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Volker Stolle: Die Kelchstrophe im evangelischen Kirchenlied (Leseprobe)

Volker Stolle untersucht die Kelchsymbolik im evangelischen Kirchenlied in ihrem frömmigkeitsgeschichtlichen Rahmen. Kelch ist hier ein Bild für die Situation, die fromme Menschen (christliche Gemeinden) zu bewältigen haben, die die frohe Botschaft in sich aufnehmen und ihr im Gotteslob Ausdruck und Gestalt verleihen. Sie leben in einer eschatologischen Existenz, indem sie mit Christus verbunden sind und unter Leiden ihrer endlichen Vollendung entgegengehen. Die Kelchstrophe diente der Kritik am gängigen Erscheinungsbild der Kirche sowie zur Kennzeichnung eines geistlichen Liedes. Von ihren reformatorischen Anfängen her erlebte die Kelchstrophe eine vielgestaltige Rezeption, die lange Zeit von einem kreativen Umgang geprägt war. Die Metapher des Leidenskelches hielt sich durch, während das Verständnis der damit verbundenen Symbolik deutlichen Wandlungen unterlag. Schließlich aber verlor diese Metapher ihre Faszination, die zu ihrer Adaption in unterschiedlichen Frömmigkeitskontexten geführt hatte. Es zeigt sich eine bemerkenswerte mentalitätsgeschichtliche Plausibilität für die Verwendung der Kelchstrophe im evangelischen Kirchenlied.

Volker Stolle untersucht die Kelchsymbolik im evangelischen Kirchenlied in ihrem frömmigkeitsgeschichtlichen Rahmen. Kelch ist hier ein Bild für die Situation, die fromme Menschen (christliche Gemeinden) zu bewältigen haben, die die frohe Botschaft in sich aufnehmen und ihr im Gotteslob Ausdruck und Gestalt verleihen. Sie leben in einer eschatologischen Existenz, indem sie mit Christus verbunden sind und unter Leiden ihrer endlichen Vollendung entgegengehen. Die Kelchstrophe diente der Kritik am gängigen Erscheinungsbild der Kirche sowie zur Kennzeichnung eines geistlichen Liedes.
Von ihren reformatorischen Anfängen her erlebte die Kelchstrophe eine vielgestaltige Rezeption, die lange Zeit von einem kreativen Umgang geprägt war. Die Metapher des Leidenskelches hielt sich durch, während das Verständnis der damit verbundenen Symbolik deutlichen Wandlungen unterlag. Schließlich aber verlor diese Metapher ihre Faszination, die zu ihrer Adaption in unterschiedlichen Frömmigkeitskontexten geführt hatte. Es zeigt sich eine bemerkenswerte mentalitätsgeschichtliche Plausibilität für die Verwendung der Kelchstrophe im evangelischen Kirchenlied.

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Arbeiten zu Theologie und Leben der<br />

lutherischen Kirche in Geschichte und Gegenwart<br />

<strong>Volker</strong> <strong>Stolle</strong><br />

<strong>Die</strong> <strong>Kelchstrophe</strong><br />

<strong>im</strong> <strong>evangelischen</strong><br />

<strong>Kirchenlied</strong><br />

Glauben und Bekennen


Vorwort<br />

<strong>Die</strong> <strong>Kelchstrophe</strong> war als Hilfe gedacht, die Zunge zum Singen zu lösen. Gemeint<br />

war aber nicht ein Anstoßen in feuchtfröhlicher Runde, sondern die bewusste<br />

Entgegennahme eines Leidenskelches. Weil man auch diesen sich von Gott reichen<br />

und in die Hand geben ließ, verband sich seine Entgegennahme mit gemeinsam<br />

gefeiertem Gotteslob. Auf diese markante Akzentuierung <strong>im</strong> <strong>evangelischen</strong><br />

<strong>Kirchenlied</strong> soll die Aufmerksamkeit gerichtet werden.<br />

In der Geschichte des <strong>Kirchenlied</strong>es zeichnet sich eine Frömmigkeitsentwicklung<br />

ab, in der das neue Verständnis der biblischen Botschaft, das zum<br />

reformatorischen Aufbruch führte, durch die Zeiten hin wirksam blieb, sich<br />

<strong>im</strong>mer neu kreativ veränderte und gerade so seine sinnstiftende Lebendigkeit<br />

erwies, aber als Wortgeschehen auch an die sprachlichen Grenzen seiner Ausdrucksfähigkeit<br />

gelangte.<br />

Allen, die mir auf dem Weg, dieses Projektdurchzuführen, behilflich waren,<br />

danke ich herzlich. Mein besonderer Dank gilt Rudolf Keller und HelmutFenske<br />

für ihre <strong>im</strong>mer neue Bereitschaft, mich mit Informationen zu versorgen, die mir<br />

sonst so leicht nicht erreichbar gewesen wären. Den Herausgebern der Reihe<br />

Gilberto da Silva und Christian Neddens danke ich für ihre Offenheit für das<br />

Projekt. Christoph Barnbrock hat mich ermutigt, die Fragestellung konsequent<br />

zu verfolgen. Dem Team des Verlags danke ich für die gute Zusammenarbeit und<br />

besonders Mandy Bänder für die verständnisvolle Gestaltung des Textes. Der<br />

Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche sowie dem Kreis der Freunde<br />

und Förderer der Lutherischen Theologischen HochschuleOberursel e. V. danke<br />

ich für ihre Zuschüsse zur Deckung der Druckkosten.<br />

Mannhe<strong>im</strong>, <strong>im</strong> Herbst 2023<br />

<strong>Volker</strong> <strong>Stolle</strong>


Inhalt<br />

Einleitung ................................................ 9<br />

I Der sprachgeschichtliche Hintergrund ....................... 19<br />

1. <strong>Die</strong> sprachliche Unterscheidung zwischen Becher, Kelch und<br />

Pokal ............................................. 20<br />

2. Kunstgeschichtliche Annäherungen ...................... 21<br />

3. <strong>Die</strong> Kelchsymbolik in Luthers Bibelübersetzung ............. 36<br />

4. Wirkungsgeschichtliche Anmerkungen zuLuthers<br />

Kelchdefinition ...................................... 52<br />

5. Luthers Kelchsymbolik und seine <strong>Kirchenlied</strong>-Programmatik ... 64<br />

II Das Formspektrum der <strong>Kelchstrophe</strong> in seiner geschichtlichen<br />

Entwicklung ........................................... 71<br />

1. <strong>Kelchstrophe</strong> <strong>im</strong> <strong>Kirchenlied</strong> als poetisches Phänomen ....... 71<br />

2. Neun- und zehnzeilige <strong>Kelchstrophe</strong>n bei Hans Sachs ........ 76<br />

3. Zehnzeiler als reformatorische Grundform der <strong>Kelchstrophe</strong> ... 84<br />

4. <strong>Die</strong> in der Täuferbewegung und ähnlichen Gruppierungen<br />

favorisierte zehnzeilige <strong>Kelchstrophe</strong> ..................... 98<br />

5. Weitere Rezeption <strong>im</strong> Luthertum ........................ 101<br />

6. Frühe Varianten der zehnzeiligen <strong>Kelchstrophe</strong> ............. 115<br />

7. Wahlspruchlieder in <strong>Kelchstrophe</strong>nform .................. 120<br />

8. Das Fortleben der zehnzeiligen <strong>Kelchstrophe</strong> bei Paul Gerhardt<br />

und seinen Zeitgenossen .............................. 125<br />

9. <strong>Die</strong> neunzeilige <strong>Kelchstrophe</strong> in der Reformationszeit ........ 135<br />

10. Das Weiterleben auch dieser Tradition bei Paul Gerhardt und<br />

später ............................................. 145<br />

11. Sechszeilige <strong>Kelchstrophe</strong> in der Reformationszeit ........... 149<br />

12. Das Fortleben der sechszeiligen <strong>Kelchstrophe</strong><br />

<strong>im</strong> 17. Jahrhundert ................................... 154<br />

13. <strong>Die</strong> siebenzeilige <strong>Kelchstrophe</strong> (Kontrafraktur in der<br />

Nachreformationszeit) ................................ 157<br />

14. <strong>Die</strong> Aufnahme der siebenzeiligen <strong>Kelchstrophe</strong> bei Paul<br />

Gerhardt und später .................................. 159<br />

15. <strong>Die</strong> achtzeilige <strong>Kelchstrophe</strong> (Kontrafraktur in der<br />

Nachreformationszeit) ................................ 165<br />

16. <strong>Die</strong> elfzeilige <strong>Kelchstrophe</strong> ............................. 171<br />

17. <strong>Die</strong> zwölfzeilige <strong>Kelchstrophe</strong> und Philipp Nicolai ........... 177<br />

18. Vierzehnzeilige Strophe ............................... 202<br />

19. <strong>Die</strong> fünfzeilige <strong>Kelchstrophe</strong> <strong>im</strong> kulturellen Wandel .......... 203


8 Inhalt<br />

20. <strong>Die</strong> achtzeilige <strong>Kelchstrophe</strong> in der Zeit des Barock .......... 208<br />

21. <strong>Die</strong> achtzeilige <strong>Kelchstrophe</strong> und das Kelch-Verständnis bei<br />

Benjamin Schmolck .................................. 228<br />

22. <strong>Die</strong> zehnzeilige <strong>Kelchstrophe</strong> in der Zeit des Barock: Pflege der<br />

Tradition und neue Metrik ............................. 235<br />

23. Vierzeilige Kelch- und Pokalstrophe ...................... 257<br />

Zusammenfassung ...................................... 259<br />

III <strong>Die</strong> Ablösung der <strong>Kelchstrophe</strong> ............................. 261<br />

1. <strong>Die</strong> Bedeutung der <strong>Kelchstrophe</strong> zu ihrer Zeit .............. 263<br />

2. <strong>Die</strong> Verlagerung der Frömmigkeit aus der Öffentlichkeit in den<br />

Bereich des Privaten ................................. 277<br />

3. Der neuzeitliche Wandel der deutschen Sprache ............ 280<br />

Literatur ................................................. 293<br />

Verzeichnis der Abbildungen .................................. 301


Einleitung<br />

<strong>Kirchenlied</strong>er weisen seit der Reformationszeit in der Hörgestalt und dem<br />

Schriftbild ihrer Strophen häufig eine Kelchform auf. Mit diesem Tatbestand<br />

wusste die hymnologische Forschung bisher wenig anzufangen, weil der darin<br />

liegende Sachverhalt ungeklärt blieb. Auch die Sprachforschung hat von ihrem<br />

Ansatz her wenig Hilfe geleistet. Das von den Brüdern Gr<strong>im</strong>m inaugurierte<br />

»Deutsche Wörterbuch« ließ gerade die Gesangbücher als Zeugnisse der deutschen<br />

Sprache außen vor. 1 In dem Artikel KELCH wird zwar Luthers Bibelübersetzung<br />

herangezogen, aus dem <strong>evangelischen</strong> <strong>Kirchenlied</strong> jedoch nur ein<br />

einziger Beleg angeführt: »Was gott thut, das ist wol gethan, musz ich den kelch<br />

gleich schmecken«, und zwar ohne Hinweis auf die der inhaltlichen Aussage<br />

entsprechende Strophenform. 2 In dieser Hinsicht blieb die Wirkungsgeschichte<br />

der Lutherbibel ausgeblendet. <strong>Die</strong> hier zu untersuchende literarische Form kam<br />

damit in ihrer Eigenart nicht in den Blick.<br />

Was hat es aber mit dieser besonderen Ausgestaltung des Strophenbaus auf<br />

sich?<br />

<strong>Die</strong> entsprechenden Lieder sind inhaltlich keineswegs speziell auf das Thema<br />

Abendmahl bezogen, wie <strong>im</strong>mer wieder vermutet wurde. Sie stellen vielmehr in<br />

dem Sinne <strong>Kirchenlied</strong>er dar, dass die Gemeinde oder die einzelnenChristen als<br />

Glieder der Gemeinde <strong>im</strong> Fokus stehen. <strong>Die</strong> Lieder werden offenbar durch die<br />

Kelch-Symbolik als geistliche Lieder charakterisiert. Es geht umden persönlichen<br />

Kelch, den Gott einem jeden Menschen zugedacht hat und den es auszutrinken<br />

gilt. Um den Sinn der Kelchmetaphorik zu erfassen, sind die mentalitätsgeschichtlichen<br />

Voraussetzungen zu erkunden, auf denen der poetische<br />

Gestus des Gebrauchs der <strong>Kelchstrophe</strong> beruht.<br />

Methodischwird so vorgegangen, dass das Phänomen <strong>Kelchstrophe</strong> in einer<br />

größerenBreite erfasst wird, um das Materialdann auszuwerten. Allerdings kann<br />

1<br />

2<br />

Vgl. zum Umfang der berücksichtigten Quellen: Jacob u. Wilhelm Gr<strong>im</strong>m, Deutsches<br />

Wörterbuch I, Leipzig 1854, XXXIV–XXXVI.<br />

DWb V, Leipzig 1873, 506.


10 Einleitung<br />

es nicht darum gehen, alle Lieder dieses Typs möglichst vollständig zu erfassen,<br />

wohl aber das Spektrum in seiner Weite zu repräsentieren auch dann, wenn der<br />

Kelch nicht zum Thema wird.<br />

<strong>Die</strong> vorliegende Untersuchung stützt sich für das erste Jahrhundert des<br />

<strong>evangelischen</strong> <strong>Kirchenlied</strong>es <strong>im</strong> Wesentlichen auf die Sammlung von Philipp<br />

Wackernagel (1800–1877) »Das deutsche <strong>Kirchenlied</strong> von der ältesten Zeit bis<br />

zu Anfang des 17. Jahrhunderts«. Für die folgende Zeit richtet sich die Untersuchung<br />

an der Sammlung aus, die Johann Friedrich Burg (1689–1766) in seinem<br />

schlesischen Gesangbuch bietet (1742; mit der Ausgabe von 1781) 3 ,und<br />

ergänzt sie aus speziellen Sammlungen. <strong>Die</strong> Gesangbücher für die evangelischlutherische<br />

Landeskirche des Königreichs Sachsen (Leipzig und Dresden 1883)<br />

und der evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen (Elberfeld/Breslau 1898) 4<br />

werden für die Zeit des Übergangs zu der neuen Epoche genutzt, die zunächst<br />

durch das »Evangelische Kirchengesangbuch (1950)« (EKG) und dann durchdas<br />

»Evangelische Gesangbuch (1995)« (EG), sowie das »Evangelisch-lutherische<br />

Kirchengesangbuch (2021)« (ELKGY) repräsentiert ist. Sowohl der landeskirchliche<br />

als auch der selbständige Flügel des deutschen Luthertums werden berücksichtigt.<br />

5 Das formale und inhaltliche Spektrum kommt auf diese Weise<br />

hinreichend in den Blick. Für die Entstehung, Bedeutung und Rezeption der<br />

einzelnen Lieder wird auf die Spezialliteratur verwiesen.<br />

3<br />

4<br />

5<br />

<strong>Die</strong>ses Gesangbuch erlangte eine besondere Bedeutung, als es in der Auseinandersetzung<br />

mit dem Berliner Gesangbuch von 1780 neue Auflagen erlebte, indem es »strenge<br />

Rechtgläubigkeit mit frommer Innigkeit« verband und damit der traditionell ausgerichteten<br />

Mentalität der <strong>evangelischen</strong> Schlesier mehr entsprach. Es wurde »nach dem<br />

Zeugnis eines Zeitgenossen aus dem Jahre 1798 von einer halben Million Menschen, d.h.<br />

fast dem gesamten damaligen lutherischen Schlesien benutzt« und blieb noch bis Ende<br />

des 19. Jahrhunderts in Gebrauch. Zitate bei: Martin Kiunke, Johann Gottfried Scheibel<br />

und sein Ringen um die Kirche der lutherischen Reformation (Diss. Erlangen 1941),<br />

Neudruck: (KO.M 19), Göttingen 1985, 19–20.<br />

<strong>Die</strong> Generalsynode dieser Kirche von 1898 begrüßte dieses Gesangbuch als »neues<br />

Einheitsband für unsere Kirche« (Beschlüsse der von der evangelisch-lutherischen<br />

Kirche in Preußen <strong>im</strong> September und October 1841 zu Breslau gehaltenen Generalsynode,<br />

Leipzig 1842, dann mit Verlagsort Breslau weitergeführt in fortlaufender Seitenzählung,<br />

916). Der Generalsynode von 1852 hatten bereits zwei Gesangbuch-Entwürfe<br />

vorgelegen; man hatte jedoch beschlossen, »von der allgemeinen Einführung<br />

irgend eines Gesangbuchs in die Kirche unseres Landes überhaupt abzustehen« (ebd.,<br />

243). Karl Petrus Theodor Crome (1821–1874) veröffentlichte dann seinen Entwurf als<br />

Privatunternehmung: Christliches Kirchen- und Haus-Gesangbuch. Für evangelisch-lutherische<br />

Gemeinen, 1 Köln 1856, 2 Elberfeld 1861, 3 Radevormwald 1875, 4 Kropp 1890.<br />

Vgl. auch Johannes Junker, Immer wieder neue Lieder. Aus der Gesangbuchgeschichte<br />

der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK), Rotenburg (Wümme) 2022.


Einleitung 11<br />

Das Bild des Kelches ist nicht nur als graphisches, sondern auch als<br />

sprachliches Signal zu verstehen, als Hinweis auf den Begriff Kelch als Bedeutungsträger,<br />

gerade auch in metaphorischer Hinsicht. Bei <strong>Kirchenlied</strong>ern ist zu<br />

berücksichtigen, dass ihr Referenztext ohnehin zu erheblichem Maße in der<br />

Bibel liegt. Martin Luther (1483–1546) gab in einem Brief an Spalatin zur Jahreswende<br />

1523/24 die Programmatik vor: »deutsche Psalmen für das Volk zu<br />

machen, nämlich geistliche Lieder, damit das Wort Gottes sich auch durch den<br />

Gesang unter den Leuten erhielte.« 6 Eine enge Verbindung zwischen biblischer<br />

Botschaft und <strong>Kirchenlied</strong> gehört also zu den Grundvorgaben bei ihrer Interpretation,<br />

7 ohne dass eine Beschränkung speziell auf die Psalmen vorliegen<br />

würde. <strong>Die</strong> biblischen Quellen der <strong>Kirchenlied</strong>er aufzudecken gilt demzufolge<br />

allgemein als ein selbstverständlicher Arbeitsschritt.<br />

Dabei ist be<strong>im</strong> <strong>evangelischen</strong> <strong>Kirchenlied</strong> der Übergang nicht nur von den<br />

biblischen Sprachen in das deutsche Kommunikationsmedium zu beachten,<br />

sondern auch der Übergang von der lateinischen Kirchensprache in die alltägliche<br />

Volkssprache zu berücksichtigen.<br />

Fürdie thematisierten Lieder wardie Lutherübersetzungsprachprägend.<strong>Die</strong>se<br />

Übersetzung ist mit einer völlig beabsichtigten, ganz deutlichen Leserlenkung<br />

verbunden. 8 Undgeradedas deutsche Wort Kelchn<strong>im</strong>mt vordem Hintergrunddes<br />

biblischen Sprachgebrauchs eine besondere Bedeutung an, die sich bis in die<br />

Alltagssprache hinein auswirkte.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Kelchstrophe</strong> <strong>im</strong>Kontext der reformatorischen Singebewegung<br />

<strong>Die</strong> <strong>Kelchstrophe</strong> gehört zu dem Zweig des <strong>evangelischen</strong> <strong>Kirchenlied</strong>es, der<br />

nicht auf der Tradition des gottesdienstlich-liturgischen Singens aufruht und sie<br />

weiterführt, sondern zu dem Zweig, der mit der deutschenVerkehrssprache eine<br />

außerkirchliche kulturelle Tradition aufn<strong>im</strong>mt und sie in den Horizont der biblischen<br />

Sprachwelt hineinstellt. Wenn Luther Psalmen inder deutschen Alltagspracheanregt,<br />

sind in diesem Fall der <strong>Kelchstrophe</strong> als formale Bezugsgröße<br />

nicht der monastische Psalmengesang und die biblischen Cantica <strong>im</strong> Blick,<br />

sondern das deutschsprachige Singen in seiner sowohl weltlichen als auch re-<br />

6<br />

7<br />

8<br />

»psalmos vernaculos condere pro vulgo, id est spirituales cantilenas, quo verbum dei vel<br />

cantu inter populos maneat« (WA.B 3, 220, Nr. 698,2–3).<br />

Vgl. Rudolf Köhler, Bibel und <strong>Kirchenlied</strong>, in: HEKG I, Göttingen 1970, 53–67.<br />

Luther selbst hat ganz bewusst eine solche Leserlenkung vorgenommen, indem er nicht<br />

nur den Wortlaut sehr gezielt gewählt, sondern auch Vorreden geschrieben, Hervorhebungen<br />

durch Fettdruck vorgenommen, Randbemerkungen beigefügt und Bilder beigegeben<br />

hat.


12 Einleitung<br />

ligiösen Ausprägung, das für die Vermittlung geistlicher Inhalte genutzt werden<br />

soll.<br />

Für die Geschichte des <strong>Kirchenlied</strong>es ist bezeichnend, dass gerne bekannte<br />

Melodien aufgenommen und ihnen <strong>im</strong>mer wieder neue Texte zugeordnet wurden.<br />

Handelte es sich zunächst um Heiligen-Lieder und um weltliche Lieder, die<br />

christlich »gebessert« werden sollten, so bildete sich später ein Kanon gebräuchlicher<br />

kirchlicher Singweisen heraus. <strong>Die</strong> Zahl der Melodien ist ungleich<br />

geringer als die Zahl der Lieder. Wenn eine Melodie neu genutzt wurde, war die<br />

Bekanntheit einer Melodie entscheidend wichtig. Keineswegs <strong>im</strong>mer wurde explizit<br />

auf ihren besonderen Charakter geachtet, obwohl diese Melodien gerade<br />

auch deshalb bekannt waren, weil ihre ursprünglichen Texte weiterlebten. Oft<br />

wirkten aber die Melodien bereits auf best<strong>im</strong>mte, wenn auch auf durchaus<br />

unterschiedliche Weise auf die Gestaltung des neuen Textes ein; sie wurden<br />

gleichsam zuMitautorinnen.<br />

Das eröffnete ein weites Entstehungsspektrum und führte einerseits dazu,<br />

dass die Kelchform, die in Text und Melodie ausgebildet wird, oft inder Liedaussage<br />

keine stärkere Berücksichtigung gefunden hat. Daneben lassen sich<br />

andererseits ebenso Fälle beobachten, in denendie in dem durchWahrnehmung<br />

der Sprachgestalt vermittelten Bild liegende Thematik aufgenommen und reflektiert<br />

wird.<br />

Aufgrund der sprachlichen Signifikanz des Kelchbildes ist auch der Gebrauch<br />

des Wortes Kelch in den <strong>Kirchenlied</strong>ern zu beachten, und zwar nichtnur<br />

in denjenigen, die sich der Form der <strong>Kelchstrophe</strong> bedienen, sondern auch sein<br />

Vorkommen und seine Bedeutung <strong>im</strong> <strong>Kirchenlied</strong> überhaupt.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Kelchstrophe</strong> hat ihre Zeit gehabt. Sie hat in ihrer formalen Ausgestaltung<br />

einen Variantenreichtum hervorgebracht. Gerade diese Beliebtheit spricht dafür,<br />

dass ihr eine besondere Bedeutung zugemessen wurde, die nicht an einer speziellen<br />

Melodie hing. <strong>Die</strong> <strong>Kelchstrophe</strong> hat zugleich eine mentalitätsgeschichtliche<br />

Entwicklung durchlaufen, in der sich ihr Bedeutungsgehalt gewandelt hat.<br />

<strong>Die</strong> Frage ist, ob sich dennoch eine Konstante entdecken lässt.<br />

Fehlt der Kelchgestalt inStrophenform auch ein besonderer Bezug zum<br />

Abendmahlskelch, so ist der literarische Befund doch signifikant, dass diese<br />

<strong>Kelchstrophe</strong> zwar keine Neuerung darstellt, aber <strong>im</strong>mer stärker gerade dazu<br />

diente, geistliches Liedgut gegenüber dem weltlich-profanen abzuheben. Umgekehrt<br />

ist in der Folgezeit bei der Entwicklung des weltlichen Liedguts ein<br />

Verzicht auf diese Strophenform unverkennbar. <strong>Die</strong> <strong>Kelchstrophe</strong> entwickelte<br />

sich also zu einer spezifisch geistlichen literarischen Form.<br />

<strong>Die</strong> reformatorische Bewegung stellt sich als eine Singebewegung dar. Ein<br />

Kennzeichen dieser Kirche ist, dass sie singende Gemeinde ist und darin ihre<br />

eigene Identität ausprägt. Luther zählte das gemeinschaftliche Singen zu den<br />

Kennzeichen, an deneneine christliche Gemeinde sich öffentlich, unddas meinte<br />

für ihn auch außerhalb der vier Wände der Kirche, zu erkennen gibt: »Zum


Einleitung 13<br />

sechsten erkennet man eusserlich das heilige Christliche Volck am gebet, Gott<br />

loben und dancken öffentlich. Denn wo du sihest oder hörest, das man das Vater<br />

unser betet und beten lernet, auch Psalmen oder Geistliche lieder singet, nach<br />

dem wort Gottes und rechtem glauben, Item den Glauben, Zehen gebot und<br />

Catechismumtreibetöffentlich, Da wisse gewis, das da ein heilig Christlich volck<br />

Gottes sey.« 9<br />

Dabei wird der Ort des Singens über den <strong>im</strong> engeren Sinne kirchlichen Raum<br />

hinaus erweitert. Bei der Kontrafraktur weltlicher Lieder wird ihr ursprünglicher<br />

Sitz <strong>im</strong> Leben nicht etwa aufgegeben. Vielmehr wird das Frömmigkeitsleben<br />

in das alltägliche Leben hinein ausgeweitet. Der Kleine Katechismus enthält nach<br />

Luther als integrale Bestandteile Morgen-, Abend- und Tischgebete zur christlichen<br />

Strukturierung des Tagesablaufs <strong>im</strong> Haus, sowie eine Haustafel, die allen<br />

Christ:innen ihre jeweiligen Aufgaben zuweist. 10 <strong>Die</strong>ser Ausgestaltung eines<br />

christlichen Alltags dienen auch die <strong>Kirchenlied</strong>er, die keineswegs nur den<br />

Gemeindegottesdienst prägen sollen. Sie erheben einen öffentlichen und<br />

gleichsam evangelistischen Anspruch, sollen über die Schule und die Katechismuspredigten<br />

Zugang in die alltägiche Lebensgestaltung finden. Da sie in Wort<br />

und Toneinprägsam sind, sind sieleicht zu vermittelnund nicht an das gedruckte<br />

Wort gebunden. Der christlichen Kirche eignet in ihrer Eigenschaft als »Versammlungder<br />

Heiligen« (congregatiosanctorum) als solcher Öffentlichkeit, und<br />

das nicht nur speziell <strong>im</strong>Gottesdienst. »Öffentliche Verkündigung« (publice<br />

docere) weist gerade in ihrem Bezug auf die Gemeinde einen weiteren Horizont<br />

auf, als er speziell durch die Amtsführung abgesteckt ist. 11<br />

Lieder in Kelchform weisen auf ihre praktische Nutzung <strong>im</strong>Bereich gelebter<br />

Frömmigkeit hin. Dabei spielt der doppelte Aspekt eine Rolle, dass die neue<br />

Frömmigkeit einerseits neue sprachliche und musikalische Bereiche für sich<br />

erschloss, die bisher weltlich ausgerichtet waren, und sich andererseits kritisch<br />

gegen die herkömmliche Frömmigkeit stellte, die ihre separaten Ausdrucksformen<br />

entwickelt hatte.<br />

9<br />

10<br />

11<br />

Vonden Konziliis und Kirchen. 1539; WA 50, 641,20–24. – Vgl. Wider Hans Worst.<br />

1541; WA 51, 482,24–28.<br />

Kleiner Katechismus; WA 30/I, 392–402; BSELK, 890,15–898,26.<br />

CA 7und 14; BSELK, 102,7–10/103,5–7; 108,13–15/109,11–12. – Zur Problematik des<br />

Wandels des Verständnissses des Öffentlichen vgl. Bernt T. Oftestad, Öffentliches Amt<br />

und kirchliche Gemeinschaft. Luthers theologische Auslegung des Begriffs »öffentlich«,<br />

in: Kirche in der Schule Luthers. FS Joach<strong>im</strong> Heubach, hg. v. Bengt Hägglund u. Gerhard<br />

Müller, Erlangen 1995, 90–102. Neben der Wahrnehmung der Neubest<strong>im</strong>mung des<br />

Öffentlichen durch Luther gelte es heute, »Luthers Botschaft auch als eine tiefe Kulturkritik<br />

der gegenwärtigen ideologischen Lage«, die durch die Gegenüberstellung von<br />

Privatsphäre und Öffentlichkeit gekennzeichnet ist (102), zu vermitteln.


I Der sprachgeschichtliche<br />

Hintergrund<br />

In der deutschen Sprache wird schon seit der Christianisierung zwischen Becher<br />

undKelch unterschieden. Beide Begriffe stellen <strong>im</strong> frühen Mittelalter einen<br />

gleichzeitigen sprachlichen Zuwachs aus der lateinischen Sprache dar. Kelch<br />

(ahd. Kelich) ist aus dem kirchlichen Latein (calix) übernommenund begegnet als<br />

zeremonieller Begriffschoninkarolingischer Zeit. Auch in dichterischer Sprache<br />

wird er aufgenommen. Dagegen gehört der Begriff Becher der Alltagssprache an<br />

und n<strong>im</strong>mt das volkslateinische (provinzielle) Wort bicarium auf. Man spricht<br />

von einem Becher Wassers, aber nicht von einem Kelch Wassers.Kelch hat <strong>im</strong>mer<br />

einen besonderen, wertvolleren Inhalt, Wein. Offenbar wurde die sprachliche<br />

Differenzierung dadurch nahegelegt, dass der Abendmahlskelch schon damals<br />

eine besondere Form aufwies.<br />

Im Englischen wird dagegen durchgehend die Bezeichnung cup gebraucht 21<br />

und <strong>im</strong> Französischen Becher=coupe, Kelch=coupe/calice. Auch in der religiösen<br />

Sprache des deutschen Judentums wird keine Unterscheidung vorgenommen:<br />

kaus ( )bezeichnet jedes Trinkgefäß, auch das, welches rituell verwendet<br />

wird. 22 Zu ein unddemselben religiösen Brauch werden denn auch Gefäße sowohl<br />

in Becher- als auch in Kelchform verwendet. <strong>Die</strong> sprachliche Einheit wirkte sich<br />

auf die Nutzung auch unterschiedlicher Gefäße aus.<br />

וכ ס<br />

21<br />

22<br />

Vomlateinischen cupa (Gefäß; vgl. Kufe). <strong>Die</strong> entscheidenden Bibelstellen Ps 116,13;<br />

Mk 10,38–39; 14,23.36 (mit Parallelen); IKor 10,16.21; 11,25–28 bieten in der früher<br />

maßgeblichen King-James-Version (1611) durchweg den alltäglichen Begriff cup.<br />

Werner Weinberg, Lexikon zum religiösen Wortschatz und Brauchtum der deutschen<br />

Juden, hg. v. Walter Röll, Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, Stichwort: kaus.


20 IDer sprachgeschichtliche Hintergrund<br />

1. <strong>Die</strong> sprachliche Unterscheidung zwischen Becher,<br />

Kelch und Pokal<br />

Im Deutschen setzt sich Kelch als sakrale Bezeichnung durch, während <strong>im</strong><br />

profanenBereich Becher benutzt wird. Kelch ist so sehr von der sakralen Sprache<br />

her geprägt, dass <strong>im</strong> profanen Bereich dann von einem Pokal gesprochen wird,<br />

wenn das Gefäß durch einen feierlicheren Klang vom bloßen Becher abgehoben<br />

werden soll. Schon <strong>im</strong> 16. Jahrhundert begegnet das Wort Pokal in der<br />

deutschen Sprache, ein Lehnwort, das sich vom italienischenboccale ableitet, das<br />

in der Frühzeit in Anknüpfung an das lateinische poculum auch noch als Neutrum<br />

aufgefasstwird.Allgemeiner kam der auf den profanenBereich beschränkte<br />

Begriff erst in Gebrauch, als es die <strong>Kelchstrophe</strong> schon lange gab.<br />

Der Begriff Pokalstrophe ist deshalb wenig geeignet, das literarische Phänomen<br />

<strong>im</strong> <strong>Kirchenlied</strong> angemessen zu erfassen. Er weckt andere Assoziationen<br />

und ist von anderen Konnotationen begleitet, die den Sinngehalt der <strong>Kelchstrophe</strong><br />

nicht treffen. Er führt leicht in die Irre, wenn es die Symbolik der<br />

Formsprache zuerkunden gilt.<br />

Aus dem religiösen Kontext ergibt sich eine biblische Prägung des Begriffspaars<br />

Becher/Kelch. /kos weist schon <strong>im</strong> Alten Testament eine ambivalente<br />

Metaphorik auf: Trauerbecher, Trostbecher, Zornesbecher, Heilsbecher,<br />

Leidensbecher. Gott erscheint wie ein Arzt, der eine bittere Medizin verabreicht,<br />

um Heilung herbeizuführen, oder als Richter, der den Giftkelch zur Strafe reicht.<br />

Metaphorisch weist der biblische Becher-Begriff somit auf das Schicksal hin, das<br />

Gott den Menschen in jedem Einzelfall zuteilt, ihr jeweils spezielles Los. Der<br />

Fromme n<strong>im</strong>mt sein Leiden als heilsam an, während Gottes Strafe die Gottlosen<br />

trunken macht und sie ihre Selbstbeherrschung verlieren lässt. In der deutschen<br />

Sprache spaltet sich dann der einheitliche Begriff auf in die beiden Begriffe<br />

Becher und Kelch mit jeweils unterschiedlicher Konnotation.<br />

Das <strong>im</strong> profanen Bereich der deutschen Sprache angesiedelte Wort Becher<br />

weist den biblischen Hintergrund nicht auf, selbst dann nicht, wenn es <strong>im</strong> sakralen<br />

Bereichbegegnet. So dient bei der Taufe eines Kindes gerne ein silberner<br />

Taufbecher als Patengeschenk. <strong>Die</strong>ser Taufbecher gilt als reines Glückssymbol.<br />

Seine Bedeutung ist ausschließlich auf die Spendung von Lebenswasser festgelegt,<br />

obwohl der biblische Hintergrund der Taufe daneben auch die Vorstellung<br />

der Todesflut <strong>im</strong>pliziert (Mk 10,38–39; Röm 6,3–11). Andererseits lässt ihn das<br />

Material,aus dem er gefertigt ist, auch nicht als Heilssymbol erscheinen. Mager<br />

bisweilen innen auch vergoldet sein, so besteht er doch <strong>im</strong> Wesentlichen aus<br />

Silber. Der Terminus Becher n<strong>im</strong>mt in diesem Kontext nicht wie der Terminus<br />

Kelch die biblische Bedeutungsbreite an. 23<br />

וכ ס<br />

23<br />

Es besteht sebst zu dem silbernen Becher Josefs, den der in den Getreidesack Benjamins<br />

legen lässt (Gen 44,2.5), kein Bezug, obwohl dieser Becher auch als Wahrsagerequisit (<strong>im</strong>


2. Kunstgeschichtliche Ann4herungen 21<br />

Ein verwandter Begriff ist Gral, ein aus dem Französischen abgeleitetesWort.<br />

Er bezeichnet die Schale (krater). Mit einem solchen Gefäß soll Josef von Ar<strong>im</strong>athäa<br />

(Mt 27,57–60) das Blut aus der Seite Jesu aufgefangen haben. Zugleich<br />

wird auch die Schale, aus der Jesus zuvor bei seinem letzten Mahl seine Jünger hat<br />

trinken lassen, als Gral bezeichnet. Als Reliquie, die nur besonders Berufenen<br />

sichtbar wird,ist dieser Gralnach Frankreich gekommen. In diesem Fall geht es<br />

um eine der wundertätigen Reliquien. Im Deutschen bleibt Gral die Bezeichnung<br />

dieses einzigartigen, nicht reproduzierbaren Gegenstandes. Er wird nicht zur<br />

generellen Bezeichnung des be<strong>im</strong> Abendmahl verwendeten Trinkgefäßes.<br />

2. Kunstgeschichtliche AnnBherungen<br />

Kelche sind in der kirchlichen Kunst vor allem dargestellt, wenn es um biblische<br />

Erzählungen geht, von deren Wortlaut her eine Aufnahme dieses Gegenstandes in<br />

die bildliche Komposition nahegelegt ist. So der Kelch, den Jesus be<strong>im</strong> letzten<br />

Mahl vor seinem Sterben seinen Jüngern reicht, um sie seiner unverbrüchlichen<br />

Gegenwart zu vergewissern 24 ,oder von dem Jesus in seinem Gebet <strong>im</strong> Garten<br />

Gethsemane spricht 25 .<strong>Die</strong>s geschah aber keineswegs so selbstverständlich, wie<br />

man vermuten könnte. Das Wandgemälde von Leonardo da Vinci (1452–1519)<br />

etwa zeigt nur einen Teller, aber kein Trinkgefäß. Christus selbst bildet in Person<br />

die beherrschende Mitte, nicht die Weise seiner zugesagten sakramentalen<br />

Gegenwart. In Darstellungen der Gethsemane-Perikope wird der Kelch, von dem<br />

Jesus spricht, mitunter dem Engel, der ihn stärkt (Lk 22,43), in die Hand gegeben<br />

26 ;damit wird der Sinn grundlegend verändert, da das Jesuswort den Leidenskelch,<br />

mag dieser nun speziell auf Jesu persönliches Schicksal gedeutet<br />

werden oder auch und gerade auf die Absage, die er als König seitens seines<br />

Volkes erfährt, ja als schwere Belastung und eben gerade nicht als »Stärkung«<br />

benennt.<br />

24<br />

25<br />

26<br />

Alten Orient weit verbreitete Bechermantik) diente und damit durchaus auch eine best<strong>im</strong>mte<br />

metaphorische Bedeutung besaß. Aber Luther hatte an dieser Stelle eben Becher<br />

und nicht Kelch übersetzt (WA.DB 8, 176/177; in Vers 5steht das Pronomen »das«).<br />

Vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 26–28), EKK I/4, Düsseldorf<br />

usw. 2002, 95–104, mit Abbildungen.<br />

Vgl. Luz, EKK I/4, 139–151, mit Abbildungen.<br />

Etwa bei El Creco (~ 1541–1614); Luz EKK I/4, 143.145.


22 IDer sprachgeschichtliche Hintergrund<br />

2.1 Kelchsymbolik aufgrund der mittelalterlichen Messopferlehre<br />

Auf die Kelchsymbolik wirkte sich entscheidend aus, dass seit dem Mittelalter<br />

in der Messfeier die Kommunion des Kelches unter Rezitieren des Psalmworts<br />

erfolgte: »Wie soll ich dem Herrn vergelten alles, was er mir zugewandt hat?<br />

Ich will den heilsamen Kelch nehmen und den Namen des Herrn anrufen«<br />

(Ps 116,13; quid retribuam Domino pro omnibus quae retribuit mihi. calicem<br />

salutaris accipiam et nomenDomini invocabo, Ps 115,13). <strong>Die</strong>ses Psalmwort wird<br />

seit Anfang des 11. Jahrhunderts vom Priester be<strong>im</strong> Genuss des Kelches gesprochen.<br />

27 Im Psalm »enthält der Becher, den wir ergreifen wollen, selbst das<br />

Heil und damit den Grund des Dankes und neben dem Becher liegt das H<strong>im</strong>melsbrot.<br />

Beide sind in diesem Augenblick nicht mehr so sehr die Gabe, die wir<br />

Gott opfernd darbringen, als vielmehr das heilige Mahl, zu dem wir nun geladen<br />

sind.« 28 Im lateinischen Text wird dabei nicht zwischen Becher und Kelch<br />

unterschieden. Zusätzlich wurde später auch schon die Darbringung der noch<br />

unkonsekrierten materiellen Gaben durch den Diakon mit diesem Psalmwort<br />

verbunden: »Unser Kelch ist auch schon auf dieser Vorstufe des Opfers mindestens<br />

ebenso heilig und heilsam wie der Dankesbecher des Sängers <strong>im</strong><br />

115. Psalms, dem dieses Wort entnommen ist.« 29 Das Verhältnis zwischen der<br />

Gabe Christi und dem von der Kirche Gott dargebrachten Opfer blieb so letztlich<br />

ungeklärt. Zugleich wurde aber das Kelchgefäß symbolisch aufgewertet. Zudem<br />

wird die Darbringung der Gaben (Offertorium) mit Gesang begleitet und damit<br />

musikalisch ausgestaltet.<br />

Eine Folge davon, dass das Gefäß, in dem der in Blut Christi gewandelte Wein<br />

dargereicht wurde, selbst zu einer sinnhaltigen Metapher wurde, war, dass jetzt<br />

Kelche auch an Stellen, an denen <strong>im</strong> biblischen Text kein Kelch genannt wird, an<br />

denen aber Hinweise auf die Eucharistie sinnvoll erschienen, in die Darstellung<br />

einbezogen wurden.<br />

Im Codex Bruchsal 1wird die Kreuzigung Jesu so dargestellt, dass die Ecclesia<br />

als zusätzliche Figur neben Maria auf einer Muschel dargestellt wird; sie<br />

fängt in einem Kelch das Blut aus der Seite des gekreuzigten Christus auf. 30<br />

<strong>Die</strong> Darstellung der Hochzeit zu Kana aus der Schule Meister Bertrams von<br />

Minden 31 zeigt das Weinwunder inder Mitte in der Weise, dass Jesus segnend<br />

seine Hand über einen Kelch hält, während die 6Wasserkrüge eher unbeteiligt<br />

<strong>im</strong> Vordergrund aufgereiht sind. <strong>Die</strong> Erzählung wird auf das Abendmahl hin<br />

27<br />

28<br />

29<br />

30<br />

31<br />

Josef Andreas Jungmann, Missarum sollemnia II (Opfermesse), Freiburg 1952, 438–439.<br />

– Ein entsprechender Satz wurde dann auch zum Genuss des Brotes formuliert.<br />

Jungmann, Missarum sollemnia II, 439.<br />

Jungmann, Missarum sollemnia II, 125.<br />

Codex Bruchsal 1, Bl. 31r, um 1220, in der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe.<br />

Schule Meister Bertram von Minden, Buxtehuder Altar. 1410, Kunsthalle Hamburg.


2. Kunstgeschichtliche Ann4herungen 23<br />

Abbildung 1: Codex Bruchsal 1/Kreuzigung<br />

gedeutet, in dem sich das Wunder der sakramentalen Wandlung <strong>im</strong>mer neu<br />

ereignet. 32 Hier bietet der Kelch, der in der Erzählungselbst nicht erwähntwird,<br />

die metaphorische Brücke zur Abendmahlsdeutung, und die Wasserkrüge, die für<br />

den Wandel von Wasser zu Wein stehen, verschwinden unter dem Tisch.<br />

<strong>Die</strong> Kelchform findet sich auch bei einfüßigen Taufsteinen/Taufbecken, wie<br />

sie seit der Gotik gebräuchlich wurden (Sockel, Schaftund Becken, oftsogar eine<br />

an den noduserinnernde Verdickung). <strong>Die</strong> Formdes Taufsteins gleicht sich also<br />

der Kelchform an. <strong>Die</strong> parallele Metaphorik, die Kelch und Taufe verbindet<br />

(Mk 10,38–39), strahlt also formgebend auf das Gefäß aus, das <strong>im</strong> biblischen Text<br />

32<br />

Vgl. demgegenüber die historisierende Darstellung der Szene in einem Psalter aus<br />

Nordengland aus dem späten 12. Jahrhundert (Bernhard Blumenkranz, Juden und Judentum<br />

in der mittelalterlichen Kunst, FDV 1963, Stuttgart 1965, 74; Oxford, Bodl. Libr.,<br />

Ms. Gough, liturg. 2, f° 20): In der Mitte steht der Speisemeister, der durch den Spitzhut<br />

als Jude ausgewiesen wird, während Jesus segnend mit Maria, beide mit Heiligenschein,<br />

auf der Seite stehen. Der Speisemeister hält einen Becher in der Hand, nicht einen Kelch.


24 IDer sprachgeschichtliche Hintergrund<br />

Abbildung 2: Schule Meister Bertram /Hochzeit zu Kana<br />

keine Entsprechung hat, aber durch den angesprochenenVollzug nahegelegt ist,<br />

sofern das Taufen nicht innatürlichen Gewässern erfolgt.<br />

2.2 Reformatorische Abkehr von dieser Kelchsymbolik<br />

<strong>Die</strong> Eigenart der Reformation als innerkirchlicher Streit führte zu der Konsequenz,<br />

dass die Kelchsymbolik sich aufspaltete und infolgedessen die ikonographische<br />

Verarbeitung unterschiedliche Wege ging. <strong>Die</strong> Metaphorik veränderte<br />

sich auf beiden Seiten auf je bezeichnende Weise.<br />

Im altgläubigen Lager trat neben den Kelch die Monstranz, die ebenfalls in<br />

Kelchform ausgestaltet wird. Hier wurde also die liturgische Entwicklungweiter<br />

verfolgt und die Symbolik vom eucharistischen Wein auf das eucharistische Brot<br />

übertragen.<strong>Die</strong> Monstranz war bei Einführung des Fronleichnamfestes (1264 als<br />

gesamtkirchliches Fest) in Gebrauch gekommen und nahm <strong>im</strong> 16. Jahrhundert<br />

die Form einer Sonne an, nachdem sie in gotischen Stil turmartig gestaltet war;<br />

die neue Form stellte eine Weiterführung der Scheibenmonstranz der Renaissance<br />

dar. In dieser Formweist die Monstranz nun wie der Kelch einen Fuß, einen


2. Kunstgeschichtliche Ann4herungen 25<br />

Schaftund einen Aufsatz auf. <strong>Die</strong> Monstranz kann auf einem Tabor (besonderem<br />

Podest) stehen. <strong>Die</strong> eucharistische Monstranz wird also den Reliquien-Ostensorien<br />

in ihrer Monstranzform nachgebildet. Und dieser neuen Ausgestaltung der<br />

eucharistischen Monstranz tritt der reformatorischen Änderung <strong>im</strong> Symbolverständnis<br />

des Kelches entgegen.<br />

Im reformatorischen Bereich verzichtete man auf die traditionelle sakramentale<br />

Hervorhebung des Kelchs. <strong>Die</strong> Kelchform wurde ganz neu aufgenommen,<br />

und zwar als gesungenes Symbol in der Strophenform, wie die lutherische<br />

Frömmigkeit ja besonders in der musikalischen Gestaltung ihren Ausdruck<br />

suchte. Es erfolgte also eine konfessionelle Positionierung. <strong>Die</strong> Aktualisierung<br />

des biblischen Sprachgebrauchs fand ihren wahrnehmbaren Ausdruck in der<br />

kirchlichen Auseinandersetzung. <strong>Die</strong> Kelchmetaphorik nahm teil an der konfessionellen<br />

Spaltung.<br />

Vereinzelt wurde das reformatorische Geschehen gleichwohl auch in der<br />

Weise visualisiert, dass das Kelchmotiv als Kristallisationspunkt gewählt wurde.<br />

Es lag einfach nahe, Luthers Wirken vor dem Hintergrund der vorreformatorischen<br />

Bewegung zu sehen. Luther wurde als neuer Hus identifiziert. Und ihre<br />

Gemeinsamkeit ließ sich in der Austeilung des Sakraments in beiderlei Gestalt<br />

darstellen. Ein Holzschnitt zeigt Jan Hus zusammen mit Luther, wie der erste die<br />

Hostie und der andere den Kelch austeilt, und zwar an die sächsischen Kurfürsten<br />

Friedrichden Weisen und seinen Bruder Johann den Beständigen <strong>im</strong> Beisein ihrer<br />

Nachfolger. 33 <strong>Die</strong> Darreichung des Kelches durch Luther wird auf diesem Holzschnitt<br />

stark unterstrichen durch einen römischen Brunnen <strong>im</strong> Zentrum des<br />

Bildes, der zugleich als Weinstock (Joh 15,1–8) ausgestaltet ist und das Blut, das<br />

aus der Seite des gekreuzigten Christus strömt, in zwei Schalen weitergibt, die<br />

auf die unaufhörlich gespendete sakramentale Gabe hinweisen, gleichsam ein<br />

riesiger Kelch. Doch diese Hervorhebung des Laienkelchs erfasste nicht das eigentlich<br />

Typische für die Wittenberger Reformation.<br />

Johann Friedrich I. (1503–1554; regierendseit 1532), der Sohn Johannsdes<br />

Beständigen, wird mehrmals gezeigt, und zwar nicht nur als Kommunikant und<br />

neben seiner Frau Sibylle, mit der er seit 1527 verheiratet war, sondern zudem<br />

in einem Bild <strong>im</strong> Bild als regierender Fürst auf seinem Thron sitzend undneben<br />

ihm Luther, der ihm die rechte Hand hält. Außerdem gehören seine Söhne Johann<br />

Wilhelm (1530–1573) und Johann Friedrich (1525–1595) zur Tischrunde.<br />

Zeitlich ist dieser Holzschnitt mit seiner starken Programmatik demnach nach<br />

1532 anzusetzen. Inhaltlich weist der undatierte Holzschnitt in die Zeit der<br />

Auseiandersetzungen, die dem Augsburger Inter<strong>im</strong> vorausgingen, in dem den<br />

Evangelischen wenigstens der Laienkelch zugestanden wurde (1548). Offenbar<br />

33<br />

Unbekannter Meister, Luther und Hus, das Abendmahl austeilend. Holzschnitt, um<br />

1551 (Berlin, Staatliche Museen, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Kopferstichkbinett;<br />

Geistliches Wunderhorn, 79).


26 IDer sprachgeschichtliche Hintergrund<br />

Abbildung 3: Flugblatt: Hus und Luther bei der Austeilung des Abendmahls<br />

geht es um einen historischen undtheologischen Unterbau für diese Forderung,<br />

der über Luther und Hus bis zu Jesus selbst zurückgeführt wird. Allerdings starb<br />

Luther bereits 1546, und Johann Friedrich wurde nach der Niederlage des<br />

Schmalkaldischen Bundes in der Schlacht bei Mühlberg 1547 gefangen gesetzt<br />

und verlor seine Kurwürde. <strong>Die</strong> Kelchthematik bezieht sich wohl auf eine Episode<br />

in der Geschichte der Reformation. 34 <strong>Die</strong> Darstellung dient der Legit<strong>im</strong>ierung des<br />

angeschlagenen Machtanspruchs Johann Friedrichs I.<br />

34<br />

Das Altarbilild in der Georgenkirche in Eisenach n<strong>im</strong>mt die Bildkomposition sehr genau<br />

auf (Joach<strong>im</strong> Rogge, Martin Luther. Eine Bildbiographie, Berlin Y1984, 517; aktuell of-


2. Kunstgeschichtliche Ann4herungen 27<br />

Generell übernahm die Reformation eine solche sakramentale Akzentuierung<br />

des Kelches nicht. Darstellungen aus der Cranachwerkstatt schildern –<br />

einer alten Tradition folgend – das letzte Mahl Jesuals ein Passahmahl, mit Lamm<br />

und Messern, sowie mit Becher und/oder mit Kelch. 35<br />

Im jüdischen Bereich hat sich die Becherform neben der Kelchform be<strong>im</strong><br />

Passabecher und Kidduschbecher, sowie be<strong>im</strong> Eliasbecher oder be<strong>im</strong> Hawdalabecher<br />

erhalten. Wie das Kiddusch/Gedenke den Beginn der abendlichen<br />

Mahlzeit am Sabbat und Festtag markiert, verbunden mit Segensspruch, soder<br />

Hawdala/Unterscheidung-Segen den Ausgang des Sabbats. 36 Be<strong>im</strong> Passa-Seder<br />

werden außer dem Kidduschbecher noch drei weitere Becher genommen. 37 Es<br />

erfolgt also keine Konzentration auf einen einzigartigen Becher.<br />

Auf den reformatorischen Darstellungen des letzten Mahles Jesu mit seinen<br />

Jüngern wird der Kelch/Becher zu einem Requisit jüdischer Tradition. Es handelt<br />

sich um eine historisierende Darstellungsweise, die zu einer Entfremdung gegenüber<br />

den eigenen aktuellen Gewohnheiten führt. <strong>Die</strong>se Implikation wird jedoch<br />

auf doppelte Weise aufgefangen. Einerseits wird auf Juden diskr<strong>im</strong>inierende<br />

Attribute traditioneller Art wie Spitzhut oder Hakennase verzichtet. Andererseits<br />

werden die Beteiligten <strong>im</strong>Portrait eigener Zeitgenossen gezeichnet. Dadurch<br />

wird die Ursprungsgeschichte inihrer besonderen Einzigartigkeit als eigene<br />

Geschichte vereinnahmt. Nicht das sakramentale Geschehen steht <strong>im</strong> Zentrum,<br />

sondern die Bezeichnung des Verräters. 38<br />

35<br />

36<br />

37<br />

38<br />

fenbar nicht mehr dort). Allerdings fallen die Unterschiede auf: Auf dem Bild <strong>im</strong> Bild fehlt<br />

der Hinweis auf die früstliche Würde. Vorallem wird der römische Brunnen nicht vom<br />

Blut aus der Seitenwunde des Gekreuzigten gespeist. Damit wird eine Deutung <strong>im</strong> Sinne<br />

der mittelalterlichen Kelchsymbolik abgeschitten und die beiden Schalen des Brunnens<br />

werden funktionslos. <strong>Die</strong>se »Korrektur« wird dadurch unterstrichen, dass zwei Jesusworte<br />

auf dem Gewölbebogen und auf einer Tafal am Fuß des Bildes hinzugefügt sind, die<br />

nicht nur der Kelchthematik entbehren (Joh 6,55–56), sondern das Brunnenmotiv auf<br />

die von den Frommen ausgehenden Wasserströme deuten, also nicht sakramental (Joh<br />

7,37–38). <strong>Die</strong> dogmatische Zensur, die der Holzschnitt erfährt, ist unverkennbar.<br />

Lucas Cranach d.Ä., Wittenberger Flügelaltar. 1547 (ein kleiner Kelch bei Judas; Luther<br />

bekommt einen Becher gereicht); Lucas Cranach d.J., Reformationsaltar für Joach<strong>im</strong> von<br />

Anhalt. 1565 (mit Lamm, Kelchen und Becher).<br />

Mit dem Begriff wird ein entscheidender Treminus der Schöpfungsgeschichte aufgenommen<br />

(Gen 1,1–2,3): Trennen/scheiden ( ); Gottes Ordnung wird sorgfältig eingehalten.<br />

Vgl. Michael Friedländer, <strong>Die</strong> jüdische Religion (1936), Nachdruck Basel 1971, 300–301.<br />

In manchen Darstellungen aus dem reformatorischen Bereich wird gerade dieser Judas<br />

Iskariot als Jude gekennzeichnet und dadurch innerhalb dieser Gruppe isoliert und<br />

ausgegrenzt, obwohl doch alle Teilnehmer an dieser Mahlzeit Juden waren. Cranachs<br />

Darstellung auf dem Wittenberger Altars weist dem Verräter allerdings keine solche<br />

Sonderstellung zu.<br />

דב ל


II Das Formspektrum der<br />

<strong>Kelchstrophe</strong> in seiner<br />

geschichtlichen Entwicklung<br />

Sogleich bei Beginn des reformatorischen Liedschaffens wurde mit der <strong>Kelchstrophe</strong><br />

exper<strong>im</strong>entiert. Damit wurde eineFormsprache gewählt, die offenbar aus<br />

sich heraus verständlich war, um auf diese Weise dem neuen Lied Ausdruck zu<br />

verleihen. <strong>Die</strong>seformale Option wurde <strong>im</strong> Zusammenhang der zeitgenössischen<br />

Mentalität als geeignet, verständlich und sinnvoll empfunden, wie die starke<br />

Resonanz ausweist. Und dieses Interesse hielt dann lange an, bis dieser Strophentyp<br />

in der Neuzeit zunächst <strong>im</strong> Sinne der Pokalstrophe umgedeutet wurde<br />

und dann <strong>im</strong>mer mehr an Faszination verlor. Es lässt sich ein Zusammenhang<br />

zwischen der Geschichte dieser Form und der Sprach- und Mentalitätsentwicklung<br />

vermuten.<br />

1. <strong>Kelchstrophe</strong> <strong>im</strong> <strong>Kirchenlied</strong> als poetisches<br />

PhBnomen<br />

<strong>Die</strong> <strong>Kelchstrophe</strong> stellt die Variation einer schon vom Minnesang her geläufigen<br />

Liedform dar. In weltlichen Minneliedern enden die Strophen wiederholt in zwei<br />

Kurzzeilen, denen dann noch eine wieder lange, abschließende Zeile folgt. <strong>Die</strong>ses<br />

Ende nach den vorhergehenden Langzeilen erinnert an den Stilus und Pes<br />

eines Kelches. Beispielesolcherkelchförmigen Lieder sind »Ûf dem berge und in<br />

dem tal« von Neidhart von Reuental,der in der ersten Häfte des 13. Jahrhunderts<br />

lebte, »Der sumer hât den meien« von Konrad von Altstetten aus dem späten<br />

13. Jahrhundert und»Ich sach die bluomenwunneclîch entspringen« von Werner<br />

von Teufen aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. <strong>Die</strong> Cuppa kann unterschiedlich<br />

tief ausgewölbt sein. Mit nur flacher Schale etwa:


72 II Das Formspektrum der <strong>Kelchstrophe</strong><br />

Ûf dem berge und in dem tal<br />

hebt sich aber der vogele schal,<br />

hiure als ê<br />

gruonet klê.<br />

rûme ez, winter, dû tuost wê! 174<br />

Das Liedschaffen der Reformationszeit konnte zudem an zeitgenössische Formen<br />

anknüpfen, wie sie in der <strong>im</strong> Meistersang ausgebildeten Kanzonenform und <strong>im</strong><br />

Volkslied vorlagen.<br />

Auf der Grundlage der Kanzonenform des Meisterlieds mit dem Schema AA<br />

(2 <strong>Stolle</strong>n =Aufgesang) B(Abgesang) lässt sich die <strong>Kelchstrophe</strong> leicht herstellen,<br />

indem eine oder zwei Zeilen <strong>im</strong> Abgesanggebrochenwerden; <strong>im</strong> Gesätz,<br />

d. h. dem Text, wird diese durch einen Binnenre<strong>im</strong> in den entsprechenden Zeilen<br />

zum Ausdruck gebracht, in der Weise, d. h. der Melodie, durch eine entsprechende<br />

Phrasierung. <strong>Die</strong> frühen Beispiele zeigen deutlich die Entstehung aus<br />

dem Meisterlied.<br />

Man bemühte sich nicht nur, die nach höherer Bildung strebenden bürgerlichen<br />

Kreise zu erreichen, sondern wollte auch die höherer Bildung ferner<br />

stehende Bevölkerung mit einbinden, um eine möglichst große Breitenwirkung<br />

zu erzielen. So knüpfte man ebenfalls an die landläufige Singepraxis an. Aus<br />

dem Volkslied war es einerseits möglich, die Kelchform unmittelbar aufzunehmen,<br />

andererseits ließ sich durch Brechung einer Zeile diese Form auch auf<br />

dieser Grundlage herstellen. Zu diesem Liedgut gehörten auch geistliche volkssprachliche<br />

Lieder, die ihren Sitz <strong>im</strong> Leben bei Andachten, bei geistlichen Spielen,<br />

bei Prozessionen oder auf Wallfahrten hatten und sich entsprechend gern an<br />

best<strong>im</strong>mte Heilige richteten.<br />

Ihre eigentliche Karriere trat die <strong>Kelchstrophe</strong> dann <strong>im</strong> <strong>evangelischen</strong> <strong>Kirchenlied</strong><br />

an. <strong>Die</strong>se Strophenform wechselte damit aus dem außergottesdienstlichen<br />

Bereich in eine neue Frömmigkeit, die für sich eine allgemeine Öffentlichkeit<br />

suchte, die sich nicht auf den eigentlich sakralen Bereich beschränkte.<br />

<strong>Die</strong> weltliche Poesie wurde »christlich gebessert«. Hans Sachs und Nürnberg<br />

sind Zentrumdieser Weiterentwicklung. Hans Sachs stellte den Meistersang »als<br />

erster entschieden in den <strong>Die</strong>nst der Reformation« 175 .Und bei ihm findet sich<br />

auch bereits die <strong>Kelchstrophe</strong>.<br />

174<br />

175<br />

Walter Koschorreck, Minnesinger in Bildern der manessischen Liederhandschrift, mit<br />

Erläuterungen hg., Insel taschenbuch 88, Frankfurt am Main 1974, 34.42.44, zitierte<br />

Strophe dort 34. – Bei Konrad von Altstetten beseht die Cuppa aus sechs Zeilen mit einer<br />

abschließenden überlangen siebten Zeile, bei Werner von Teufen aus sechs Zeilen.<br />

Barbara Könneker, Art. Sachs Hans, in: LLex 10, Gütersloh/München 1991, 99–102, dort<br />

101.


1. <strong>Kelchstrophe</strong> <strong>im</strong> <strong>Kirchenlied</strong> als poetisches Ph4nomen 73<br />

<strong>Die</strong> Kelchsymbolik war offensichtlich geeignet, der reformatorischen Frömmigkeitgerade<strong>im</strong>LiedAusdruckzuverleihen.Den<br />

breitangelegten, gewichtigen<br />

Zeilen folgen spielerisch leichte, emotional beschwingte Zeilen, die inder abschließenden,<br />

wieder breiter ausholenden Zeile ihre solide Basis finden. Sowird<br />

die anders niederdrückende Last eines leidbeschwerten Lebens gleichsam emporgehoben<br />

und erleichtert und von einer überwindenden Freude durchdrungen,<br />

die sich <strong>im</strong>Singen zuGott hin erhebt. ImRhythmus liegt die eigentliche Ausdrucksstärke<br />

der Kelchsymbolik in ihrem von Luther erschlossenen biblischen<br />

Sinn.<br />

<strong>Die</strong> reformatorische Grundform der <strong>Kelchstrophe</strong> ist zehnzeilig. In diesem<br />

Umfang ermöglicht sie eine vollständige Ausbildung des Kelchaufbaus. Ihr<br />

steht von Anfang an eine neunzeilige Form zur Seite, die keine so eindeutige<br />

Ausformung erlaubt. Bald kamen auch kürzere Strophenformen hinzu, die zur<br />

Straffungder Kelchform zwangen, diese aber zugleich deutlich erkennen ließen.<br />

Bei Philipp Nicolai liegt dann eine elaborierte Form vor, die eine Zunahme der<br />

Zahl der Zeilen bedingt.<br />

Als eine Generation später die Regeln der Poesie durchMartin Opitz (1597–<br />

1639) geändert und nicht mehr einfach die Silben gezählt wurden, sondern die<br />

betonten Silben und die Verse reguliert wurden, bedeutete das keineswegs das<br />

Ende der <strong>Kelchstrophe</strong>; sie blieb vielmehr <strong>im</strong> <strong>Kirchenlied</strong> beliebt, wurde jedoch<br />

formal weiter ausgestaltet. Neue Formmuster sind meist in der Zahl der Zeilen<br />

verringert, so dass die Kelchform weniger ausgeprägt erscheint, da zwangsläufig<br />

der Nodus ausfällt und der Stilus verkürzt wird. Zugleich wurden die traditionellen<br />

Formen mit ihren ausgewiesenen Melodien weiter gepflegt.<br />

1.1 Eine weitere Anmerkung zur Methodik der Untersuchung<br />

<strong>Die</strong> folgende Darstellung der Lieder in <strong>Kelchstrophe</strong>nform wird in erster Linie<br />

nach dem formalen Kriterium der Zeilenzahl der einzelnen Strophen gegliedert.<br />

Allerdings zeigt sich, dass bisweilen Lieder, die offensichtlich der gleichen<br />

Strophenform zuzuordnen sind, wie sich etwa auch an der Melodie zeigt, Varianten<br />

von unterschiedlicher Zeilenzahl aufweisen. <strong>Die</strong>se sind als Einheit zu<br />

behandeln und durchbrechen insofern das Schema der Zeilenzahl.<br />

Als weiteres Kriterium wird die zeitliche Folge in der Gliederung der Untersuchung<br />

berücksichtigt. Denn die frömmigkeitsgeschichtliche Entwicklung<br />

schlägt sich in den <strong>Kelchstrophe</strong>nliedern nieder und verändert ihren Charakter<br />

und ihre Funktion. Deshalb wird die Zahlenfolge nicht schematisch durchgeführt.<br />

Vielmehrwerden zunächst die reformatorischen Grundformen der neunund<br />

zehnzeiligen <strong>Kelchstrophe</strong>n behandelt und in ihre weiteren Entwicklung<br />

verfolgt, damit die Bedeutung der Veränderungen, die <strong>im</strong> Gang der Geschichte<br />

eintraten,bewusstwerden kann. Dann richtet sich der Blick auf weitereFormen


74 II Das Formspektrum der <strong>Kelchstrophe</strong><br />

Abbildung 11: Paul Gerhardt, An die Hände des Herrn Jesu (Pauli Gerhardi geistliche Andachten<br />

I, Berlin 1667, 12.13)<br />

aus der Reformations- und Nachreformationszeit, die kürzer oder länger ausfallen.<br />

Einige dieser Formen haben später einen so großen Wandel und eine<br />

kreative Neugestaltung erfahren, dass sie zeitlichgetrennt in zwei Durchgängen<br />

betrachtet werden.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Kelchstrophe</strong> wird durch ihre sprachliche und musikalische Gestaltung<br />

geformt. Dabei kommt der Vorstellung vom Aussehen eines Kelches als Aspekt,<br />

der die Gestaltung leitet, durchaus eine Bedeutung als vorgegebenes Raster zu.<br />

<strong>Die</strong>s kann jedoch stark variieren. Ein inhaltlicher Bezug zu dem konkreten Gegenstandist<br />

nicht damit verbunden, zumal wenn wie in diesem Fall der Kelch als<br />

Metapher gemeint ist. Sprache und Musik bilden jeweils ihre eigene Wirklichkeit<br />

aus. Das Wort Kelch weckt eine Assoziation, die unabhängig von dem Gegenstand<br />

ihre Wirkung entfaltet. Und eine solche Assoziation wird auch durchdie Textform<br />

und Singweise eines Kelches ausgelöst oder unterstrichen. <strong>Die</strong> entsprechenden<br />

Phrasierungen in den Versmaßen und Re<strong>im</strong>en lassen sich ja in ihrem Zusammenklang<br />

wahrnehmen.<br />

Im Druckbild des Textes muss sich diese Kelchform nicht abzeichnen. <strong>Die</strong><br />

Einheit zur Best<strong>im</strong>mung des Versmaßes stellt die Silbe dar. Da die Buchstabenzahl<br />

jeSilbe sehr unterschiedlich sein kann, kann das optische Bild einer


1. <strong>Kelchstrophe</strong> <strong>im</strong> <strong>Kirchenlied</strong> als poetisches Ph4nomen 75<br />

Zeile ohnehin sehr unterschiedlich ausfallen. Das klare Sprachbild wird deshalb<br />

nur unzureichend auch optisch anschaulich. Nur eine schematische Darstellung<br />

gibt das Kelchbild voll wieder. Das abgebildete <strong>Kelchstrophe</strong>nlied »Sei wohl<br />

gegrüßet, guter Hirt« folgt der zehnzeiligen reformatorischen Grundform und<br />

ergibt folgendes Bild:<br />

– – – –<br />

– – – <br />

– – – –<br />

– – – <br />

– –<br />

– –<br />

– – – <br />

– –<br />

– –<br />

– – – <br />

Als weiteres Beispiel mag die von Philipp Nicolai in seinem Lied »Wie schön<br />

leuchtet der Morgenstern« entwickelte zwölfzeilige Strophenform stehen:<br />

– – – –<br />

– – – –<br />

– – – <br />

– – – –<br />

– – – –<br />

– – – <br />

– <br />

– <br />

– – <br />

– – <br />

– – <br />

– – – – <br />

So wird bei <strong>Kelchstrophe</strong>nliedern die linksbündige – Ausrichtung auch dann<br />

eingehalten, wenn die Zeilen in ihrer unterschiedlichen Länge <strong>im</strong> Flattersatz<br />

jeweils für sich stehen. Allerdings erscheinen die Kurzzeilen <strong>im</strong>mer wieder auch<br />

eingerückt, so dass die formale Besonderheit des Textes angezeigt wird. Eine<br />

Zentrierung der Zeilen an einer Mittelachse erfolgt nur ausnahmsweise. In der<br />

vorliegenden Untersuchung werden die <strong>Kelchstrophe</strong>n allerdings durchgehend<br />

in dieser Weise dargestellt, so dass die Kelchform auch visuell annähernd in<br />

Erscheinung treten kann.


76 II Das Formspektrum der <strong>Kelchstrophe</strong><br />

2. Neun- und zehnzeilige <strong>Kelchstrophe</strong>n bei Hans<br />

Sachs<br />

<strong>Die</strong> Grundlagen für die Gestaltung eines <strong>evangelischen</strong> <strong>Kirchenlied</strong>es in Kelchform<br />

schuf Hans Sachs. Dessen Ursprung liegt damit in Nürnberg und <strong>im</strong> süddeutschen<br />

Raum.<br />

Noch nicht ganz ausgebildet ist die Kelchform in der neunzeiligen Strophe.<br />

Sie findet sich bei Hans Sachs, der sie aus dem geistlichen Liedgut seiner Zeit<br />

übernahm: 176<br />

Das liedt, <strong>Die</strong> Fraw von Hymmel<br />

verendert, vnd Christlich Corrigiert.<br />

Christum von hymmel ruff ich an<br />

in dysen grossen nötten mein!<br />

Imm Gsetz ich mich verschuldet han,<br />

zuleyden ewig helle peyn,<br />

Gen de<strong>im</strong> vater:<br />

oChriste, ker<br />

sein zorn von mir,<br />

mein zuflucht ist allain zu dir,<br />

hilff, ee daßs ich verzweyffel schir!<br />

Sachs hält sich sehr eng an seine Vorlage. Dadurch wird das parodistische Verfahren<br />

sehr deutlich. Das Marienlied lautet: 177<br />

<strong>Die</strong> fraw von h<strong>im</strong>el ruff ich an<br />

in diesen grossen nöten mein:<br />

gen got ich mich verschuldet han,<br />

bit das ich sey der diener dein<br />

Gen deynem kind,<br />

Maria, wendt<br />

sein zorn von mir,<br />

mein zuflucht ist allein zu dir,<br />

hilff baldt: ich förcht der todt kumm schier.<br />

176<br />

177<br />

Hans Sachs, Das liedt, <strong>Die</strong> Fraw vom hymmel verendert, vnd Christlich Corrigiert (1524),<br />

mit 5Strophen; Philipp Wackernagel, Das deutsche <strong>Kirchenlied</strong> von der ältesten Zeit bis<br />

zu Anfang des XVII. Jahrhunderts III, Leipzig 1870, Nr. 81.<br />

15. Jahrh.; Wackernagel, Das deutsche <strong>Kirchenlied</strong> II, Leipzig 1867,Nr. 1030. Das Lied ist<br />

mit unterschiedlicher Strophenzahl überliefert: Nr. 1030 mit 7, Nr. 1031 mit ebenfalls 7,<br />

aber zum Teil anderen und in anderer Reihenfolge, Nr. 1032 mit 3Strophen.


2. Neun- und zehnzeilige <strong>Kelchstrophe</strong>n bei Hans Sachs 77<br />

Sachs hat das frühere Marienlied aufgenommen und es ganz bewusst verändert.<br />

Es war zwar bereits ein geistliches Lied, er aber hielt es für angezeigt, es<br />

»christlich zu korrigieren«, es also der reformatorischen Lehreanzupassen. Ganz<br />

betont beginnt dieses wie ähnliche seiner Lieder mit der Anrufung Christi, der<br />

als der alleinige Nothelfer bekannt wird: »mein zuflucht ist allain zu dir.« <strong>Die</strong>se<br />

Zeile ist zwar unverändert aus dem Marienlied übernommen, bezieht sich aber<br />

nicht mehr auf die Mutter Jesu, sondern auf ihren Sohn. Wirksam kann allein<br />

Christus Fürbitte bei Gott, seinem Vater, leisten, während von den Heiligen solche<br />

Hilfe nicht zu erwarten ist. <strong>Die</strong> abschließende Zeile der zweiten Strophe begründet,weshalbdiese<br />

Bitte an Christus erst jetztergeht: »so hatt mich menschen<br />

leer verfyrt.« Und das Lied mündet in das Lob Christi in seiner göttlichen Macht:<br />

»Ayniger trost, /hast mich erlost /von aller not /durchdein sterben vnnd bittern<br />

todt, /dir sey lob, eer, könig Sabaot! /AMEN.«<br />

<strong>Die</strong> Überschrift weist ausdrücklich auf das reformatorische Verfahren der<br />

Kontrafraktur hin. <strong>Die</strong> Kritik an der herkömmlichen Frömmigkeit wird vorgebracht,<br />

indem das sprachliche Gewand eines bekannten Liedes genutzt wird,<br />

um die neue Botschaft zuverbreiten, deren Neuheit nicht ohne polemische Bemerkungen<br />

hervorgehoben wird. <strong>Die</strong> literarische Strategie der Kontrafaktur<br />

verzichtet auf die für die Parodie charakteristische Komisierung und löst sich<br />

insofern von ihrer Vorlage. 178 Sie vertraut vielmehr auf die Bedeutsamkeit der<br />

neuen Botschaft. Sie traut ihr zu, eineChance zur Durchsetzung zu haben und der<br />

Aussage des Ausgangstextes nicht von vornherein unterlegen zu sein. 179<br />

Dabei erhält dieKelchform als Ausdruck einer Bitte aus großer Not eineneue<br />

inhaltliche Füllung, die eben »christlich gebessert« istund damit der christlichen<br />

Botschaft <strong>im</strong>öffentlichen Raum sinnstiftende Aussagekraft schenkt. Christus<br />

wird als Herrscher der konkreten Lebenswirklichkeit proklamiert.<br />

<strong>Die</strong> äußere Form allerdings wird beibehalten. Deutlich ist die halbkugelförmige<br />

Kelchschale (cuppa) als Aufgesang von ihrem Ständer (stilus mit pes) durch<br />

den Einzug der fünften Zeile abgehoben. Der Stilus geht unmittelbar in den Pes<br />

über, indem nach den viersilbigen Zeilen zwei achtsilbige folgen, wobei die letzte<br />

Kurzzeilemit den beiden folgenden Langzeilen durchRe<strong>im</strong> verbunden ist, somit<br />

den Stilus mit Pes als eine in sich geschlossene Einheit erscheinen lässt.<br />

Es liegen auch spätere Versuche vor, das Marienlied reformatorisch zu adaptieren.<br />

Folgendes Lied wendet sich wie Sachs an Christus inseiner göttlichen<br />

Herrschaft: 180<br />

178<br />

179<br />

180<br />

<strong>Die</strong> traditionelle parodistische Institution eines Hofnarren diente <strong>im</strong> letzten gerade nicht<br />

der Veränderung, sondern der Sicherung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse.<br />

Vgl. Theodor Verweyen u. Gunther Witting, Parodie, Kontrafraktur, LLex 14, Gütersloh/<br />

München 1993, 193–196.<br />

Anrüeffung des H<strong>im</strong>elkünigs umb bekerung vnnd besserung (1596), mit 3Strophen;<br />

Wackernagel III, Nr. 1305.


78 II Das Formspektrum der <strong>Kelchstrophe</strong><br />

Den künig von h<strong>im</strong>el rueff ich an,<br />

Jhesum Christ, Gott vnnd Herre mein,<br />

Dann ich bin abgfüret von der ban,<br />

herr, laß mich yeczt dein diener sein,<br />

Dein zorn abwend,<br />

deinen gaist sennd.<br />

biß gnedig mir,<br />

all mein zufucht hab ich zu dir,<br />

hilff bald, ehe mich der todt hinfüer.<br />

In seiner Nachdichtung des 130. Psalms spricht Valentin Triller (~1483–1573)<br />

hingegen seiner Vorlage folgend »Gott <strong>im</strong> H<strong>im</strong>mel« an: 181<br />

DIch, Gott von H<strong>im</strong>el, ruff ich an<br />

aus tieffer angst vnd nöthen mein,<br />

Denn ich hab gar viel sünd gethan,<br />

ker her zu mir die ohren dein,<br />

Erhör mein st<strong>im</strong>,<br />

wend deinen gr<strong>im</strong><br />

vnnd zorn vor mir<br />

auff mein flehen vnnd hertzlich gir<br />

schaw gnedig, ehe der Todt kompt schir.<br />

Ein neues und zugleich uraltes Gottesbild erlaubt es, auf den Einsatz von Mittlern<br />

überhaupt zu verzichten. Der Bittsteller in reformatorischer Zeit ist mit dem<br />

israelitischen Beter gewiss, seine Bitten ganz direkt persönlich vor Gott vorbringen<br />

zu können, obwohl der unendliche Abstand zwischen der eigenen Tiefe<br />

und dem Herrn durchaus wahrgenommenwird (Ps 130,1). Auch die trinitarische<br />

Unterscheidung von Vater und Sohn stellt keine Stufung dar, sondern unterstreicht<br />

die Einheit Gottes.<br />

<strong>Die</strong> kirchlich-theologische Position, die Sachs praktizierte, unterstützte Lazarus<br />

Spengler, ein weiterer reformatorischer Liederdichter in Nürnberg, sehr<br />

pointiert inseinem Bekenntnis von 1527, dass wir nämlich »die verstorbenen<br />

heiligen […] nit fur mittler, nothelffer und furpitter anrufen sollen, denn damit<br />

werde das plut Chriti verlestert, anndere gotter neben Gott gesetzt, anndere<br />

mittler dann Christus gesucht und Got sein eere, die er kainem anndern geben<br />

will, entzogen«. 182<br />

Sachs hat noch weitere Heiligenlieder, die bereits die Kelchform aufwiesen,<br />

aufgenommenund umgedichtet. In ihrer zehnzeiligen Formweisen diese bereits<br />

181<br />

182<br />

Der Cxxx. Psalm, De profundis, mit 4Strophen (Breslau 1555); Wackernagel IV, Leipzig<br />

1874, Nr. 98.<br />

Lazarus Spengler Schriften II (QFRG 70), Gütersloh 1999, 122–142, Zitat dort 134,1–17.


2. Neun- und zehnzeilige <strong>Kelchstrophe</strong>n bei Hans Sachs 79<br />

die volle Kelchform auf, indem durch die siebensilbige siebte Zeile auch der<br />

Knauf (nodus) abgebildet wird, der durch Re<strong>im</strong> mit dem Fuß (pes) der letzten<br />

Zeile verbunden ist. <strong>Die</strong> Schale (cuppa) ist gegenüber Stiel (stilus),Knauf und Fuß<br />

abgehoben, indem die fünfte Zeile drucktechnisch eingezogen ist. VonAnna, der<br />

Großmutter Jesu, lenkt Sachs die Aufmerksamkeit auf ihren Enkel: 183<br />

Das lied, Anna du anfencklich bist,<br />

verendert vund Christlich corrigiert.<br />

Christe, du anfencklichen bist<br />

ein wurtzl vnser seligkait.<br />

Auß deinem todt gewachsen ist<br />

ein ewig werend sicherhait<br />

Zu dem vater,<br />

gen dem wir seer<br />

vnns versünden teglichen:<br />

Osun David,<br />

du für vns trit,<br />

versün vns miltigklichen!<br />

Sachs übergeht <strong>im</strong> Stammbaum Jesu dessen Großmutter Anna und lenkt unmittelbar<br />

auf seinen Stammvater David zurück, eigentlich aber auf Gott Vater<br />

selbst, vor dem Christus versöhnend für uns eintritt. Jesus ist »anfänglich« die<br />

»Wurzel unserer Seligkeit«, so dass die »Wurzel Jesse«, die menschliche Abstammung<br />

Jesu, ihre eigene Bedeutung verliert. Das Heil ist ganz in Christus, ja<br />

genauerinseiner Auferstehung von den Toten begründet. In Christus entsteht in<br />

einer »ewig währenden Sicherheit« eine Direktheit zu Gott, die auf keine Vermittlung<br />

durch Heilige angewiesen ist.<br />

183<br />

Hans Sachs (1525); Wackernagel III, Nr. 85 mit 3Strophen.


80 II Das Formspektrum der <strong>Kelchstrophe</strong><br />

Ein weiteres Beispiel solcher Kontrafraktur ist: 184<br />

Das lied, Sant Christoff du heyliger man,<br />

verendert, vnd Christlich corrigiert<br />

Christe, warer sun Gottes fron,<br />

dein lob wir ewig preysen;<br />

Werdeinen namen ruffet an,<br />

dem thustu hilff beweysen,<br />

Wann du bist der<br />

eynig mitler<br />

gen got, dem vater herre;<br />

Dein pitter todt<br />

halff vns auß not,<br />

dir sey ewig lob ere!<br />

Das Lied lautete, noch unverändert und noch nicht christlich korrigiert: 185<br />

SAnt Christoff, du vil hailiger man<br />

dein lob steet hoch zu preysen,<br />

Vnd wer dein pild früe thut schawen an,<br />

des tags ist er beweysen<br />

Dz hertze sein<br />

frölichen on pein,<br />

züchtig in allen eren,<br />

Dein pet gen gott<br />

hülff hie vnd dort<br />

vmb deiner marter ere.<br />

Auch hier zeigt sich, wie eng Sachs sich an seine Vorlage hält. Mit Christophorus<br />

verband sich der Glaube, dass man an dem Tagkeines plötzlichen und bösen<br />

Todes sterben werde, an dem man den Heiligen gesehen hätte, so dass an<br />

Landstraßen häufig Christophorus-Standbilder errichtet waren. Sachs empfiehlt<br />

nun, nicht mehr das Heiligenbild anzuschauen, sondern sattdessen Christus als<br />

Mittler vor Gott anzurufen. Der »heilige Mann« muss seinen Platz räumen und ihn<br />

an den »wahren Gottessohn und Herrn« abgeben.<br />

<strong>Die</strong> Christopheruslegende zeigt zudem eine große Nähe zur Kelchsymbolik<br />

<strong>im</strong> Sinne Luthers. Denn auch darin wird gerade das Tragen Christi zu einer<br />

schweren Last, die nur durch den Ruf des Herrn selber bewältigt werden kann.<br />

Und Luther sahspäter darin ein Bild des Lebenseines jeden Christenmenschen,<br />

der seinen Glauben gegen alle Widerstände bekennt: »Dasselbe Wort soll mein<br />

184<br />

185<br />

Hans Sachs (1525); Wackernagel III, Nr. 86 mit 3Strophen.<br />

Christoph (1525); Wackernagel II, Nr. 1239 mit 3Strophen, ebenso Nr. 1240.


2. Neun- und zehnzeilige <strong>Kelchstrophe</strong>n bei Hans Sachs 81<br />

treuer Rath und starker Baum[wieihn Christopherus als Halt in seinen Händen<br />

hielt] sein, daran ich mich halten will, auf daß ichs ertragen und ausstehen könne.<br />

Wo wir uns an den Baum nicht halten, so ist unser Natur viel zu schwach, daß<br />

sie den gr<strong>im</strong>migen Haß und Neid der Welt ertragen, und die listigen Anschläge<br />

und feurigen Pfeile des Teufels ausstehen könne.« Es geht hier ebenfalls um die<br />

Annahmedes Leidens, das sich als Folge des Evangeliums einstellt – nicht etwa<br />

um die Bewältigung selbstverschuldeter Restsünden, sondern um die Verkündigung<br />

der Sündenvergebung in Christus. »Darum geht diese Predigt uns an, die<br />

wir an ihn glauben und um seinetwillen leiden.« 186<br />

Um das Lied »Christlich corrigiert« darzubieten, musste Hans Sachs nur die<br />

Perspektive wechseln von der <strong>im</strong>ponierenden, riesenhaften Gestalt des starken<br />

Gottesmenschen auf die zutiefst menschliche, äußerst verletzliche Niedrigkeit<br />

des Gottessohnes in seinem erlösenden Leiden,damit die Lebenswirklichkeit der<br />

Christ:innen in ihrem Glauben andas Evangelium angemessen inBlick kam. 187<br />

Das wird besonders deutlich in der dritten Strophe durch die Veränderung von:<br />

»Gott […]hatt dich außerwelet /Zuseinem knecht, /dutrugst in recht« <strong>im</strong> Blick<br />

auf Christophorus zu: »Erschinst doch schlecht /gleich wie ein knecht, /trugst<br />

vunser sünde schwere« <strong>im</strong> Blick auf Christus. 188<br />

Doch nicht nur Heiligenlieder hat Sachs »christlich verändert«, sondern er<br />

hat auch ein rein weltliches Liebeslied aufgegriffen, um gegen den päpstlichen<br />

Machtanspruch zu polemisieren, und essogar in seine Sammlung »Etliche<br />

geystliche, in der schrifft gegründete, lieder für die layen zu singen« von 1525<br />

eingereiht: 189<br />

186<br />

187<br />

188<br />

189<br />

Predigt am Stephanustag 1532 über Jes 9,5; Hauspostille nach Georg Rörer, WY<br />

13,2621.2622. – Vgl. VonS.Christoph Legenden; WA.TR 6, Nr. 6690.<br />

Vgl. Luthers Kontrafraktur der Christophoruslegende: »Wir haben in Anfechtungen und<br />

Nöten auff S. Christophori Leiden mehr gepocht denn auff das Leiden Christi« (Predigt<br />

Joh 18,5–6 [1528]; WA 28, 236,22–24).<br />

Wackernagel II, Nr. 1239; III, Nr. 86.<br />

Hans Sachs (1525); Wackernagel III, Nr. 84 mit 3Strophen.


82 II Das Formspektrum der <strong>Kelchstrophe</strong><br />

Das lied, Rosina wo was dein gestalt,<br />

Christlich verendert, von der erkantnüß Christi.<br />

OChriste, wo war dein gestalt<br />

bey Bapst Siluesters leben,<br />

Da Kayser Constantinus gwalt<br />

jm vber Rom thet geben?<br />

Fürwar glaub ich,<br />

het der Bapst dich<br />

durchs gnaden liecht gesehen,<br />

er hett warleich<br />

das jrdisch Reich<br />

durch dein eer thun verschmehen.<br />

Sachs hat die ausgebildete Kelchform aus dem Volkslied übernommen. <strong>Die</strong><br />

»christliche Veränderung« bewahrt also die Form, überführt sie aber in den Bereich<br />

geistlicher Auseinandersetzung. In dem Buhllied, das als Vorlage dient,<br />

wird die Schönheit von Rosina beschrieben, die, wäre sie mit dabei gewesen,be<strong>im</strong><br />

Urteil des Paris die konkurrierenden Göttinnen ausgestochen hätte. 190<br />

Rosina, wo was dein gestalt,<br />

bey könig Paris leben,<br />

Da er den apffel hett in gwalt,<br />

der schönsten sollen geben,<br />

Fürwar glaub mir,<br />

hett Paris dich<br />

mit deiner schön gesehen,<br />

Venus wer nit<br />

begabt darmit,<br />

der preis wer dir gegeben.<br />

Sachs nutzt diese Vorlage, um auf falsche Entscheidungen hinzuweisen, die<br />

offenbar erfolgten, weil Christus übersehen wurde. Solche fehlende Christuserkenntnis<br />

wird in der ersten Strophe bei Papst Silvester I. († 335) festgestellt, der<br />

Rom als weltlichen Besitz durch eine angebliche Schenkung von Kaiser Konstantin<br />

(regierte 312–337) entgegennahm, die Laurentius Valla (1407–1457) als<br />

Fälschung erwiesen hatte, inder zweiten Strophe bei Gratian, der in seinem<br />

Decretum das Kirchenrecht kodifizierte (~ 1140), dem Grundstock des kanonischen<br />

Rechts, das Luther zusammen mit der Bannandrohungsbulle <strong>im</strong> Dezember<br />

190<br />

<strong>Die</strong>ses Volkslied ist seit 1519 nachgewiesen. – Das Parisurteil, um das es in diesem Lied<br />

geht, wurde von Sachs mehrfach aufgenommen, in unserm Lied mit entsprechender<br />

Strophenform, vgl. Julia-Maria Heinzmann, <strong>Die</strong> Buhllieder des Hans Sachs, Wiesbaden<br />

2001, 165–166.


2. Neun- und zehnzeilige <strong>Kelchstrophe</strong>n bei Hans Sachs 83<br />

1520 in einer demonstrativen Aktion verbrannt hatte, und in der dritten Strophe<br />

bei Kaiser Nero, der die Christen in Rom beschuldigte und hinrichten ließ<br />

(64 n. Chr.), als Hinweis auf die kaiserlichen Maßnahmen gegen die reformatorische<br />

Bewegung. <strong>Die</strong> historischen Reminiszenzen dienen Sachs zu einer Polemik<br />

gegen die Mächtigen seiner eigenen Zeit, haben aber nicht wirklich einen<br />

geistlichen Gehalt. Das mythologischeSujet, das als Paradigma genutzt wird, ist<br />

wenig geeignet, eine »in der Schriftgegründete« Auseinandersetzung zu führen.<br />

Hermann Harassowitz vermutet: »Offensichtlich aber waren Luthers Lieder<br />

so verbreitet, dass die Gesänge von Hans Sachs keine Überlebenschancen hatten.«<br />

191 Doch könnte ein Grund auch darin liegen, dass seine Lieder sehr situationsbezogen<br />

sind und die Wende zur reformatorischen Bewegung ganz unmittelbar<br />

reflektieren, so dass sie in späterer Zeit, als sich die evangelische Kirche<br />

etabliert hatte, nicht mehr aktuell waren.Auf jeden Fall hat Sachs entscheidend<br />

dazu beigetragen, die <strong>Kelchstrophe</strong> in das evangelische <strong>Kirchenlied</strong> einzuführen,<br />

indem er die bereits übliche Strophenform adaptierte und der <strong>evangelischen</strong><br />

Botschaft nutzbar machte.<br />

In Nürnberg erschien 1569 ein Lied, zu dem als Melodie wieder das Volkslied<br />

»Rosina, wo war dein Gestalt« angegeben wird, das nach seiner Re<strong>im</strong>gliederung<br />

aber eigentlich nicht als Zehnzeiler, sondern als Zwölfzeiler anzusehen ist: 192<br />

BIllich, HErr Christ, /all stund vnd frist<br />

rhüm vnd preyß ich deine güte,<br />

Thu auff mein Mundt, /Herr, alle stund,<br />

ob dir frewt sich mein gmüte.<br />

Loben will ich,<br />

OHERRe, dich<br />

mit fröling gmüt vnd hertzen,<br />

Erhört hast mich<br />

vmb das, so ich<br />

stettigs dich batt mit schmertzen.<br />

Vonder Thematik her entspricht das Lied mit dem Christuslob in allem Leiden<br />

aus einer tiefen Ergebenheit Christus als Herrn gegenüber heraus durchaus der<br />

191<br />

192<br />

Hermann Harrassowitz, Reformation und Kirchenmusik in Nürnberg, ZBKG 81 (2012),<br />

83–105, dort 96.<br />

Ein schön Geystlich Liede, mit 4Strophen; Wackernagel IV, Nr. 769. – Das Lied erschien<br />

<strong>im</strong> Druck erneut in Basel 1605, und zwar als Lied zweier Eheleute. Erst in der letzten<br />

Strophe erfolgt jedoch ein Wechsel vom einzelnen »ich« zum gemeinschaftlichen »wir«. –<br />

In demselben Liederbuch findet sich weiter »Ein schön Geystlich Liede« (Wackernagel IV,<br />

Nr. 784), das ebenfalls auf die Melodie »Rosina wo war dein Gestalt« gesungen werden<br />

soll, das nun aber <strong>im</strong> Strophenbau so weit von dem Volkslied abweicht, dass Text und<br />

Melodie nicht zusammenpassen.


84 II Das Formspektrum der <strong>Kelchstrophe</strong><br />

Kelchsymbolik. <strong>Die</strong>s wird durch die Melodie unterstützt, bleibt aber in der<br />

poetischen Gestalt des Textes unklar.<br />

Hier zeigt sich, dass inder Volksliedtradition zwei Varianten vorlagen, die<br />

nicht eindeutig als unterschiedliche Formen wahrgenommen wurden. <strong>Die</strong> zehnzeilige<br />

<strong>Kelchstrophe</strong> konnte ebenso mit einer zwölfzeiligen Melodie verbunden<br />

werden,wie umgekehrt eine zwölfzeilige Strophe, inder zwei weitere Langzeilen<br />

durch vier Kurzzeilen ersetzt wurden, mit einer zehnzeiligen Melodie, wie esin<br />

diesem Fall gegeben ist. Denn die Melodie »Rosina wo was dein gestalt« n<strong>im</strong>mt<br />

keine solche Phrasierung vor, die auf eine Brechung der ersten und dritten Zeile<br />

hinwiese. 193 <strong>Die</strong> Brechungen <strong>im</strong>Abgesang lagen fest, <strong>im</strong>Aufgesang wurden sie<br />

hingegen variabel gehandhabt. <strong>Die</strong>ses Phänomen begegnet auch sonst und wird<br />

noch weiter zu erörtern sein.<br />

3. Zehnzeiler als reformatorische Grundform der<br />

<strong>Kelchstrophe</strong><br />

<strong>Die</strong> zehnzeilige Strophe, wie sie bei Hans Sachs in seinem nicht eigentlich geistlichen,<br />

sondern eher kirchenkritischen Lied vorliegt, erlaubte eine volle Ausbildung<br />

derKelchform undwurde so zureigentlichenDarstellung desKelchsymbols.<br />

<strong>Die</strong>se <strong>Kelchstrophe</strong> ist auch bereits wenige Jahre früher in einer Form belegt,<br />

die gegenüber Sachs variiert, und zwar in einem Lied von Ulrich von Hutten<br />

(1488–1523) aus dem Jahr 1521. 194<br />

ICh habs gewagt mit sinnen<br />

und trag des noch kain rew:<br />

Mag ich nit dran gewinnen<br />

noch muß man spüren trew.<br />

Dar mit ich main,<br />

nit a<strong>im</strong> allain,<br />

wenn man es wolt erkennen:<br />

Dem land zu gut,<br />

wie wol man thut<br />

ain pfaffen feynd mich nennen.<br />

Morphologisch gesehen handelt es sich um einen Achtzeiler aus wechselnden<br />

männlichen Vier- und weiblichen Dreihebern. Der Anfangsteil wird dementsprechend<br />

durch Dreiheber gebildet, wobei ein Wechsel zwischen weiblichem<br />

und männlichem Ausgang die Wölbung andeutet. Doch <strong>im</strong> weiteren Verlauf fehlt<br />

193<br />

194<br />

Volksliederarchiv, Nr. 1669.<br />

Ulrich von Hutten; Wackernagel III, Nr. 460.


3. Zehnzeiler als reformatorische Grundform der <strong>Kelchstrophe</strong> 85<br />

der Re<strong>im</strong> der fünften mit der siebten Zeile. Stattdessen findet sich innerhalb<br />

dieser beiden Zeilen ein Binnenre<strong>im</strong>. Damit werden der dritte und der vierte<br />

Vierheber in jeweils zwei mit Re<strong>im</strong> verbundene Zweiheber gebrochen. Und so<br />

ergibt sich tatsächlich ein Zehnzeiler. <strong>Die</strong> Zweiheber wirken wie Ausrufe und<br />

unterstreichen den Inhalt, der Klagen und Bitten vorträgt. Damit ist hier zugleich<br />

in den Kelchschaft(Stilus) gleichsam noch ein Knauf (Nodus) eingebaut. So liegt<br />

hier die klassische Form vor mit Cuppa (Schale) und Pes (Fuß) sowie mit Stilus<br />

und Nodus.<br />

Auch Huttens Lied ist kirchenkritisch, aber nicht eigentlich geistlich, und<br />

gleicht darin dem Lied von Sachs.Beide Liederdichterwehren sich gegen den zu<br />

großen kirchlichen Einfluss <strong>im</strong> gesellschaftlichen Leben. Der Humanist Hutten<br />

begründete zugleich einen Nationalismus eines auf die Reichsritterschaft gestützten<br />

Kaisertums, das sich dem weltlichen Machtanspruch der römischen<br />

Kirche widersetzte.Erbenenntausdrücklich dieritterliche Tugend der Treue als<br />

für ihn best<strong>im</strong>mend, nicht etwa Gottes Wort oder Christus. So entwickelt er<br />

tatsächlich den deutschen höfischen Minnesang weiter.<br />

Doch in der weltlichen Lyrik wurde diese <strong>Kelchstrophe</strong> nie gebräuchlich,<br />

dagegen erreichte sie<strong>im</strong><strong>Kirchenlied</strong> große Beliebtheit. 195 Das deutet darauf hin,<br />

dass die in der Kelchform zum Ausdruck kommende Symbolik offenbar reformatorischer<br />

Frömmigkeit näher lag als weltlichem Lebensverständnis.<br />

3.1 Lazarus Spengler<br />

<strong>Die</strong> zehnzeilige Form wurde <strong>im</strong> <strong>evangelischen</strong> Lied sehr beliebt und zur klassischen<br />

Grundform des Kelches <strong>im</strong> Schriftbild, wie sie schon vor Hans Sachs bei<br />

Lazarus Spengler 196 zu finden ist. <strong>Die</strong> Kelchgestalt mit Cuppa, Stilus mit Nodus<br />

und Pes tritt hier klar in Erscheinung. 197 <strong>Die</strong>se <strong>im</strong> Strophenbau vollständig<br />

ausgeführte Kelchform etablierte sich in den lutherischen Gesangbüchern durch<br />

sein Reformationslied »Durch Adams Fall ist ganz verderbt« (1524): 198<br />

195<br />

196<br />

197<br />

198<br />

Horst Joach<strong>im</strong> Frank, Handbuch der deutschen Strophenformen (utb 1732), Tübingen u.<br />

Basel, 2 1993, 695–697.<br />

Spengler hatte Luther bereits 1518 kennengelernt und 1519 mit seiner anonymen<br />

Flugschrift »Schutzrede für Luthers Lehre« literarisch den Diskurs über Luther in<br />

Nürnberg eröffnet. Vgl. Thomas Hohenberger, Druckerzeugnisse aus Bayern – Starthilfe<br />

für die Wittenberger Reformation, ZBKG 86 (2017), 1–23, dort 17–18.<br />

In der Liederkunde zum EKG beschreibt Hartwig Drude die formale Geschlossenheit sehr<br />

einfühlsam, ohne dass ihm jedoch bewusst wird, dass damit eine Kelchform entsteht<br />

(HEKG III/2, 182).<br />

Wackernagel III, Nr. 71; EKG 243; EG –; ELKGY 563. Text: Lazarus Spengler Schriften I,<br />

hg. v. Berndt Hamm u. Wolfgang Huber (QFRG 61), Gütersloh 1995, 401–405.


86 II Das Formspektrum der <strong>Kelchstrophe</strong><br />

Ein geistich lied<br />

vom fal und erlösung des menschlichen geschlechts.<br />

Durch Adams fal ist gantz verderbt<br />

menschlich natur und wesen;<br />

dasselb gifft ist auff uns geerbt,<br />

das wir nicht mochten gnesen<br />

on Gottes trost,<br />

der uns erlost<br />

hat von dem grossen schaden,<br />

dareyn die schlang<br />

Hevam bezwang,<br />

Gotts zorn auff sich zu laden.<br />

Weyl dann die schlang Hevam hat bracht,<br />

das sie ist abgefallen<br />

von Gottes wort, welchs sie veracht,<br />

dadurch sie yn uns allen<br />

bracht hat den Tod,<br />

so war ye not,<br />

das uns auch Gott sollt geben<br />

seyn lieben Son,<br />

der gnaden thron,<br />

yn dem wir mochten leben.<br />

Wie uns nu hat eyn frembde schuld<br />

yn Adam all verhonet,<br />

also hat uns eyn frembde huld<br />

yn Christo all versonet.<br />

Und wie wyr all<br />

durch Adams fall<br />

Sind ewigs tods gestorben,<br />

also hat Gott<br />

durch Christus tod<br />

vernewt, das war verdorben.<br />

So er uns denn seyn Sohn hat gschenckt,<br />

do wyr seyn feynd noch waren,<br />

der fur uns ist ans creutz geheckt,<br />

getod, gen hymel gfaren,<br />

dardurch wyr seyn<br />

vom tod und peyn<br />

erlost, so wyr vertrawen<br />

yn disen hort,<br />

des Vaters wort:<br />

wem wollt fur sterben grawen?


3. Zehnzeiler als reformatorische Grundform der <strong>Kelchstrophe</strong> 87<br />

Er ist der weg, das liecht, die pfort,<br />

die warheyt und das leben,<br />

des Vaters rad und ewigs wort,<br />

den er uns hat gegeben<br />

zu eynem schutz,<br />

das wir mit trutz<br />

an yhn fest sollen glauben;<br />

darum uns bald<br />

keyn macht noch gwald<br />

aus seyner hand wirt rauben.<br />

Der mensch ist gottlos und verrucht,<br />

seyn heyl ist auch noch ferren,<br />

der trost bey eynem menschen sucht<br />

und nicht bei Gott dem Herren;<br />

denn wer yhm will<br />

eyn ander zill<br />

on disen troster stecken,<br />

den mag gar bald<br />

des teuffels gwald<br />

mit seyner list erschrecken.<br />

Werhofft ynGott und dem vertrawt,<br />

der wurdet nicht zuschanden;<br />

denn wer auff disen felsen bawt,<br />

ob yhm gleich geht zu handen<br />

viel unfals hie,<br />

hab ich doch nye<br />

den menschen sehen fallen,<br />

der sich verlost<br />

auff Gottes trost;<br />

er hilft seyn glaubgen allen.<br />

Ich bitt, oHerrn, aus hertzen grund,<br />

du wolst nicht von myr nemen<br />

dey heylges wort aus meynem mund,<br />

so wird mich nicht beschemen<br />

meyn sund und schuld;<br />

denn yn deyn huld<br />

setz ich all meyn vertrawen;<br />

wer sich nu fest<br />

darauff verlest,<br />

der wurd den tod nicht schawen.


88 II Das Formspektrum der <strong>Kelchstrophe</strong><br />

Meyn fussen ist deyn heyliges wort<br />

eyn brynnende lucerne,<br />

eyn liecht, das myr den weg weyst fort;<br />

so dieser morgensterne<br />

yn uns auffgeht,<br />

so bald versteht<br />

der mensch die hohen gaben,<br />

die Gottes geyst<br />

den gwis verheyst,<br />

die hoffnung dareyn haben.<br />

Man könnte die Form als Achtzeiler in gleichmäßigem Wechsel von jambischen<br />

Acht- und Siebensilblern lesen 199 ,aber es handelt sich eindeutig um einen<br />

Zehnzeiler, wie die Re<strong>im</strong>folge zeigt. Von Huttens Lied unterscheidet sich der<br />

Aufgesang, indem die männlich und die weiblich endenden Zeilen untereinander<br />

vertauscht und die männlich endenden auf acht Silben erweitert sind. <strong>Die</strong><br />

Kelchschale erscheint dadurch geweitet.<br />

Das Lied findet sich als erstes <strong>Kelchstrophe</strong>nlied bereits von Anfang an in den<br />

<strong>evangelischen</strong> Gesangbüchern und gehörte lange zum Grundbestand evangelischer<br />

Gesangbücher undkonnte so prägend wirken. 200 Spenglers Lied wurde als<br />

Ausdruck der reformatorischen Lehre so bekannt, dass es in der Konkordienformel<br />

wiederholt inErinnerung gerufen wird. 201<br />

In dem 1524 in Wittenberg erschienenen »Geystlichen gesangk Buchleyn«<br />

von Johann Walter (1496–1570) hatte das Lied zwei andereMelodien (XVI.XVII).<br />

<strong>Die</strong> dann gebräuchlich gewordene Melodie wurde erst 1529 <strong>im</strong> Klugschen Gesangbuch<br />

damit verbunden; sie ist übernommen von einem Lied nach der<br />

Schlacht von Pavia am 24. Februar 1525, die entsprechend angeglichen werden<br />

musste. 202 Spengler hielt es also nicht für nötig, seinem »Lied« eine eigene Melodie<br />

beizugeben. Er rechnete mit Möglichkeiten zur singenden Umsetzung<br />

aufgrund des vorhandenen Repertoires, ohne dass er eine spezielle Kontrafraktur<br />

199<br />

200<br />

201<br />

202<br />

So geschieht es in der Übersicht über den Strophenbau der Lieder bei: Friedrich Julius<br />

Arnold, Christhard Mahrenholz, Otto Schlißke, Rudolf Untermöhlen, Wort- und Sachkonkordanz<br />

(HEKG I/1. Ausgabe für Niedersachsen), Göttingen 1953, 256–257. – Allerdings<br />

wird wie in entsprechenden anderen Fällen in einer Anmerkung darauf aufmerksam<br />

gemacht, dass Text und Melodie eigentlich 10-zeilig zu verstehen sind.<br />

Das Reformationslied von Spengler steht neben Luthers »Nun freut euch, lieben Christen<br />

gmein« (1523) und Paul Speratus’ »Es ist das Heil uns kommen her« (1523). Alle drei<br />

Lieder finden sich noch <strong>im</strong> EKG Nr. 239.242.243, Spenglers Lied fehlt dann <strong>im</strong> EG, dort<br />

sind unter Nr. 341.342 nur noch die beiden andern enthalten.<br />

FC.Epit. I; BSELK, 1222,12; FC.SD I; BSELK, 1320,1–2.1328,13–14.<br />

Harrassowitz, Reformation und Kirchenmusik, 93. – Das Pavierlied von 1525 ist achtzeilig<br />

und weist dementsprechend keine Kelchform auf.


3. Zehnzeiler als reformatorische Grundform der <strong>Kelchstrophe</strong> 89<br />

vornahm. <strong>Die</strong> Kelchform wurde von ihm nicht nur sprachlich, sondern auch<br />

musikalisch betont eingesetzt und für rezeptionsfähig gehalten.<br />

Spengler knüpft nicht speziell an Luthers Schriftauslegung an. Bei ihm ist<br />

erkennbar nicht unbedingt Luthers Auslegung von Gen 3,15 vorausgesetzt, wie<br />

dieser sie in seiner Weihnachtspostille vorgetragen hat. <strong>Die</strong> Christusverheißung<br />

<strong>im</strong> Wort an die Schlange wird nur eben angedeutet. Der Hinweis auf Evas Verführung<br />

durch die Schlange n<strong>im</strong>mt vielmehr eine Bemerkung des Paulus auf<br />

(II Kor 11,3). Auch die Adam-Christus-Typologie in der dritten Strophe spielt<br />

auf Paulus an (Röm 5,12–19), wie dann in der vierten Strophe wieder an Paulus<br />

erinnert wird (Röm 5,6–11). Spengler entfaltet die reformatorische Botschaft<br />

mithin relativ selbstständig in unmittelbarem Anknüpfen an das Neue Testament<br />

(vgl. auch die johanneischen Christusmetaphern in der fünften Strophe: Joh 14,6;<br />

8,12; 10,7).<br />

Ohne dass der Begriff Kelch auftaucht, scheint die Kelchsymbolik gerade<br />

durch die enge Verknüpfung mit Römer 5hergestellt. Denn Paulus stellt dort ja<br />

fest: »Wir rühmen uns auch der Bedrängnisse, weil wir wissen, dass Bedrängnis<br />

Geduld bringt, Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung, Hoffnung<br />

aber lässt nicht zuschanden werden; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in<br />

unsre Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist« (Röm 5,3–5). Und<br />

er resümiert: »Wir rühmen uns auch Gottes durch unsern Herrn Jesus Christus,<br />

durch den wir jetzt die Versöhnung empfangen haben« (Röm 5,11). Der Gesichtspunktdes<br />

<strong>im</strong> Gotteslob angenommenen Leidenswird in Spenglers Lied nur<br />

ganz kurz in der siebten Strophe angesprochen: »ob yhm gleich geht zu handen /<br />

viel unfals hie«. Doch bildet er den Hintergrund, der durch die Geborgenheit in<br />

Christus keineswegs ausgelöscht wird.<br />

<strong>Die</strong> Wahl der Form der <strong>Kelchstrophe</strong> für sein Lied lässt sich gut als zusätzliches<br />

Zeichen verstehen, mit dem Spenglerdie Botschaftdes Textes unterstützt.<br />

<strong>Die</strong> reformatorische Verkündigung erfolgt <strong>im</strong> Kontext einer leidvollen Lebenswirklichkeit,<br />

die als Leidenskelch bewusst angenommen und sogar als letztlich<br />

heilsame Zuweisung Gottes bekannt wird.<br />

Spengler setzt mit einer zutiefst pess<strong>im</strong>istischen Weltsicht ein. 203 Es ist »ganz<br />

verderbt menschlich Natur und Wesen«. Gott musste eingreifen. Und er hat uns<br />

seinen Sohn zur Erlösung gegeben, so dass uns Gottes Wort eine Hoffnung zuspricht,<br />

die zuverlässig ist. Man kann ihr vertrauen; denn sie kann sogar durch<br />

den Todnicht genommen werden, weil Christus uns hält und uns »kein Macht<br />

noch G’walt aus seiner Hand wird rauben.« 204 <strong>Die</strong>ser Wechsel aus einer aus-<br />

203<br />

204<br />

Berndt Hamm, Art. Spengler, Lazarus (1479–1534), TRE 31 (2000), 666–670, dort<br />

668,47–53.<br />

Zu beachten ist, dass in der ursprünglichen Fassung die Verbindung von Gott, des Vaters<br />

Wort und dem Christusgeschehen viel enger ist, als diese Verflechtung in der heuti-


90 II Das Formspektrum der <strong>Kelchstrophe</strong><br />

sichtslos erscheinenden menschlichen Situation ineine Zukunft eröffnende Lebensperspektive<br />

kennzeichnet die reformatorische Wende. 205 Offenbar hatte die<br />

intensive zeitgenössische Bußpropaganda ihr Ziel gerade nicht erreicht, sondern<br />

ihre Werthaftigkeit durch vielfältige Ablassangebote in einer <strong>im</strong>mer stärker finanziell<br />

formalisierten Ausprägung geradezu fraglich werden lassen und die<br />

Unsicherheit sogar verstärkt. 206<br />

Allerdings stellte sich das Gotteslob <strong>im</strong> Leiden unter der Predigt des Evangeliums<br />

nicht ganz so selbstverständlich ein. Das zeigt schon die Trostschrift,<br />

die Spengler 1529 seiner Schwester Martha (1476–1538) widmete, die 1525<br />

den Ordensstand aufgegeben hatte und zur Familie zurückgekehrt war, der es<br />

aber schwer fiel, einen neuen, sie erfüllenden Lebenssinn zu finden, und die<br />

sich als Last für ihre Familie empfand. Gegen solche »anfechtung, bekümernuß<br />

und kleinmütigkeyt« war seelsorglicher Einsatz vonnöten. 207 <strong>Die</strong> <strong>im</strong> Evangelium<br />

zugesprochene Wertschätzung durch Gott in Christus lässt sich nicht so ohne<br />

weiteres auch <strong>im</strong> zwischenmenschlichen Lebensalltag als Wertschätzung erfahren.<br />

Vielmehr muss Trost vermittelt werden, um die leidvollen Erfahrungen,<br />

die sich gerade jetzt einstellen, bewältigen zulernen.<br />

Spengler n<strong>im</strong>mt auch in dieser seiner Schrift die Kelchsymbolik bei Luther<br />

aufgrund von Ps 116,13 nicht direkt auf. Aber er bezeichnet das bittere Leiden<br />

der Christen als »heylsamliche ertzney« 208 und als »ein christenlich, heylsam<br />

creutz« 209 .Esdiene zur »bewerung des glaubens«. 210 Ein Christ habe allen Grund,<br />

»sein zugefügt götlich creutz also zu billichen, das er Gott als ein getrewen<br />

vatter […] mehr loben, lieben und <strong>im</strong>e darumb dancksagen [will], dann sich des<br />

205<br />

206<br />

207<br />

208<br />

209<br />

210<br />

gen Fassung, zumal nach dem Ausfall der Strophe zwischen der heutigen vierten und<br />

fünften, noch erkennbar ist.<br />

Gerhard Müller stellte fest, dass für Spengler die lutherische Lehre gerade dazu geeignet<br />

war, »das Leben danach auszurichten, während bisher die Menschen nicht gelehrt<br />

worden sind, auf Gottes Gnade und Liebe, sondern auf ihre eigenen Werke zu bauen«<br />

(Lazarus Spengler als Theologe [1982], in: Gerhard Müller, Causa Reformationis. Beiträge<br />

zur Reformationsgeschichte und zur Theologie Luthers, Gütersloh 1989, 354–370,<br />

Zitat dort 356).<br />

Vgl. etwa die Lehre von Fegefeuer, der zufolge die Bemühungen um Satisfaktionen für<br />

begangene Sünden noch über den Todhinaus fortzusetzen sind und die Luther als »wider<br />

den Heubtartikel, das allein Christus und nicht menschen werck den Seelen helfen sol,«<br />

erachtet (AS, Vonder Messe; BSELK, 732,21–22).<br />

Wie sich ein Christenmensch in Trübsal und Widerwärtigkeit trösten und wo er die<br />

rechte Hilfe und Arznei dafür suchen soll. 1529, in: Lazarus Spengler Schriften II, hg. v.<br />

Berndt Hamm, Wolfgang Huber u. Gudrun Litz (QFRG 70), Gütersloh 1999, 368–389,<br />

Zitat dort 368.<br />

Wie sich ein Christenmensch trösten soll, 370,26.<br />

A.a. O., 386,11.<br />

A.a. O., 386,22–23.


3. Zehnzeiler als reformatorische Grundform der <strong>Kelchstrophe</strong> 91<br />

von Gott zu beklagen«. 211 Unter Hinweis auf Ps 18,4 in seinem lateinischen Text,<br />

solle das Gotteslob sogar ganz am Anfang stehen, »das <strong>im</strong>e der geengstigt mensch<br />

inmitten seiner trübsalen und widerwertigkeyten einen gutten, süssen und<br />

lobwirdigen Gott und Herrn für die augen pilden […] sol«; 212 »dann alspaldt der<br />

mensch anfecht, Got zu loben,würdet die anfechtung gelindert.« 213 <strong>Die</strong> Symbolik<br />

einer bitteren Arznei, die man schlucken muss, wie Spengler sie thematisiert,<br />

liegt nahe bei der Symbolik eines Kelches, dessen bitteren Inhalt man trinken<br />

muss.<br />

3.2 Zeitgenossen Spenglers<br />

DenselbenStrophenbau weist dann das Friedenslied von Wolfgang Capito (1478–<br />

1541) aus dem Jahr 1533auf, das ursprünglich auf eineeigene Melodie gesungen<br />

wurde: 214<br />

GIb frid zu vnser zit, oHerr!<br />

groß not ist yetzt vorhanden,<br />

der feind begert nichts anders mer,<br />

dann das er bring zu schanden<br />

Den namen Crist<br />

vnd dempff mit list<br />

waren gots dienst vff erden:<br />

Solchen erhalt<br />

vß de<strong>im</strong> gewalt,<br />

du hilffst allein in gferden.<br />

<strong>Die</strong> »große Not«, die als Bedrängnis um des Evangeliums willen erfahren wird,<br />

führt zu der Bitte, dass der »wahre Gottesdienst« erhalten bleibe, die Verkündigung<br />

also nicht verstumme. <strong>Die</strong> Kelchsymbolik wird textlich klarzum Ausdruck<br />

gebracht.<br />

Auch ein Lied zu Psalm 85 aus dem Babstschen Gesangbuch von 1545 n<strong>im</strong>mt<br />

diese Strophenform auf: 215<br />

211<br />

212<br />

213<br />

214<br />

215<br />

A.a. O., 377,15–19.<br />

A.a. O., 388,20–23. – Vulgata Ps 17,4 lautet nach LXX: Laudans invocabo Dominum,<br />

während es dem hebräischen Text nach heißt: laudatum invocabo Dominum.<br />

A.a. O., 389,11–12.<br />

Wolfgang Capito, Gib Fried zu unsrer Zeit, oHerr, mit 3Strophen; Wackernagel III,<br />

Nr. 841; EKG 389; EG –; ELKGY –.<br />

Der Fünff vnd achtzigst Psalm, mit 15 Strophen; Wackernagel III, Nr. 253. – Der Topos<br />

der Befreiung des Gottesknechtes Jakob spielt auf Jes 48,20 und die Erlösung Israels aus


<strong>Volker</strong> <strong>Stolle</strong>, Dr. theol., geb. 1940, seit 1984 Professor für Neues<br />

Testament an der Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel,<br />

lebt <strong>im</strong> Ruhestand in Mannhe<strong>im</strong>.<br />

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Satz: 3w+p, R<strong>im</strong>par<br />

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ISBN 978-3-374-07496-9 // eISBN (PDF) 978-3-374-07497-6<br />

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