THE PARLIAMENT OF THRESHOLDS - THOMAS KASSEROLER
In einer Zeit, in der unterschiedliche Meinungen und Standpunkte immer weniger verhandelbar und argumentierbar scheinen, spielen Orte, die Menschen dabei helfen können ihr Gegenüber zu verstehen, eine immer wichtigere Bedeutung. Journalismus ist eines jener Werkzeuge, der - ähnlich wie Architektur - neue Perspektiven näherbringen und vermitteln kann - er kann Schwellen zwischen Menschen schaffen. In dieser Arbeit werden am Donaukanal und am Schwedenplatz in Wien, einem der heterogensten Bereiche der Stadt, Orte zum Kennenlernen neuer Perspektiven geschaffen. In times in which different opinions are less negotiable than ever, places that can help us understanding other people's viewpoints reach more and more significance in our society. Journalism is one of those tools that has the ability to - just like architecture - give an understanding of different perspectives - it can create thresholds between people. This thesis creates places where one can meet and understand different perspectives at the Donaukanal and the Schwedenplatz in Vienna, one of the most hetergeneous areas in the whole city.
In einer Zeit, in der unterschiedliche Meinungen und Standpunkte immer weniger verhandelbar und argumentierbar scheinen, spielen Orte, die Menschen dabei helfen können ihr Gegenüber zu verstehen, eine immer wichtigere Bedeutung. Journalismus ist eines jener Werkzeuge, der - ähnlich wie Architektur - neue Perspektiven näherbringen und vermitteln kann - er kann Schwellen zwischen Menschen schaffen. In dieser Arbeit werden am Donaukanal und am Schwedenplatz in Wien, einem der heterogensten Bereiche der Stadt, Orte zum Kennenlernen neuer Perspektiven geschaffen.
In times in which different opinions are less negotiable than ever, places that can help us understanding other people's viewpoints reach more and more significance in our society. Journalism is one of those tools that has the ability to - just like architecture - give an understanding of different perspectives - it can create thresholds between people. This thesis creates places where one can meet and understand different perspectives at the Donaukanal and the Schwedenplatz in Vienna, one of the most hetergeneous areas in the whole city.
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THE PARLIAMENT
OF THRESHOLDS
SCHWELLENORTE ZUM KENNENLERNEN NEUER PERSPEKTIVEN
THOMAS KASSEROLER
THE PARLIAMENT
OF THRESHOLDS
SCHWELLENORTE ZUM KENNENLERNEN NEUER PERSPEKTIVEN
THOMAS ALFONS KASSEROLER, BSC
DIPLOMARBEIT
eingereicht an der
Leopold-Franzens-Universität Innsbruck
Fakultät für Architektur
zur Erlangung des akademischen Grades
Diplom-Ingenieur
Beurteiler: assoz. Prof. Dipl.-Ing. Dr. Eric Sidoroff
Institut für Gestaltung, Studio 2
Innsbruck, September 2023
„WIR DÜRFEN UNS NICHT DARAN GEWÖHNEN,
DASS SPRACHE WIEDER ZUM AUSGRENZEN
VERWENDET WIRD.
WIR DÜRFEN UNS NICHT DARAN GEWÖHNEN,
DASS WIEDER VON EINEM ‚WIR‘
UND ‚DEN ANDEREN‘ GESPROCHEN WIRD.“
- BUNDESPRÄSIDENT ALEXANDER VAN DER BELLEN
IN SEINER ERÖFFNUNGSREDE
DER BREGENZER FESTSPIELE 2023 -
INHALT
1
2
3
4
5
SCHWELLEN
ÜBER DAS VERBINDEN VON RÄUMEN ... 8
INFORMATION
IN ZEITEN DER KRISE ... 42
KENNENLERNEN
NEUER PERSPEKTIVEN ... 72
BAUPLATZ
AM DONAUKANAL ... 88
ENTWURF
URBANE SCHWELLENRÄUME ... 104
1
SCHWELLEN
ÜBER DAS VERBINDEN
VON RÄUMEN ...
Die Schwelle, was ist das eigentlich? Geläufige
Begriffsdefinitionen beziehen sich auf die Tür-
Schwelle, die untere Begrenzung des Türrahmens;
auf Eisenbahn-Schwellen, von denen Schienen
getragen werden; oder auf umgangssprachliche
Redewendungen, die einen Beginn oder einen
Übergang beschreiben, beispielsweise „an der
Schwelle des neuen Jahres“ (Digitales Wörterbuch
der deutschen Sprache o.J.). Das Cambridge
Dictionary definiert die Schwelle - im Englischen
threshold - mit etwas mehr Bezug auf Handlungen
und Ereignisse: „the level or point at which you start
to experience something, or at which something
starts to happen“ (Cambridge Dictionary o.J.).
Schwellen beginnen zu leben, wenn Dinge
aufeinandertreffen. Sie leben einerseits vom
Zusammenspiel aus Anfang und Ende, aus Öffnung
und Schließung - und andererseits vom Akt des
Übertretens. Hat man eine Schwelle überschritten,
befindet man sich in einem neuen Zustand: an
einem neuen Ort oder in einem neuen Jahr.
Doch das Nachher bedingt ein Vorher, ein neuer
Zustand kann nur auf einen alten Zustand folgen.
Deshalb bedarf eine Auseinandersetzung mit
Schwellen auch eine mit Grenzen. Der Philosoph
Walter Benjamin schrieb zum Verhältnis von
Schwellen und Grenzen folgendes: „Die Schwelle ist
ganz scharf von der Grenze zu scheiden. Schwelle
ist eine Zone. Wandel, Übergang, Fluten liegen im
Worte ‚schwellen‘ und diese Bedeutung hat die
Etymologie nicht zu übersehen“ (Boettger 2014:
45-46). Eine Grenze trennt, sie teilt in ein Davor
und ein Dahinter, ein Außerhalb und ein Innerhalb,
sie kann im territorialen Kontext als gedachte,
von Menschen definierte politische Linie gesehen
werden. In der Architektur kann sie als räumliche Aboder
Be-grenzung gesehen werden, beispielsweise in
Form von Wänden, Sockeln oder Zäunen.
SCHWELLEN
GRENZEN
Die Schwelle stellt die Perforation dieser Grenze
dar, sie unterbricht diese und wird durch das Nicht-
Vorhandensein der Grenze definiert. Die Schwelle
ist untrennbar mit der Grenze verbunden und doch
- oder gerade deshalb - stehen sich ihre Charaktere
und Eigenschaften konträr gegenüber: Während
die Grenze trennt, agiert die Schwelle verbindend.
„Der Mensch überschreitet täglich mehrere Grenzen;
er bewegt sich von einer Zone in eine angrenzende.
Der Mensch lebt im Übergang. Architektur lebt
vom Übergang. Schwellen unterbrechen räumliche
Grenzen für den Übergang aus einer Zone in eine
andere. Das Phänomen der Schwelle lebt von der
räumlichen Ambivalenz. Schwellen öffnen Räume
und organisieren Übergänge“, schreibt Till Boettger
(2014: 10). Die Existenz einer Schwelle bedingt also
die Existenz einer Grenze. Denn nur was einmal
getrennt war, kann verbunden werden ...
10 11
SCHWELLEN
Betrachtet man eine Grenze nicht als Linie, die
durch die Schwelle punktuell unterbrochen wird,
sondern verleiht man der Schwelle ein zeitlichräumliche
Tiefe, kann der Akt des Überganges
und des Durchschreitens genauer betrachtet
werden. Anhand dem Beispiel kultureller Rituale
beschrieb der Ethnologe Arnold van Gennep
Anfang des 20. Jahrhunderts erstmals diese
Übergänge und die Phasen, die dabei durchlebt
werden: er unterscheidet dabei die Trennungs-, die
Schwellen- und die Angliederungsphase (vgl. Turner
1998: 251). Während diesem Übergang erlebt die
passierende Person die Loslösung von einer Gruppe,
eine Phase uneindeutiger Zugehörigkeit, sowie die
Wiedereingliederung in dieselbe oder eine neue
Gruppe. In der Zeit dieses Prozesses zwischen zwei
Zuständen, weder im Vorher, noch im Nachher, los
gelöst, aber noch nicht angegliedert, kann also
von einem Schwellenzustand gesprochen werden,
Victor Turner nennt diesen „Liminalität“ (ebd.), vom
lateinischen Wort für Schwelle „limen“.
LIMINALITÄT
Beispiele für diese Übergangsphasen gibt es vor
allem, wie von van Gennep beschrieben, im rituellen
und religiösen Bereich fast aller Gesellschaften.
Sie sind in allen Lebensphasen zu finden, von
der Geburt, über das Erwachsenwerden und die
Hochzeit bis hin zum Tod mit den vielfältigsten
Bestattungsritualen. Begleitet werden diese von
ritualisierten Handlungen: die Trennungsphase
beispielsweise vom Abschneiden der Haare oder
dem Zerbrechen von Geschirr; die Schwellenphase
vom Tragen von Masken und dem tendenziell
passiven Beiwohnen der Zeremonie; sowie die
Angliederungsphase vom gemeinsamen Essen oder
Tanzen (vgl. Stohrer 2008). Als religiöse Beispiele
können hier die Verleihung der Sakramente (Taufe,
Erstkommunion und Firmung) im Christentum
oder die Bar Mitzwa im Judentum genannt werden.
Eines in diesem Zusammenhang oft erwähnte
und spektakuläre Turmspringen der Sa auf der zu
Vanuatu gehörenden Insel Pentecost im Pazifik
wurde zwar lange Zeit auch als ein Initiationsritual
interpretiert, dabei scheint es sich jedoch eher um
ein gesellschaftliches „Spiel“ zu handeln wie der
Ethnologe Thorolf Lipp erkannte (vgl. 2009: 305-
306). In der Literatur und im Film werden liminale
Lebensphasen häufig im sogenannten Coming-Of-
Age-Genre thematisiert. Für die architektonische
Betrachtung von Schwellen ist die Erkennung der
Liminalität auf verschiedenen Ebenen wichtig:
auf räumlicher Ebene als Schwellenraum, auf
psychischer Ebene als Schwellenzustand und
auf semantischer Ebene als Uneindeutigkeit und
Ambivalenz (vgl. Ruthner 2019: 33). Sie verleiht der
Schwelle ihre Tiefe und stellt das räumliche Potenzial
für menschliche Handlungen dar.
12 13
Übersetzt man das Konzept der Liminalität
in die Architektur, kann die Typologie des
Schwellenraumes erkannt werden. Schwellenräume
stehen dabei nie für sich alleine, sondern werden
immer in einer Raumabfolge wahrgenommen
und werden somit zum Teil einer räumlichen
Dramaturgie (vgl. Boettger 2014: 10). Sie haben
stets zwei oder mehrere Seiten, von denen das Einund
Austreten ermöglicht wird, dadurch verbinden
sie nutzbare Räume, schaffen jedoch gleichzeitig
Raum für weitere, verbindende Handlungen - sie
verbinden und trennen also zugleich. Dadurch
wohnt Schwellenräumen eine Bedeutung inne, die
ihnen einen spezifischen Charakter verleiht und
sie von Passagen, die lediglich dem Transit von A
nach B dienen, unterscheidet. Die Tiefe der Schwelle
wird erlebbar, die Erwartung auf das Kommende
geweckt und mit den Erfahrungen des bereits
Erlebten verknüpft. Es ist dabei auch die Bewegung
durch den Raum, die der Schwelle eine gewisse
Theatralik verleiht und räumliche Narrative schafft.
Während van Gennep und Turner Liminalität
anhand von Übergangsriten beschreiben, lässt sich
auch bei Schwellenräumen erkennen, dass sie eng
mit alltäglichen Ritualen in Verbindung stehen. Der
Genkan in traditionellen japanischen Wohnhäusern
bildet den Eingangsbereich in den man nach dem
Durchschreiten der Eingangstür tritt. Er befindet sich
etwas niedriger als das Bodenniveau
der Wohnräume. Begleitet wird das Eintreten von
ritualisierten, formalen Grußformeln sowohl seitens
des Gastes, als auch des Empfangenden und einigen
Anstandsregeln: Es wird erwartet, dass vor dem
Betreten des Genkan Mantel und Hut abgenommen
werden, befindet man sich im Inneren sollten
vor dem Betreten der Wohnräume die Schuhe
ausgezogen werden. (vgl. Asako 2002)
Auch in der traditionellen indischen Architektur kann
ein Schwellenraum gefunden werden: die Veranda
als vorgelagerter Eingangsbereich zu Wohnhäusern.
Sie liegt im Vergleich zum Genkan außerhalb der
Gebäudehülle und bildet dadurch eine stärkere
Verbindung zum öffentlichen Raum als sozialer
Treffpunkt. Tägliche Rituale finden auch hier statt,
in Form allmorgendlicher Gebete, an Feiertagen
wird die indische Veranda geschmückt und als Ort
der erweiterten Gastfreundschaft inszeniert. (vgl.
Gattupalli 2022)
SCHWELLEN
RÄUME
14 15
ANTIKE
Die Inszenierung von Übergängen ist bereits in
antiken Bauwerken zu erkennen. Auf der Akropolis
in Athen zeigt sich der Raum zwischen den einzelnen
Tempeln und Propyläen als wohldurchdachte
räumliche Sequenz, die das Ensemble inszeniert
und durch das Hinaufsteigen zusätzlichen
schwellenhaften Charakter bekommt. (Boettger
2014: 22-24) Zu Beginn erreicht man den kleinen
Nike-Tempel, zu dessen Seite ein in Serpentinen
geführter Weg hinauf zu den dreiflügeligen
Propyläen führt. Man durchschreitet eine enge, in
die Länge gezogene Säulenhalle, an dessen
Ende das Athena-Standbild in das Blickfeld der
Besuchenden fällt. Am Ende dieser Halle zeigt
sich das Plateau in seiner vollen Dimension, der
Parthenon erscheint nicht frontal, sondern leicht
versetzt, was ihn noch mächtiger erscheinen lässt.
(ebd.) Der Weg führt daraufhin rund um den
Parthenon herum, man durchschreitet den Festplatz
der von ihm und dem Erechtheion gebildet wird. Man
betritt den Tempel daraufhin von dessen Rückseite.
Diese Positionierung des Einganges führt dazu, dass
die Cella im Vorderteil des Tempels den Höhepunkt
der Sequenz bildet und der heilige Charakter
des Tempels betont wird. (ebd.) Eine ähnliche
Inszenierung kann auch beim Betreten
des Pantheons in Rom erkannt werden. Hier wird von
der Piazza della Rontonda aus über ein paar Treppen
die imposante Vorhalle mit ihren Säulenreihen
betreten, die einen Filter zur Stadt bilden, die
Porosität der Grenze betonen und die Eintretenden
in einen liminalen Zustand versetzen. (Boettger
2014: 25-26) Durch einen Übergangsraumkörper,
eine Türlaibung mit außergewöhnlich großer
Tiefe, wird der Raum komprimiert. Erst nach dem
Durchschreiten dieser Tür steht man im imposanten
Hauptraum. Diese räumliche Verdichtung sorgt
auch dafür, dass das menschliche Auge sich durch
die schrittweise Reduzierung des Tageslichtes auf
die Dunkelheit im Inneren vorbereiten und das
Oculus im Zentrum des Hauptraumes entsprechend
wahrnehmen kann. (ebd.)
SCHWELLEN
16 17
SCHWELLEN
Doch das Aufkommen neuer Baustoffe wie
Stahl und Glas verringerte die Relevanz von
Schwellenräumen dramatisch. Raumtrennenden
Elementen wurden durch die nun erreichbare
maximale Transparenz ihre dramaturgische
Komponente entzogen. Die Frage nach der
Verbindung zwischen Innen und Außen stellte sich
nicht mehr, stattdessen verschmolzen beide Bereiche
in ihrer Wahrnehmung. Die Schwelle nahm nur
mehr die Funktion einer Raumbegrenzung ein. (vgl.
Sensual City Studio 2018: 57-68)
Raumsequenzen wurden uninteressant, denn
das Kommende war ohnehin erkennbar.
Schwellen fungierten nur mehr als Elemente des
Ein- und Austretens. Zusätzlich dazu führte die
inflationäre Verwendung von künstlichem Licht
und künstlicher klimatischer Regulierung dazu,
dass aus Innenräumen hermetisch abgeschlossene
Einheiten wurden, deren Bezug zur Außenwelt
nur mehr rein visuell hergestellt wurde. Gebäude
mussten nicht mehr anhand äußerer Einflüsse wie
Sonnenlicht, Temperatur oder Wind ausgerichtet
werden. Stattdessen wurde durch diese technischen
Weiterentwicklungen der Gebäudehülle die
Transparenz zum erstrebenswerten Ziel ernannt, die
jedoch eine rein visuelle Verbindung zur Außenwelt
darstellte und zur Folge hatte, dass aus Gebäuden
durchsichtige, jedoch isolierte „Bubbles“ wurden.
(ebd.) Das Kollektiv Sensual City Studio nennt diese
Entwicklungen den „Tod“ der Schwelle (vgl. 2018: 57).
MODERNISMUS
Auch die erwähnte indische Veranda verschwindet
laut Ankitha Gattupalli immer weiter: Durch die
Urbanisierung habe sich die Kluft zwischen dem
öffentlichen und privaten Leben immer weiter
vergrößert, Innenräume hätten sich vergrößert,
der Außenraum nur mehr eine untergeordnete
Rolle gespielt. Große Balkone und Innenhöfe seien
errichtet worden um ein privateres Erlebnis des
Außenraumes zu ermöglichen - jedoch auf Kosten
der Veranda. (vgl. Gattupalli 2022)
Eine andere technische Entwicklung, die die
Schwelle ihrer räumlichen Atmosphären beraubte
sind die sogenannten „Schwellenraum-Apparaturen“
(Boettger 2012: 6). Damit können technische
Einbauten bezeichnet werden, die Zugangskontrollen
ermöglichen und einen zusätzlichen Filter in der
Grenze bilden - beispielsweise Gegensprechanlagen,
Bodyscanner oder biometrische Kontrollsysteme.
(ebd.)
18 19
All diese Entwicklungen passen zu einer Welt die
in den letzten Jahrzehnten immer anonymer und
unpersönlicher geworden ist. Die Globalisierung
und die damit einhergehende Vereinheitlichung
von Bauweisen führte dazu, dass Architekturen
auf der ganzen Welt immer ähnlicher erscheinen.
Traditionelle Bauweisen wurden beispielsweise
vielerorts durch das einfache und kostengünstige
Bauen in Sichtbeton abgelöst. Gleichzeitig verschob
sich die Selbstinszenierung in den digitalen Bereich,
Individualität wird in den sozialen Netzwerken
ausgedrückt während Wohnräume einheitlich im
„IKEA-Style“ möbliert sind. Einfamilienhausgärten
werden mit Thujenhecken umrahmt, die maximale
Privatheit garantieren, das Einfahrtstor mit den
erwähnten Gegensprechanlagen ausgestattet um
zwischenmenschliche Berührungspunkte auf ein
Minimum zu reduzieren. Es verschwindet dabei
nicht nur eine räumliche Typologie, sondern auch
jene Orte die soziale Interaktion und spontanen
Austausch ermöglichen sollten. Das Sensual City
Studio erkennt jedoch auch die „Wiedergeburt“ der
Schwelle: eine Gegenbewegung kleiner Maßnahmen
die versuchen diese anonymen und charakterlosen
Räume mit Leben und individuellen Elementen zu
füllen (vgl. 2018: 99-101). Man kann also erkennen,
dass sich Menschen von der Monotonie immer
gleicher Räume erdrückt fühlen. Mit den glatten,
perfekten Oberflächen industriell hergestellter
Baustoffe ist nämlich nicht nur die Atmosphäre,
sondern auch der Charakter, die Seele von
Räumen verloren gegangen. Es brauche also neue
Schwellenräume, die auf der Inszenierung von
Atmosphären beruhen. (ebd.)
SCHWELLEN
HEUTE
20 21
In seinem Manifest für das „Wiederentdecken der
verlorengegangenen Schwelle“ (2018: 152) plädiert
das Sensual City Studio für das Entwerfen neu
gedachter Schwellenräume. Deren Aufgabe solle
nicht mehr nur das Verbinden einzelner Räume
sein, sondern das Kreieren von Raumsequenzen
mit atmosphärischen Werkzeugen. Erlebbare
Übergänge, die die menschlichen Sinne und Gefühle
ansprechen, die mit der Wahrnehmung des Raumes
spielen und Grenzen in einer körperlosen Welt
vermenschlichen. Räume, die den menschlichen
Körper als Ganzes ansprechen, seine Benutzenden
dazu bringen mit ihnen zu interagieren und neue
Ebenen der Wahrnehmung bilden. (vgl. Sensual City
Studio 2018: 99-125)
SCHWELLEN
ATMOSPHÄREN
Es gibt viele Beispiele dafür, wie Atmosphären gezielt
eingesetzt werden um Übergänge zu schaffen, teils
aufgrund gegebener klimatischer Bedingungen,
teils als raumgestalterische Elemente. Temperatur
kann eine Schwelle bilden, in einer kalten Umgebung
dient die Feuerstelle (im Innen- wie im Außenraum)
als Ort des Aufwärmens, des gemeinsamen Essens,
als Versammlungsort. In einem heißen Klima
reduziert der Schwellenraum die Temperatur
so weit, bis der Aufenthalt in den Wohnräumen
auszuhalten ist. Luftfeuchtigkeit und die dadurch
einsetzende Nebelbildung kann dazu eingesetzt
werden Menschen in liminale Zustände zu versetzen
in denen die Außenwelt nicht mehr greifbar scheint.
Gezielte Lichtführung in Innenräumen kann
Aus- und Eingänge markieren und die weitere
Wegführung vorgeben. Werden Räume komplett in
Farben getaucht entstehen surreale Raumerlebnisse,
die Gefühle auslösen und in Erinnerung bleiben.
Gerüche wiederum können Erinnerungen
wecken und damit verknüpfte Emotionen erneut
hervorrufen. Schallwellen können einen ungreifbaren
Schwellenraum zwischen deren Quelle und den
Menschen schaffen die sie hören und dadurch als
Attraktor fungieren.
22 23
SCHALL
Piece of Sound, Toru Wada, Yokohama
FARBE
LightRails, Bill Fitzgibbons,
Birmingham (Alabama)
GERUCH
Pizzeria, Neapel
LUFTFEUCHTIGKEIT
OSNI.1 - Le Nuage Parfumé, Transsolar, Palais de Tokyo, Paris
TEMPERATUR
vernakuläres Iglu, Artkis
LICHT
NJ-2, Richard Serra, London
24 25
„THRESHOLDS SIGNAL TO EACH
AND EVERY ONE OF US
THAT WE ARE ABOUT
TO EXPERIENCE SOMETHING“
- SENSUAL CITY STUDIO -
SCHWELLEN
STADT
Das Potenzial von Schwellen wurde also schon
recht früh in der Architekturgeschichte erkannt und
gezielt genutzt um Raumsequenzen zu schaffen.
Doch auch im städtebaulichen Maßstab sind
sie zu finden und ihre Rolle ist vielleicht sogar
etwas unterschätzt. Als Schwellen zu Städten
können etwa Häfen gesehen werden: Liverpool
beispielsweise hat seinen Aufstieg im 19. Jahrhundert
zur zwischenzeitlich zweitbedeutsamsten Stadt
Großbritanniens - nach London - seinem Hafen
zu verdanken. Schiffsfahrer verschiedenster
ethnischer Gruppen aus Asien, Afrika oder Indien
strandeten hier und trafen auf die britisch-irische
Arbeiterklasse sowie jüdischstämmige Migranten.
(vgl. Bianchini und Bloomfield 2012: 3-4) Die Stadt
wurde zu einem Schmelztiegel verschiedenster
Kulturen, dessen kosmopolitisches Flair besonders
in den ethnisch durchmischten Stadtvierteln
erkennbar war. Unzählige interkulturelle Heiraten
fanden statt, Homosexuellen-Bars, Kaffeehäuser
und Restaurants wurden eröffnet. Durch den
Einfluss zahlreicher internationaler Stilrichtungen
die von Seefahrern aus aller Welt in die Stadt
gebracht wurden, entstand die weltberühmte
Liverpooler Musikszene (ebd.). In den liminalen
Bereichen der Stadt am Rande des Hafens bildeten
sich eine Reihe informeller Stadträume in denen
die diversen Kulturen aufeinandertrafen: in den
sogenannten Liverpooler „Rope Walks“ bildete sich
eine Unterhaltungsszene für diverse Subkulturen,
es entstanden aber auch - wie in anderen
Hafenstädten auch - Rotlichtviertel, in denen durch
sexuelle Ausbeutung die unklare Situation einiger
Immigrant:innen ausgenutzt wurde. (ebd.: 10-11)
ZUR
Die Entwicklung Liverpools steht beispielhaft für
viele Hafenstädte in Europa und sie zeigt, dass die
Idee der Schwelle auch in einem städtebaulichen
Maßstab gefunden werden kann. Der Hafen ist
hier Eintrittsort in die Stadt und gleichzeitig jene
Institution, durch die diese ihre Multikulturalität
erlangt. Personen aus aller Welt erhalten dadurch
Zugang zu dieser Stadt, verbleiben jedoch nicht
selten in einem liminalen Zustand - im Warten auf
eine Arbeitsgenehmigung, auf ihre Weiterfahrt oder
auf sozialen Anschluss an die Gesellschaft. Es bilden
sich urbane Schwellenräume als Berührungspunkte
mit den Ortsansässigen. Diese sind zwar meist nur
von kurzer Dauer, da sich nur kleine Bereiche des
unterschiedlichen Alltages überschneiden, dennoch
prägen sie den Charakter einer als heterogen
wahrgenommenen Stadt.
28 29
SCHWELLEN
STADT
IN DER
Der öffentliche Raum einer Stadt als Gesamtes
betrachtet lässt eine durchgehende Raumsequenz
erkennen, eine zusammenhängende Abfolge
unterschiedlichster Stadträume. Diese wird gebildet
aus Straßen, Plätzen, Gassen oder Passagen. In ihrem
viel zitierten Essay über Neapel beschrieben Walter
Benjamin und Asja Lacis die städtische Struktur
der süditalienischen Stadt als porös: „As porous as
this stone is the architecture. Building and action
interpenetrate in the courtyards, arcades, and
stairways. In everything they preserve the scope to
become a theater of new, unforeseen constellations“
(Benjamin und Lacis 1925: 165-166). In den kleinen
Schwellenräumen der Stadt sehen sie Orte für die
spontanen Situationen des urbanen Lebens. Diese
philosophische Beschreibung ist eng verbunden mit
der Ambivalenz der Schwelle und ihrem Bezug zur
Grenze, erwirkt die Pore doch gleichfalls die Öffnung
eines massiven Körpers. Das Zusammenspiel
privater und öffentlicher, weiter und enger, großer
und kleiner urbaner Räume bildet die Möglichkeit für
Momente des Entschleunigens und des Dazwischen-
Seins mit einzigartiger räumlicher Qualität (vgl.
Wolfrum 2018: 62-63). Dabei spielen auch die
Dichte der Poren, sowie deren Größe in Bezug zum
Menschen als Maßstab eine wichtige Rolle. Ein
Vergleich der Luftbilder von Venedig und Brasilia
genügt um zu erkennen, welcher dieser beiden
Stadträume mehr Aufenthaltsqualität und Potenzial
für spontane zwischenmenschliche Begegnungen
bietet. Schwellen können also das Gerüst bilden,
das eine Stadt lebenswert macht, oder um Sophie
Wolfrum zu zitieren: „The architecture of the city
could, in fact, be conceived as the art of thresholds.“
(ebd.)
30 31
GETEILTE
Doch die Städte des 21. Jahrhunderts sind in ihrer
sozialen Struktur häufig fragmentiert und geteilt.
Es herrschen Unterschiede in Kultur, Herkunft,
Religion oder Einkommen, die oft zitierte „Schere
zwischen Arm und Reich“ geht in vielen Städten,
besonders in Metropolen, weit auseinander. Wie
der griechische Architekt und Aktivist Stavros
Stavrides erkennt, werden diese Unterschiede im
öffentlichen Raum nicht nur sichtbar, sondern auch
von ihm mitproduziert (vgl. 2014). Eingeschränkte
Zugänge, Limitierung der Bewegungsfreiheit oder
bewusstes Verdrängen von Personen seien es,
die diese unsichtbaren Grenzen spürbar werden
lassen und eine sogenannte „City of Enclaves“
konstituieren (ebd.). Der öffentliche Raum
verliert dabei seine Öffentlichkeit, er ist voll von
privatisierten „quasi-öffentlichen“ Plätzen, die einer
Art sozialer Kontrolle unterliegen und aus denen
Personengruppen jederzeit ausgeschlossen werden
können. Einkaufszentren, Vergnügungsparks oder
Gated Communities - exklusive und geschlossene
Wohnanlagen - wären Beispiele für solche Orte.
(vgl. Stavrides 2019: 22-23) Auch das von Ebenezer
Howard und Robert Owen vorgeschlagene Konzept
der Garden City sei ein zutiefst trennendes
stadtplanerisches Modell, das den Glauben daran
vertritt, eine „ewige soziale Ordnung zu garantieren“
(Stavrides 2014). Diese planerischen Prinzipien, die
zur sogenannten „City of Enclaves“ führten, bildeten
keineswegs eine durchmischte, lebendige und
lebenswerte Stadt. Sie sorgten für eine Abschottung
und Ausgrenzung einzelner gesellschaftlicher
Gruppen. Um eine nachhaltige, inklusive Stadt
STÄDTE
schaffen zu können, sollten diese sichtbaren und
unsichtbaren Grenzen also aufgebrochen und durch
Orte ersetzt werden, die Stavrides „Urban Thresholds“
nennt. Er beschreibt diese in folgender Weise:
„Urban thresholds are not urban parentheses. Urban
thresholds are neither buffer zones, nor a no-man‘s
land located between separated urban areas. Urban
thresholds are more like bridges to otherness.“ (ebd.)
Was er damit beschreibt, sind Orte die Schwellen
zu anderen Kulturen, anderen Ethnien, anderen
Alltägen schaffen. Berührungspunkte zu anderen
Lebensweisen, die es gleichzeitig allen Individuen
ermöglichen, ihr urbanes Leben so zu gestalten, wie
sie es möchten, ohne dabei von öffentlichen Räumen
ausgeschlossen zu werden. Aus der fragmentierten
„City of Enclaves“ könnte für Stavrides die offene
„City of Thresholds“ werden (vgl. Stavrides 2014: 49).
32 33
DER SCHWELLE
„Otherness“, wie Stavrides es nennt, das Andere, ist
ein äußerst subjektiver und beziehungsorientierter
Begriff. Sehr stark hängt seine konkrete Aussage
davon ab, von wem und in welchem Kontext er
erwähnt wird. (vgl. Stavrides 2016: 70) Mit diesem
„Anderen“ in Kontakt zu kommen, bedarf nicht nur
einer räumlichen, sondern auch einer zeitlichen
Komponente im Schwellenraum. Anders als in einem
reinen Durchgangsraum, der dem Transit von A nach
B dient, bietet die urbane Schwelle die Möglichkeit
zum Verweilen, soziale Begegnungen beschränken
sich hier nicht auf das Aneinander-Vorbeigehen,
sondern ermöglichen auch das Nebeneinander-
Sitzen und das Zusammen-Sein; keine kurzen
Augenblicke sondern zeitlich ausgedehnte Zustände.
An diesen Orten, an denen sich die Idee einer „City
of Thresholds“ verwirklicht, kann von den durch
Foucault beschriebenen Heterotopien gesprochen
werden: reale Orte, die jedoch von dem was von
der Gesellschaft als „normal“ angesehen werden
abweichen. (ebd.: 72) Da sich in Heterotopien
das persönliche Verhältnis zur Welt „außerhalb“
verändert, lassen sich dort liminale Zustände
erkennen - man ist sowohl hier, als auch dort. Nur
mit einer räumlich-zeitlichen Tiefe in der Schwelle ist
diese Wahrnehmung möglich. Der Schwellenraum
bekommt durch die einzelnen Akteure und deren
Bespielung des Raumes dadurch auch eine Tiefe
in Hinsicht auf seine gesellschaftliche Bedeutung.
Urbane Schwellenräume sind als urbanes Angebot
zu verstehen, menschliche Interaktion und
Kommunikation zu fördern. Sie haben dabei das
Potenzial Orte des Alltages zu werden, in denen
das kreative Zusammenleben sichtbar wird. (vgl.
Stavrides 2014)
DIE TIEFE
34 35
Der urbane Schwellenraum verkörpert also viel
mehr als nur den Übergang, das Ein- und Austreten
und die Bewegung durch den Stadtraum. Die
Handlungen die in ihm stattfinden, seine Benützung
und Aneignung verleihen ihm seine gesellschaftliche
Relevanz in der modernen Stadt. So unterschiedlich
unsere Städte weltweit sind, so unterschiedlich sind
auch die Schwellenräume die in ihnen vorgefunden
werden können. Die auf der vorhergehenden
Seite abgebildete Installation „Space Buster“ von
raumlaborberlin in New York schafft auf einem
Hinterhof-Parkplatz einen ephemeren Raum,
dessen Charakter von seiner Vergänglichkeit
geprägt ist. Das Museumsquartier in Wien ist in
mehrerer Hinsicht ein Schwellenraum in der Stadt:
einerseits verbindet es das Regierungsviertel,
den ersten Bezirk, mit den umliegenden teils
bürgerlich geprägten Vierteln, andererseits wird es
durch seine kulturelle Bespielung eine Schwelle zu
Bildung und Wissenschaft, aber auch durch seine
teilweise Befreiung von Konsumzwang zu einem
niederschwelligen öffentlichen Raum. Auf der Ebene
der Erschließung wird es auch zum Eingangsbereich
zu den diversen Einrichtungen.
DIE URBANE
SCHWELLE
Als Eingangsbereich für ein öffentliches Gebäude
fungiert auch der Platz unter dem Museu d‘Arte de
Sao Paulo von Lina Bo Bardi. Seine Funktion im
urbanen Raum jedoch geht weit über das Betreten
des Museums hinaus: es eignet sich als kollektiver
Schutz vor spontanen tropischen Regenfällen, wird
aber auch für Kunstperformances, Märkte oder
Konzerte genutzt, wofür sich die Architektin vor
allem zeitlebens persönlich eingesetzt hatte. (vgl. von
Fischer 2014: 103-116) Eine andere Form der urbanen
Schwelle ist in Medellín zu finden, diese hat die
Transformation eines ganzen Viertels zur Folge. Die
in der Comuna 13 gegründete Kulturorganisation
Son Batá bietet Kindern und Jugendlichen Musik
und Tanz als Alternative zu Waffen und Gewalt an,
internationale Künstler treten bei den regelmäßigen
Konzerten im Viertel auf. Ein Rolltreppensystem
verbindet seit einigen Jahren die höher gelegene
Comuna 13 mit den angrenzenden Vierteln der
Stadt und schafft auf diese Art direkte räumliche
Bezüge. (vgl. Henkel 2022) In Shajing, einem
historischen Viertel der chinesischen Stadt Shenzhen
versuchte das Büro ARCity Office mit kleinen
architektonischen Eingriffen den Charakter des
Viertels wiederzubeleben. Das Ufer entlang des
Longjin Rivers wurde bepflanzt und mit kleinen
urbanen Aufenthaltsräumen versehen, die diesen
bislang ungenutzten öffentlichen Raum mit Leben
erwecken sollten. (vgl. ARCity Office)
Urbane Schwellenräume sind also keineswegs leicht
zu kategorisieren, Zustände des Übergangs und des
Dazwischenseins können auf verschiedenen Ebenen
beobachtet werden. Was urbane Schwellenräume
verbindet, ist jedoch ihr Potenzial uns mit Menschen
zusammen zu bringen, die wir ohne sie eher nicht
treffen würden ...
36 37
WIEDERBELEBUNG
HISTORISCHER STRUKTUREN
Shajing, ARCity Office
ERSCHLIEßUNG MIT
URBANEM MEHRWERT
Museu d‘Arte, Lina Bo Bardi, Sao Paulo
TRADITIONELLE TYPOLOGIE
Lilong, ,Shanghai
KULTURELLES ZENTRUM
Museumsquartier, Wien
AKTIVIERUNG
UNGENUTZER FLÄCHEN
One Green Mile, MVRDV, Mumbai
URBANE TRANSFORMATION
Rolltreppen, Medellín, Kolumbien
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„THE ARCHITECTURE OF THE CITY
COULD, IN FACT, BE CONCEIVED AS
THE ART OF THRESHOLDS.“
- SOPHIE WOLFRUM -
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INFORMATION
IN ZEITEN DER KRISE ...
ZEITEN
In der Geschichte der Menschheit gab es schon
Phasen, die weniger turbulent waren. Die letzten
Jahre waren geprägt von unterschiedlichsten
Krisen, die unseren gesellschaftlichen
Zusammenhalt in den westlichen Ländern auf
eine harte Probe gestellt haben. Mit der großen
Anzahl an Geflüchteten aus dem Nahen Osten
die im Jahr 2015 in Europa ankamen, erlangten
rechtspopulistische Politiker:innen Aufwind und
traten damit in vielen Ländern des Kontinents
eine Welle des Nationalismus los. Auch in den
Vereinigten Staaten von Amerika wurde mit
Donald Trump ein rechtskonservativer Politiker
zum Präsidenten gewählt, der den Rechtsstaat
und die Informationsfreiheit untergraben hatte
- doch darauf wird in dieser Arbeit noch später
eingegangen. In den darauffolgenden Jahren
rückten - nicht zuletzt aufgrund der Fridays for
Future-Bewegung - die Folgen des Klimawandels
immer stärker in das Bewusstsein der Menschen.
Extremwetterereignisse, die Gletscherschmelze
oder Dürreperioden zeigen uns heute auf, welchen
Einfluss unser Verhalten auf unsere Umwelt hat
und führen dazu, dass viele junge Menschen wenig
zuversichtlich in die Zukunft blicken. Spätestens
seit sich mit der Ukraine ein europäisches Land
im Krieg gegen Russland befindet und dabei die
globalen Kräfteverhältnisse auf eine harte Probe
gestellt werden, herrscht unter vielen Menschen
Besorgnis. Einerseits, weil unter den großen und
mächtigen Staaten der Welt eine Spaltung in
ein pro-russisches und ein pro-westliches Lager
stattfindet; andererseits, weil viele Folgen dieses
Krieges auch das Leben der Menschen in unseren
Ländern beeinflussen - Stichwort Inflation. Was das
für langfristige Folgen in unserer Gesellschaft haben
wird, ist heute noch nicht abzuschätzen.
DER KRISE
Die größte Krise, die in den vergangenen Jahren
über unsere Welt hereinbrach und die unsere
zeitliche Wahrnehmung in ein Zuvor und ein
Danach teilte ist jedoch die Covid-19-Pandemie. Die
weltweite Verbreitung dieses Virus zeigte uns unsere
Verletzlichkeiten in einer globalisierten Welt auf und
führte zu einer Vielzahl an gesellschaftspolitischen
Maßnahmen, die zuvor undenkbar gewesen
wären. Unser Mobilitätsverhalten änderte sich
radikal, nicht nur im kleinen Maßstab, als unsere
Wohnungen zu Arbeitsräumen wurden, sondern
auch auf weltweiter Ebene, als der Flugverkehr
komplett zum Erliegen kam. Diese Krise veränderte
auch unsere Wahrnehmung von Architektur und
Raum: der Balkon bespielsweise, der eine Schwelle
zwischen dem privaten und dem - in dieser Zeit
streng beschränkt zugänglichen - öffentlichen
Raum darstellte, erlangte plötzlich immanente
Bedeutung in unserem Wohn- und Arbeitsalltag.
Er wurde zu einem architektonischen Element, das
soziale Grenzen definierte: er machte „räumlichen
Wohlstand“ sichtbar und teilte uns in zwei Gruppen,
jene mit und jene ohne eigenen Balkon.
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Mit dem Beginn der Pandemie wurde uns die
Existenz von Grenzen schlagartig vor Augen
geführt, machte es doch in den Jahrzehnten zuvor
den Anschein, als würden sie der Vergangenheit
angehören. Im Zuge der Globalisierung nahm ihre
Relevanz durch die weltweite wirtschaftliche wie
digitale Vernetzung, der Einführung des
Schengen-Raumes und das problemlos möglich
gewordene Reisen zwischen Ländern und
Kontinenten immer weiter ab. Unternehmen
verlagerten Produktions- und Entwicklungsstandorte
quer über Ozeane hinweg ans andere Ende der Welt
und schickten ihre Mitarbeitenden regelmäßig in
Business Class-Flügen rund um den Globus. Diese
Entgrenzung der Welt war jedoch bereits damals
weniger als Massenphänomen, sondern als Privileg
einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe zu
betrachten. Der Großteil der Weltbevölkerung
sieht sich immer noch mit Grenzen konfrontiert,
die ihre Mobilität einschränken, an denen sie
Kontrolle und Zurückweisung erfahren, weshalb
sie der Soziologe Steffen Mau auch „machtvolle
Sortiermaschinen der globalisierten Welt“ (2021: 15)
nennt. Die in Europa hitzig geführte Debatte über
die Verteilung von Geflüchteten zeigt, dass die nach
innen gerichtete, scheinbare Grenzenlosigkeit auf
Kosten anderer Personengruppen basiert, denen es
nur mit vielen Barrieren ermöglicht wird, Teil dieses
gemeinsamen Europas zu werden. Grenzen stellen
dabei ein Element dar, das Ungleichheit schafft und
Hierarchien verfestigt. (vgl. ebd.: 163)
Als im Frühjahr 2020 Grenzen und Mobilitätsrouten
weltweit geschlossen wurden, als Menschen mit
positiven Covid-Testergebnissen oder nach erhöhten
Fiebermessungen in Quarantäne gebracht wurden,
wurde uns gezeigt, dass Grenzen nie verschwunden
UNSERER WELTwaren.
Wir erlebten nicht die Wiederkehr von
Grenzen, stattdessen wurde die verdrängte Kehrseite
der Globalisierung sichtbar. (vgl. ebd.: 164-165)
Denn entlang vieler tausender Kilometer waren
Grenzen seit jeher räumlich wie baulich präsent.
Sogenannte „fortifizierte“ Grenzen sind entlang
ihres Verlaufs durch Mauern, Stacheldrahtzäunen
und Videoüberwachung gesichert und hindern
Menschen am Überqueren dieser. Dass auch in
einem derartigen Umfeld zwischenmenschliche
Schwellenräume entstehen können, zeigt das Beispiel
des indisch-pakistanischen Grenzüberganges
Attari-Wagah: dort wird jeden Abend zur täglichen
Grenzschließung eine gemeinsame Zeremonie
von Soldaten beider Länder abgehalten. Das
grenzbildende Bauwerk wurde dabei auf beiden
Seiten zu Tribünen ausgebaut, auf denen Menschen
das zu einer Touristenattraktion gewordene
Schauspiel beobachten können. Die Parade schließt
mit einer „Schwellengeste“, einem demonstrativen
Handschlag der Soldaten beider Länder. (vgl. ebd.:
51-52)
GRENZEN IN
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Nach einigen Jahrzehnten der Globalisierung kann
eine Tendenz zur Abkehr von dieser weltweiten
Entgrenzung beobachtet werden. In vielen Ländern
erringen politische Parteien mit nationalistischen
Wahlversprechen Siege: 2016 die Brexiteers mit
dem Ausstieg Großbritanniens aus der EU, im
gleichen Jahr gewann Donald Trump mit seinem
berühmten Slogan „Make America Great Again“ die
US-Präsidentschaftswahl. Der Autor David Brooks
sieht dabei auch die Folgen der jahrzehntelangen
„Entgrenzung“ der Welt: viele Menschen hätten
sich in dieser Zeit zurückgelassen gefühlt und ihre
nationalen Interessen als bedroht angesehen.
(vgl. 2022) Er kritisiert dabei auch das „arrogante“
Auftreten des globalen Westens auf der Weltbühne
und sieht nicht nur die Globalisierung am Ende,
sondern auch einen sich ankündigenden
„Global Culture War“ (ebd.)
RADIKALISIERUNG
DER RÄNDER
Nicht nur in diesem zitierten Artikel, sondern auch
in unzähligen anderen wird die gesellschaftliche
Situation zugespitzt dargestellt: von einem
Österreich als das „gespaltene Land“ (Rauscher
2021) ist etwa zu lesen. Menschen werden dabei
häufig kategorisiert betrachtet und in klar
abtrennbare Gruppen aufgeteilt: in Impfgegner oder
Impfbefürworter, in Optimisten oder Pessimisten,
in Naturschützer oder Klimawandel-Leugner, in
„Verteidiger“ oder „Entdecker“ (vgl. ebd.) Doch ist
diese Aufteilung in zwei sich gegenüberstehende,
polarisierte Lager soziologisch betrachtet zulässig?
Steffen Mau sieht keine solche Aufspaltung und
auch keine großen Gräben: „Die meisten Leute
befinden sich bei den wichtigen politischen Fragen
irgendwo in der Mitte. Das heißt: Es geht kein Riss
durch Gesellschaft [sic!], aber wir haben stattdessen
eine Radikalisierung der Ränder.“ (2023)
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DIE ROLLE DES
Diese gesellschaftlichen Entwicklungen, ob man
sie nun Spaltungen oder Radikalisierungen nennen
möchte, lassen sich in zwei Räumen ablesen: dem
digitalen und dem öffentlichen Raum. Letzterer
definiert sich durch seine Eigentumsverhältnisse, er
gehört rechtlich gesehen keinem Unternehmen und
keiner Privatperson, sondern dem Staat und somit
uns allen. Die Menschen definieren selbst wie er
genutzt wird, er sollte ihnen jederzeit zur Verfügung
stehen, denn seine Erhaltung wird durch Steuergeld
finanziert. Der öffentliche Raum ist somit ein Ort
der Demokratie, der freien Bewegung und der freien
Meinungsäußerung. (vgl. Harrouk 2020) Häufig wird
er deshalb zu jenem Ort, an dem sich Menschen
versammeln und protestieren, ihr Recht auf freie
Meinungsäußerung ausüben und ihn besetzen: nicht
nur inhaltlich, sondern auch räumlich. Das Erreichen
dieses Punktes in einem Diskurs zeugt schließlich
vom Überschreiten einer gewissen Schwelle, belegt
ÖFFENTLICHEN
RAUMES
die gesellschaftliche Relevanz eines Themas und
signalisiert: es ist ernst! Versammeln sich erst
Menschen im öffentlichen Raum, vor allem
regelmäßig und über längere Zeit, ist auch
mit Konsequenzen zu rechnen, politisch wie
gesellschaftlich. Beispiele für solche Proteste gibt
es unzählige, in der jüngeren Geschichte wären
der sogenannte „Euromaidan“ in Kyiv in den
Jahren 2013 und 2014, die weltweite Black Lives
Matter-Bewegung oder die Proteste gegen Corona-
Maßnahmen und die Impfpflicht zu nennen. In
Hongkong besetzten 2019 und 2020 Millionen
von Menschen Straßen und Plätze um gegen die
Eingliederung in das chinesische Staatssystem
zu protestieren; zur selben Zeit versammelten
sich Menschen im Libanon um ihren Unmut über
Korruption und die Regierung auszudrücken. Stavros
Stavrides widmet sich vor allem dauerhaften
Platzbesetzungen und bezeichnet diese als
„Common Space“ (2016: 165). Der Syntagma-Platz
in Athen wurde 2011 monatelang besetzt, es bildete
sich in ihm während dieser Zeit ein Netzwerk aus
Mikro-Räumen und -Funktionen. Kinderspielplätze,
Leseecken, Übersetzungsstände oder ein Erste
Hilfe-Zentrum entstanden und entwickelten eine
spezifische Ästhetik und innere Organisation.
(vgl. ebd.: 166) Es entstand ein Ort, der von der
Partizipation der Öffentlichkeit lebte und an
dem sich unterschiedlichste Menschen vor dem
Hintergrund eines gemeinsamen Zieles friedlich
versammelten. Stavrides sieht in diesen „Common
Spaces“ Schwellenräume, die spontan erscheinen
und eine in sich poröse Organisation ohne klare
Begrenzungen aufweisen: eine Miniatur der zuvor
bereis erwähnten „City of Thresholds“. (vgl. ebd.: 166-
168)
50 51
Die Pandemie brachte unsere Beziehung zu
privaten und öffentlichen Räumen durcheinander.
Bereits 1977 diagnostizierte der Soziologe
Richard Sennett einen „Verfall des öffentlichen
Lebens“ der durch das Sich-Zurückziehen ins
Private hervorgerufen wurde. Diese Entwicklung
wurde durch Lockdowns und Homeoffice nun
gleichermaßen verstärkt wie beschleunigt. Es
wurde schwierig, Schwellenmomente zu fremden
Menschen zu finden, Theresa Schouwink schreibt
dazu: „Die Pandemie befördert zudem auch eine
Sichtweise auf den (fremden) Anderen, die diesen
noch weniger als öffentliche Person wahrnimmt.
Im schlimmsten Fall erscheint der Fremde
nicht einmal mehr als Privatperson, sondern als
potentiell infektiöser Körper.“ (2021) Doch auch
wenn sich Teile unseres Lebens in den letzten
Jahrzehnten - und in drastischer Weise während
der Pandemie - in den privaten Raum verlagert
haben, schmälert das nichts an der Relevanz des
öffentlichen Raumes für unsere Gesellschaft. Gerald
Heidegger sieht ihn in diesem Zusammenhang als
„Gradmesser für gesellschaftlichen Zustand“ und
äußert die Erwartung „dass sich in ihm kollektive
Willensbildung ermessen lassen könne“ (2022).
Öffentliche Räume waren bereits in der Antike Orte
des Diskurses und des Austausches: die Agora in
Athen und das Forum in Rom waren die Herzstücke
des damaligen öffentlichen Lebens. Auf weiten
Plätzen, leicht zugänglich an den Hauptstraßen
gelegen, standen sie Bürgern wie Sklaven offen, auf
ihnen wurden Diskussionen ausgetragen, die oft für
politische Konsequenzen sorgten. (vgl. von Kienlin
und Gisbertz 2015: 73)
ÖFFENTLICHE RÄUME
DES DISKURSES
Die Agora war umgeben von wichtigen
öffentlichen Gebäuden und sogenannten
Stoen, Säulenhallen, die nicht nur einen
monumentalen räumlichen Abschluss, sondern
den Menschen auch Witterungsschutz boten. Ein
zeitgenössisches Beispiel für einen öffentlichen Ort
der Meinungsfreiheit ist der Speaker‘s Corner im
Londoner Hyde Park. Seit 1872 dürfen dort jeden
Sonntag Menschen über jedes beliebige Thema
zur Öffentlichkeit reden - ausgenommen über die
britische Königsfamilie. Seither redeten dort bereits
bekannte Persönlichkeiten wie Karl Marx oder
George Orwell, viele der Vorträge verfolgen aber
auch skurrile Anliegen und werden nur von einem
kleinen Publikum verfolgt. (vgl. ZEIT Online 2015)
In den letzten Jahren wurde der Speaker‘s Corner
zu einem Sprachrohr für Verschwörungstheoretiker
und Rechtsextremisten, die dabei professionell
vorbereitet mit Kamerateams ihre öffentlichen
Ansprachen aufnahmen und im Internet
publizierten. (vgl. Simon 2019)
Zu erwähnen sind an dieser Stelle auch
Kaffeehäuser, die sich bereits Mitte des 17.
Jahrhunderts in Europa gebildet hatten. Anfangs
noch relativ elitär und luxuriös in ihrem Angebot,
entwickelten sie sich vor allem in Wien in der
Blütezeit der Ringstraße zu einem Treffpunkt für
Familien, der nicht nur dem Bürgertum sondern
auch der Mittelschicht offen stand. Hier konnte sich
vergnügt und gespielt, stundenlang Zeitung gelesen
und mit anderen Gästen debattiert werden. (vgl.
Sandgruber 2002) Diese demokratischen Räume
sind zwar immer noch ein wichtiger Teil der Wiener
Kultur - sowie ein beliebtes Ziel von Touristen -, in
der heutigen schnelllebigen Zeit ist ihre Relevanz
jedoch etwas gesunken.
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AGORA
Antikes Griechenland
SPEAKER‘S CORNER
Hyde Park, London
FORUM ROMANUM
Antikes Rom
CAFÉ GRIENSTEIDL
Zeichnung von Reinhold Völkel, 1896, Wien
CAFÉ SPERL
Wien
54 55
„URBAN THRESHOLDS ARE NEITHER
BUFFER ZONES, NOR A NO-MAN’S LAND
LOCATED BETWEEN SEPARATED URBAN AREAS,
URBAN THRESHOLDS ARE MORE
LIKE BRIDGES TO OTHERNESS.“
- STAVROS STAVRIDES -
DIE VIERTE
Eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen
Krisen, Spaltungen und Radikalisierungen führt
unweigerlich zu einer Institution, die an diesen
Entwicklungen nicht nur beteiligt ist, sondern
auch teilweise dafür verantwortlich gemacht
werden kann: den Massenmedien. Im System der
Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und
Judikative sollen sie als sogenannte „Vierte Gewalt“
die Gesellschaft vor Machtmissbrauch schützen.
Darüber hinaus erfüllen sie eine Informations-, eine
Kontroll-, sowie eine Meinungsbildungsfunktion.
(vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2016) Sie
vermitteln komplexe gesellschaftliche, kulturelle
oder politische Inhalte in verständlicher Sprache
und unterstützen die Bevölkerung dabei sich eine
Meinung zu diesen Themen bilden zu können. Ebenso
überwachen sie die Arbeit politischer Akteure,
indem sie das Politikgeschehen durchleuchten
und hinterfragen. (vgl. ebd.) Dabei sollten sie
grundsätzlich eine objektive Sichtweise einnehmen
und möglichst wahrheitsgemäß berichten.
Massenmedien stehen in enger Beziehung zur
sogenannten „Öffentlichkeit“ und dem öffentlichen
Raum: frühe Formen von Demokratien beschränkten
sich in ihrer räumlichen Ausdehnung auf eine
Größe, die spontane Begegnungen und spontanen
Austausch zuließen, was etwa auf Marktplätzen oder
der bereits erwähnten Agora geschah. (vgl. Precht
und Welzer 2022: 43-44)
GEWALT
Durch das Aufkommen von Zeitungen wurde die
Informationsverbreitung in einem erweiterten
Gebiet ermöglicht und somit auch die Bildung von
Demokratien mit einer größeren flächenmäßigen
Ausdehnung, was in weiterer Folge zur Entstehung
einer „bürgerlichen Öffentlichkeit“ (ebd.) führte.
Das Bürgertum erlangte die Macht über Zeitungen
und somit auch über die Meinung der Massen,
was dieses immer mehr für sich zu nutzen wusste.
Schon allein aus wirtschaftlichen Gründen
mussten Zeitungen mit Inhalten gefüllt werden,
was regelmäßig ein Mindestmaß an Information
erforderlich machte. (vgl. ebd.: 45-46) „Warum
passiert jeden Tag genau so viel, wie in einer
Zeitung Platz hat?“, lautet eine in der Medienbildung
oft zitierte und an diesen Umstand angelehnte
Fragestellung. Im 19. Jahrhundert entstand in
England die Idee der Medien als „Fourth Estate“,
als Vierter Stand, der die nicht im Parlament
vertretenen Bürger:innen über die politischen
Debatten informierte und sie an diesen teilnehmen
ließ - eine frühe Form der zuvor erwähnten Idee der
Medien als „Vierte Gewalt“. (vgl. ebd.: 46-48) Die
gestiegene Macht der Zeitungen führte aber auch
zur Entstehung der sogenannten Boulevardmedien,
deren Geschichte im Straßenverkauf begründet
liegt. Sie verfolgen dabei primär das Motiv
Aufmerksamkeit zu erlangen und Verkaufszahlen
zu steigern. Inhaltlich sind Themen dabei oft stark
verkürzt und wenig differenziert dargestellt, teilweise
auch schlichtweg erfunden. Mächtige Medienbesitzer
wie William Maxwell Aitken, Rupert Murdoch oder
Silvio Berlusconi nutzten ihre Macht auch um eine
klare politische Linie zu verfolgen und ihre Positionen
im kollektiven gesellschaftlichen Meinungsbild zu
verankern (vgl. ebd.) - die „Vierte Gewalt“ wurde vom
Kontrollorgan zum Instrument der Politik.
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Es liegt auf der Hand, dass Medien von einer
angespannten gesellschaftlichen Situation durchaus
auch profitieren können. Schließlich erweisen
sich polarisierende Persönlichkeiten wie Donald
Trump oder Ausnahmeereignisse wie die Covid-
Pandemie als Generatoren für Einschaltquoten und
Zugriffszahlen. Letztere wurde gar als „Hochzeit
für seriösen Journalismus“ (Austria Presse Agentur
2021) bezeichnet, denn es gab in der Bevölkerung
ein starkes Bedürfnis nach wissenschaftlichen
Erklärungen, profunden politischen Einschätzungen
und einer faktenbasierten Orientierungshilfe. In
den USA ist aufgrund des Zweiparteiensystems
eine starke politische Polarisierung zu beobachten,
die sich in der dortigen Medienlandschaft
wiederspiegelt. Dort können einzelne
Medienkonzerne klar einem politischen Lager
zugeordnet werden, der „linke“ Fernsehsender
CNN steht etwa dem „rechten“ Sender Fox News
gegenüber. (vgl. Sander 2019) Als Donald Trump zum
US-Präsidenten gewählt wurde, verdoppelten sich
die Anzahl der Digital-Abos bei der New York Times,
ihr Umsatz stieg im Jahr 2017 um acht Prozent. In
dieser Zeit stieg das Vertrauen in Medien auf der
linken Seite des politischen Spektrums, während es
auf der rechten Seite kontinuierlich abnahm.
(vgl. ebd.) Ein solcher Vertrauensverlust wurde auch
in Österreich beobachtet: laut dem Digital News
Report 2023 sind es über 30% der Österreicher:innen
die den Medien explizit misstrauen, die Zahl
jener, die ihnen vertrauen ging erneut zurück.
(vgl. Gadringer et al. 2023: 25) Gleichzeitig gab
es mehr Menschen, die den Nachrichtenkonsum
zumindest teilweise vermeiden und über ein Drittel
der Befragten hat laut eigenen Angaben Probleme
damit Fakten und Falschmeldungen im Internet
unterscheiden zu können. (vgl. ebd.: 18) In der
Berichterstattung über die Covid-Pandemie konnte
bereits beobachtet werden, dass besonders Gegner
der Corona-Maßnahmen die großen Medien als
MEDIEN IN ZEITEN
VON KRISEN
Propaganda-Instrumente der Regierung sahen und
diesen sehr kritisch gegenüber standen. Vor allem die
sozialen Medien und die ihnen zugrundeliegenden
Algorithmen führen zu einer selektiven
Informationsvermittlung, in der vorwiegend das
bei uns ankommt, was wir sehen, hören und lesen
wollen. In den Kommunikationswissenschaften
wird an dieser Stelle die Hypothese der
„Filterblasen“ aufgestellt: dabei handelt es sich um
technologische „Filter“ - also etwa Algorithmen -,
die Information anhand nutzungs-, personen- oder
inhaltsspezifischer Merkmale kategorisieren und
aussortieren. So gelangen nur jene Inhalte in unsere
„Filterblasen“, von denen das System glaubt, dass sie
interessant für uns sein könnten. (vgl. Haim 2020)
Die Hypothese der „Echokammern“ wiederum geht
davon aus, dass sich Kommunikation in geschützte,
nach Meinungen unterteilte Räume - die „Kammern“
- verlagere, was zu einer gesellschaftlichen
Fragmentierung führe. Diese bilde zwar einerseits
ein vielfältiges, für Demokratien wünschenswertes
Meinungsspektrum, berge jedoch die Gefahr für eine
Polarisierung auf gesamtgesellschaftlicher Ebene,
da Menschen Informationen bevorzugen würden, die
ihren Standpunkten entsprächen. (vgl. ebd.)
60 61
Das Konzept der Filterblasen wusste das
Unternehmen Cambridge Analytica für sich
zu nutzen. Es sammelte im Vorfeld der US-
Präsidentschaftswahl 2016 - vorwiegend über
Facebook - laut eigenen Angaben bis zu
5.000 Datenpunkte zu allen wahlberechtigten
Personen in den USA, um diese zu analysieren
und daraus Persönlichkeitsprofile zu erstellen.
(vgl. Westby 2019). So konnten möglicherweise
unentschlossene Wähler:innen beeinflusst werden,
in dem ihnen angeblich gezielt Informationen
und Wahlwerbung der republikanischen Partei
angezeigt wurden. Ob diese Methoden wirklich
die Wahl von Donald Trump ermöglichten und wie
groß der Einfluss dieser Kampagne war wird von
Wissenschafter:innen und Expert:innen bezweifelt.
Schließlich wären laut dem Philosophen Philipp
Hübl die Angaben des Unternehmens und deren
Effekte nicht wissenschaftlich beweisbar und die
Manipulierbarkeit der Menschen bei einer politischen
Wahl geringer als allgemein angenommen. (vgl.
2018) Dennoch bleibt von diesen Enthüllungen
die Erkenntnis übrig, dass Manipulation über
gezielte Informationsvermittlung möglich wäre.
Einen ähnlichen Weg wählt das „Team Jorge“, ein
Unternehmen aus Israel, das ebenso damit wirbt,
Meinungen im Internet beeinflussen zu können.
Dieses arbeitet laut eigenen Angaben mit künstlich
erstellten, aber glaubwürdig erscheinenden Accounts
in sozialen Netzwerken, mit Hacking-Angriffen und
gezielten Fake News-Kampagnen. Dabei soll es in 33
nationalen Wahlen und Abstimmungen in aller Welt,
darunter in Kenia und Nigeria manipulativ tätig
gewesen sein. (vgl. Buschek et. al. 2023)
ANGRIFFE AUF DIE
INFORMATION
Die Welt der Informationsvermittlung steht
aber nicht nur durch diese höchst umstrittenen
Unternehmen, deren Ziele im Endeffekt
wirtschaftlicher Natur sind, unter Druck, sondern
auch durch eine Entwicklung die unser Leben
in den kommenden Jahrzehnten entscheidend
prägen wird: die künstliche Intelligenz. Das von
Open AI entwickelte Textgenerierungstool Chat-
GPT ist besonders bei vermeintlich faktenbasierter
Information teilweise ziemlich erfinderisch. Eine
Studie der Universität Zürich zeigte, dass GPT-
3 „ein beängstigendes Talent für die Erstellung
äusserst [sic!] überzeugender Falschinformationen“
(Universität Zürich 2023) aufweist. Darüber hinaus
fiel es den Studienteilnehmer:innen schwer, einerseits
zwischen von Menschen erstellten und KI-generierten
Tweets zu unterscheiden, andererseits auch zwischen
jenen die korrekte und jenen die falsche Information
beinhalteten. Es sei so, laut den Studienautor:innen,
leicht möglich dieses Tool zur Verbreitung groß
angelegter Desinformationskampagnen zu
verwenden. (vgl. ebd.) Gleichermaßen bergen
KI-basierte Bildgeneratoren die Gefahr zur
Verbreitung von unwahren Nachrichten. Anfang
2023 gingen künstlich erstellte Bilder des Papstes
im weißen Daunenparka viral. Während diese
vielleicht noch eine unterhaltsame Anwendung
dieser Technologie sind, benutzte die rechtsextreme
AfD in Deutschland bereits eine solche Illustration
um gegen Ausländer:innen zu hetzen: auf einem
Bild war eine Gruppe Männer - offensichtlich mit
Migrationshintergrund - mit aggressiven, an einen
Aufstand erinnernden, Gesichtsausdrücken zu sehen.
Begleitet wurde es von dem Text „Nein zu noch mehr
Flüchtlingen!“ Zwar ist dieses Bild bei genauerem
Betrachten leicht als computergeneriert erkennbar,
es kann jedoch Atmosphären und Stimmungen
transportieren, Ängste schüren und Ereignisse
vortäuschen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass
Medienkonsumierende den ihnen angezeigten
Informationen vertrauen können.
62 63
Doch nicht nur die Medien als Institutionen sind
heute in Gefahr, sondern auch jene Menschen die
dahinter stehen: die Journalist:innen. Die Ermordung
der maltesischen Investigativjournalistin Daphne
Caruana Galizia sorgte 2017 für weltweites
Aufsehen. Sie deckte in ihrem Blog „Running
Commentary“ regelmäßig Korruption, Geldwäsche
und Offshore-Firmen auf und belastete damit
mächtige Menschen in Malta schwer, inklusive den
damaligen Premierminister Joseph Muscat. (vgl.
Munzinger et. al. 2019) Daphne Caruana Galizia
war dabei in der Bevölkerung äußerst beliebt
und hatte mit ihren Berichten zeitweise eine
größere Reichweite als alle Tageszeitungen Maltas
zusammen. Damit einher gingen jedoch auch immer
größere Einschränkungen in ihrem privaten Leben,
auf einem - aus dem Büro des Premierministers
gesteuerten - Anti-Blog wurden immer wieder
private Fotos von ihr publiziert, an öffentlichen Orten
in Malta wurde sie eingeschüchtert und verjagt.
(vgl. ebd.) Am 16. Oktober 2017 wurde sie durch eine
ferngezündete Autobombe ermordet, die Mörder
wurden zwar gefasst und verurteilt und gaben dabei
an im Auftrag mächtiger Personen gehandelt zu
haben, wer jedoch wirklich hinter ihrer Ermordung
steht konnte bis heute nicht endgültig geklärt
werden. (vgl. Der Standard 2022)
ANGRIFFE AUF DEN
JOURNALISMUS
Die Non-Profit-Organisation „Forbidden Stories“, ein
Netzwerk an dem sich seit seiner Gründung mehr als
150 Journalist:innen von 60 Nachrichtenplattformen
aus 49 verschiedenen Ländern beteiligt haben, sorgt
dafür, dass die journalistische Arbeit von Menschen
wie Daphne Caruana Galizia nicht umsonst ist.
Unter dem Motto „killing the journalist won‘t kill
the story“ können sich bedrohte Journalist:innen an
sie wenden und ihnen Informationen übermitteln.
„Forbidden Stories“ sorgt dann dafür, dass ihre
Recherchen gesichert aufbewahrt werden und
nicht verloren gehen, sollten sie Opfer eines
Attentates werden. Das Netzwerk wurde 2015
von Laurent Richard nach den Anschlägen auf
das französische Satiremagazin Charlie Hebdo
gegründet und konnte bisher zahlreiche Recherchen
ermordeter Journalist:innen weiterführen, unter
anderem die von Daphne Caruana Galizia. (vgl.
Forbidden Stories o.J.) Zum Beispiel jene der im
gleichen Jahr ermordeten indischen Journalistin
Gauri Lankesh über Propagandakampagnen
hinduistischer Nationalisten, welche Anfang 2023
zu Veröffentlichungen über eine internationale
Desinformationsindustrie führten. (vgl. Schmid
2023) Auf die brutale Ermordung des saudischen
Journalisten Jamal Khashoggi gehen Enthüllungen
über den Einsatz der Spionagesoftware Pegasus
zurück, bei denen bekannt wurde, dass nicht nur
Politiker, sondern auch Journalist:innen weltweit
bespitzelt wurden. (vgl. Biermann et. al. 2021)
Oder die erst kürzlich veröffentlichen Berichte
über die Arbeit des Journalisten Dom Phillips
und des Indigenen-Experten Bruno Pereira, die
im brasilianischen Amazonasgebiet über illegale
Rodungen und die Ausbeutung des Regenwaldes
recherchierten und 2022 dort während ihrer
Recherchen getötet wurden. (vgl. Bretzel et. al. 2023)
All diese Beispiele zeigen umso mehr, wie wichtig
die Arbeit von (investigativ recherchierenden)
Journalist:innen für unsere Gesellschaft ist.
64 65
PRESSEFREIHEIT
In Österreich könnte die Lage für die heimische
Presse ebenfalls durchaus besser aussehen. Im
aktuellen Internationalen Ranking der Pressefreiheit,
das jährlich von Reporter ohne Grenzen erstellt und
veröffentlicht wird, erreicht Österreich nur den 29.
Platz weltweit. (vgl. Reporter ohne Grenzen 2023)
Die Gründe dafür sind laut den Studienautor:innen
an mehreren Punkten zu finden: So gibt es
beispielsweise in Österreich als einzigem EU-Land
noch immer kein Informationsfreiheitsgesetz,
das allen Bürger:innen ein Recht auf Zugang
zu staatlichen Informationen bieten könnte,
sowie zur Abschaffung des Amtsgeheimnisses
führen sollte. Ebenso ist die - spätestens seit der
sogenannten „ÖVP-Inseratenaffäre“ im Herbst
2021 - heftig kritisierte Praxis der Schaltung
von Regierungsinseraten noch nicht rechtlich
einwandfrei geregelt. Diese sind weder in ihrer
finanziellen Höhe gedeckelt, noch an sachliche
IN ÖSTERREICH
Kriterien geknüpft, wodurch die „wechselseitigen
Steuerungsversuche“ (ebd.) zwischen Medien und
Regierung nicht aufhören würden. Seit Jahrzehnten
ist es nämlich üblich, dass Regierungen vorwiegend
in den reichweitenstärksten Zeitungen Inserate
schalten und sich - so der Vorwurf - im Gegenzug
wohlwollende Berichterstattung erwarten
würden. Eine nicht tolerierbare Nähe zwischen
Persönlichkeiten durchaus seriös angesehener
Medien und der Politik wurde im vergangenen
Jahr 2022 mehrmals aufgedeckt: Rainer Nowak
(Die Presse), Matthias Schrom (ORF) und Robert
Ziegler (ORF Niederösterreich) traten zwar in
Folge dieser Enthüllungen von ihren Positionen
zurück, hinterließen dabei aber ein Bild von einer
Medienlandschaft, das wenig Vertrauen in ihre
Unabhängigkeit erweckt. (vgl. ebd.) An dieser
Stelle kommt die rechtspopulistische FPÖ ins
Spiel, die schon seit Jahren Stimmung gegen
den öffentlich-rechtlichen ORF macht und
dessen Macht, Einfluss und Relevanz zu mindern
versucht - hauptsächlich über eine Abschaffung
der Rundfunkgebühren. Schwer getroffen hat die
österreichische Medienlandschaft 2023 auch das
Ende der Wiener Zeitung, die bis dahin älteste
gedruckte Tageszeitung der Welt. Sie stand für
sachliche Berichterstattung mit Themen öffentlicher
Relevanz, finanziert von Pflichtinseraten der Republik
Österreich. Seit 1. Juli wird sie als Online-Medium
weitergeführt, ob sie sich dabei auf Instagram und
Co. neben der starken internationalen Konkurrenz
behaupten kann, wird sich zeigen. Jedenfalls ist
bemerkenswert, dass die Presselandschaft in
Österreich sehr stark vom Boulevardjournalismus
dominiert wird. Momentan erscheinen 13
Tageszeitungen, drei der vier größten unter ihnen
liegen dabei in der Hand zweier Familien - Dichand
(Krone und Heute) und Fellner (Österreich) - und
können eindeutig dem Boulevard zugeordnet
werden.
66 67
Journalismus vermittelt uns nicht nur Informationen,
er erzählt Geschichten - von Menschen, Ereignissen
oder Entwicklungen. Hinter ihm stehen Menschen,
die diese Inhalte produzieren, weshalb die oft zitierte
Objektivität für den amerikanischen Filmemacher
und Journalisten Johnny Harris nur ein Mythos
sei. Alles was von Menschen produziert wird, jeder
Text, jedes BIld, jeder Film sei mit einer gewissen
Voreingenommenheit seitens des Produzierenden
belegt, unterbewusst schwingen immer persönliche
Einstellungen mit. (vgl. Harris 2021: 01:10-03:27 Min.)
Jedoch kann laut ihm diese Voreingenommenheit
mit „Fairness“ und „Großzügigkeit“ gegenüber
denjenigen über die berichtet wird ausgeglichen
werden. Er beschreibt das so: „you can present the
best version of the other side‘s argument“ (ebd.).
Diese Herangehensweise an Journalismus ist es, die
ihm in unserer Gesellschaft eine Schwellenfunktion
verleiht. Er kann uns damit fremde Sichtweisen zu
einem Thema vermitteln und Menschen verbinden,
in dem er neue Perspektiven für uns greifbar
macht. Journalismus kann uns dazu bringen,
andere Meinungen nachzuvollziehen, auch wenn
wir diese nicht teilen, und uns Ausgangspunkte für
Diskussionen liefern durch die wir uns Menschen mit
konträren Standpunkten annähern, anstatt uns von
ihnen rigoros zu entfernen. Oder um Ieva Morica zu
zitieren: „Understanding different opinions means
starting a discussion, even if we know our opinion
will be rejected“ (2019).
JOURNALISMUS ALS
SCHWELLE
Der Künstler Ólafur Elíasson spricht in einem
Podcast von dieser Idee des gegenseitigen,
wohlwollenden Sich-Verstehens: „das demokratische
Potenzial [...] liegt darin etwas nicht gleich zu sehen,
aber trotzdem weiterhin gleich leben zu können“
(Elíasson 2020: 2:00:30-2:02:30 Std.). Dieses
demokratische Potenzial findet sich nicht nur in
der Architektur (oder der Kunst), sondern auch
im Journalismus: ein Thema, respektive einen Ort
auf eine eigene Art und Weise zu erleben, aber ihn
trotzdem gemeinsam nutzen zu können. Einen Raum
mit eigenen Handlungen, eigenen Erinnerungen
zu füllen, aber Respekt dafür zu haben, wenn es
Leute gibt, die ihn anders benützen wollen. So wie
der Journalismus uns neue Standpunkte zu einem
Thema näher bringen kann, so kann die Architektur
neue Perspektiven auf einen Raum schaffen und uns
dabei zu neuen Handlungen anregen. Es verbindet
also beide das Potenzial Schwellen zwischen
Menschen zu schaffen ...
68 69
„WANN IMMER ES
MISSTRAUEN UND UNVERSTÄNDNIS
GIBT, KOMMT DAS VOR ALLEM
AUS DEM NICHT-KONTAKT.
DIE MEISTEN MENSCHEN
WISSEN SCHLICHTWEG NICHT,
WIE JOURNALISMUS FUNKTIONIERT.“
- REBECCA SANDBICHLER -
3
KENNENLERNEN
NEUER PERSPEKTIVEN ...
Um meine eigene Perspektive auf den Journalismus und seine
aktuellen Probleme und Herausforderungen zu erweitern,
habe ich Journalist:innen und Redaktionen von verschiedenen
Medien gefragt, ob sie sich einen Ort für Journalismus im
öffentlichen Raum vorstellen könnten und wie dieser aussehen
würde.
Das große Interesse an dieser Fragestellung und das zahlreiche
Feedback auf meine Anfrage zeigte, dass Journalist:innen
durchaus besorgt über die aktuelle Lage sind. Aus den
Rückmeldungen trat das Thema der Medienbildung hervor:
Menschen wüssten nicht, wie das breite Medienangebot zu
nutzen wäre, wo der Unterschied zwischen qualitätsvollem
Journalismus und Inhalten aus den sozialen Medien liege und
wie diese produziert würden.
Nachstehend eine Auswahl an schriftlichen Rückmeldungen,
persönlichen Gesprächen und Telefonaten mit teils
renommierten Persönlichkeiten der österreichischen
Journalismuswelt.
INTERVIEWANFRAGEN
„
Ich kontaktiere Sie als Journalist:innen, da Architektur und
Journalismus für mich das Potenzial verbindet, Menschen dazu
anzuregen, ihre eigenen Standpunkte zu hinterfragen und ihnen
neue Perspektiven und Sichtweisen zu vermitteln, sowie diese zu
diskutieren und zu verhandeln– auf einer räumlichen, wie auch
einer emotionalen Ebene. Im Zuge meiner Arbeit möchte ich Orte
zum Kennenlernen neuer Perspektiven entwerfen und dabei auch
Journalist:innen eine Plattform bieten, direkt mit den Menschen
im öffentlichen Raum in Kontakt treten zu können.
Um genau herausfinden zu können, was die Anliegen von
Journalist:innen an einen solchen Ort wären, wollte ich Sie fragen,
ob Sie sich diesen – gerne auch in aller Kürze –vorstellen und
beschreiben könnten?
Stellen Sie sich also bitte einen Ort im öffentlichen Raum zur
Vermittlung von Journalismus vor. Dabei kann es sich sowohl um
einen kleinen, jederzeit öffentlich zugänglichen Raum, als auch
um eine künstlerisch-architektonische Intervention handeln.
• Können Sie beschreiben wie dieser aussehen oder funktionieren
würde?
• Mit welchen Tools müsste ein solcher Raum bespielbar sein?
(Audio, Video, Text…)
• Wie könnte man die Atmosphäre in diesem beschreiben?
• Wäre dieser Raum eher als introvertierter oder als extrovertierter
Ort beschreibbar?
• Gibt es bestimmte architektonische Elemente, die dieser Raum
beinhalten sollte?
• Welche Form der Möglichkeit mit Menschen im öffentlichen
Raum zu interagieren, würden Sie sich generell wünschen?
• Kennen Sie bereits einen Ort, der dieses Potenzial bietet?
Ganz generell, wie kann Journalismus aus Ihrer Sicht dazu
beitragen, in einer Zeit multipler Krisen unterschiedliche
Perspektiven zu vermitteln und eine verbindende Rolle in unserer
Gesellschaft darzustellen?
.“
74 75
„
Ich
SARAH KRÖLL MBA BA BA
Public Relations der Tirol Kliniken
und freie Journalistin
denke an etwas architektonisch Spannendes, also eine
markante Form, zum Beispiel einen Würfel, etwas, das in der
Landschaft auffällt. Auf jeden Fall mit viel Glas und viel Holz, viel
Natur und etwas Modernes. Was cool wäre, wenn es die Botschaft
vermittelt: also Offenheit, für jede und jeden zugänglich,
barrierefrei. Weil ich in der Nachhaltigkeitskommunikation
arbeite, wäre ein nachhaltiges Gebäude natürlich sehr cool.
Ich würde den Raum mit Texten und Videos bespielen, großflächig
auf Leinwänden, damit es gut sichtbar ist. Und aber irgendwie
keine superkomplizierte Technik, damit wirklich die breite
Öffentlichkeit sich auskennt damit, also verständlich aufbereiten.
Die Atmosphäre sollte eben offen sein und einladend. Natürlich,
sonnig und gemütlich, damit man da gerne Zeit verbringt.
Ich würde den Raum als extrovertiert beschreiben, weil er nach
außen und nach innen offen sein soll.
Ich finde, Sofas und Sitzgelegenheiten, aber auch Stehtische
oder Ähnliches wären wichtig. Damit man gut ins Gespräch
kommen kann. Und dann Trink- und Snackmöglichkeiten. Als
architektonisches Merkmal vielleicht noch coole Kunst und
Designobjekte als Einrichtung (mir gefällt sehr gut Pop Art, aber
Hauptsache Kunst).
Ich glaube, so ein Raum würde zur Vermittlung beitragen können,
wenn er an einem gut besuchten Platz in der Öffentlichkeit steht.
Beim Journalismus geht es prinzipiell darum, auf Menschen
zuzugehen und mit ihnen zu sprechen, da wäre ein WO sehr
hilfreich.
Ich finde außerdem, dass die meiste Kommunikation ja heute
digital abläuft. Von dem her wäre ein realer Ort, an dem man sich
austauschen kann, etwas Besonderes.
Ich finde, es gibt ein paar gemütliche Cafés in Innsbruck, in denen
ich auch schon gut mit Menschen journalistisch gesprochen habe.
Aber so wirklich ein Ort der Vermittlung fehlt mir. Und ich finde es
wichtig, dass dort kein Konsumzwang herrscht.
Allgemein: Ja, meiner Meinung nach Journalismus eine sehr große
Verantwortung, in der aktuellen Zeit der Krisen, mit Menschen
zu sprechen, unterschiedliche Sichtweisen zu vermitteln und
sicherzustellen, dass die Leute noch miteinander reden können,
auch wenn sie nicht die gleiche Meinung vertreten … Vor allem
jetzt, wenn immer mehr Menschen den Medien und der Politik
misstrauen, muss man die Anstrengungen verdoppeln! Und ein
cooler Ort als Treffpunkt wär sicher eine gute Idee.
.“
76 77
Der Journalismus ist jene Instanz die versucht, Komplexität
gewisser Themen zu verringern. Wenn man sich nun fragt, warum
das Vertrauen in diese Instanz verloren gegangen ist, kann
man dafür zwei Ursachen finden: einerseits ein Versagen der
Bildungspolitik, da die Vorzüge und Qualitäten von Journalismus,
gerade im Vergleich zu den sozialen Medien erklärt werden
müssen.
„
AO. UNIV.-PROF. DR. FRITZ HAUSJELL
Präsident von Reporter ohne Grenzen
Institut für Publizistik und
Kommunikationswissenschaften, Universität Wien
Die Idee der Pressefreiheit ist eng verknüpft mit der Idee der
Demokratisierung unserer Gesellschaft. Orte in denen Menschen
die Pressefreiheit erklärt oder näher gebracht wird, gibt es jetzt
nicht auf den ersten Blick. Man könnte aber eine Verbindung
zum Platz der Menschenrechte in Wien ziehen, denn die freie
Meinungsäußerung gilt gemäß der Erklärung der Menschenrechte
von 1948 als ein ebendieses. Am 3. Mai, dem Internationalen
Tag der Pressefreiheit, könnte also dieser Ort in der Stadt zum
Schauplatz von Veranstaltungen werden.
Redaktionen gibt es in etwa seit dem 16./17. Jahrhundert, die
Wiener Zeitung, als älteste noch erscheinende Tageszeitung
der Welt, wurde etwa in dieser Zeit gegründet. Später kam
Information auf den Straßen, den Boulevards über Postboten
oder Straßenständen unter die Menschen. Auch in den Wiener
Kaffeehäusern haben viele Journalist:innen gearbeitet, die
Geschichte dieser ist gut beschrieben und erforscht.
Andererseits liegt diesem Vertrauensverlust ein Versagen der
Medien selbst zugrunde, die es nicht geschafft haben dem
Geschäftsmodell Social Media etwas entgegen zu setzen. In
diesem werden kontroversielle Inhalte stark befeuert und in den
Vordergrund gedrängt, während sie auf den ersten Blick gratis zu
nutzen sind, was jedoch nicht der Fall ist, wir finanzieren sie durch
die viele Werbung mit unserem Konsumverhalten mit. Historisch
gesehen waren Medien aber eigentlich nie gratis.
Die sozialen Medien sprechen Ängste und Hoffnungen an,
erzählen Geschichten, deren Wahrheitsgehalt selten oder -
nachdem diese bereits viral gegangen sind - zu spät überprüft
werden. Natürlich fehlt den Menschen selbst die Zeit dafür, doch
an dieser Stelle braucht es einen kräftigen Journalismus, der
Fakten konsequent prüft.
Früher gab es die klassische medienkritische Zugangsfrage
„Warum passiert jeden Tag genau so viel, wie in meiner
Zeitung Platz hat?“, eine Frage die auf Relevanz und Ökonomie
anspielt. Doch die sozialen Medien wollen gar nicht immer das
Relevante vermitteln, sondern passen ihre Inhalte individuell
auf die Konsumierenden an, man kann also die Frage stellen:
„Warum erleben wir beide in den sozialen Medien eine Welt, die
vieles so ganz anders erzählt?“ Interessant wäre also sichtbar
zu machen wie sehr sich diese Welten teilweise voneinander
unterscheiden und unterschiedliche Kommentare, Profile, Inhalte,
die unterschiedlichen Benutzern angezeigt werden gegenüber zu
stellen.
.“
78 79
„
GEORG LAICH
Chefredakteur des ORF Tirol
Die Aufgaben von Journalist:innen kann man in folgende
drei Bereiche gliedern: zu recherchieren, sich eine Meinung zu
bilden und diese zu vermitteln. Dazu muss man Leute treffen
denn die Begegnung mit Menschen ist wichtig, um den heute
sehr präsenten „Bubbles“ etwas entgegensetzen zu können. Für
alle offene und einladende Begegnungsräume also, in denen
eine Interaktion mit anderen Menschen stattfinden kann,
Journalist:innen sind beim Recherchieren ja viel unterwegs.
Wenn ich an einen Ort denke, der das ausstrahlen soll kommen
mir als erstes (Wiener) Kaffeehäuser in den Kopf. Dort herrscht
eine kommunikative, angenehme und gemütliche Atmosphäre
- sozusagen die Antithese zum Fernsehstudio, in dem ich
mich oft befinde. Eine Ortsänderung ist übrigens auch ein
Perspektivenwechsel, solche Räume könnten also auch mobil sein.
.“
„
ASHWIEN SANKHOLKAR
Investigativjournalist bei DOSSIER
Im Vergleich zu vielen anderen Berufen ist die Arbeit von
Journalist:innen ortsunabhängig, wir können relativ viel von
zu Hause arbeiten. Im Zuge meiner Recherchen treffe ich
oft Menschen persönlich und bin deshalb viel unterwegs.
Für Recherchetätigkeiten, das Schreiben an Texten oder für
vertrauliche Telefonate benötige ich ruhige Rückzugsräume.
Unsere Redaktion ist für mich eine Basis: Dort wird gesteuert
und geplant. Dort werden wichtige Entscheidungen getroffen.
Doch nicht nur das. Wie eine „Agora“ ist sie ein wertvoller Ort des
Austausches, der Kommunikation und des Reflektierens in dem
Ideen und Gedanken mit Kolleg:innen ergebnisoffen diskutiert
werden können.
Die gegenwärtige Medienlandschaft kann in drei Sphären
unterteilt werden: das Audiovisuelle (Videos, Vlogs, Fernsehen,
etc.), das Auditive (Podcasts, Radio) und das Lesen (klassischer
Printjournalismus, wobei dieser immer mehr mit dem Online-
Journalismus verschmilzt). Wenn ich mir einen Ort der
Medienbildung vorstelle, dann sollte dieser Raum Platz für diese
drei Sphären schaffen und sie erlebbar machen. Ich könnte
mir zum Beispiel einen Raum mit Fernsehstudio-Atmosphäre
vorstellen, in dem die Besucher:innen „Zeit im Bild-Spielen“
können.
.“
80 81
„
REBECCA SANDBICHLER
Chefredakteurin des 20er
Wichtig ist schon mal die Zielsetzung: Sollten Menschen in
diesem angedachten öffentlichen Raum journalistische
Inhalte erfahren können? Sollten sie mit Journalist:innen
einfach in Kontakt treten können – oder sollen sie dort etwas
über Journalismus lernen? Das wären drei ganz verschiedene
Funktionen für mich.
Ich selbst habe für den 20er nämlich schon zu Beginn meiner
Zeit hier eine Art Pop-Up-Redaktion angedacht (Lokalmedien in
Amerika machen das schon länger an öffentlichen Orten). Das
würde aber bedeuten, dass die Redaktionsarbeit quasi live in der
Öffentlichkeit stattfindet. Das erfordert andere Dinge, als wenn
ich nur die Ergebnisse von Recherchen, fertige Beiträge oder auch
nur den Prozess dahinter öffentlich machen will. Das eine wäre ein
Arbeitssetting, das Interaktion ermöglicht, das andere wäre eher
eine Art Installation/Ausstellung.
Spannender für mich persönlich wäre eben besagte Pop-Up-
Redaktion, die natürlich auch Ausstellungsflächen und edukative
Elemente beinhalten könnte. Um sowohl redaktionell arbeiten
zu können, aber auch in Austausch mit der Bevölkerung zu
gehen und eventuell Ergebnisse zu zeigen, bräuchte ich da z.B.:
Präsentationsflächen für das Medium, Schauflächen für die
Inhalte, offene Sitzgelegenheiten für zufälligen
Austausch, Ruhezone für sensible Gespräche (sowas wie eine
Interviewbox), etwaige Feedbackkästen für anonyme Tipps und
Themenvorschläge. Praktisch benötigt würde: Überdachung,
Tisch(e) und Stühle, Elektrizität, idealerweise Internet. Ziel einer
solchen Pop-Up-Redaktion ist eben, journalistische Arbeit sichtbar
zu machen und direkt Informationen aus der Bevölkerung zu
bekommen. Da man da aber den ganzen Tag sitzen muss, sollte es
wirklich als Arbeitsplatz funktionieren und Spaß machen. Positiv
daran ist, dass man ganz andere Menschen erreicht, Leute, die
normalerweise eben medienfern sind und auch keine Leserbriefe
schreiben.
(...)
Ich sehe das eben eher zoniert. Mal braucht man absolute
Vertraulichkeit (Informantengespräch, sensible Interviews), mal
braucht man Offenheit (Präsentation) und will Aufmerksamkeit
erregen, damit überhaupt Leute kommen. Generell würde ich
sagen: einladend, anregend auf der einen Seite. Ruhig, gemütlich
für die Vertraulichkeit. Übersichtlich, strukturiert andererseits,
damit man arbeiten kann.
(...)
Wenn es als echte Pop-Up-Redaktion funktionieren soll, müsste
es einfach auf- und abbaubar sein, sollte eben auch bei Wind
und Wetter und sogar Kälte funktionieren. Spannend finde ich
ja, was z.B. Van Bo Le-Mentzel mit seinen Tiny Hotels in Berlin
macht. Sowas als offenes Büro, das man vielleicht sogar mit dem
Fahrrad hinter sich herziehen kann, wäre interessant. Umgekehrt
könnte man natürlich einen Ort des Austausches denken, der im
Wechsel von verschiedenen Medien oder auch anderen Initiativen
genutzt werden kann, dann wäre es wohl was Festes. Hier hat man
aber eben das Problem, dass man nicht rauskommt aus dem
üblichen Ort. Spannender wäre sicher, das Ding quer durch Tirol zu
transportieren.
(...)
82 83
Ich denke, Journalismus hat nicht die Aufgabe, die Gesellschaft
in dem Sinne zu verbinden. Das wäre eher eine sozialarbeiterische
Funktion. Journalismus ist dazu da, die Mächtigen zu kontrollieren
(vierte Gewalt) und Missstände in der Gesellschaft aufzudecken,
er ist der Wahrheit verpflichtet und schafft ein möglichst
umfassendes Abbild der Realitäten, in denen wir uns gleichzeitig
befinden – im Wissen, dass es diese universelle Wahrnehmung
von Realität nicht gibt. Wir sehen jetzt eben, dass diese
Wahrnehmung der Funktionen von Journalismus aber nicht
mehr verbreitet ist: Dass Medien uns darüber informieren, was
ist. Dieses Vertrauen existiert nicht mehr. Und wann immer
es Misstrauen und Unverständnis gibt (das ist in Bezug auf
Rassismus gut untersucht), dann kommt das vor allem aus dem
Nicht-Kontakt. Die meisten Menschen wissen schlichtweg nicht,
wie Journalismus funktioniert, wie Journalist:innen arbeiten
und an welche Spielregeln sie sich halten (müssen/sollten).
Mehr Einblick in die Arbeit von Redakteur:innen könnte helfen.
Umgekehrt ist es eben auch wirklich so, dass Journalist:innen sich
fast allesamt in einer gesellschaftlichen Bubble befinden, die sehr
einheitlich und sehr privilegiert ist, und im Täglichen mehr mit
den Mächtigen zu tun haben als mit marginalisierten Gruppen
oder abgehängten Gesellschaftsschichten. Hier könnte ein Reality
Check auch den Redakteur:innen durchaus guttun.
.“
„
MAG.A SUSANNE GURSCHLER
Autorin und freie Journalistin
Die Frage ist auch, ob es nicht bereits ausreichend diskursive
Angebote im Journalismus (Print, online, Social Media …) gibt und
es eher darum geht, dass Menschen diskursive Angebote nicht
nutzen, die mediale Vielfalt nicht nutzen – oder nicht zu nutzen
wissen, schon gar nicht kritisch. Also eher ein bildungspolitischer
Ansatz, der aber ein neues Feld, ein anderes als das von Ihnen
angesprochene, öffnet.
.“
84 85
„THE THRESHOLD REFERS TO
THE EXPERIENCE OF A TRANSITION
WHERE, MOST OF THE TIME,
A TRANSFORMATION
OF THE SELF TAKES PLACE.“
- THE SENSUAL CITY STUDIO -
4
BAUPLATZ
AM DONAUKANAL ...
LAGE WIENS IN EUROPA UND
VERLAUF DES EISERNEN VORHANGS
1955
DIE SCHWELLENSTADT
Wien ist heute mit knapp 2 Millionen Einwohnenden die
mit Abstand größte Stadt Österreichs und die fünftgrößte
Europas. Mehrmals wurde es bereits zur lebenswertesten
Stadt der Welt gekürt. Millionen von Tourist:innen besuchen
jährlich die prunkvollen Bauten aus der Zeit der Monarchie
und die breiten Straßen der im Herzen des Kontinents
liegenden Metropole. Doch das war nicht immer so: nach
dem zweiten Weltkrieg fand es sich an einer der massivsten
Grenzen der Menschheitsgeschichte wieder. Der Eiserne
Vorhang, der Europa in Ost und West teilte, verlief nur knapp
50 Kilometer von Österreichs Hauptstadt entfernt. In dieser
Randlage des politischen Westeuropas machte es sich Wien
gemütlich, entwickelte sich aber auch zu einer sogenannten
Shrinking City, einer schrumpfenden Stadt. 1986 betrug
die Bevölkerungszahl nur rund 1,4 Millionen, das waren ca.
100.000 Einwohnende weniger als noch 10 Jahre zuvor.
Gleichzeitig wurde das Durchschnittsalter immer höher und
die Menschen zogen an den Rand der Stadt, wodurch das
Zentrum verwaiste. (vgl. Winterer 2019) Durch den Zerfall der
Sowjetunion und die Vereinigung Europas rückte Wien jedoch
auf einen Schlag in den Mittelpunkt des Kontinents, eine
Entwicklung die von den Wiener:innen zu Beginn abgelehnt
wurde. Sie befürchteten massive Flüchtlingswellen und starke
Zuwanderung, vor dessen Hintergrund die FPÖ zu wachsen
begann. (ebd.) Doch was anfangs Ängste in der Bevölkerung
hervorgerufen hatte, entpuppte sich als Glücksfall für die
Stadt. Junge Migrant:innen brachten multikulturellen Flair
nach Wien, machten aus ihr eine internationale Metropole und
erweckten das leere Stadtzentrum zum Leben. (ebd.) Heute ist
diese Multikulturalität an allen Ecken spürbar, vor allem in der
Gastronomie, der Kultur und dem universitären Umfeld. Wien
verbindet heute den Westen mit dem Osten Europas und
bildet einen Schmelztiegel verschiedenster Kulturen. Einst eine
Stadt, die von der Grenze geprägt wurde, kann Wien heute als
Schwellenstadt bezeichnet werden.
90 91
Wien wird oft die „Donaumetropole“ genannt, wird die Stadt
doch in ihrer heutigen Ausdehnung an mehreren Stellen vom
Fluss durchschnitten. Das Gewässer, das heute als Donaukanal
veläuft, stellte lange den natürlichen Arm der Donau dar,
er begrenzte gemeinsam mit dem Wiener Glacis und der
Stadtmauer den ersten Bezirk und fungierte als wichtiger
Handelsweg für die Stadt. (vgl. Wien Geschichte Wiki 2022a)
Ab dem 14. Jahrhundert beschäftigten sich Herrschende wie
Ingenieure intensiv mit diesem Arm des Flusses: einerseits
versandete er häufig und behinderte dadurch das Einfahren
der Handelsschiffe; andererseits sorgten immer wieder
Hochwasserereignisse für Zerstörungen in der Stadt. (vgl.
Verein für Geschichte der Stadt Wien 2000: 3-6) Ab der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhielt der Kanal im Zuge
der Donaureglierung sein heutiges Erscheinungsbild mit Kaiund
Stützmauern, sowie der Nußdorfer Schleuse, durch die der
Wasserstand reguliert werden konnte. (vgl. ebd.) In etwa zur
selben Zeit wurden die bis dahin bestehenden Stadtmauern
abgetragen und mit dem Bau der repräsentativen Ringstraße
begonnen, die sich U-förmig, am Donaukanal abschließend,
um das Stadtzentrum schloss. Das am Kanalufer liegende
Verbindungsstück, der Franz-Josefs-Kai, wurde errichtet, wobei
sich die Stadt jedoch eher vom Fluss abwandte. Es entstanden
hier keine repräsentativen und monumentalen Bauten wie
auf der Ringstraße, stattdessen wurden die Rossauer Kaserne
und die Franz-Josephs-Kaserne an den beiden Enden
errichtet. (vgl. ebd.: 11-13) Allerdings entwickelte sich in etwa
im Bereich des heutigen Schwedenplatzes ein lebendiges
Geschäfts- und Verkehrsviertel für das Kleinbürgertum. Rund
um die Jahrhundertwende wurde entlang des Kanals die
Stadtbahn in unterirdischer Galeriebauweise errichtet, deren
Verlauf weitgehend der heutigen Trasse der U-Bahn-Linie U4
entspricht. Im Anschluss daran wurde mit der Gestaltung der
Kanalufer begonnen, im Bereich der inneren Stadt ersetzte
auf beiden Seiten ein Vorkai die bis dahin existierenden
Uferböschungen. (vgl. ebd.)
DIE STADT AM KANAL
HISTORISCHE MILITÄRKARTE
DER HABSBURGERMONARCHIE
um 1790
BLICK ENTLANG DES
DONAUKANALS FLUSSAUFWÄRTS
um 1898
92 93
RINGTURM
Architekt Erich Boltenstern, 1955
UNIQA TOWER UND STRANDBAR HERRMANN
heute
URBANER GRENZRAUM
Um dem Bedürfnis der Wiener Bevölkerung nach Abkühlung
im Fluss entgegenzukommen, entstanden zu Beginn des
20. Jahrhunderts einige Bäder entlang des Donaukanals
- die jedoch aufgrund der Errichtung von Freibädern
an anderen Stellen in der Stadt und der zunehmenden
Wasserverschmutzung bald wieder verschwanden. (vgl. ebd.:
13-14) Im April 1945, gegen Ende des zweiten Weltkriegs,
zerstörten deutsche Truppen fast alle Donaukanalbrücken,
sowie viele Gebäudezeilen entlang der beiden Ufer, was
einen groß angelegten Wiederaufbau erforderlich machte.
(vgl. Wien Geschichte Wiki 2022a) Während die stadtseitig
zerbombten Gebäude entlang des Franz-Josephs-Kais
nicht vollständig ersetzt wurden - was somit den heutigen
Schwedenplatz ausformuliert - entstand am westlichen Ende
der Ringstraße der sogenannte Ringturm nach den Plänen
von Architekt Erich Boltenstern. Er wurde zum Symbol des
Wiederaufbaus und zum Aufstieg Wiens zur modernen
Weltstadt. (vgl. Wien Geschichte Wiki 2022b) In den 1960er
Jahren, als die autogerechte Stadt als erstrebenswertes
Ziel erachtet wurde, gab es Pläne eine Stadtautobahn quer
durch Wien entlang des Donaukanals zu führen. Diese
wurden zwar glücklicherweise nicht weiter verfolgt, jedoch die
Begleitstraßen an beiden Seiten des Kanals autobahnähnlich
ausgebaut, was bis heute eine grenzbildende Wirkung in der
Stadt nach sich zieht. (vgl. Verein für Geschichte der Stadt
Wien 2000: 16-17) Die teilweise je Fahrtrichtung fünfspurigen
Straßen bilden eine Barriere zwischen der Stadt und dem Fluss,
die nur durch einzelne Zebrastreifen punktuell unterbrochen
wird. In den letzten Jahrzehnten entstand eine „Waterfront“
im zentralen Bereich des Donaukanals entlang des nördlichen
Ufers mit einigen Bürohochhäusern, sowie in jüngster Zeit auch
größeren Wohn- und Hotelprojekten. Die vor etwa 15 Jahren
eintretende Kommerzialisierung startete mit der Eröffnung
der Strandbar Herrmann 2005 und des Badeschiffes 2006,
heute sind gerade am Nordufer viele Gastronomiebetriebe
zu finden. Diese Entwicklung machte den Kanal ein Stück
lebendiger, ohne, dass dieser dabei seinen konsumfreien
Charakter verlor.
94 95
Auf mehr als 17 Kilometern Länge verläuft der Donaukanal
heute quer durch das Zentrum Wiens. Mittlerweile hat sich
die Stadt auf beiden Seiten ausgedehnt, sodass aus seiner
früheren tangentialen Lage eine zentrale geworden ist. Er
zweigt in etwa im Beginn des dichten Siedlungsgebietes
bei Heiligenstadt durch die bereits erwähnte Nußdorfer
Schleuse aus dem Hauptarm der Donau nach rechts ab.
Der Autobahnknoten Nußdorf überbrückt den Kanal und
beeinträchtigt dabei massiv die von Otto Wagner geplante
Schemerlbrücke. Im sogenannten „Oberlauf“ des Kanals
passiert er unter anderem das Verlagszentrum der Kronen
Zeitung und des Kurier, die von Friedensreich Hundertwasser
gestaltete Müllverbrennungsanlage Spittelau und eine von
Zaha Hadid entworfene Wohnanlage. An seiner rechten
Seite wird er vom Verlauf der U-Bahn-Linie U4 begleitet, die
in diesem Bereich oberirdisch geführt ist. Ungefähr bis zum
Erreichen des 1. Gemeindebezirkes fungiert der Donaukanal als
innerstädtische Freizeit- und Erholungsoase und bietet Raum
für sportliche Aktivitäten und konsumfreie Bereiche. Ab der
Augartenbrücke sind die bis dorthin natürlich abgeböschten
und bewachsenen Kanalufer als vertikale Mauern ausgeführt
und die sogeannte „Urbane Mitte“ des Kanals beginnt. Der
beliebte Nachtclub „Flex“, der kürzlich eröffnete Schleusenpark
und das von Otto Wagner geplante Schützenhaus eröffnen
eine lebendige, urbane Raumsequenz, die einerseits dutzende
Gastronomiebetriebe beherbergt, andererseits weiterhin
konsumfreie Flächen anbietet - die Kanalufer stellen vor allem
an Sommerabenden stark frequentierte Aufenthaltsflächen
dar. Im Bereich rund um den Schwedenplatz passiert der
Donaukanal mehrere Bürohochhäuser und die von Fasch &
Fuchs geplante Schiffstation des Twin City Liner, der eine
tägliche Schiffverbindung nach Bratislava anbietet. Gegen
Ende des 1. Bezirkes findet sich zu rechter Hand die Urania
Sternwarte, sowie die beliebte Strandbar Herrmann, ab
der Verbindungsbahnbrücke sind die Kanalufer wieder als
natürliche Böschungen ausgeführt. Im weiteren Verlauf, dem
sogenannten „Unterlauf“, grenzt er linker Hand an den Prater,
an dessen Ende wird er erneut von einem Autobahnknoten
überbrückt wird. Im Bereich von Industriegebieten mündet der
Donaukanal schließlich bei Freudenau zurück
in den Hauptarm der Donau.
DER VERLAUF HEUTE
96 97
Die trennende Funktion des Kanals wird hauptsächlich
durch die breiten, teilweise fünfspurigen Straßenzüge
geschaffen, die ihn auf beiden Seiten begleiten. Dadurch
fällt es der Stadt schwer, an das Wasser heran zu rücken.
Auf dem Kanalniveau stellt der Fluss selbst eine Barriere
dar, die keine Möglichkeit zum Überqueren bietet. Wer
das Ufer wechseln möchte, muss zuerst die Stiegen nach
oben nehmen und eine der Brücken benutzen.
URBANE GRENZE
98 99
URBANE SCHWELLE
Durch seine Attraktivität besonders an warmen,
sonnigen Tagen ist der Donaukanal jedoch auch ein
urbaner Schwellenraum. Bereits in den Morgenstunden
wird er von Joggern und Radfahrern für sportliche
Aktivitäten oder den täglichen Weg in die Arbeit genutzt,
ab dem späten Vormittag ist er beliebter Ort für die
Mittagspause im Freien. Zu dieser Zeit sind Menschen
verschiedenster Berufe hier anzutreffen, die in der Sonne
liegen oder auf den Sitztreppen essen. Am Nachmittag
öffnen die vielen, stets gut gefüllten gastronomischen
Einrichtungen. Dabei bildet sich eine „Allee“ aus
Menschen: flussseitig sitzen viele am Rande der
Stützmauer mit mitgebrachten Getränken, stadtseitig
jene in den Gastgärten in Restaurants und Bars mit
Bedienung. Zu späterer Stunde wird die Stimmung
gerade an den Wochenenden durchwegs ausgelassener.
100 101
Der Donaukanal kann auch als Ort der freien
Meinungsäußerung betrachtet werden. Obwohl es
nur in wenigen Bereichen erlaubt ist die Wände mit
Graffiti zu besprühen, gibt es fast keine freien Stellen
mehr. Die Bandbreite an künstlerischen Arbeiten reicht
dabei von einfachen Schriftzügen und mehr oder
weniger bedeutungsvollen Grafiken, bis hin zu qualitativ
hochwertigen Werken, die gesellschaftspolitische
Themen aufgreifen. An die Öffentlichkeit gerichtete
Botschaften werden hier sichtbar, wenn auch teilweise
nur wenige Tage lang, denn die Arbeiten werden
regelmäßig neu übersprüht und das Gesamtkunstwerk
befindet sich in einem ständigen Wandel.
URBANES SPRACHROHR
102 103
5
ENTWURF
URBANE SCHWELLENRÄUME ...
Die Typologie des Schwellenraumes wird auf einer sozialen
Ebene interpretiert. Die Grenzen, die von diesen Schwellen
durchbrochen werden, können im Zwischenmenschlichen
gefunden werden, in den gegensätzlichen Meinungen und
Perspektiven zu gesellschaftlichen Themen. Sie sind prinzipiell
unsichtbar, jedoch aber in unserer Gesellschaft spürbar, ihre
Folgen bilden sich im öffentlichen Raum ab.
Die Entwürfe versuchen Schwellenorte zu schaffen, die ihren
Beitrag dazu leisten sollen, dass Menschen wieder andere
Meinungen verstehen und respektieren lernen und somit das
Auseinanderdriften unserer Gesellschaft aufzuhalten.
Inhaltlich bedienen sie sich dabei der These, dass Journalismus
- ähnlich wie Architektur - neue Perspektiven vermitteln und
ein Werkzeug zum Aufbrechen gesellschaftlicher Grenzen sein
kann. Sie orientieren sich an den drei Phasen der Produktion,
der Vermittlung und der Diskussion von Information.
ENTWURFSKONZEPT
ENTWURFSELEMENTE
DAS HAUS DES JOURNALISMUS
Ein zentraler Ort für Journalismus im Herzen Wiens der dessen
gesellschaftliche Bedeutung unterstreicht: hier kann Kindern
und Jugendlichen ein verantwortungsvoller Umgang mit
Medien vermittelt werden; verschiedene Redaktionen können
gemeinsam an Themen arbeiten und Synergien nutzen;
und ein Journalismuscafé und eine Mediathek dienen als
Attraktoren für die Öffentlichkeit.
DER PLATZ DER PRESSEFREIHEIT
Aus dem Schwedenplatz wird ein Ort der Begegnung, der
Freizeitgestaltung und des Diskurses, ein möglicher Schauplatz
für Demonstrationen, Kundgebungen und gesellschaftlichen
Wandel.
THE OPEN JOURNALISM HUT
Ein kleines, pavillonartiges Gebäude am Donaukanal,
das durch unterschiedliche Journalismusredaktionen
genutzt werden kann und in dem jede:r in direkten Kontakt
mit Journalist:innen treten und den journalistischen
Entstehungsprozess kennenlernen kann.
DER WANDELGANG
Die urbane Interpretation eines Kreuzganges, ein städtischer
Rückzugsort zum Nachdenken und Diskutieren inmitten der
Hektik der Großstadt.
DIE INSEL DER 1001 MEINUNGEN
Eine betretbare Installation, die den Besuchenden
auf interaktive Weise die Vielfalt an Meinungen und
Standpunkten zu unterschiedlichsten Themen näherbringt.
THE URBAN PARLIAMENTS
Kleine urbane Interventionen, in ihrer räumlichen
Ausformulierung den Typologien von Parlamenten
nachempfunden, stellen Räume zur Aneigung dar, bieten
neue Perspektiven auf den Donaukanalraum und machen
erlebbar, wie sich unterschiedliche Raumkonfigurationen auf
zwischenmenschliche Beziehungen auswirken können.
106 107
Als Bauplatz wird die sogenannte „Urbane Mitte“ des
Donaukanals ausgewählt, jener Bereich der an den ersten
Bezirk grenzt und in dem das urbane Leben und die Vielfalt
der Stadt am stärksten erlebbar sind.
Auf Stadtniveau werden der Schweden-, bzw. der Morzinplatz
miteinbezogen, die ebenfalls repräsentativ für das vielfältige
und heterogene Wien stehen.
BAUPLATZ
108 109
02
03
01
04
08 11
12
10
05
09
06 07
01 Ringturm
02 Schützenhaus von Otto Wagner
03 Schleusenpark
04 Fischerstiegen
05 Morzinplatz
06 Ruprechtskirche
07 Synagoge Seitenstettengasse
08 Raiffeisen-Tower
09 Schwedenplatz
10 Schiffsstation
11 SO/ Vienna
12 Agora am Donaukanal
Lageplan Bestand
M 1:3333
110 111
TYPOLOGIEN_GR_750
M 1:750
Die Topographie des Donaukanals wird verändert.
Die drei existierenden Höhenniveaus
Stadtniveau, Kanalniveau, Wasserniveau
werden räumlich, funktionell und visuell
miteinander verbunden.
Die Grenze, jenes lineare Element, das Räume voneinander
trennt, ist am Donaukanal besonders präsent. Sie zieht sich
durch die Stadt und teilt diese in ihre Bezirke; sie bildet eine
harte Kante zwischen den einzelnen Höhenniveaus, macht
diese unerreichbar an jenen Stellen, an denen es keine Treppen
oder Rampen gibt; sie bildet die Begrenzung zur unbetretbaren
Wasserfläche, aus der wiederum zwei Ufer entstehen, ein Hier
und ein Dort.
Die kleinen Schwellenräume brechen diese Grenze auf und
erweitern sie, machen Raum zugänglich und erlebbar.
Aus dem Grenzraum wird ein Schwellenraum.
112 113
114 115
01
02 03
04
05
06
07
09
08
10
12
11
01 Urban Parliament - Kreis
02 Die Insel der 1001 Meinungen
03 The Open Journalism Hut
04 Urban Parliament - Halbkreis
05 Urban Parliament - Bänke
06 Urban Parliament - Hufeisen
07 Urban Parliament - Kreis
08 Das Haus des Journalismus
09 Urban Parliament - Klassenzimmer
10 Der Wandelgang
11 Der Platz der Pressefreiheit
12 Urban Parliament - Halbkreis
Axonometrie Überblick
116 117
0
01
02
03
04
05
06
09
07
10
12
08
11
01 Urban Parliament - Kreis
02 Die Insel der 1001 Meinungen
03 The Open Journalism Hut
04 Urban Parliament - Halbkreis
05 Urban Parliament - Bänke
06 Urban Parliament - Hufeisen
07 Urban Parliament - Kreis
08 Das Haus des Journalismus
09 Urban Parliament - Klassenzimmer
10 Der Wandelgang
11 Der Platz der Pressefreiheit
12 Urban Parliament - Halbkreis
Lageplan Entwurf
M 1:3333
118 119
DAS HAUS DES
JOURNALISMUS
DER PLATZ DER
PRESSEFREIHEIT
120 121
„
Die Gegend rund um den Schwedenplatz ist Wien in a
nutshell – hier kommt alles, was diese großartige Hauptstadt
eines großartigen Landes ausmacht, zusammen. Hier
treffen sich Jung und Alt, seit Generationen ansässige
Wiener und Wochenendtouristen, alle Religionen, Kulturen,
Traditionen, Internationalität und Provinzialität, Reich und
Arm. In der Seitenstettengasse befindet sich der Stadttempel,
am Fleischmarkt die griechisch-orthodoxe Kirche, ein
buddhistisches Zentrum, eine Abtreibungsklinik, auf der
einen Seite des Salzgries erhebt sich Maria am Gestade, auf
der anderen Seite die Ruprechtskirche, die älteste Kirche der
Stadt.
Berühmt und beliebt ist diese Ecke unter ihrem Spitznamen
„Bermudadreieck“, weil sich Bar an Bar, Restaurant an
Restaurant reiht. Gastronomische Weltreisen kann man
auf wenigen Metern unternehmen: vom alteingesessenen
Schnitzlwirten zum Kultasiaten, Irish Pubs, vietnamesisch zum
Mitnehmen, orientalische Sandwichbars, Großraum-Inder,
duftende Kebab-Grills, dalmatische Edelfische, koreanisches
Barbecue, Hardrock-Cafe, Dunkin‘ Donuts, Starbucks, New
Yorker Steakhouse, vegane Burger, urige Würstelstände,
Sushi, Kaffeehäuser. Dazwischen: gemütliche Weinlokale,
Partybeisl mit großen Plakaten im Schaufenster: fünf Shots
zehn Euro, Balkan-Disco, edle Champagner-Lokale, Shisha-
Lounge, hochpreisige Cocktailbars oder das First Floor, im
Lichte dessen Aquariums Generationen von Wienerinnen und
Wienern erste Dates hatten.
.“
So beschreibt die Schriftstellerin Vea Kaiser in einem Artikel
mit dem Titel „Er wusste, wo diese Stadt am verwundbarsten
ist“ für ZEIT Online die kulturelle und gesellschaftliche
Bedeutung des Schwedenplatzes und der Gegend um ihn
herum. (2020) Anlass dieses Artikels war der Terroranschlag
vom 2. November 2020, als ein Attentäter vor der Synagoge in
der nahegelegenen Seitenstettengasse das Feuer auf mehrere
Menschen eröffnete.
Städtebaulich stellt der Schwedenplatz keinen geplanten
Platzraum dar, sondern bildete sich durch den nicht erfolgten
Wiederaufbau der Häuserzeile nach Ende des 2. Weltkrieges.
Er stellt im östlichen Teil einen Verkehrsknotenpunkt mit
Straßenbahnhaltestellen und U-Bahn-Station dar, die von
diversen Gastronomieständen begleitet werden. Der westliche
Teil ist teilweise als Grünflächen ausgeführt, die jedoch
aufgrund der Tiefgarage mit einem Höhensprung versehen
sind und kaum zum Aufenthalt einladen. Außerdem wird er
durch die Straßenbahntrasse, einen Busparkplatz, sowie die
Tiefgaragenausfahrt zerschnitten. Richtung Donaukanal
befindet sich eine Tankstelle direkt am viel befahrenen Franz-
Josefs-Kai.
In der Platzgestaltung wird der westliche Teil des
Schwedenplatzes zwischen den Abzweigungen
Rotenturmstraße und Marc-Aurel-Straße bearbeitet (teilweise
offiziell als Morzinplatz bezeichnet). Aufgrund seiner zentralen
Lage und der sozialen Heterogenität seiner Benutzer:innen ist
er prädestiniert als Bauplatz für ein demokratisches Projekt,
das die gesamte Breite der Gesellschaft ansprechen soll.
122 123
Donaukanal
Freda-Meissner-Blau-Promenade
Franz-Josefs-Kai
Tankstelle
Busparkplätze
TG-Einfahrt
Gonzagagasse
Schwedenplatz
Marc-Aurel-Straße
TG-Ausfahrt
Morzinplatz
Rotenturmstraße
Salzgries
Rabensteig
Lageplan Schwedenplatz
Bestand
M 1:750
124 125
BÄNKE
Chandigarh
KLASSENZIMMER
Moskau
HUFEISEN
Kapstadt
KREIS
Nord-Rhein-Westfalen
PARLAMENTE
In Parlamenten spielen sich politische Entscheidungsfindungen
und Diskussionen ab. Beziehungen zwischen den einzelnen
politischen Akteur:innen werden durch ihre räumliche
Konfiguration gebildet, Architektur stellt dabei nicht nur eine
Abstraktion der jeweiligen politischen Kultur dar, sondern sie
formt diese zugleich mit (vgl. XML 2016: 6-7), schließlich macht
es einen großen Unterschied ob sich Personen in einer Debatte
vis-á-vis gegenüber sitzen oder kreisförmig zueinander.
Weltweit sind dabei fünf verschiedene Typologien erkennbar:
die gegenüberliegenden Bänke, vom königlichen Hof
abstammend, in dem sich die Mitglieder auf Schwertlänge
gegenübersitzten; der im 19. Jahrhundert in Europa
aufgekommene Halbkreis; die Form eines Hufeisens, eine
Mischung der beiden vorangegangenen Typologien; die
seltene kreisförmige Anordnung; und die sogenannte
Klassenzimmer-Typologie, in der eine große Masse den
Regierenden gegenübersitzt und die hauptsächlich in
autoritären Staaten gefunden werden kann. (vgl. ebd.)
Es ist bemerkenswert, dass während sich unsere Welt und
die politischen Prozesse über die vergangenen Jahrhunderte
stetig weiterentwickelte, die drei heute noch vorherrschenden
Typologien - Bänke, Halbkreis, Hufeisen - bereits alle vor 1850
erfunden wurden und somit ein Weltbild aus imperialistischen
und von der industriellen Revolution geprägten Zeiten
wiederspiegeln. (vgl. ebd.: 7)
In der Platzgestaltung werden die fünf Parlamentstypologien
aufgenommen und in einem räumlichen Katalog miteinander
verbunden, wodurch neue Räume entstehen. Diese werden
auf dem Schwedenplatz verteilt und zu einer einheitlichen
Platzgestaltung zusammengefügt.
GSEducationalVersion
Grundrisse
M 1:750
HALBKREIS
EU Strassburg
126 127
HOUSE OF COMMONS
Vereinigtes Königreich
NATIONALRAT
Österreich
LANDTAG
Nordrhein-Westfalen
NATIONAL ASSEMBLY
Südafrika
NATIONALER VOLKSKONGRESS
Volksrepublik China
128 129
KREIS
HALBKREIS
HUFEISEN
BÄNKE
KLASSENZIMMER
KREIS
HALBKREIS
HUFEISEN
BÄNKE
KLASSENZIMMER
räumlicher Katalog aus Kombination
der 5 Parlamentstypologien
M 1:1500
130 131
0
Lageplan Schwedenplatz
Entwurf
M 1:750
132 133
0 1 5m
repräsentativer Schnitt
Schwedenplatz
134 135
136 137
Der Schwedenplatz wird zum Platz der Pressefreiheit, einem
Ort an dem die Meinungsvielfalt gelebt wird und geht
zurück auf das Telefonat mit Prof. Fritz Hausjell. Durch
seine Platzgestaltung, die durch das Verschmelzen der fünf
Parlamentstypologien entsteht, bilden sich viele kleine Räume,
die den großen Platz gliedern und auf einen menschlichen
Maßstab herunterbrechen. Schließlich soll das Kennenlernen
neuer Perspektiven auf zwischenmenschlicher Ebene passieren,
wofür eine Architektur essenziell ist, die sich auch am Maßstab
des Menschen orientiert.
Der Platz der Pressefreiheit bietet aber auch großzügige
Flächen an, die ihm das Potenzial verleihen, ein Platz
für die Massen zu werden. Hier könnten beispielsweise
Demonstrationen stattfinden, ähnlich wie am Heldenplatz
am Tag nach Veröffentlichung des Ibiza-Videos; oder
Kundgebungen und Feiern am 3. Mai, dem Internationalen
Tag der Pressefreiheit; oder Platzbesetzungen wie 2011 als
der Syntagma-Platz in Athen zu einem „Common Space“
(Stavrides 2016: 165) wurde. Seine großflächige Begrünung
und Bepflanzung macht ihn aber auch zu einem Platz zum
Verbringen der eigenen Freizeit mit hoher Aufenthaltsqualität
inmitten der Millionenstadt.
PLATZ DER PRESSEFREIHEIT
138 139
Mitten auf dem Platz der Pressefreiheit steht das Haus des
Journalismus, ein vielfältig genutztes und der Öffentlichkeit
zur Benützung offen stehendes Gebäude, das den Wert von
Journalismus und seine Relevanz für unsere Gesellschaft
unterstreichen soll. In ihm befinden sich auf mehrere
Geschoße verteilt verschiedene Funktionen, die den Menschen
Journalismus näher bringen sollen.
HAUS DES JOURNALISMUS
JOURNALISMUSCAFÉ
Ein Café im Erdgeschoß bietet ein ähnlich ungezwungenes
Ambiente wie das traditionelle Wiener Kaffeehaus. Hier
begegnen sich Journalist:innen und Medienschaffende, sowie
Geschäftsleute, Studierende oder Tourist:innen. Es liegen
eine Vielzahl an Zeitungen und Magazinen auf, die gleich
wie der Coffee To Go auf den Platz mitgenommen und dort
konsumiert werden können.
MEDIENBILDUNG
Im ersten Obergeschoß befinden sich Workshopräume für
die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die hier im Rahmen
ihres Schulunterrichts einen verantwortungsvollen Umgang
mit Medien erlernen können. Diese Räume stehen allen
Schüler:innen Österreichs zur Verfügung, schließlich fährt jede
Schulklasse zumindest einmal auf Wien-Woche.
JOURNALISMUSREDAKTION
Eine von vielen verschiedenen Medien gemeinsam genützte
Journalismusredaktion im Stil eines Co-Working-Spaces
lässt Synergien entstehen, die gerade für kleine Medien mit
eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten extrem wichtig
sein können. Diese Redaktion kann einen wichtigen Beitrag zur
Medienvielfalt in Österreich leisten.
VERANSTALTUNGSRÄUME UND MEDIATHEK
Im obersten Geschoß befinden sich Veranstaltungs- und
Vortragsräume, sowie zwei kleine Dachterrassen, die von der
Öffentlichkeit, wie von den dort arbeitenden Journalist:innen
gleichermaßen genutzt werden können. Eine kleine Mediathek
bildet eine Sammlung österreichischer Medien und Literatur,
die den Menschen kostenlos zur Verfügung steht.
140 141
0 1 2m
Grundriss EG
Journalismuscafé
142 143
0 1 2m
Grundriss OG 1
Workshopräume
für Medienbildung
144 145
0 1 2m
Grundriss OG 2
medienübergreifende
Journalismusredaktion
146 147
0 1 2m
Grundriss OG 3
Veranstaltungsräume
und Mediathek
148 149
0 1 2m
repräsentativer Schnitt
150 151
152 153
THE OPEN
JOURNALISM HUT
EINE POP-UP-REDAKTION
Ein kleiner Baukörper sitzt am Rande der Donaukanalmauer,
sein großer, gerahmter Eingang mit den vorgelagerten Treppen
wirkt einladend und signalisiert Offenheit. Durch diesen
Schwellenraum, eine Art überdimensionierte Fensterbank,
betritt man das Gebäude, das gerade genug Platz bietet für
zwei Arbeitsplätze, in dem Journalist:innen Recherche-, Leseoder
Schreibarbeiten nachgehen können. Es steht während
den Arbeitszeiten der Bevölkerung offen zugänglich und lädt
ein, mit Journalist:innen in Kontakt zu treten und ihre Arbeit,
sowie den Entstehungsprozess von (Qualitäts-) Journalismus
kennenzulernen.
Die Pop-Up-Redaktion könnte von unterschiedlichen
Medien bespielt werden, täglich abwechselnd oder in einem
wöchentlichen Rhythmus. Sie könnte den Medienschaffenden
dabei helfen mit den Menschen ins Gespräch zu kommen - ein
wichtiger Bestandteil des Recherchierens - und gleichzeitig
Bewusstsein dafür schaffen, welche Arbeit eigentlich hinter
einem Zeitungsartikel oder einem YouTube-Video steckt. Ein
wichtiges Angebot in Zeiten, in denen sich Journalismus gegen
die Informationsflut in sozialen Netzwerken durchsetzen und
sich um unsere Aufmerksamkeit bemühen muss ...
154 155
Grundriss
M 1:75
156 157
158 159
Schnitt
M 1:75
DER WANDELGANG
DISKUTIEREN IM GEHEN
Ein runder, überdachter Baukörper legt sich zwischen die
beiden Donaukanalufer, ohne dabei jedoch eines der beiden zu
berühren. Der Weg im Inneren, der Wandelgang, wird gebildet
aus zwei exzentrischen Kreisen, die ihm eine variable Breite
verleihen: an der breitesten Stelle bietet er Platz für mehrere
Menschen um nebeneinander gehen zu können, an der
engsten Stelle ist er jedoch gerade so breit, dass eine Person
durchgehen kann.
Diese räumliche Verengung führt dazu, dass an eben dieser
Engstelle die Beziehung zur Person die neben einem geht
hinterfragt werden muss: Gehst du vor? Gehe ich vor? Nein,
bitte, ich lasse dir den Vortritt! Das in einer Diskussion so
wichtige Hinterfragen des eigenen Standpunktes wird hier
durch die Raumwahrnehmung verstärkt, im besten Fall sogar
unterbewusst hervorgerufen, wodurch die Architektur das
Verstehen einer anderen Meinung unterstützt.
Der Eingang ist bewusst nur am nördlichen Donaukanalufer
ausgebildet, es weckt für die Passant:innen des
gegenüberliegenden Ufers die Neugier zur Erkundung des
rätselhaft erscheinenden Objektes im Stadtraum und zum
bewussten Überqueren des Flusses.
160 161
DOMKREUZGANG BRIXEN
Südtirol
Schon im antiken Griechenland waren Gelehrte dafür bekannt
im Gehen zu diskutieren und zu philosophieren. Peripatos,
die Schule des Aristoteles, ist nach dem gleichnamigen
Wandelgang des Gymnasiums Lyceum benannt, dem Ort
an dem der Unterricht statt fand. (vgl. Srowig) Dabei handelt
es sich um - zumeist überdachte - Gänge oder Wege zum
Spazieren und Flanieren, in der Antike wurde er teilweise auch
als Säulenhalle ausgebildet. In Kirchen- oder Klosterbauten
des Christentums wiederum ist der sogenannte Kreuzgang zu
finden, ein ebenfalls überdachter, oft mit einem Kreuzgewölbe
ausgebildeter, quadratischer Rundgang. Er umgibt einen
häufig als Garten genützten Innenhof und bietet mit seiner
Ausrichtung gegen Süden hin einen sonnenerwärmten Ort
zum Aufenthalt. In dessen Mitte befand sich häufig ein
Brunnen oder eine Zisterne. (vgl. Mittelalter-Lexikon 2015)
Das markante Gewölbe und dessen lastabtragenden Säulen
verleihen dem Kreuzgang eine Rhythmik, die zusammen
mit der unendlich anmutenden Wegeführung und dem Ruhe
ausstrahlenden, begrünten Innenhof eine kontemplative
Atmosphäre bilden. Geschützt vor Regen und Schnee, aber
auch vor der heißen Sommersonne konnte hier gelesen,
studiert und diskutiert werden.
CLOISTERS MUSEUM
New York
162 163
Grundriss
M 1:250
164 165
SC_200_Schraffuren
SC_200_Linien
Schnitt
M 1:200
166 167
168 169
Kreuzgang_SC_75_Schraffuren
Kreuzgang_SC_75_Linien
uren
M 1:75
Querschnitt - engste Stelle
M 1:75
Querschnitt - breiteste Stelle
M 1:75
170 171
Das Innere des Wandelganges ist mit Holzoberflächen
ausgeführt, die Haptik des natürlichen Materiales unterstützt
die kontemplative Atmosphäre. Die markante Untersicht der
Dachkonstruktion aus der sich an den innenliegenden Enden
lastabtragende Stützen entwickeln zitieren die Kreuzgewölbe
der mittelalterlichen Kreuzgänge und verleihen dem
Rundgang eine Rhythmik des unendlichen Wandelns über
dem beruhigenden Plätschern des Donaukanals.
Das Zentrum des Wandelganges wird bewusst frei gelassen,
die vier nach innen ragenden Plattformen, die die Stützenreihe
punktuell unterbrechen deuten jedoch auf einen gemeinsamen
Fluchtpunkt hin. Ist das der Punkt an dem sich unterschiedliche
Standpunkte treffen würden ...?
172 173
DIE INSEL DER
1001 MEINUNGEN
KENNENLERNEN DER
VIELFALT AN STANDPUNKTEN
Eine begehbare, geneigte Fläche liegt schräg an der Kante des
Donaukanalufers, auf ihr befindet sich ein Wald aus hohen,
leuchtenden Säulen. Sie kann entweder über den bestehenden
Treppenabgang betreten werden, oder aber über das
Kanalufer direkt, wobei man zuerst leicht bergauf geht, bevor
man sich nach unten in Richtung Wasser bewegt.
Die einzelnen Säulen variieren in ihrer Höhe, sie sind beliebig
ausziehbar und leuchten in vielen verschiedenen Farben.
Sie geben Stimmen von sich und ermutigen die Menschen,
mit ihnen zu sprechen. Als buntes, lebendiges Lichtermeer
stehen sie repräsentativ für die Meinungsvielfalt in unserer
Gesellschaft.
GSEducationalVersion
174 175
... Elektroautos
... Klimakrise ...
erneuerbare Energien ...
Ist die Säule ganz unten eingefahren gibt sie ein leises Flüstern
von sich, man hört nur einzelne Worte, sie blinkt leicht ...
Was spricht
gegen Öffis, die
mit Strom fahren?
Abgesehen davon, dass
das ja viele schon
tun...
Piep.
Zuerst brauchen wir
die Infrastruktur, genug
Ökostrom, auch in der Nacht
wenn die Photovoltaikanlagen
nicht liefern, Stromspeicher
gerade in der Nacht zum laden,
Netzausbau, usw....
Statt
in den Ausbau
des öffentlichen Verkehrs zu
investieren werden wieder einmal
die stupiden Elektroautos gefördert, die
nur im Nahverkehr und als kleine Autos
Sinn machen, aber keinen Nutzen für
die Reduktion des Verkehrs insgesamt
haben. Und die Kosten tragen wieder
einmal alle Steuerzahler! Eine
Frechheit!
„Guten Tag, ich bin Andreas Sator
von der Tageszeitung „Der Standard“.
Um die Treibhausgasemissionen zu reduzieren
sollten Benzin- und Dieselfahrzeuge möglichst
schnell gegen Elektroautos ersetzt werden, die mit
erneuerbarer Energie betrieben werden. Doch auch
diese erneuerbaren Energien werden auf Jahrzehnte
knapp sein. Was ist Ihre Meinung zu diesem Problem?
Würden Sie sich heute ein Elektroauto kaufen und
falls ja, warum? Bitte sprechen Sie nach dem
Signalton.“
GSEducationalVersion
Ich frage mich, ob E-Autos
je nachhaltig sein können? Mit
eigener PV Anlage sehr wohl. Da
momentan der Strommix noch zu viel
Strom aus Konventionellen Kraftwerken
enthält, wär das klassisches
Greenwashing.
... zieht man die Säule an ihrem Griff nach oben, ertönt aus
dem Lautsprecher eine Stimme, ein kurzer journalistischer
Impuls zu einem Thema ...
... nun kann man ein paar verschiedene Meinungen zu diesem
Thema hören, die bereits zuvor von anderen Menschen in diese Säule
hineingesprochen wurden und im Anschluss nach dem Signalton selbst
seine Meinung zu diesem Thema kundtun.
176 177
Führungsstab Stahl
Ziehgriff
Transluzente Hülle mit
einstellbaren LEDs
Lautsprecher
Mikrofon
Element drehbar mit Griffen
zum Einstellen der
Farbe der LEDSs
Hat man fertig gesprochen speichert die Säule die eigene
Aussage zu diesem Thema und nimmt sie in ihre Datenbank
auf, sie wird nun anderen Menschen ebenfalls vorgespielt. Die
Griffe am untersten Säulenelement signalisieren, dass man
diese angreifen kann, sobald man daran dreht ändert sich das
Leuchten der Säule und verwandelt die Insel ein buntes, der
Meinungsvielfalt entsprechendes, Lichtermeer.
Die hier beispielhaft abgedruckten Meinungen zu diesem
Thema stammen aus dem Online-Forum des Standard.
Axonometrie
M 1:15
178 179
Grundriss
M 1:250
180 181
182 183
Querschnitt
M 1:100
184 185
186 187
THE URBAN
PARLIAMENTS
FÜNF SPONTANE
RAUMERLEBNISSE
Kleine räumliche Interventionen erweitern das Kanalufer
über das Wasser hinweg, und machen Stadtraum aus einer
Perspektive erlebbar, aus der er zuvor nicht zugänglich
gewesen ist. Die Entwürfe interpretieren die sich bereits in der
Platzgestaltung wiederfindenden Parlamentstypologien und
schaffen Bewusstsein dafür, welchen Einfluss unterschiedliche
Raumkonfigurationen auf soziale Beziehungen haben können.
Natürlich kann in den Urban Parliaments diskutiert und
debattiert werden wie in politischen Parlamenten, sie können
auch als Speaker‘s Corner wie im Hyde Park in London
verwendet werden; jedoch stellen sie auch einfach kleine
öffentliche Orte zur Aneignung dar: hier können in Ruhe
vertrauliche Telefonate oder Vier-Augen-Gespräche geführt,
die Mittagspause oder das Feierabendbier konsumiert werden,
sie stehen der Öffentlichkeit zur individuellen Benutzung
zur Verfügung. In ihrer gestalterischen Ausführung sind sie
einheitlich in dunklen Blautönen gehalten, konstruktiv folgt
jedes der fünf Elemente einem eigenen Grundprinzip.
188 189
Die älteste Parlamentstypologie, jene der sich
gegenüberliegenden Bänke, geht zurück auf den britischen
königlichen Rat, der im Mittelalter den König beriet. In dieser
Ständeordnung saßen sich Adel und Klerus gegenüber,
während der König als Zeichen seiner absoluten Macht an
der Stirnseite Platz nahm. Auch nach dem zweiten Weltkrieg,
als das britische House of Commons neu aufgebaut werden
musste, wurde die räumliche Konfiguration nicht geändert.
(vgl. XML 2016: 12) Heute sitzen sich Regierung und Opposition
gegenüber, was zu teilweise extrem emotionalen Debatten
führen kann.
Am Donaukanal wird den sogenannten Fischerstiegen
- Bestandstreppen die zum Wasser hinunterführen - ein
räumlicher Gegenspieler gegenübergesetzt. Die räumliche
Situation wird gespiegelt, das Setting des House of Commons
bildet sich. Der Abstand zwischen den Bestandstreppen und
der räumlichen Intervention variiert je nach Wasserstand des
Donaukanals: in den Wintermonaten ist ein weiter Schritt
ausreichend um die andere Seite betreten zu können, in den
Sommermonaten kann durchaus ein Sprung nötig sein um die
Installation erleben zu können.
BÄNKE
190 191
Längsschnitt
Querschnitt
Grundriss
M 1:150
Ansicht Ost
192 193
194 195
Die im 19. Jahrhundert neu gebildeten Nationalstaaten
Europas nahmen sich - passend zum damals präsenten
Neoklassizismus - das Layout der Theater des antiken
Griechenland und des antiken Roms zum Vorbild ihrer
Parlamente. In dieser räumlichen Anordnung werden alle
Mitglieder des Parlaments zu einer Einheit, auch wenn
diese im Gegensatz zu ihren antiken Vorbildern nicht
für die Öffentlichkeit bestimmt sind, sondern von einer
repräsentativen Elite gebildet wird. (vgl. XML 2016: 14)
Die räumliche Intervention am Donaukanal nützt die
bestehende Kanalmauer als seitlichen Abschluss und sitzt
dabei niedriger als das Höhenniveau der Kanalufers, wodurch
sich eine Wanne bildet, in der sich die Benutzenden unterhalb
des Wasserspiegels befinden.
HALBKREIS
196 197
Längsschnitt
Ansicht Süd
Grundriss
M 1:150
Querschnitt
198 199
200 201
Die Hufeisen-Typologie bildet eine Kombination aus den
beiden vorangegangen Typologien, dem Halbkreis und
den sich gegenüberliegenden Bänken. Das Hufeisen führt
zwar ebenfalls zu einer vis-á-vis-Situation, schafft dabei
dennoch ein gemeinschaftliches, verbindendes Setting. Es ist
hauptsächlich in früheren britischen Kolonien wie Australien,
Südafrika oder Bangladesh zu finden. (vgl. XML 2016: 16)
Die in regelmäßigen Abständen am Donaukanal errichteten
Treppenabgänge zum Wasser werden von der räumlichen
Intervention aufgegriffen und erweitert. Somit reagiert die
Architektur auf die bestehenden Kanalmauern und verleiht
den - heute eigentlich kaum genützten - Stufen eine neue
Nutzung und zeigt deren räumliches Potenzial.
HUFEISEN
202 203
0
Querschnitt
Längsschnitt
Grundriss
M 1:150
204 205
Ansicht Süd
206 207
Die kreisrunde Anordnung von Parlamentsmitgliedern ist unter
allen Typologien die jüngste, obwohl sie vom isländischen
Althing - einem der ältesten Parlamente der Welt - inspiriert
wurde, das bereits im Jahr 930 bestand. Günter Behnisch griff
in den 1980er-Jahren diese Typologie für den Plenarsaal des
Bundeshauses in Bonn auf, in dem bis 2000 Plenarsitzungen
des Deutschen Bundestages abgehalten wurden. Sie
gilt als wichtiges Symbol für Demokratie und politische
Gleichstellung. Heute gibt es nur elf Parlamente weltweit, die
kreisförmig angeordnet sind und sich keinesfalls auf Europa
beschränken - darunter sind etwa Lesotho, Mikronesien oder
der Senegal. (vgl. XML 2016: 18)
Am Donaukanal sitzt die kreisförmige Intervention auf
der Kante der Donaukanalmauer. Sie scheint auf ihr zu
balancieren und spiegelt das symbolische Gleichgewicht
wieder. Durch ihr Inneres verläuft die Uferkante, die sie
aufgreift und bewusst inszeniert.
KREIS
208 209
Längsschnitt
Querschnitt
Grundriss
M 1:150
210 211
Ansicht Süd
n
212 213
Bei der Typologie des Klassenzimmers sitzt eine große
Anzahl an Parlamentsmitgliedern in aufeinanderfolgenden
Reihen einer zentralen sitzenden Person gegenüber. Sie ist
hauptsächlich in autoritär regierten Regimen zu finden, so
sind etwa die Parlamente von China, Russland oder Nordkorea
nach diesem Prinzip aufgebaut. Auch das relativ moderne,
von Oscar Niemeyer geplante Parlament von Brasilien ist
nach diesem System aufgebaut, worin sich die persönliche
Nähe des Architekten zum Kommunismus wiederspiegelt.
Bemerkenswert ist, dass die Größe dieser als Klassenzimmer
ausgeführten Parlamente mit der Autorität der Staaten
zunimmt - je weniger demokratisch, desto größer werden die
Hallen. (vgl. XML 2016: 20)
Die räumliche Intervention am Donaukanal reproduziert
ebenfalls diese frontale Anordnung der Sitzbänke auf eine sich
mittig, leicht erhöht befindende Person. Die Rückwände sorgen
für einen räumlichen Abschluss, minimieren Ablenkungen
und sorgen dafür, dass die volle Aufmerksamkeit bei der
sprechenden Personen auf der „Bühne“ liegt.
KLASSENZIMMER
214 215
Längsschnitt
Querschnitt
Grundriss
M 1:150
Ansicht Süd
216 217
218 219
VIELEN DANK AN ...
MAMA UND OMA
für alles was ihr für mich in den letzten 28 Jahren getan habt,
ganz besonders aber natürlich für eure Unterstützung während
meinem Studium; ohne euch wäre ich nicht, wer ich heute bin
ERIC UND DAS GESAMTE TEAM DES STUDIO 2
dafür, dass die Gespräche mit euch stets hilfreich und
motivierend waren und ihr mich dabei immer „mein
Ding“ machen habt lassen; ich schätze sehr, dass ihr uns
Studierenden auf Augenhöhe begegnet und finde man
merkt euch an, dass ihr offen dafür seid „neue Perspektiven
kennenzulernen“
ALLE JOURNALIST:INNEN
die sich Zeit dafür genommen haben, meine Fragen schriftlich
oder telefonisch zu beantworten und meiner Arbeit dabei zu
mehr Tiefe verholfen haben
DAS BÜRO LORENZ,
STELLVERTRETEND PETER UND FRANZ
für eure bestmögliche Unterstützung, indem ihr mir es immer
ermöglicht habt meine Zeit flexibel einzuteilen und dabei
Rücksicht auf meine Uni-Termine genommen habt; sowie für
euer Verständnis, dass eine Diplomarbeit nicht in wenigen
Monaten fertig ist
ALLE MEINE FREUNDE
die mich während allen Phasen dieser Arbeit unterstützt
haben und mit denen ich über das Projekt diskutieren konnte;
sowie alle Nicht-Architekt:innen darunter, die mir einfach nur
zugehört und dabei versucht haben, den Entstehungsprozess
einer Architektur-Diplomarbeit zu verstehen
MEINE LAURA
dafür, dass ich mit dir jemanden an meiner Seite habe, bei
dem ich weiß, dass etwas erst gut ist, wenn es dich überzeugt;
sowie für deine umfangreiche Unterstützung in den letzten
eineinhalb Jahren, die vielen Gespräche und Diskussionen, die
dieses Projekt mitgeformt haben
220 221
Benjamin, Walter und Lacis, Ajsa (1925): Naples, in: Peter Demetz
(Hrsg.), Reflections. Essays, Aphorisms, Autobiographical
Writings, Harcourt Brace Jovanovich.
Boettger, Till (2012): Schwellenräume, Bauhaus-Universität
Weimar.
Boettger, Till (2014): Schwellenräume: Übergänge in der
Architektur. Analyse- und Entwurfswerkzeuge, Birkhäuser.
Gadringer, Stefan; Reichenberger, Pauline; Sparviero,
Sergio; Trappel, Josef. (2023). Digital News Report Austria
2023. Detailergebnisse für Österreich. Fachbereich
Kommunikationswissenschaft Universität Salzburg. [online] doi:
10.5281/zenodo.8008752
Lipp, Thorolf (2009): Das Turmspringen der Sa in Vanuatu: Ritual,
Spiel oder Spektakel?, in: H. Willems (Hrsg.), Theatralisierung der
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ABBILDUNGS
VERZEICHNIS
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(o.J.): Der Wiener Donaukanal ist im Sommer immer gut besucht,
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closing session of National People‘s Congress..., The Hindu, [online]
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[20.04.2023].
232 233
EIDESSTATTLICHE ERKLÄRUNG
FARBKONZEPT
Charcoal (77, 23, 0, 67)
Celadon Blue (77, 23, 0, 35)
Beau Blue (14, 5, 0, 14)
Sunray (0, 23, 59, 9)
Dark Goldenrod (0, 33, 86, 30)
SCHRIFTART
Biko Family von Marco Ugolini
PAPIER
Metapaper extra rough white, 120 g/m 2
DRUCK
Hernegger Offsetdruck, Innsbruck
BINDUNG
Buchbinderei Sanders, Innsbruck
Ich erkläre hiermit an Eides statt durch meine
eigenhändige Unterschrift, dass ich die vorliegende
Arbeit selbständig verfasst und keine anderen als
die angegebenen Quellen und Hilfsmittel verwendet
habe. Alle Stellen, die wörtlich oder inhaltlich den
angegebenen Quellen entnommen wurden, sind als
solche kenntlich gemacht.
Die vorliegende Arbeit wurde bisher in gleicher oder
ähnlicher Form noch nicht als Magister-/Master-/
Diplomarbeit/Dissertation eingereicht.
Datum
Unterschrift
234 235