell him to stop. After a pause I will signal<br />
him to play again. I call out the sudden stop whenever I<br />
notice he is getting nervous. For him, it is an involuntary<br />
reaction. Sometimes, instead of telling him to stop, I will<br />
tell him to breathe, because whenever he starts to hold<br />
his breath, his seizure will manifest, as playing an instrument<br />
is a daunting task.<br />
When the instructor can pick up cues on his learners’ current<br />
mental and physical conditions, which do affect how<br />
they learn, he can bring more potential out of his learners.<br />
When a learner can vividly sense that his condition is understood<br />
and his progress validated, this enables him to<br />
build self-recognition. Thus, an instructor who is able to understand<br />
his learners in multiple aspects, can be the catalyst<br />
in helping the learners find comfort and peace in themselves,<br />
and eventually accept and recognize themselves.<br />
Nach Soesman (2019) ist Musik eine Kunst mit einer sozialen<br />
Dimension, weil sie die Menschen verbindet. Wenn Lernende<br />
sich selbst und ihren Mitmusizierenden zuhören,<br />
spüren sie das Band, das sie miteinander verbindet. Musik<br />
wird zur dritten Sprache, in der sie miteinander kommunizieren<br />
können, und das wiederum erhöht ihre soziale<br />
Kompetenz.<br />
Zhen erzählt:<br />
Im Ensemble zu spielen ist eine Art, mit anderen zu kommunizieren.<br />
Kommunikation braucht nicht unbedingt<br />
Worte; sie kann auch in Melodien erfolgen.<br />
Mei sagt:<br />
Was mir im Musikunterricht am meisten bringt, ist zum<br />
einen, dass ich Musik mit anderen teilen kann und zum<br />
anderen, dass ich meine Grenzen durchbrechen und<br />
mich weiterentwickeln kann.<br />
The social dimension of music<br />
As Soesman (2011) suggests, music is an art with a social<br />
dimension. It forges a link between people. A learner,<br />
through listening to himself and his bandmates, can sense<br />
the very link that binds himself and his peers. Music<br />
becomes the third language in which these learners can<br />
communicate with one another, and helps them reach a<br />
breakthrough in interpersonal skills.<br />
Zhen describes:<br />
Ensemble is a way for an individual to communicate<br />
with others. Communication does not have to happen in<br />
words; it can be done in melodies as well.<br />
43
Mei und Zhen sind oft in ihrer eigenen Welt gefangen,<br />
weil sie Sprache und Gedanken langsamer verarbeiten.<br />
Dadurch fühlen sie sich ausgeschlossen und entwickeln<br />
Angst vor menschlichen Begegnungen. Musik hat ihnen<br />
jedoch geholfen, diese Angst zu überwinden; Musik ist die<br />
dritte Sprache, mit der sie kommunizieren können; verbale<br />
Sprache ist nicht mehr der einzige Weg.<br />
Wenn man lernt, Musik zu machen, merkt man auch allmählich,<br />
dass selbst spielen anders ist als anderen beim<br />
Spielen zuzuhören. Wenn man selbst spielt, benutzt man<br />
ein Instrument und hört auf die Töne, die man hervorbringt.<br />
Beides sind Aktivitäten, die die eigene Leistungsfähigkeit<br />
weitgehend in Anspruch nehmen. Wie ist es möglich,<br />
als Lernende selbst zu musizieren und gleichzeitig<br />
auf die Musik anderer zu achten, so dass ein Zusammenspiel<br />
zustande kommen kann?<br />
Zhen sagt:<br />
Am Anfang haben meine Ohren immer auf meine eigene<br />
Melodie geachtet. Nachdem ich wiederholt mit anderen<br />
geübt hatte, fing ich an, deren Stimmen zu hören, bevor<br />
ich mich auf meine eigene konzentrierte.<br />
Im Fluss der Melodien wird Zhen zunächst selbst aktiv<br />
und dann, wenn die Stimmen der anderen dazukommen,<br />
spürt er in sich selbst hinein und bringt die Stimmen zusammen.<br />
Wie Li Yang Lu (2013) betont, sucht der Gleichgewichtssinn<br />
nach innerer Ruhe. Er wirkt sich auf die geistige<br />
und körperliche Stabilität eines Menschen aus und auf sein<br />
Gleichgewicht in einer Gruppe oder in der Gesellschaft.<br />
Das hängt eng mit zwischenmenschlichen Beziehungen<br />
und dem Integrieren von Standpunkten zusammen. Der<br />
Gleichgewichtssinn wirkt sich daher erheblich auf zwischenmenschliche<br />
Beziehungen aus.<br />
Beim Spielen seines Instruments konnte Zhen zunächst die<br />
von ihm selbst gespielten Melodien heraushören. Sobald<br />
er das Stück besser kannte, war er in der Lage, sich auf den<br />
Rhythmus zu konzentrieren und im Rhythmus zu spielen.<br />
In dem Moment war er auch in der Lage, allmählich die<br />
anderen Stimmen herauszuhören. Es war tatsächlich der<br />
Moment, in dem ein harmonisches Zusammenspiel zustande<br />
kam, ein Moment, in dem ein übergeordnetes Hörerlebnis<br />
auftrat und andere Sinne zusammenkamen und<br />
ein Gleichgewicht erreichten. Frongillo (1999), eine erfahrene<br />
Waldorflehrerin, beschreibt, dass die Bedeutung der<br />
Melodie darin liegt, dass sie den Kopf mit verschiedenen<br />
Sinnen verbinden kann, ein Vorgang, bei dem man erst<br />
sich selbst und dann andere wahrnimmt.<br />
Mei describes:<br />
The two most rewarding things I get from learning music<br />
are: first, I can share this music with others; and second,<br />
I can break through my boundaries and cultivate<br />
myself.<br />
Mei and Zhen are often trapped in their personal worlds<br />
because they process language and thinking at a slower<br />
than typical tempo. This results in them being cut off from<br />
the rest of society and becoming afraid of human interaction.<br />
Through music, however, they have found a way to<br />
overcome this fear; music is the third language they can<br />
use to communicate; speaking an oral language is no longer<br />
the only means.<br />
When learning music, a learner can slowly discover that<br />
playing music himself and listening to others play their<br />
music are very different things. Playing music himself includes<br />
the act of operating an instrument and listening to<br />
the notes he generates. Both acts are self-active and preoccupy<br />
much of a learner’s mental capacity. How is it that<br />
a learner is able to play his own music but at the same<br />
time also pay attention to others’ music, thus enabling an<br />
ensemble?<br />
Zhen describes:<br />
In the beginning, my ears would always pick up my melodies<br />
first. After rehearsing repetitively with others, I<br />
could start picking up other people’s parts before focusing<br />
on my own.<br />
Amidst the flow of melodies Zhen activates himself first,<br />
and then with the melody generated by others he empathizes<br />
with himself and blends the music together. As Li<br />
Yang Lu (2013) states, the sense of balance seeks inner peace.<br />
It affects the stability of an individual’s mind and body<br />
and his balance within a group or in society. It has much<br />
to do with interpersonal relationships and the integration<br />
of viewpoints. Thus, the sense of balance has a profound<br />
impact on an individual’s relationship with others.<br />
When playing an instrument, Zhen was first able to pick up<br />
the melodies he personally produced. After he had become<br />
more and more familiar with the piece, he could start<br />
paying attention to the rhythm of the piece and start playing<br />
it rhythmically. It was also during this moment that<br />
he could start picking up the melodies other people were<br />
producing. This was in fact the moment that a harmonic<br />
ensemble happened, a moment in which a high-level sense<br />
of hearing took place, and other senses converged and<br />
reached a balance. Frongillo (2018/1999), an experienced<br />
Waldorf instructor, describes the importance of melody<br />
44<br />
Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>
Die jungen Menschen, die an den SAFA Musikkursen teilnehmen,<br />
kommen aus ähnlichen Situationen und kennen<br />
sich schon seit Jahren. Der Kurs ist so organisiert, dass er<br />
vom Einzelunterricht zum Gruppenunterricht fortschreitet,<br />
vom alleine Üben zum gemeinsamen Üben. So lernen<br />
die Schülerinnen und Schüler allmählich, die von anderen<br />
gespielten Töne herauszuhören. Dabei erwerben sie die<br />
Fähigkeiten, die sie brauchen, um harmonisch im Ensemble<br />
zusammen zu spielen.<br />
Meis Betreuerin erzählt:<br />
Wenn ich Klavier spiele, signalisiert er mir, ob ich zu<br />
langsam oder zu schnell spiele. Er kann sich auf den<br />
Rhythmus einstellen und den Takt schlagen. Er merkt<br />
auch, wenn ich eine falsche Note spiele. Das alles zeigt,<br />
dass er in der Lage ist, auf die anderen Stimmen zu hören<br />
und sie abzuleiten.<br />
Mei hat sein Zuhören verbessert. Er kann in einer Gruppe<br />
oder einem Ensemble mitspielen. Als Gruppenmitglied ist<br />
er fähig, seine Aufmerksamkeit von der eigenen auf andere<br />
Stimmen zu verlagern. Er kann nahtlos vom Einzel- zum<br />
Gruppen-Üben überwechseln. Mei hat das erreicht, was<br />
Glöckler (Glöckler et al. 2006) als die beste Methode beschreibt,<br />
Hörsinn, Sprachsinn und Ich-Sinn zu integrieren.<br />
Der Zusammenklang dieser drei Sinne wirkt sich tiefgreifend<br />
auf die sozialen Fähigkeiten eines Menschen aus.<br />
Durch Musikaufführungen Teil der<br />
Gesellschaft werden und<br />
Selbstvertrauen entwickeln<br />
Musikalische Darbietungen erfordern eine Kombination<br />
von Üben, Proben und Präsentation – alles gemeinsame,<br />
auf menschlicher Interaktion beruhende Tätigkeiten. Im<br />
Musikunterricht überwanden Zhen, Shan und Mei die Grenzen<br />
zu anderen Menschen und stärkten durch das Teilnehmen<br />
an diesen gemeinsamen Aktivitäten allmählich ihr<br />
Selbstwertgefühl.<br />
Zhen sagt:<br />
Chens Unterrichtsmethode hilft mir nicht nur, Musik zu<br />
verstehen, sondern auch mich selbst. Mir ist klar, dass<br />
bei einer Gruppenprobe jeder gleich wichtig ist. Da die<br />
Noten, die jeder von uns spielt, harmonisch zusammenklingen<br />
sollen, darf niemand zurückgelassen werden.<br />
Ohne die Noten jedes einzelnen Mitspielenden wäre keine<br />
Harmonie möglich.<br />
being its ability to connect an individual’s head to various<br />
senses, a process of first seeing the self, and then seeing<br />
others.<br />
The members of the SAFA music class come from similar<br />
backgrounds and have known each other for years. The<br />
way by which the class is organized is a progression from<br />
individual to a group, from practicing by oneself to everyone<br />
practicing together. Through this type of class progression,<br />
learners can train their ears to gradually pick up<br />
the notes other people are playing. And in doing so, the<br />
learners equip themselves with the skills for playing in an<br />
ensemble and producing harmonics.<br />
Mei’s support person describes:<br />
When I am playing the piano, he will signal to me if I<br />
am playing too slow or too fast. He is able to catch the<br />
rhythm and count the beats. When I play a wrong note,<br />
he will notice it too. These all represent the fact that he<br />
is able to listen to and deduce other people’s melodies.<br />
Now, Mei has forged his listening skills. He can enter a<br />
music group and play in ensembles. As a bandmate, Mei<br />
is able to shift his focus from his own melody to that of<br />
others; he can move himself seamlessly from individual<br />
practice into a group rehearsal. What Mei has accomplished<br />
is what Glöckler (in Glöckler et al. 2017/2006) describes<br />
as the best way of integrating the senses of hearing,<br />
language, and self. The convergence of these three senses<br />
has a profound impact on an individual’s social skills.<br />
Becoming a part of society and<br />
building self-esteem through<br />
musical performance<br />
Musical performance showcases the combination of practice,<br />
rehearsal, and presentation, all of which are communal<br />
activities that require human interactions. While learning<br />
music, Zhen, Shan, and Mei navigated the boundary<br />
with other people and forged their self-esteem bit by bit by<br />
participating in these communal activities.<br />
Zhen says:<br />
The method by which Instructor Chen teaches not just<br />
helps me understand music, but also myself. I realize<br />
that in a group rehearsal, everyone is equally critical. As<br />
the notes each of us generates are to merge as a harmony,<br />
no one should be left behind. Losing any member’s<br />
notes would make our harmony impossible.<br />
45
Mei sagt:<br />
Wir sind hier wie eine Familie. Woanders, in der Schule<br />
zum Beispiel, wollen Leute vielleicht nicht mit mir Musik<br />
machen. Sie fragen sich vielleicht, warum sie mit jemandem<br />
wie mir spielen sollen, weil ich nicht so gut bin. Das<br />
Gefühl habe ich woanders, aber hier ist es gar nicht so.<br />
Zhen beschreibt, wie es sich anfühlt, mit anderen Musik<br />
zu machen:<br />
Es fühlt sich anders an, wenn man mit anderen spielt. Im<br />
Gegensatz zum alleine spielen, macht es mir Spass, mit<br />
anderen zusammen eine harmonische Stimmung aufzubauen.<br />
Shan sagt:<br />
Das gemeinsame Spielen kann am Anfang chaotisch<br />
sein, da die verschiedenen Instrumente oft andere Einsätze<br />
haben. Es kann auch ziemlich chaotisch sein,<br />
wenn am Anfang der Probe verschiedene Instrumente<br />
unterschiedliche Töne hervorbringen und versuchen,<br />
sie aufeinander abzustimmen. Das versetzt mich ein<br />
wenig in Panik.<br />
Mei sagt:<br />
Beim gemeinsamen Spielen müssen wir uns miteinander<br />
koordinieren. Es erfordert mehr Aufmerksamkeit, als<br />
wenn man alleine spielt. Da wir sehr aufeinander achten,<br />
können wir es verdecken, wenn einer von uns einen<br />
Fehler macht.<br />
Unsere drei Teilnehmenden lernten zuerst, selbst Spass am<br />
Spielen zu entwickeln und dann, diese Freude auch auf die<br />
anderen zu übertragen. Am Anfang hörten sie anderen beim<br />
Spielen zu und reagierten dann darauf, indem sie ihre eigene<br />
Musik spielten. Auf diese Weise wurden sie von anderen<br />
bemerkt. Während sie sich selbst beim Spielen ihrer Musik<br />
entdeckten, knüpften sie auch Verbindungen mit anderen,<br />
indem sie mit ihrer eigenen Musik auf deren Spiel eingingen.<br />
Shan sagt:<br />
Als ich gelernt hatte, Musikinstrumente zu spielen, wurde<br />
ich innerlich stabiler. Was für ein toller Fortschritt.<br />
Bevor ich mit dem Musikunterricht anfing, waren meine<br />
Emotionen recht unbeständig und ich konnte sehr<br />
leicht ängstlich werden, was zu häufigen Anfällen führte.<br />
Durch das Eintauchen in die Musik sind meine Symptome<br />
besser geworden.<br />
Mei says:<br />
We are just like a family here. People can be reluctant to<br />
play music with you at school or elsewhere. They may<br />
wonder why they have to play with a person like you<br />
with a lower skill level. This is what I feel in other places,<br />
which is totally different from what I feel here.<br />
Zhen describes the feeling of playing music with other<br />
people:<br />
It feels different when playing with others. Unlike playing<br />
with myself, playing with others gives me the joy of<br />
building a harmonious atmosphere with others.<br />
Shan says:<br />
Playing together can be messy in the beginning because<br />
it is common for different instruments to start on<br />
a different beat. It is also a bit chaotic when different<br />
instruments making different sounds are trying to align<br />
themselves with each other in the beginning of practice;<br />
it makes me panic a little bit.<br />
Mei says:<br />
When playing together, we need to coordinate ourselves<br />
with each other. It takes more of our attention than<br />
when playing solo. Because of so much attention paid to<br />
each other, we get to cover for each other when one of<br />
us makes a mistake.<br />
First, the three participants learned to bring joy to themselves.<br />
And then, they learned to bring joy to those around<br />
them. In the beginning, they listened to those around them<br />
play their music, and then they responded to them by playing<br />
music of their own. In doing so, the three enabled those<br />
around them to notice them, by letting them hear them.<br />
While the three participants were exploring themselves in<br />
playing music of their own, they were also forging their<br />
connections with others by playing their own music as a<br />
response to other people’s music.<br />
Shan says:<br />
After learning how to play musical instruments, I became<br />
more and more stable. What a great benefit. Prior<br />
to learning music, my emotion was quite volatile and I<br />
could become anxious very easily. This led to frequent<br />
seizures. After immersing myself in music, my symptoms<br />
got better.<br />
46<br />
Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>
Mei sagt:<br />
Ich sehe Musik als meine dritte Sprache. Als mein Opa<br />
noch lebte, hörte er meinem Bruder beim Klavierspielen<br />
zu und machte Kommentare wie: «Warum hast du nicht<br />
das ganze Lied gespielt?» Dadurch wurde mir klar, dass<br />
Musik Menschen verbinden kann. Sie bringt uns nicht<br />
nur Fremden näher, sondern auch unseren eigenen Familienmitgliedern.<br />
Um mein Verhältnis mit meinem Bruder<br />
zu verbessern, lud ich ihn zu einem Jazzfestival ein.<br />
Auch wenn er die Musik vielleicht nicht verstanden hat,<br />
so hat uns das gemeinsame Erlebnis einander nähergebracht.<br />
Zhen sagt:<br />
Musik ist in unserer vom Internet dominierten Zeit eine<br />
ziemlich entspannende Art, sich selbst und andere kennenzulernen.<br />
Es ist eine viel herzlichere Art miteinander<br />
umzugehen als eine SMS zu schicken.<br />
Mei und Zhen sehen Musik beide als ihre dritte Sprache,<br />
die ihnen hilft, mit anderen zu kommunizieren. Mit dieser<br />
Sprache versuchen sie, sich weiterzuentwickeln und sich<br />
in der Gemeinschaft zu engagieren. Ihr Lehrer, Chen, sagt:<br />
«Für diese jungen Leute, die nicht sprechen wollen, müssen<br />
wir andere Wege der Kommunikation finden.» Steiner<br />
(2013) weist darauf hin, dass Musik unsere Gesellschaft zusammenhält.<br />
Musik verbindet die Menschen. Durch Musik<br />
können wir die Welt gemeinsam erleben.<br />
Ob man alleine spielt oder im Ensemble, Musikunterricht<br />
lehrt uns, dass wir uns selbst und uns gegenseitig helfen<br />
können, auf eine Art, die beide Seiten weiterbringt. Diese<br />
drei Gesten ergänzen sich gegenseitig und helfen jungen<br />
Erwachsenen mit Assistenzbedarf, ihre Behinderung zu<br />
überwinden und mit anderen zu interagieren – etwas, womit<br />
sie wahrscheinlich in den letzten 21 Jahren Probleme<br />
hatten. Musik ist für sie die dritte Sprache, in der sie sich<br />
anderen gegenüber ausdrücken können.<br />
Selbsthilfe ist die Fähigkeit zu selbstständigem Lernen,<br />
sich beim Notenlesen und beim Verbessern der Spieltechnik<br />
allein auf sich selbst zu verlassen. Beim alleine Üben,<br />
lernt man die eigene Stimme und bereitet sich darauf vor,<br />
sie später mit anderen zu spielen. Unter gegenseitiger<br />
Unterstützung versteht man die Fähigkeit, sich gegenseitig<br />
zu helfen, wenn einer der Lernenden das benötigt.<br />
Wer schneller lernt, kann die unterstützen, die langsamer<br />
lernen. So erhalten die langsamer Lernenden Hilfe und<br />
die Schnelleren lernen auch etwas dabei, denn das Unterrichten<br />
selbst ist eine reflexive Erfahrung, die ihnen etwas<br />
über ihr eigenes aktuelles Können sagt. Darüber hinaus<br />
schafft das gegenseitige Helfen nicht nur eine Verbindung<br />
Mei says:<br />
I see music as my third language. When my grandpa was<br />
still alive, he would listen to my brother when he played<br />
the piano, and he would make comments such as: «Why<br />
didn’t you play the entire song?» This made me realize<br />
that music has the ability to connect people. Music does<br />
not only give us the ability to connect with strangers<br />
but also to connect with family members. To establish a<br />
good relationship with my brother, I invited my brother<br />
to a jazz festival. Even though he might not understand<br />
the music, just by sitting there with me, he and I got the<br />
feeling that we were enjoying something together.<br />
Zhen says:<br />
Music is a relatively relaxing way to get to know yourself<br />
and others in this age dominated by the internet. It is a<br />
much warmer method for interacting with people, compared<br />
to texting.<br />
Both Mei and Zhen regard music as their third language<br />
to communicate with others, and with this language, they<br />
try to push themselves further to get involved with the<br />
community. Instructor Chen has said: «For those kids who<br />
refuse to speak, we need to find more ways with which<br />
they could communicate.» As Steiner (2013) points out, it is<br />
music that weaves our society together. Music is what forges<br />
people’s connection. Through music, people together<br />
can experience the world.<br />
From playing solo to playing ensemble, music classes teach<br />
learners to carry out self-helping, mutual-helping, and cobenefiting.<br />
Together, these three gestures act as a trinity<br />
that complement each other and help disabled young<br />
adults overcome their inability to interact with other people,<br />
a problem that they have most likely struggled with<br />
for at least 21 years, by making music the third language<br />
in which they can express themselves to others.<br />
Self-helping represents a learner’s ability to learn on<br />
his own, to rely solely on himself to figure out the music<br />
sheets and improve his playing techniques. Through<br />
practicing on his own, he masters his parts and prepares<br />
himself for playing with others in the future. Mutual-helping<br />
represents the learners’ ability to help each other out,<br />
should any of their fellow classmates require it. The faster<br />
learning ones are able to assist the slower learning ones,<br />
and as the slower ones get the help they need, the faster<br />
learning ones get something out of this teaching experience<br />
as well, because teaching itself is also a reflective experience<br />
that gives the faster ones an all-around view of their<br />
current music skill level. Furthermore, mutual helping<br />
not only forges a reciprocal relationship between the fast<br />
47
zu den schneller bzw. langsamer Lernenden und hilft beiden,<br />
ihre musikalischen Fähigkeiten zu verbessern, sondern<br />
es erlaubt ihnen auch, miteinander zu interagieren<br />
und ihre soziale Kompetenz zu steigern.<br />
Zusätzlich zu selbstständigem Üben (Selbsthilfe) und gegenseitigem<br />
Unterstützen und Verbessern haben die Teilnehmenden<br />
gelernt, gemeinsam weiterzukommen. Das heisst,<br />
man hat durch das gemeinsame Orchesterspiel die Chance,<br />
selbst zu profitieren, indem man eng zusammenarbeiten<br />
und eine starke Beziehung zueinander aufbauen kann.<br />
and the slow and helps both of them polish their musical<br />
skills, but also gives them a chance to interact with one<br />
another and refine their interpersonal skills.<br />
After practicing on their own (self-helping) and helping<br />
each other out and improving each other (mutual-helping),<br />
the learners have now acquired the skills to carry out cobenefiting;<br />
that is, through playing together as an orchestra,<br />
everyone gets a chance to benefit themselves because<br />
they get the opportunity to closely interact with each other<br />
and build a solid relationship with their fellow students.<br />
Schluss<br />
Conclusion<br />
Das Forschungsprojekt zeigt, dass Lehrpersonen durch<br />
Empathie herausfinden können, was Menschen mit Unterstützungsbedarf<br />
zum Lernen brauchen. Das ermöglicht<br />
ihnen, die passenden Materialien zur Verfügung zu stellen,<br />
einen sinnvollen Lehrplan zu entwickeln und eine angemessene<br />
Sprache zu benutzen. So können sie den Menschen<br />
mit Assistenzbedarf dabei helfen, mit der richtigen<br />
Begleitung Erfolge zu erzielen. Bildlich gesprochen könnte<br />
man sagen: wenn Musik das Leben ist, dann ist der Unterricht<br />
der Boden, auf dem das Leben gedeihen kann. Das<br />
Selbstvertrauen und die Erfolgserlebnisse, die sich nach<br />
und nach einstellen, wenn Lernende ihr Instrument üben<br />
und auf der Bühne auftreten, können ausschlaggebende<br />
Werte in ihrem Leben werden. Wie viele Lehrpersonen zeigen<br />
in aktuellen Bildungssystemen genug Einfühlungsvermögen<br />
und Respekt ihren assistenzbedürftigen Studierenden<br />
gegenüber? Eine Frage, die es sich lohnt, weiter zu<br />
untersuchen.<br />
In Taiwan sehen die Gesetze im Bereich Bildung für Menschen<br />
mit Assistenzbedarf vor, dass sich die entsprechende<br />
Bildung nach Eignung und Individualität richten sollte.<br />
Allerdings erwähnen die Gesetze, die sich auf künstlerische<br />
Erziehung beziehen, Lernende mit Assistenzbedarf<br />
überhaupt nicht. D.h. die Betroffenen werden sehr<br />
wahrscheinlich in ihrer gesamten zwölfjährigen Schulzeit<br />
keinen ihrer Eignung und Individualität entsprechenden<br />
Kunstunterricht erhalten. Das könnte aber für diese<br />
Menschen die wichtigste Zeit ihres Lebens sein. Wenn sie<br />
aufgrund wirtschaftlicher Probleme, einer körperlichen<br />
Krankheit oder weil ausserschulische Kunsteinrichtungen<br />
sie nicht aufnehmen wollen, keine Möglichkeit haben, einen<br />
künstlerischen Unterricht zu besuchen, dann kann es<br />
This research project shows that a teacher with empathy<br />
can know what people with disabilities need for learning,<br />
provide suitable materials, design a reasonable schedule<br />
and use fair language. This can help people with disabilities<br />
to thrive under proper guidance. Metaphorically, if<br />
music is life, teaching is the soil that makes life thrive. The<br />
confidence and sense of accomplishment, which gradually<br />
develop as learners practice their instruments and<br />
perform on the stage, can become the core values of their<br />
lives. However, under the current education system, how<br />
many teachers would show enough empathy and respect<br />
to their disabled learners? This is a real question worth<br />
exploring.<br />
In Taiwan, the laws for educating people with disabilities<br />
have stated that such education should be based on suitability<br />
and individuality. However, education laws that<br />
deal with teaching art do not mention anything about learners<br />
with disabilities. Hence, students with disabilities<br />
are very likely to not receive an art education that is based<br />
on suitability and individuality, throughout the entirety of<br />
their twelve-year compulsory schooling. For people with<br />
disabilities, the twelve-year compulsory schooling could<br />
arguably be the most important time of their lives. If they<br />
do not have the opportunity to receive arts education on<br />
their own, due to economic issues, physical illness, or the<br />
reluctance of extra-curricular art centers to accept them,<br />
when they walk out of school after their twelve years of<br />
school, they may very well lose the opportunity to touch<br />
on art again, and opportunities for any form of art-related<br />
career may slip out of reach.<br />
48<br />
Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>
passieren, dass sie nach zwölf Jahren die Schule verlassen<br />
und mit Kunst gar nicht mehr in Berührung kommen. Die<br />
Möglichkeit einer künstlerischen Berufsrichtung ist dann<br />
evtl. gar nicht mehr gegeben.<br />
Die drei jungen Menschen, die an diesem Forschungsprojekt<br />
teilnahmen, haben damit begonnen, dass sie es<br />
wagten, sich freiwillig auf unvertrauten Boden zu begeben<br />
und sind letztendlich auf ihrem musikalischen Weg dahin<br />
gekommen, dass sie sich jeder vor ihnen liegenden Herausforderung<br />
stellen.<br />
The three participants in this research have gone from<br />
being willing to dip their toes into strange waters, to confidently<br />
accepting any challenge that lies ahead of them<br />
throughout their music-learning journey.<br />
Trust the effort disabled learners<br />
put in, and provide them with<br />
enough time to learn<br />
Wir müssen darauf vertrauen, dass<br />
sich Lernende mit Assistenzbedarf<br />
bemühen und ihnen genügend Zeit<br />
zum Lernen geben.<br />
Shan, Mei und Zhen geben sich weiterhin alle Mühe, so<br />
viel wie möglich zu lernen und zu üben, um beste Ergebnisse<br />
zu erzielen. Wenn Lehrende an ihre Schülerinnen und<br />
Schüler glauben, und darauf vertrauen, dass sie wirklich<br />
ihr Bestes tun werden, um zu lernen, und wenn sie ihnen<br />
genug Zeit zum Üben geben und sie mit Geduld dabei begleiten,<br />
dann werden die Lernenden auch Gelegenheit haben,<br />
ihre Entschlossenheit, Ausdauer und ihren Mut, Herausforderungen<br />
aktiv anzugehen, unter Beweis zu stellen.<br />
Ihre Lebensfreude und ihr Selbstvertrauen können so gefördert<br />
werden.<br />
Shan, Mei and Zhen continue to put all of their efforts into<br />
learning and practicing everything available to them, hoping<br />
to have the best outcome. If teachers and caregivers<br />
could believe in their disabled learners, believe they are<br />
in fact doing their best to learn, and provide them with<br />
enough time to practice, and accompany them in practicing<br />
with patience, disabled learners will have the opportunity<br />
to show determination, perseverance and strength<br />
to actively take on challenges. This can enhance their passion<br />
for and confidence to live life.<br />
Aus dem Englischen übersetzt von<br />
Margot M. Saar and Leonard Lueg<br />
Literature / Literatur<br />
Brown.M.,R. (2016): A Practical Guide to Curative Education: The Ladder<br />
of the Seven ||| Life Processes. (translated by Jing-Yi Li, 2019). Taichung,<br />
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Edition, translated by Yong-Quan Fang and Zhen-Wei Zhang, 2019). Kaohsiung,<br />
Taiwan, ChuLiu ||| Frongillo, A.C., (1999): The Importance of Being<br />
Musical: The Development and Practice of a Music Curriculum (translated<br />
by Jing-Yi Li, 2019) Yilan, Taiwan, Taiwan Waldorf Education Association<br />
||| Glöckler, M. (2020): Kita, Kindergarten und Schule als Orte gesunder<br />
Entwicklung: Erfahrungen und Perspektiven aus der Waldorfpädagogik für<br />
die Erziehung im 21. Jahrhundert (translated by Qi-Shan Lin, 2021): Taipei<br />
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New Taipei City, Taiwan, Common Master Press ||| Steiner, R. (2013): Erziehungskunst.<br />
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City, Taiwan, Hungyeh ||| Steiner, R. (2019): The Kingdom of Childhood &<br />
The Education of the Child, 100th Anniversary Edition (translated by Yi-<br />
Shan Li). New Taipei City, Taiwan, Little Trees ||| Yasuji Murai (2019): The<br />
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Wu). New Taipei City, Taiwan, DowTien.<br />
49
50<br />
Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>
51
Religion und Spiritualität in der<br />
inklusiven sozialen Entwicklung<br />
4. bis 6. Oktober <strong>2023</strong><br />
Kleine Herbstkonferenz der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft<br />
Eine persönliche Reflexion<br />
von Wiebke Lösken-Sturm<br />
Jetzt bin ich also wieder zuhause und versuche Ruhe, inneren<br />
und äusseren Frieden zu schaffen, um die richtigen<br />
Worte zu finden, die meine Erfahrungen auf der diesjährigen<br />
Herbstkonferenz beschreiben.<br />
Diesen Raum des Innehaltens in der immer so hektischen<br />
Umgebung meines Alltags zu kreieren, ist eine Herausforderung,<br />
die eng mit dem Thema Spiritualität und Religion<br />
verbunden ist. Es ist einfach in den Tag hineinzuleben, 24<br />
Stunden des Tages mit wichtigen Aufgaben und Produktivität<br />
zu füllen und dabei den subtilen Momenten, die uns<br />
mit dem «Es» verbinden, keine grosse Aufmerksamkeit zu<br />
schenken oder sie gar zu beachten.<br />
Und doch ist eine Sehnsucht nach diesen stillen Momenten<br />
spürbar, nach einem Suchen nach «Es» (und damit auf alle<br />
Übersetzungen, die «Es» für uns haben kann, von «Gott»,<br />
«Allah», «Jahwe», «Mutter Natur», «Liebe», «Nirvana» bis<br />
hin zur einfachen Wahrnehmung des Nicht-Physischen,<br />
das doch Bedeutung hat). Diese Sehnsucht manifestiert<br />
sich in einem Boom für Tagebuchführung, Achtsamkeits-<br />
Influencern und Pilgerreisen – besonders in der jüngeren<br />
(meiner) Generation. Ja. Die Generation, die nicht zu den<br />
traditionellen Gottesdiensten kommt, sucht nach Möglichkeiten,<br />
Spiritualität zu erleben und auszudrücken.<br />
Für mich funktionieren die vorformulierten Antworten auf<br />
die Fragen «Was ist ‹Es›?» und «Wie pflegen wir ‹Es›?» nie<br />
wirklich – oder vielleicht habe ich einfach noch nicht die<br />
Richtige gefunden. In meiner Kindheit hat Religion in meiner<br />
Familie nie eine Rolle gespielt, und ich glaube, das ist<br />
einer der Gründe, warum ich mich weiterhin schwertue,<br />
eine Definition für meine Spiritualität zu finden. Dennoch<br />
hatte ich immer das Gefühl, mit etwas Grösserem verbunden<br />
zu sein als nur mit dem Materiellen, dem Sicht- und<br />
Erklärbaren. Das ging so weit, dass ich mich im Alter von<br />
acht Jahren taufen liess und sogar eine Zeit lang erwog,<br />
Theologie zu studieren. Ich hatte das Glück, dass diejenigen<br />
um mich herum, die religiöse Funktionen ausübten,<br />
nie aufdringliche Missionare waren, sondern tolerante,<br />
liebende Menschen. Das hat es mir ermöglicht, Frieden in<br />
gegeben religiösen Strukturen zu finden und sie trotzdem<br />
in Frage zu stellen. Ich weiss, dass viele andere genau die<br />
gegenteilige Erfahrung machen, wenn sie Religion(en) begegnen,<br />
und deshalb Barrieren gegen alles errichten, was<br />
sie auch nur vage daran erinnert.<br />
Nach meinen zehn Jahren in der Camphill-Bewegung fühle<br />
ich mich immer noch «neu» in der Welt der Anthroposophie<br />
und der spirituelle Aspekt trägt einen grossen Teil dazu<br />
bei, dass ich mich schwer tue mich als «Anthroposophin»<br />
zu bezeichnen. Auf der anderen Seite wäre ich ohne den<br />
«Geist» in der Geisteswissenschaft wahrscheinlich schon<br />
lange nicht mehr hier. Die Anthroposophie scheint so viele<br />
meiner Fragen im Bereich der Spiritualität logisch zu beantworten.<br />
Und gleichzeitig empfinde ich diese Antworten<br />
als so endgültig, dass es wenig bis keinen Raum für Veränderungen<br />
und persönliche Flexibilität zu geben scheint.<br />
Ich erlebe die Heiligkeit bestimmter Rituale oft eher als einschränkend,<br />
statt einzuladen und zu inspirieren.<br />
Und das ist schade. Denn wie es scheint, bin ich nicht die<br />
Einzige, die die Wahrheit in der Essenz erahnt, aber mit der<br />
Ausführung Schwierigkeiten hat.<br />
Jetzt, da Sie wissen, woher ich spirituell komme, werden<br />
Sie vielleicht verstehen, dass ich zur diesjährigen Konferenz<br />
mit dem Titel «Religion und Spiritualität in der inklusiven<br />
sozialen Entwicklung», in der Hoffnung gegangen bin,<br />
52<br />
Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>
Religion and Spirituality in<br />
Inclusive Social Development<br />
4 th -6 th Oct <strong>2023</strong><br />
Small Autumn Conference of the School of Spiritual Science<br />
A personal reflection<br />
by Wiebke Lösken-Sturm<br />
Here I am. Back at home. Trying to find tranquillity, inner<br />
and outer peace to pick the right words describing my experiences<br />
at this year’s autumn conference.<br />
Creating that space, in the ever-so-busy environment of<br />
my everyday life, is a challenge that connects closely to the<br />
topic of Spirituality and Religion. It is easy to live into the<br />
day, filling 24/7 with important tasks and productivity,<br />
not putting great focus on or even paying attention to the<br />
subtle moments that connect us with «It».<br />
And yet, there is a longing for the quiet moments apparent,<br />
wanting a glimpse of «It» (And with that all the translations<br />
«It» might have for us, from «God», «Allah», «Yahweh»,<br />
«mother nature», «love», «Nirvana», to the simple<br />
perception of something non-physical that matters). This<br />
longing manifests in a boom for journaling, mindfulness<br />
influencers and pilgrimage – especially in the younger<br />
(my) generations. Yes. The generation not showing up for<br />
the traditional services, is looking for ways to experience<br />
and express Spirituality.<br />
For me, the pre-formulated answers of «What is ‹It›?» and<br />
«How do we nurture ‹It›?» never really work – or maybe<br />
I just haven’t found the right one. Growing up, Religion<br />
hasn’t played a role in my family, and I feel that that is<br />
part of the reason I continue to struggle settling on a definition<br />
for my Spirituality. Still, I always had an underlying<br />
understanding of being connected to something bigger<br />
than just the material. So much so, that I decided to get<br />
baptised at the age of eight, and even considered studying<br />
Theology for a while. I am lucky that the people around<br />
me carrying religious functions were never missionaries<br />
but tolerant, loving human beings. That has allowed me<br />
to be at peace, in the structure that is given and able to<br />
challenge it all the same. I realise many others have quite<br />
the opposite experience when encountering Religion, and<br />
therefor put up barriers towards anything that vaguely reminds<br />
them of it.<br />
Fast forward – After ten years in Camphill, I still consider<br />
myself «new» to Anthroposophy, and the spiritual aspect<br />
is a big part of me not fully committing, while without it I<br />
would probably be long gone. Anthroposophy appears to<br />
logically answer so many of my questions in the realm of<br />
Spirituality. When at the same time, I perceive these answers<br />
as so definite that there seems to be little to no room<br />
for alteration and personal flexibility. I often experience<br />
the sacredness around certain rituals as more limiting<br />
than inviting and inspirational.<br />
And that is a shame. Because as it appears, I am not the<br />
only one, seeing truth in the essence but struggling with<br />
the execution.<br />
Now that you know where I come from spiritually, you<br />
might understand that I went to this year’s conference<br />
with the title of «Religion and Spirituality in Inclusive So-<br />
53
dass sie mir helfen würde, herauszufinden, inwieweit die<br />
Anthroposophie die Antwort auf meine spirituelle Suche<br />
ist; und was ich tun kann, um die Gemeinschaft, die ich<br />
mein Zuhause nenne, im Bereich der Spiritualität und Religion<br />
zu unterstützen, ohne meine eigenen Überzeugungen<br />
zu kompromittieren.<br />
Die Konferenz<br />
Um die Konferenz adäquat zu beschreiben, müsste man<br />
fast zwei Artikel schreiben, einen für Spiritualität und einen<br />
für Religion. So weit so, dass in der Eröffnungsrede<br />
die Frage zitiert wurde: «Was hat Spiritualität mit Religion<br />
zu tun?»<br />
Wenn ich auf die Konferenz zurückblicke, hatte ich das Gefühl,<br />
dass eine andere grundlegende Frage immer präsent<br />
war: «Wo und wie wird die persönliche Spiritualität innerhalb<br />
der etablierten Strukturen von Religion und Ritualen<br />
gepflegt?» Wir haben mit dem allgemeinen Verständnis<br />
gearbeitet, dass es in unseren Organisationen und Gemeinschaften<br />
einen Bedarf an Spiritualität, Religion und<br />
Ritualen gibt; und die Notwendigkeit, das eine im anderen<br />
zu finden, um Sinn zu schaffen. Anerkennung wurde geschenkt,<br />
dass die spirituelle Essenz eines Menschen ein<br />
wesentlicher Bestandteil unserer Arbeit ist.<br />
Diesen Aspekt haben wir auf einer persönlichen Ebene erforscht.<br />
Es wurden Räume geschaffen, um unsere eigene<br />
Beziehung zur Spiritualität zu erfahren. Die drei Veranstaltungen<br />
mit den parallelen Angeboten der Opferfeier,<br />
einer Einführung in die anthroposophische Meditation<br />
und einer Klassenstunde für Mitglieder gaben den einen<br />
die Möglichkeit, etwas Neues auszuprobieren, den anderen,<br />
sich wieder zu verbinden und allen einen Moment des<br />
cial Development», hoping it would help me crystalise to<br />
what extent Anthroposophy provides the answer to my<br />
spiritual searching; And what I can do to support the community<br />
I call my home in the realm of Spirituality and Religion<br />
without compromising my own beliefs.<br />
The conference<br />
To capture the nature of the conference one would almost<br />
have to write two articles, one for Spirituality and one for<br />
Religion. To the extent that the opening talk quoted someone<br />
asking, «What does Spirituality have to do with Religion?»<br />
Looking back at the conference, I felt the underlying question<br />
that was present at all times was, «Within the established<br />
structures of Religion and rituals, where and how<br />
is personal Spirituality nurtured?» We worked on that<br />
with the general understanding that there is a need for<br />
Spirituality, Religion and Rituals in our organisations and<br />
communities; And the need of finding the one in the other<br />
to create meaning. The recognition of someone’s spiritual<br />
essence being a vital part of our work.<br />
And we explored that aspect on a personal level. Spaces<br />
were created to experience our own relationship with Spirituality.<br />
The three sessions, with parallel offers of the<br />
Offering Festival, an Introduction to Anthroposophical<br />
Meditation and a Class Lesson for Members, gave some<br />
the opportunity to try out something new, others to reconnect<br />
and all a moment to pause and practice some<br />
form of a quiet gesture. The invitation to go on a dialogue<br />
walk, sharing our take on living Spirituality with one or<br />
two colleagues, created for many a safe environment to<br />
be vulnerable.<br />
54<br />
Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>
Innehaltens und der Ausübung einer stillen Geste. Die Einladung<br />
zu einem Dialogspaziergang, bei dem wir uns mit<br />
einem oder zwei Teilnehmenden über unsere Auffassung<br />
von gelebter Spiritualität austauschen konnten, schuf für<br />
viele ein sicheres Umfeld, um verletzlich zu sein.<br />
Mit dieser Grundlage waren die Gespräche, die wir dann<br />
über die Ausübung von Religion innerhalb unserer Organisationen<br />
führten, nachdenklich und vielfältig. Ebenso die<br />
Überlegungen, wie wir einander und andere in der eigenen<br />
Spiritualität unterstützen können. Die Zugehörigkeit<br />
zu einem internationalen Netzwerk, das zwar überwiegend<br />
christlich geprägt ist, aber die Vielfalt lokaler Traditionen<br />
und anderer Glaubensrichtungen schätzt, bringt es<br />
mit sich, unterschiedliche Realitäten zu leben. Und wenn<br />
nichts anderes, dann ist dies ein Ankerpunkt, um über die<br />
Perspektiven nachzudenken, aus denen heraus wir leben<br />
und solche die wir nicht von unserem Standpunkt aus sehen<br />
– und zu akzeptieren, dass es mehrere Wege gibt, um<br />
das Ergebnis zu erreichen, von dem wir manchmal glauben,<br />
dass es für unsere Praxis spezifisch ist.<br />
Wir haben uns ausgetauscht über die praktischen Aspekte<br />
von Religion und Spiritualität in einer Organisation. Und<br />
wir stellten fest, dass wir weltweit oft mit ähnlichen Problemen<br />
zu kämpfen haben, z. B. damit, neue Mitarbeitende<br />
für alte Rituale zu gewinnen und (Jahres-)Festen die Zeit<br />
und Hingabe zu geben, die sie verdienen.<br />
Die eineinhalb Tage vergingen wie im Flug. Das Thema<br />
schien zu gross für einen so kurzen Zeitraum. Es dauerte<br />
ein wenig, bis wir miteinander warm wurden und erfuhren,<br />
was in jedem Einzelnen und in der Welt in Bezug auf den<br />
Bereich der Spiritualität lebt. Als wir anfingen, uns gegenseitig<br />
die Fragen nach Bedürfnissen, Veränderung und Zukunft<br />
zu stellen, war die Konferenz schon vorbei.<br />
Auch wenn wir nicht mit einem Masterplan zur Bewältigung<br />
unserer Herausforderungen abgereist sind, wissen<br />
wir jetzt, dass wir nicht allein sind mit unseren Fragen.<br />
In abgewandelter Form finden wir sie in vielen Organisationen<br />
und Ländern. So können wir uns gemeinsam damit<br />
beschäftigen: «Wie geht es weiter? – Wie kommen wir zu-<br />
With this foundation of opening personally to the topic,<br />
the conversations we then had, on practicing Religion within<br />
our organisation and supporting those we work with<br />
to find and express their own Spirituality, were thoughtful<br />
and diverse. Being part of a global network that may be<br />
predominantly Christian but values the colourfulness of<br />
local traditions and other believes, comes with living different<br />
realities. And if nothing else, this is an anchor point<br />
to consider the perspectives we live out of and the ones<br />
we don’t see from our point of view – accepting that there<br />
are multiple ways to achieve the outcome we sometimes<br />
believe is unique to our practices.<br />
We shared observations on the practicalities of living Religion<br />
and Spirituality in an organisation. And realised that<br />
across the globe we often struggle with similar issues, like<br />
engaging new people in old rituals and giving festivals the<br />
time and dedication they deserve.<br />
A day and a half went by in no time. The topic seemed too<br />
big for such a short period. It took a bit for us to warm up<br />
to each other and explore what lives in everyone and the<br />
world concerning the realm of Spirituality. So that by the<br />
time we started asking each other the questions of transformation,<br />
future and need, the conference was over.<br />
Although we might not have left with a masterplan on how<br />
to address our challenges, we know now that these are not<br />
unique to one place or country. So that collectively we may<br />
concern ourselves with the questions of How do we take<br />
this forward? – «How do we get together to preserve the holiness<br />
of old rituals that have enabled thousands of people<br />
to connect with another level of their being? – When at the<br />
same time we recognise a need for change to ‹reach new<br />
generations› and continue to make an earthly impact. Where<br />
people can see the difference that they and the practices<br />
55
sammen, um die Heilkraft der alten Rituale zu bewahren,<br />
die es bisher Tausenden von Menschen ermöglicht haben,<br />
sich mit einer anderen Ebene ihres Seins zu verbinden? –<br />
Während wir gleichzeitig die Notwendigkeit von Veränderungen<br />
erkennen, um neue Generationen zu erreichen und<br />
weiterhin eine irdische Wirkung zu erzielen. Sodass Menschen<br />
den Unterschied bei sich und ihren Mitmenschen sehen,<br />
den Spiritualität und Religion machen können.<br />
Und jetzt? Wo stehen wir?<br />
Wenn ich von einer Konferenz zurückkehre, habe ich immer<br />
das Bedürfnis, etwas von der Qualität, die ich erlebt<br />
habe, mitzunehmen und sie mit denen zu teilen, mit denen<br />
ich lebe und arbeite. Manchmal fällt es mir schwer,<br />
denn mein Hauptmitbringsel ist die Begegnung mit anderen<br />
Teilnehmenden. Dieses Mal ist es anders.<br />
Persönlich fühle ich mich auf meinem Weg auf der Suche<br />
nach «meiner» Spiritualität, meiner Definition und Praxis<br />
von «Es» bestätigt. Es ist ständige Arbeit, intime spirituelle<br />
Begegnungen mit mir selbst zu schaffen. Und ich lerne,<br />
dass «Erleuchtung» oder gar die Gewissheit, auf dem richtigen<br />
Weg zu sein, nicht unbedingt das richtige Ziel ist. Ich<br />
trage viel Vertrauen in mir. Vertrauen darauf, mit Situationen<br />
konfrontiert zu werden und Menschen zu treffen, die<br />
mir helfen, mich weiterzuentwickeln und mich zu lehren.<br />
Und bisher habe ich das Gefühl, dass die Menschen, denen<br />
ich begegne, und die Situationen, in denen ich mich durch<br />
die Mitarbeit in anthroposophischen Kreisen befinde, «richtig»<br />
für mich sind. Ich nehme Sie als Teil meines Schicksals<br />
an und bin gespannt auf das, was noch kommen wird.<br />
Mit Blick auf meine Gemeinschaft wurde ich ermutigt,<br />
mich aktiv an den Ritualen zu beteiligen, die den Platz, an<br />
dem ich lebe, geprägt haben. Ich biete mein Engagement<br />
an, zum Nutzen der Gemeinschaft, nicht meinem eigenen.<br />
Und das, während ich meinen Fragen treu bleibe und mei-<br />
they use to express their Spirituality, can make in themselves<br />
and those around.»<br />
And now? Where are we?<br />
Returning from a conference I always feel the need to<br />
bring back some of the quality I experienced and share<br />
it with those I live and work with. Sometimes I struggle<br />
because my main takeaway is the encounter with other<br />
participants. This time feels different.<br />
Personally, I feel affirmed on my path in search of «my»<br />
Spirituality, my definition and practice of «It». Crafting<br />
pockets of intimate spiritual encounters with myself is<br />
constant work. And I am learning that «enlightenment»,<br />
or even a certainty of being on the right path, is not necessarily<br />
the right goal. I carry in me a lot of trust. Trust in<br />
being confronted with situations and meeting people that<br />
will help me develop and teach me. And so far, I feel that<br />
the people I meet and the situations I find myself in, due to<br />
being involved in anthroposophical circles, are «right» for<br />
me. I embrace you as part of my destiny and am curious to<br />
see what is still to come.<br />
With a view to my community, I am encouraged to actively<br />
engage with the rituals that have shaped the place I live<br />
in. Offering my service, doing it for the community’s, not<br />
my own benefit. And doing so while staying true to my<br />
questions and honouring my reluctance towards the old<br />
rituals. Striving to bring about new ways of looking at the<br />
established forms. Initiating conversations of mutual learning<br />
and teaching with a generation that has created and<br />
held a quality of life I truly appreciate.<br />
Seeing «my» tasks in relation to the wider movement’s<br />
tasks and exchanging with others on similar paths confronts<br />
me with the «I am in everything. Everything is in<br />
me». It makes me co-responsible, not only for my immediate<br />
surrounding. It exposes the correlation of having to<br />
look after my own spiritual well-being to make sure the<br />
56<br />
Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>
ne Skepsis gegenüber den alten Ritualen respektiere. Ich<br />
strebe danach, neue Sichtweisen auf die etablierten Formen<br />
zu schaffen. Ich bin offen für Gespräche zum gegenseitigen<br />
Lernen mit einer Generation, die eine Lebensqualität<br />
geschaffen und bewahrt hat, die ich wirklich schätze.<br />
Wenn ich «meine» Aufgaben im Zusammenhang mit den<br />
Aufgaben der grösseren Bewegung sehe und mich mit anderen<br />
austausche, die sich auf einem ähnlichen Weg befinden,<br />
werde ich mit dem «Ich bin in allem. Alles ist in mir.»<br />
konfrontiert. Es macht mich mitverantwortlich, nicht nur<br />
für mein unmittelbares Umfeld. Es zeigt den Zusammenhang<br />
auf, dass ich mich um mein eigenes geistiges Wohlergehen<br />
kümmern muss, um sicherzustellen, dass das Wohlergehen<br />
der Welt im Gleichgewicht ist und andersherum.<br />
Ich bleibe also neugierig und offen für die Vielfalt, die das<br />
Leben zu bieten hat.<br />
Und damit habe ich jetzt die Ruhe, um mich auf das Folgende<br />
einzulassen.<br />
Ich trage Ruhe in mir,<br />
Ich trage in mir selbst<br />
Die Kräfte, die mich stärken.<br />
Ich will mich erfüllen<br />
Mit dieser Kräfte Wärme,<br />
Ich will mich durchdringen<br />
Mit meines Willens Macht.<br />
Und fühlen will ich<br />
Wie Ruhe sich ergiesst<br />
Durch all mein Sein,<br />
Wenn ich mich stärke,<br />
Die Ruhe als Kraft<br />
In mir zu finden<br />
Durch meines Strebens Macht.<br />
world’s well-being is in balance, and vice-versa.<br />
So, I stay curious and open-minded.<br />
And with that, I now feel the tranquillity to go into the<br />
following.<br />
Quiet I bear within me.<br />
I bear within myself<br />
Forces to make me strong.<br />
Now will I be imbued<br />
With their glowing warmth.<br />
Now will I fill myself<br />
With my own will’s resolve.<br />
And I will feel the quiet<br />
Pouring through all my being,<br />
When by my steadfast striving<br />
I become strong<br />
To find within myself<br />
The source of strength,<br />
The strength of inner quiet.<br />
Rudolf Steiner<br />
Rudolf Steiner<br />
57
Bericht über die<br />
Jugendtagung im<br />
Camphill Newton Dee<br />
<strong>2023</strong><br />
Gemeinschaftsbildung –<br />
Wie können wir uns unsere Zukunft (neu) vorstellen?<br />
11. – 14. Mai <strong>2023</strong>, Newton Dee<br />
Report on the Youth<br />
Conference in<br />
Camphill Newton Dee<br />
<strong>2023</strong><br />
Community Building –<br />
How can we (re-)imagine our future?<br />
11 th -14 th May <strong>2023</strong>, Newton Dee<br />
vom Organisationsteam der Jugendtagung<br />
by the Youth Conference <strong>2023</strong> Organizing Team<br />
Hintergrund und Vorbereitung<br />
Background and preparation<br />
Jugendtagungen haben in der Camphill Bewegung eine<br />
lange Tradition. Viele langjährige Mitarbeitende haben<br />
Erinnerungen an Jugendtagungen in den 70er Jahren.<br />
Dieses Bewusstsein füreinander und tiefe Freundschaften<br />
zwischen Einzelpersonen und Gemeinschaften auf der<br />
ganzen Welt sind Dinge, die in Camphill über Generationen<br />
hinweg stattgefunden haben. Und diese Stärke des<br />
Netzwerks von Menschen, die die Camphill-Bewegung<br />
umgeben, einer neuen Generation nahe zu bringen, war<br />
die Absicht hinter der Wiederbelebung des Impulses der<br />
Jugendtagungen.<br />
Die Grundlage dafür wurde 2018 (Clanabogan – «Wie können<br />
wir die Camphill-Flamme in die Zukunft tragen?») und<br />
2019 (Esk Valley – «Wie bringen wir unsere Camphill-Werte<br />
in der modernen Welt zum Ausdruck?») gelegt. Geplante<br />
Tagungen für 2020 (The Mount – «Lebendiges Camphill<br />
über Generationen hinweg»), 2021 und 2022 (Newton<br />
Dee – «Gemeinschaftsbildung – Saat für soziale und ökologische<br />
Veränderungen») mussten leider abgesagt werden.<br />
Stattdessen fand im Mai 2021 ein Onlinetreffen statt.<br />
Die Ermutigung, weiterzumachen und den Schwung nicht<br />
zu verlieren, kam von drei Personen aus Newton Dee,<br />
die man der «älteren Generation» zuordnen könnte. Sie<br />
luden eine kleine Gruppe jüngerer Menschen aus der<br />
Camphill-Bewegung und der Jugendsektion ein, ein Organisationsgremium<br />
zu bilden. Mit der richtigen Mischung<br />
aus Weitergabe von Weisheit, Anleitung und Loslassen ermöglichten<br />
diese drei ein Wochenende in Newton Dee im<br />
November 2022 – wobei sie den Staffelstab weitergaben<br />
und deutlich machten, dass sie an der weiteren Organisation<br />
nicht beteiligt sein würden.<br />
Youth Conferences have a well-established history in<br />
Camphill. Many long-standing co-workers share memories<br />
of Youth Conferences in the 70s. This awareness of<br />
each other and deep friendships between individuals and<br />
communities across the world are things that have taken<br />
place in Camphill over generations. And bringing this<br />
strength of the network of people surrounding the Camphill<br />
Movement to a new generation was the intention behind<br />
rekindling the Youth Conference impulse.<br />
The foundation to that was laid in 2018 (Clanabogan –<br />
«How can we carry the Camphill flame into the future?»)<br />
and 2019 (Esk Valley – «How do we express our Camphill<br />
values in the modern world?»). Plans for conferences in<br />
2020 (The Mount – «Living Camphill across Generations»),<br />
2021 & 2022 (Newton Dee – «Community Building – Seeds<br />
for Social and Ecological Transformation») had to be cancelled<br />
unfortunately. An online Camphill Youth gathering<br />
in May 2021 took place instead.<br />
The encouragement to keep going and not lose momentum<br />
was given by three individuals from Newton Dee who<br />
one might call «of the older generation». They invited a<br />
small group of younger people within the Camphill Movement<br />
and the Youth Section to form an organising body.<br />
With the right mixture of wisdom sharing, guidance and<br />
letting go, these three facilitated a weekend in Newton Dee<br />
in November 2022 – passing on the baton and making it<br />
clear that they would not be involved in the further organising.<br />
58<br />
Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>
Das Brainstorming an diesem Wochenende zu den Fragen<br />
«Was wollen wir erreichen?» und «Wen wollen wir erreichen?»<br />
markierte den Beginn der Planungsphase. Wir<br />
untersuchten gemeinsame Themen und Interessen unserer<br />
heutigen Generation und stellten fest, dass viele junge<br />
Menschen in städtischen Gebieten auf der Suche nach<br />
einem anderen Lebensstil sind. Viele fühlen sich zum Gemeinschaftsleben<br />
hingezogen, wissen aber oft nicht, wohin<br />
sie gehen oder wen sie fragen sollen. Ein weiteres gemeinsames<br />
Phänomen, das wir beobachteten, war, dass<br />
Menschen, die in Gemeinschaften leben, sich mit anderen<br />
zusammenschliessen wollen, die ihre Werte und ihre Lebensweise<br />
teilen, um voneinander zu lernen, ein breiteres<br />
Bewusstsein füreinander zu entwickeln und Netzwerke<br />
von Gleichgesinnten und Gemeinschaften aufzubauen.<br />
Es war der Beginn einer wunderbaren Zusammenarbeit<br />
zwischen Mitarbeitern aus Camphill-Gemeinschaften in<br />
Schottland, England, Nordirland und den USA (Newton Dee,<br />
Esk Valley, Glencraig, Clanabogan und Camphill Academy)<br />
mit einer starken Verbindung zur Jugendsektion am Goetheanum<br />
in der Schweiz. Wir verabschiedeten uns mit einer<br />
engagierten Gruppe von zehn Personen, einer Vision, worum<br />
es bei der Tagung gehen sollte (Gemeinschaftsbildung)<br />
und der Bestätigung, dass Camphill Newton Dee bereit war,<br />
zu dieser Jugendtagung im Mai <strong>2023</strong> einzuladen.<br />
Die Tagung<br />
Das Programm, bei dem es um das Thema «Gemeinschaftsbildung<br />
– Wie können wir uns unsere Zukunft<br />
(neu) vorstellen» ging, stützte sich auf drei Säulen: (1) Intellektuelle<br />
Inhalte – Denken, (2) Newton Dee-Erfahrung<br />
– Fühlen und (3) Freiräume, um miteinander in Kontakt<br />
zu treten, sich auszutauschen und gemeinsam etwas zu<br />
schaffen – Wollen.<br />
Der intellektuelle Inhalt wurde in drei Vorträgen vermittelt.<br />
Der erste «Warum sind Sie hier?» wurde von Marie Dionie<br />
Palaleo gehalten. In diesem Vortrag ging es um die Ergebnisse<br />
von einem Research Projekt, das durchgeführt wurde,<br />
um die Erfahrungen von Praktikanten und Freiwilligen in<br />
Camphill-Gemeinschaften auf der ganzen Welt zu untersuchen.<br />
Das besagte Projekt wurde von Dan McKanan in Zusammenarbeit<br />
mit der Camphill Academy und der Camphill<br />
Foundation, USA, geleitet. Em nutzte das Thema ihres Vortrags,<br />
um den Menschen die Möglichkeit zu geben, darüber<br />
nachzudenken, warum sie in ihren jeweiligen Gemeinschaften<br />
und auf der Konferenz waren. Sie gab einen schönen<br />
Einblick in die Erfahrungen, die junge Menschen machen,<br />
wenn sie nach Camphill kommen.<br />
In dem zweiten Vortrag ging es um Nachhaltigkeit in intentionalen<br />
Gemeinschaften. Dieser wurde von Martin Sturm<br />
This weekend, brainstorming around the questions of<br />
«What do we want to achieve?» and «Who do we want to<br />
reach?», marked the beginning of the planning phase. We<br />
explored common themes and interests of our generation<br />
today and recognised that there are a lot of young people<br />
in urban areas looking for a different way of life. Many<br />
are drawn towards community living but often don’t know<br />
where to go or whom to ask. Another common phenomenon<br />
we observed was that people who live in communities<br />
want to connect with others who share their values and<br />
way of life, to learn from and strengthen a wider awareness<br />
of each other and build networks of like-minded people<br />
and communities.<br />
It was the start of a beautiful collaboration between individuals<br />
from Camphill Communities in Scotland, England,<br />
Northern Ireland and the US (Newton Dee, Esk Valley,<br />
Glencraig, Clanabogan and Camphill Academy) with<br />
a strong link to the Youth Section at the Goetheanum in<br />
Switzerland. We parted with a committed group of ten<br />
people, a vision of what the conference was going to be<br />
about (Community Building) and the confirmation that<br />
Camphill Newton Dee was willing to host this Youth Conference<br />
in May <strong>2023</strong>.<br />
The conference<br />
The program that was built around the theme of «Community<br />
Building – How can we (re-)imagine our future»,<br />
stood on three pillars: (1) Intellectual content – thinking,<br />
(2) Newton Dee experience – feeling, and (3) free spaces to<br />
connect, share, and create with each other – willing.<br />
The intellectual content was brought in three talks. The<br />
first one was called «Why are you here?» presented by<br />
Marie Dionie Palaleo. This talk was about the results of a<br />
research conducted to look into the experience of shortterm<br />
co-workers in Camphill Communities around the<br />
world. The said research was led by Dan McKanan in<br />
collaboration with the Camphill Academy and Camphill<br />
Foundation, USA. Em used the theme of her talk to open<br />
the space for people to reflect on why they were in their<br />
respective communities and at the conference. She presented<br />
a beautiful insight on experiences young people<br />
have when coming to Camphill.<br />
The second talk was about sustainability in intentional<br />
communities. This was presented by Martin Sturm and<br />
59
und Juan Sebastian Giraldo Armilla gehalten. Sie sprachen<br />
darüber, was Nachhaltigkeit in einem viergliedrigen Ansatz<br />
bedeutet, und über ihre persönlichen Erfahrungen<br />
damit. Dazu gehörten Projekte in Newton Dee (Juan) und in<br />
den Camphill-Gemeinschaften in Nordirland (Martin). Gemeinsam<br />
öffneten sie das Denken der Nachhaltigkeit als<br />
rein ökologisches Thema für den sozialen, wirtschaftlichen<br />
und kulturellen Bereich.<br />
Der dritte Vortrag wurde von Jonas Hellbrandt gehalten.<br />
Im Lichte der sozialen Dreigliederung gab er eine Einführung<br />
in Rudolf Steiners Sozialgesetz und wie man es mit<br />
persönlichem Wachstum, Selbstreflexion und der Entwicklung<br />
guter Führung in Gemeinschaften und Organisationen<br />
in Verbindung bringen kann.<br />
Katia Popoff und Martin Schwarz hielten einen Vortrag<br />
über den Kurs «Discovering Camphill», den sie zusammen<br />
mit einer Kollegin der Camphill Community Glencraig<br />
entwickelt haben.<br />
Auf jeden Vortrag folgten Gruppenaktivitäten, bei denen<br />
die Teilnehmer*Innen Zeit hatten, über das Gehörte nachzudenken,<br />
während sie etwas Kreatives oder Kontemplatives<br />
taten. Sie blieben über die drei Tage in der gleichen<br />
Gruppe, um eine tiefere Verbindung zueinander zu ermöglichen.<br />
Zu den Gruppen gehörten Zirkus, Gesang und<br />
Musik, Holzschnitzerei, Meditation und Eurythmie.<br />
Grosszügige Mittagspausen und Lagerfeuer boten weitere<br />
Möglichkeiten, Kontakte zu knüpfen und Beziehungen<br />
aufzubauen.<br />
Nicht alle Teilnehmenden kamen aus Camphill oder einer<br />
intentionalen Gemeinschaft, was der Konferenz ein grossartiges<br />
Gefühl der Vielfalt verlieh. Beim «Ideenbasar» waren<br />
alle eingeladen über spannende Projekte und neue<br />
Initiativen zu berichten. Einige der Präsentationen stammten<br />
von L‘Arche, der Jugendsektion am Goetheanum und<br />
im Vereinigten Königreich, Casa De Santa Isabel in Portugal,<br />
Freunde Waldorf, den Future Shapers, verschiedenen<br />
Camphill-Gemeinschaften wie Camphill Botswana, einem<br />
Projekt in Banchory, einem Teaser zu «Born That Way» –<br />
einem kommenden Film über Patrick Lydon – und vielen<br />
anderen Beiträgen aus verschiedenen regionalen Netzwerken<br />
und Gemeinschaften auf der ganzen Welt.<br />
Newton Dee erwies sich als ein herzlicher und grosszügiger<br />
Gastgeber. Die 70 Teilnehmenden aus aller Welt kamen<br />
nicht nur in den Genuss der köstlichen Verpflegung des<br />
Cafés, sondern erhielten auch eine Einladung eine Mahlzeit<br />
in einer der Hausgemeinschaften zu erleben. Die Werkstätten<br />
öffneten einen Nachmittag lang ihre Türen für uns, und<br />
gemeinsam feierten wir den Geist der Gemeinschaft mit<br />
einem inklusiven, fröhlichen Ceilidh Tanzabend.<br />
Der letzte Vormittag am Sonntag stand ganz im Zeichen<br />
der Reflexion. Wir schufen kleine Räume für innere Arbeit<br />
Juan Sebastian Giraldo Armilla. They spoke about what<br />
sustainability means on a four-fold approach and their<br />
personal experiences with it. These included projects<br />
in Newton Dee (Juan) and the Camphill communities in<br />
Northern Ireland (Martin). Together they opened up the<br />
narrow thinking of sustainability as a purely ecological topic<br />
to the social, economic and cultural realm.<br />
The third talk was by Jonas Hellbrandt. In the light of social<br />
three-folding, he gave an introduction to Rudolf Steiner’s<br />
Social Law and how to relate it to personal growth,<br />
self-reflection and development of good leadership in<br />
communities and organisations.<br />
A presentation was given by Katia Popoff and Martin<br />
Schwarz about the Discovering Camphill Course which<br />
they developed together with a colleague in Camphill<br />
Community Glencraig.<br />
Every talk was followed by group activities in which participants<br />
had time to reflect on what they heard, while doing<br />
something creative or contemplative. The participants<br />
remained in the same group to allow a deeper connection<br />
with each other. The groups included circus, singing and<br />
music, wood carving, meditation, and eurythmy.<br />
Generous lunch breaks and bonfires gave further spaces<br />
to connect and form relationships.<br />
Not everyone was from Camphill or an intentional community,<br />
which gave the conference a great feel of diversity.<br />
There was a space called the ‘Idea Bazaar’ where people<br />
shared about exciting projects and new initiatives. Some<br />
of the presentations given were from L’Arche, the Youth<br />
Section at the Goetheanum and in the UK, Casa De Santa<br />
Isabel in Portugal, Freunde Waldorf, the Future Shapers,<br />
different Camphill Communities like Camphill Botswana,<br />
a project in Banchory, a teaser to «Born That Way» – an<br />
upcoming film about Patrick Lydon – and many more from<br />
different regional networks and communities around the<br />
world.<br />
Newton Dee proved to be a welcoming and generous host.<br />
Not only did the 70 participants from all over the world<br />
enjoy delicious catering from the Café, but everyone got<br />
an invitation to join one of the house communities for a<br />
meal. The workshops opened their doors to us for one afternoon<br />
and together we celebrated the spirit of community<br />
with an inclusive, joyful Ceilidh.<br />
60<br />
Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>
und versuchten, die Erfahrungen, die wir während des langen<br />
Wochenendes gemacht hatten, zu verarbeiten. Eine<br />
Gruppe schloss sich der Opferfeier von Newton Dee an,<br />
bevor wir uns wieder im grossen Kreis versammelten und<br />
uns voneinander verabschiedeten. Den Abschluss bildete<br />
ein kraftvolles Eurythmie-«Halleluja» unter der Leitung<br />
von Munja Missalek.<br />
The final morning on Sunday was all about reflection. We<br />
created small spaces for inner work, trying to make a start<br />
at processing the experiences shared over the long weekend.<br />
A group joined Newton Dee’s Offering Service before<br />
we reconvened in the big circle and said our goodbyes and<br />
farewells. Finishing with a powerful Eurythmy «Hallelujah»,<br />
led by Munja Missalek.<br />
Zukunft<br />
Future<br />
Die Teilnehmenden und das Organisationsteam sind<br />
fest entschlossen, diese Initiative fortzusetzen und sie<br />
zu einer jährlichen Veranstaltung zu machen. Eine neue<br />
Gruppe hat sich bereits gebildet. Wir haben unser erstes<br />
Treffen online abgehalten und uns auf die gastgebende<br />
Gemeinschaft geeinigt.<br />
Das Organisationsteam der Jugendtagung <strong>2023</strong>:<br />
Juan Sebastian Giraldo Armilla, Tillmann Eisenberg,<br />
Julia Kreutz, Sebastian Zieger, Gabriele Nys, Wiebke Lösken-Sturm,<br />
Marie Dionie [Em] Palaleo, Tom Burkin, Nick<br />
Kellner und Martin Schwarz<br />
There is the strong will among participants and organisers<br />
to continue this initiative and make it a yearly event. A new<br />
group has already formed. We had our first meeting online<br />
and agreed on the hosting community.<br />
The Youth Conference <strong>2023</strong> Organising Team:<br />
Juan Sebastian Giraldo Armilla, Tillmann Eisenberg,<br />
Julia Kreutz, Sebastian Zieger, Gabriele Nys, Wiebke<br />
Lösken-Sturm, Marie Dionie [Em] Palaleo, Tom Burkin,<br />
Nick Kellner and Martin Schwarz.<br />
61
Impressum<br />
Verlag | Publisher. . . . . . . . .Anthroposophic Council for Inclusive Social Development<br />
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Fonds für Heilpädagogik und Sozialtherapie Dornach<br />
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Ruchti-Weg 9, CH-4143 Dornach, +41 61 701 84 85<br />
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .perspectives@inclusivesocial.org<br />
Website . . . . . . . . . . . . . . . .inclusivesocial.org/perspectives<br />
Redaktion | Editorial Team . .Jan C. Göschel • Elizabeth Sanders<br />
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Bernhard Schmalenbach • Gabriele Scholtes<br />
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Layout . . . . . . . . . . . . . . . . .Sophie Alex<br />
Satz | Typeset . . . . . . . . . . .Gabriele Scholtes<br />
Druck | Printing . . . . . . . . . .medialis Offsetdruck GmbH<br />
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Heidelberger Straße 65, DE-12435 Berlin<br />
Versand | Distribution . . . . .OML Direktmarketing und Logistik GmbH & Co. KG,<br />
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Fotos . . . . . . . . . . . . . . . . . .Titel, S. 17, 33: stock.adobe.com/herlanzer<br />
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ISSN (online) 2673-222X<br />
Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development ist die vierteljährliche<br />
internationale Fachzeitschrift für anthroposophische Heilpädagogik,<br />
Sozialtherapie und verwandte Arbeitsfelder.<br />
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Anthroposophic <strong>Perspectives</strong> in Inclusive Social Development | 4-<strong>2023</strong>