100.000 TRIGGER Kaputt & unperfekt: Comedian Nicole Jäger hat keine Angst vor heiklen Themen. Warum Comedy alles darf & man gerade über schmerzhafte Themen lachen sollte, verrät sie im exklusiven Interview. Christine Scharf
INTERVIEW Weißt du noch, wann du deinen ersten Lacher bekommen hast? Nicole Jäger: Das erste richtige Mal, dass ich mich dran erinnern kann, war bei einem „Auftritt“ meiner damals noch sehr kleinen Schwester und mir. Da war ich vielleicht acht oder neun. Wir führten unseren Eltern im heimischen Wohnzimmer eine Gesangsparodie vor und sie mussten beide richtig lachen. Nicht das freundliche „Kinder machen Kram“-Lachen sondern laut und dreckig. Bis heute eines meiner Lieblingsgeräusche. Du traust dich, was für viele ein Albtraum ist: Im Scheinwerferlicht auf der Bühne stehen, persönliche Dinge preisgeben, dich verletzlich zeigen, dein Publikum zum Lachen oder zum Nachdenken bringen. Was hat dich dazu bewegt Comedian zu werden? NJ: Die Bühne ist irgendwie der einzige Ort an dem ich das Gefühl habe, sein zu dürfen. Dasein zu dürfen, ich sein zu dürfen, kaputt und unperfekt sein zu dürfen und mit alledem Menschen zum Lachen zu bringen. Das Leben ist nicht unbedingt einfach, meines war es selten, aber Humor hat mir immer geholfen und irgendwann dachte ich: Lass uns über all das sprechen, worüber wir sonst nur schweigen und dann lachen wir über alles. Gemeinsam. Comedy gibt das Gefühl, nicht allein zu sein und das wollte ich weitergeben. Noch immer sind die meisten Comedians männlich. Fühlst du dich als Frau in der Branche respektiert, akzeptiert, benachteiligt oder bevorzugt? NJ: Ja. Okay, ich lasse das nicht so stehen. Ich fühle mich akzeptiert, das auf jeden Fall. Mir macht weniger das Frausein Probleme als mehr das nicht entsprechen der gängigen Ideale. Meine fuckability ist manchmal nicht hoch genug. Man merkt, dass Verantwortliche noch immer gerne nach anderen Kriterien wählen als „nur“ Talent oder Erfolg. Erst jüngst hörte ich wieder: „Wir haben schon eine dicke Frau im Programm, daher ist der (weibliche) Slot schon belegt.“ Ich musste ein wenig lachen, denn ich glaube, es hat noch nie jemand den Satz gesagt: „Oh, wir haben schon einen heterosexuellen, weißen, schlanken Mann in der Show, da kann kein zweiter dabei sein.“ Es ist eben nicht so, dass es viel weniger " Political Correctness tötet Kreativität, man kann einfach nicht die 100.000 Triggerpunkte anderer Menschen kennen. Comedy ist dazu da, die Themen anzufassen, an denen man sich die Finger verbrennen kann." weibliche Comdians gibt. Sie haben es nur deutlich schwieriger sichtbar zu werden. Political Correctness auf der Bühne ist heutzutage besonders schwer. Was darf Comedy (noch)? NJ: Political Correctness tötet Kreativität, man kann einfach nicht die 100.000 Triggerpunkte anderer Menschen kennen und Comedy ist dazu da, die Themen anzufassen, an denen man sich die Finger verbrennen kann. Kurz also: Alles. Comedy darf prinzipiell alles, es dürfen aber nicht alle Comedians alles. Generell gilt: Du brauchst eine Form der Legitimation für das, was du auf der Bühne sagst. Du musst wissen, wovon du sprichst. Ein Mikrofon zu haben und auf einer Bühne zu stehen bedeutet, Verantwortung zu haben. Menschen hören dir zu und du darfst nicht vergessen, dass Comdey und Beleidigungen zwei vollkommen verschiedene Dinge sind. Trotz vieler Body Positivity und Diversity Bewegungen haben wir manchmal das Gefühl es hat sich kaum etwas getan. Wie ist deine Wahrnehmung? NJ: Das Gefühl teile ich. Es gibt Blasen in denen es so wirkt, als wären wir alle super positiv und das Thema Gewicht und Körper seien gar keines mehr. Aber man muss sich nur mal in die Kommentarspalten übergewichtiger Menschen bewegen um zu sehen, wie stark Ablehnung, Vorurteile und schlichter, dummer Hass gegenüber mehrgewichtigen nach wie vor ist. Und das Problem ist nicht nur eines im Internet. Auch in anderen, essentiellen Lebensbereichen findet Diskriminierung haltlos statt. Beispielsweise bei Ärzten, in der Pflege, bei Bewerbungsgesprächen oder auf offener Straße. Es gibt noch sehr viel zu tun und solange wir es über den Gesetzgeber nicht geregelt haben, dass Bodyshaming und Fatshaming ein Anti-Diskriminierungsgesetz brauchen, haben wir noch einen langen Weg zu gehen. Als Person des öffentlichen Lebens musst du dich auch mit sexistischen Kommentaren und Body Shaming auseinander setzen. Wie geht es dir damit? Kannst du in diesem Fall Privatperson und Bühnenfigur trennen? NJ: Meine Bühnenfigur und mein privates Ich sind im Grunde ein und die selbe Figur. Es ist daher gar nicht möglich eine Trennung vorzunehmen. Die meiste Zeit ignoriere ich Hass im Internet. Schlicht, weil es sehr, sehr dumm ist und weil ich immer denke, dass der eigene Schmerz noch nie kleiner wurde, nur weil man jemanden hasst. Hater sind bedauernswerte Verlierer und tun mir manchmal sehr leid. Es muss schlimm sein zu sehen, dass jemand nicht dem eigenen Anspruch an Schönheit oder Ästhetik entspricht und trotzdem glück- P A G E 81 <strong>PlusPerfekt</strong>.de