Lilienthaler - Das Magazin 6-2023
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Die Geschichte von<br />
der Weihnachtsgurke<br />
Eine vermeintlich<br />
deutsche Tradition in Amerika<br />
Wie bitte, Sie kennen die Weihnachtsgurke<br />
nicht? Sollten Sie aber, denn sie ist angeblich<br />
eine alte, deutsche Weihnachtstradition.<br />
Und in den USA ist „The Christmas Pickle<br />
– Made in germany“ seit Jahren der Weihnachtsrenner!Ist<br />
schon komisch, wir dachten<br />
bisher, Kugeln und Strohsterne seien typisch<br />
deutsche Dekorationsartikel für den Weihnachtsbaum<br />
im heimischen Wohnzimmer....<br />
Doch angeblich wissen es die Amis besser:<br />
Laut US-Zertifikat stammt die Weihnachtsgurke<br />
definitiv aus Deutschland, wo – nach ihren<br />
Vorstellungen - an allen Weihnachtsbäumen<br />
eine Gewürzgurke hängt, aus Glas, versteht<br />
sich. Inzwischen baumelt sie wahrscheinlich<br />
an viel mehr amerikanischen Tannenbäumen,<br />
als an deutschen, denn die Deutschen kennen<br />
nur bedingt die Legenden und Hintergründe<br />
der Weihnachtsgurke, wohingegen die Amerikaner<br />
den angeblich deutschen Exportartikel<br />
hegen und pflegen.<br />
Was soll die Glasgurke am Weihnachtsbaum,<br />
fragt man sich. Zunächst einmal ist sie durch<br />
ihre Farbe am Tannenbaum schwer auszumachen.<br />
Dadurch wird aus der Gurkensuche ein<br />
kleines Spiel am Heiligen Abend: wer sie zuerst<br />
am Baum entdeckt, ohne diesen zu berühren,<br />
darf als Erster seine Geschenke auspacken und<br />
bekommt auch noch ein kleines Extra-Geschenk<br />
obendrauf, sozusagen den Finderlohn.<br />
Was es nun aber überhaupt mit der Gurke auf<br />
sich hat, ist – laut unterschiedlicher Quellen –<br />
nicht eindeutig auszumachen. Eine Erzählung<br />
geht auf den aus Bayern stammenden Auswanderer<br />
Hans Lauer zurück, der sich in den<br />
USA John Lower nannte. Dieser wurde im amerikanischen<br />
Bürgerkrieg als Kriegsgefangener<br />
festgenommen und war kurz vor Heiligabend<br />
dem Hungertod nahe. Er bat um eine Gurke, die<br />
ein Gefängniswärter ihm gab, und – er wurde<br />
wieder gesund! Als er freikam und zu seiner Familie<br />
zurückkehrte, erinnerte er sich jedes Jahr<br />
an Weihnachten an seine Rettung, indem er<br />
eine Gurke an den Weihnachtsbaum hängte.<br />
Eine andere Geschichte stützt sich darauf, dass<br />
Familien im frühen zwanzigsten Jahrhundert<br />
nicht genug Geld hatten, um allen Kindern ein<br />
Geschenk zu kaufen. Nur das Kind, das die<br />
Weihnachtsgurke am Baum fand, bekam eine<br />
Kleinigkeit.<br />
Da die Weihnachtsgurke heutzutage in<br />
Deutschland eher unbekannt ist, gehen die Meinungen<br />
dazu, ob es wirklich ein deutscher<br />
Brauch ist, weit auseinander. Vielleicht handelt<br />
es sich um eine längst vergessene Tradition,<br />
denn ein Stempel aus dem thüringischen Lauscha,<br />
wo die Weihnachtsgurke 1880 erfunden<br />
sein soll, verleiht dem Dokument Glaubwürdigkeit.<br />
Auch in traditionellen Glasbläserbetrieben<br />
gibt es alte Formen für die Weihnachtsgurke.<br />
Inzwischen werden Weihnachtsgurken aus Glas<br />
in vielen deutschen Manufakturen<br />
hergestellt, da die Nachfrage<br />
steigt. Was in den USA<br />
schon lange als „deutscher<br />
Brauch“ bekannt und ein Verkaufsschlager<br />
von New York<br />
bis San Francisco ist, kehrt so<br />
in das Land des (vermeintlichen)<br />
Ursprungs zurück.<br />
Wenn eine Gurke am Tannenbaum<br />
an Dankbarkeit für Gesundheit<br />
erinnert und darüberhinaus<br />
ein netter Spielspaß<br />
für Kinder am Heiligabend<br />
sein kann, warum<br />
dann nicht die 'Christmas<br />
Pickle' aufhängen?<br />
Text & Fotos: Cornelia von Enden