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Martinoni_DieGlockeVonMarbach_Leseprobe

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Frauenfeld<br />

(1900)<br />

Maria Elisabetta Costa wurde am 5. November 1871 in Vila,<br />

ge nauer gesagt in Villagrande, dem alten Kern von Cencenig<br />

he, in der Provinz Belluno geboren. Sie wohnt in Frauenfeld,<br />

wo sie in einer Fabrik arbeitet. Sie verdient zwei Franken<br />

zwanzig pro Tag und legt jeden Monat sechzehn beiseite.<br />

Sie musste sich immer um Haus, Hühnerstall und Gemüsegarten<br />

kümmern. In ihrer Heimat sagt man: «A chi non ama<br />

le fatiche il terreno regala le ortiche» – «Wer die Mühen scheut,<br />

dem beschert der Acker Brennnesseln.» Zweimal am Tag<br />

ging sie mit dem Eimer zur Quelle in Veronetta, wo das reinste<br />

Wasser des Dorfes fließt. Wenn sie im Winter in der holzverkleideten<br />

stua im Bett neben der Nonna Giovanna Carli<br />

schlief, lauschte sie deren rasselnden Atemgeräuschen. Im<br />

Sommer stieg sie allein zur Alp Ai Lach oberhalb von Falcade<br />

hoch, um Salz dorthin zu bringen und Ricotta mitzunehmen.<br />

Von dort oben, wo sich die Gipfel der Dolomiten<br />

mit Morgenglanz schmücken, folgte sie mit ihren Augen<br />

dem Verlauf des Biois.<br />

«Eines Tages werde ich fortgehen», sagte sie sich oft und<br />

spürte dabei ein Schaudern, während im Talboden die Glocken<br />

der Kirche San Simon zum Angelus läuteten. «Ich will<br />

ein anderes Leben.» – «Ein besseres Dasein.» – «Eine Zukunft<br />

ganz für mich.» Und während sich die Berggipfel im Widerschein<br />

des Sonnenuntergangs rosa färbten, fühlte sie beim<br />

Hinuntersteigen etwas Seltsames: einerseits Wärme, aber<br />

auch Schmerz. «Eines Tages werde ich fortgehen», wiederholte<br />

sie oft. Dann begann sie zu rennen, denn wenn es<br />

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