MQ+ Winter 2023
Das Artland-Magazin
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ARTLÄNDER PERSÖNLICHKEITEN<br />
Willi begegnete ich danach immer mal<br />
wieder. War es beim Kinderschützenfest<br />
der Neustadt, beim Friseur oder an<br />
der Ladestraße. Vier Jahre später, als ich<br />
als 13-Jähriger mit meinem Rennrad im<br />
<strong>Winter</strong> bei einem Schneesturm die Hasestraße<br />
entlangfuhr, trafen wir wieder<br />
aufeinander.<br />
Mein gelbes Rennrad habe ich im Sommer<br />
1972 zum Geburtstag bekommen<br />
und es war mein ganzer Stolz, aber an<br />
diesem <strong>Winter</strong>tag sollte ich schmerzhaft<br />
feststellen, dass ein herkömmliches<br />
Fahrrad besser geeignet gewesen<br />
wäre. Rennräder haben ja nun mal<br />
einen stark nach unten gezogenen Lenker,<br />
um eine aerodynamische Sitzposition<br />
zu ermöglichen und den Luftwiderstand<br />
zu reduzieren. Das hat aber auch<br />
Nachteile, erstens führt diese Sitzhaltung<br />
unmissverständlich dazu, dass der<br />
Fahrer eines solchen Rades mit seinem<br />
Kopf quasi direkt über dem Vorderrad<br />
positioniert ist und zweitens ist diese<br />
Sitzposition bei einem Schneesturm<br />
gänzlich ungeeignet. Beides sollte mir<br />
an diesem Tag zu denken geben.<br />
Am Rand der Hasestraße war ein<br />
Pritschenwagen geparkt, der zu Wacker<br />
gehörte. Aus der Stadt kommend fuhr<br />
ich die Straße entlang, hatte Gegenwind<br />
und der Schnee peitschte mir in<br />
mein Gesicht, sodass ich mich quasi im<br />
Blindflug befand. Dann plötzlich, wie<br />
aus dem Nichts, die Kontaktaufnahme<br />
mit dem Kleinlaster und das Licht war<br />
aus. An den Aufprall kann ich mich bis<br />
heute nicht erinnern, denn ich hatte<br />
mich kurzfristig mental verabschiedet<br />
und lag mit einer Platzwunde am Kopf<br />
im Schnee. Willi ging quasi zeitgleich<br />
zu dem Fahrzeug und fand mich,<br />
verband meinen Kopf, lud mein Rad<br />
auf und fuhr mich nach Hause. Meine<br />
Frau Mama war außer sich als sie mich<br />
sah und fand auch meines Erachtens<br />
nicht die richtigen Worte. Statt mich<br />
wenigstens ein kleines bisschen zu<br />
bemitleiden oder mich zu fragen, ob es<br />
mir gut ginge, hörte ich mal wieder das<br />
Übliche: „Junge, was hast du denn nun<br />
schon wieder angestellt und wie siehst<br />
du denn bloß wieder aus?“ Unterdessen<br />
erzählte Willi meinem Vater, dass er<br />
mich liegend im Schnee fand, und dass<br />
ich anscheinend auf das Fahrzeug aufgefahren<br />
sei. Außerdem sagte er: „Als<br />
ich ihn ansprach, meinte dein Sohn,<br />
ich solle mir keine Sorgen machen und<br />
dass seine Eltern für den Schaden<br />
aufkommen würden. Das<br />
Ganze tut mir leid, Johann. Ich<br />
hoffe, dass dein Junge schnell<br />
wieder auf die Beine kommt.<br />
Das Fahrrad ist wohl hin, ich<br />
habe es mitgebracht und stelle<br />
es vor die Tür.“<br />
Zwei Tage später stand Willi<br />
mit einem neuen gelben Rennrad<br />
bei uns vor der Tür.<br />
In einer Kleinstadt wie Quakenbrück<br />
begegnet man sich immer mal wieder<br />
und so haben wir uns nie aus den<br />
Augen verloren. Ab und zu trafen meine<br />
Frau und ich ihn bei seinem Lieblings-<br />
Griechen „Kosta“ an der Menslager<br />
Straße zum Abendessen. Dann saßen<br />
wir zusammen und Willi erzählte.<br />
Zu Weihnachten bekamen wir eine<br />
handgeschriebene Karte und seinen 75.<br />
Geburtstag feierten wir damals noch im<br />
Oldenburger Hof.<br />
Willi selbst bezeichnete sich nicht als<br />
Schrotthändler, auf seiner Visitenkarte<br />
stand: „Willi Wacker, Ferrologe“. Als er<br />
mir mal eine dieser Karten überreichte,<br />
sagte er: „Ich bin ein ambulanter<br />
Altmetallhändler!“ Das ist auch ein<br />
Zeugnis seines Humors. Über die Zeit<br />
des zweiten Weltkriegs redete er nicht<br />
viel, meinte aber, dass er in seinem<br />
Leben nie wieder eine Uniform tragen<br />
wolle. Er war beim Wiederaufbau der St.<br />
Marienkirche als Zimmermann dabei<br />
und ist für eine Kiste Bier und eine<br />
Flasche Schluck über den gesamten<br />
Dachstuhl balanciert. Willi war in jedem<br />
Schützenverein unserer Stadt zahlendes<br />
Mitglied, blieb aber auch hier seinem<br />
Vorsatz treu und trug keine Uniform.<br />
Ging es um Spenden, dann war er stets<br />
großzügig, wollte aber nie fotografiert<br />
oder namentlich genannt werden. Er<br />
förderte z. B. viele Jahre den Kindergarten<br />
Bethanien, den Wassersportverein<br />
und die Bundeswehrapotheke, um hier<br />
nur einige zu nennen. Von Computern<br />
hielt Willi gar nichts, er schrieb mit<br />
seiner alten Schreibmaschine und ansonsten<br />
stets mit der Hand. Das einzige<br />
an elektrischen Geräten in seinem Büro<br />
waren eine Kaffeemaschine, ein Wasserkocher<br />
und ein Taschenrechner. Kaltes<br />
Bier mochte er nicht. Servierte man ihm<br />
ein zu kaltes, dann legte er seine Hände<br />
um das Glas und wartete ab.<br />
Willi Wacker verstarb mit 91 Jahren am<br />
3. Februar 2020.<br />
Obwohl ich Willi für ein Quakenbrücker<br />
Original hielt, denke ich, dass ihm diese<br />
Bezeichnung nicht gefallen hätte.<br />
Die Begründung liefert schon Wikipedia:<br />
„Ein Original ist eine Person, die durch<br />
ihre Einzigartigkeit, Authentizität und<br />
Unverwechselbarkeit hervorsticht. Es<br />
kann sich um eine Person handeln, die<br />
aufgrund ihrer persönlichen Geschichte,<br />
Eigenschaften, Lebensweise, Kleidung,<br />
Sprache oder künstlerischen Fähigkeiten<br />
bekannt ist. Ein Original kann auch<br />
jemand sein, der eine besondere Rolle in<br />
einer Gemeinschaft spielt oder für seine<br />
außergewöhnlichen Leistungen anerkannt<br />
wird. Die Gründe, warum jemand<br />
als Original betrachtet wird, können<br />
vielfältig sein und von Kultur zu Kultur<br />
unterschiedlich sein.“<br />
Und Willi stand nicht gern im Mittelpunkt<br />
und er gab nichts auf Titel.<br />
Die Firma Wacker war 70 Jahre der Lebensinhalt<br />
von Willi, sein ganzes Wirken<br />
und Schaffen galt bis zuletzt seinem<br />
Unternehmen. In dieser Zeit hat sich<br />
der Metall-Schrotthandel grundsätzlich<br />
gewandelt und hat sich längst aus der<br />
ihm fälschlich zugewiesenen Schmuddel-Ecke<br />
zu einem gut organisierten und<br />
für die deutsche Wirtschaft wichtigen<br />
industriellen Faktor entwickelt. Über<br />
Land ziehende Altmetallhändler sind<br />
äußerst selten geworden. Sammelbetriebe<br />
sind inzwischen industrielle<br />
Weiterverarbeiter des Metallschrotts.<br />
Sie sind hochmodern mit der neuesten<br />
Technologie ausgerüstet. Firmen wie<br />
Wacker in Quakenbrück haben sich zu<br />
einer wichtigen wirtschaftlichen Bedeutung<br />
entwickelt. Sie sind ein bedeutender<br />
Dienstleister im Umweltschutz<br />
und bei der Ressourcenschonung und<br />
-rückgewinnung. Metallhandels- und<br />
Recyclingbetriebe haben sich industrialisiert<br />
und sind weltweit niedergelassen<br />
und vernetzt. Moderne Methoden des<br />
Rohstoffsammelns, des Recycelns und<br />
der Wiederaufbereitung bieten tausenden<br />
Menschen Beschäftigung.<br />
Rennrad repariert!<br />
Ausgabe <strong>Winter</strong> <strong>2023</strong> MQ| 15