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Martinoni_DieGlockeVonMarbach_Leseprobe

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die gelben und violetten Blumenfelder zu grüßen. Manchmal<br />

geschieht, was nicht geschehen darf. So hatte sie beschlossen,<br />

wegzugehen. Zunächst aus Verwirrung. Dann<br />

aus Scham. Und schließlich aus Angst.<br />

«Schlafen Sie jetzt!», befiehlt die Krankenschwester. «Wie<br />

kann man schlafen», denkt die junge Mutter, «wenn man<br />

an das Geschehene denkt, wie ausruhen, wenn man sich<br />

die Zukunft vorstellt?» Bald wird das Jesuskind wieder geboren.<br />

Auch im Biois­Tal, auf den Bergen, in der nach Harz<br />

duftenden Wärme der Häuser und in den kalten, rauchigen<br />

Höhlen, in die sich die Hirten manchmal nachts zurückziehen.<br />

Dort oben ist die Welt seit Jahrtausenden stehen<br />

geblieben. Als ob alles, vielleicht durch den Willen<br />

Gottes oder durch die Bosheit eines hinterlistigen Wesens,<br />

vielleicht des Matharól, plötzlich zum Stillstand gekommen<br />

wäre. Die Dorfbewohner werden das Kind in der geschnitzten<br />

Holzkrippe neben dem Altar von Sant’Antone<br />

besuchen. Sie werden alte, frohe oder von Trauer erfüllte<br />

Lieder singen. In der Weihnachtsnacht dann, wenn sie nach<br />

Hause zurückkehren, werden sie vor der Nachtruhe in Sahne<br />

gekochte Polenta essen.<br />

Martino Soppelsa wird in seinem Heuschuppen, der tabià,<br />

am Feuer schlafen, während draußen in der Lich tung das<br />

Buchenholz unter dem feuchten Mantel der Erde glimmt.<br />

Er wird die Schaufel fassen und ein Kreuzzeichen in die<br />

Erde machen. Dann wird er eine Lunte anzünden, das Feuer<br />

freilegen und feststellen, dass der Holzhaufen zu Kohle<br />

verbrannt ist. Oder vielleicht ist Martino ins Dorf hinabgestiegen.<br />

Auch für ihn ist es Weihnachten. Jemand wird<br />

gehört haben, wie er mit seinen scarpe da fèr, den be schlagenen<br />

Schuhen, die steinigen Wege des Monte Pelsa heruntergestiegen<br />

ist. «Es ist der Sohn der Witwe.» – «Der carbonèr<br />

kommt. Der Köhler.»<br />

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