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Isolde <strong>Schaad</strong><br />
Das Schweigen<br />
der Agenda<br />
Geschichten vom Innehalten<br />
und Aufhören – im Auge des großen<br />
Duden, Neudeutscheste Fassung<br />
Limmat Verlag<br />
Zürich
Für meine Mutter
9 Leitmotiv<br />
17 Im inneren Ausland<br />
39 Der große Duden, Frau<br />
41 Eine Andere<br />
56 Der letzte Kameltreiber<br />
78 Der große Duden, mann<br />
81 Verfehlte Anklage<br />
101 Der große Duden, Kind<br />
103 Der Tag danach<br />
113 Der große Duden, hund<br />
115 Das Schweigen der Agenda<br />
154 Der große Duden, Hypermama
Leitmotiv<br />
Aufhören! Dieser Zeigefinger auf den Jahrgang, dieser Impe<br />
rativ des Kalenders, der uns als ausgemustert anzeigt –<br />
was tun wir, wenn die Endlichkeit an die Türe klopft? Ergreifen<br />
wir die Flucht nach vorn, eine, wie es heute heißt,<br />
proaktive Maßnahme, um sich gegen Enttäuschung und<br />
Resignation zu schützen? Aufhören, der schwerste Anfang.<br />
Alte Frauen schauen zum Fenster hinaus, die Umwelt im<br />
Blickfeld.<br />
Sie möchten den Anschluss an das Leben nicht verpassen,<br />
denn das Leben spielt sich jetzt außerhalb ihrer Wohnung<br />
ab, sie stellen sich vor, von oben, aus der Vogelschau<br />
den Überblick zu haben, aber das Leben, das sie von oben<br />
erblicken, ist nicht mehr ihres, es findet in weißen Turnschuhen<br />
statt, mit bloßen Knöcheln in überlangen Mänteln,<br />
Joggingdressen und Strickmützen. Die Eleganz, die<br />
ihre Generation gepflegt hat, ist verschwunden, Eleganz<br />
ist ein Fremdwort geworden.<br />
Alte Frauen werden übersehen, es sei denn, sie sind<br />
Künstlerinnen, die oft erst im Alter eine blendende Karrie<br />
re hinlegen, Stichwort Louise Bourgeois. Als Autorinnen<br />
sind sie hingegen bloß das unscheinbare Pendant zu den<br />
überaus präsenten alten weißen Herren, die von jungen<br />
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Genderbewegten, von farbigen Zeitgenossinnen abgetischt<br />
werden wollen. Alte weiße Frauen? Ein Seitenwagen der<br />
MeTooBewegung, die einen neuen Sexismus entfacht?<br />
Das könnte noch kommen. Bald werden alte weiße Frauen<br />
eine identitäre Minderheit sein, die dann jemand für<br />
schützenswert erklärt. Dann kommen sie in den Zoo der<br />
Genderkorrektheit. Das ist nicht der Himmel, oh nein.<br />
Aufhören, der schwerste Anfang.<br />
Aufhören, die Haare zu färben.<br />
Aufhören, High Heels zu tragen.<br />
Aufhören, wütende Pamphlete in die Maschine zu hämmern,<br />
oder Leserbriefe zu verfassen, die dann doch im<br />
Papierkorb landen.<br />
Aufhören, die Kalorien zu zählen, aufhören, abnehmen<br />
zu wollen, abnehmen als der seit Jahrzehnten diktierte verinnerlichte<br />
Weiblichkeitsreflex.<br />
Aufhören, von alpinen Landschaften zu träumen, die<br />
man in Schneeschuhen überquert.<br />
Aufhören, Reisen zu planen, die seit Jahren auf der Pendenzenliste<br />
stehen, das Gebirge, den Gipfel, das Land, die<br />
Stadt der Sehnsucht zu sehen, bevor es zu spät ist. Es ist<br />
längst zu spät.<br />
Überhaupt aufhören mit den unstillbaren Wünschen,<br />
etwa nach einem unsichtbaren, lautlosen Heinzelmann,<br />
der alles Unangenehme stillschweigend erledigt, die ad ministrativen<br />
Unannehmlichkeiten, die Bürde des Haushalts.<br />
Ein Heinzelmann, der mit starken Armen und großem Herzen<br />
einfach und arglos ist.<br />
Aufhören mit Widerworten, die sich impulsiv regen und<br />
nach außen wollen – anlässlich der haarsträubenden<br />
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Ansichten, die etwa Gäste äußern, die der Nachbar, sogar<br />
die beste Freundin von sich gibt.<br />
Heißt das auch aufhören, sich zu wehren? Gegen Missverstehen,<br />
gegen falsche Annahmen, gegen Verleum dungen,<br />
gegen abstruse Behauptungen?<br />
Ist dann das Aufhören die kampflose Preisgabe einer<br />
Lebenshaltung, die einen rebellischen Charakter mit kritischem<br />
Intellekt zusammenballt und bis dato ankert?<br />
Wäre dann Aufhören ein Akt der Feigheit, Ingeborg Bachmann<br />
würde sagen «die Preisgabe der Tapferkeit vor dem<br />
Freund». In ihrem Gedicht Alle Tage ist das Ende der Zivilisation<br />
angesagt: «Das Unerhörte ist alltäglich geworden»<br />
Weiterdenken ist gefährlich, weiterdenken führt zur letzten<br />
Konsequenz. Die schieben wir in der Vorstellung immer<br />
hinaus.<br />
Nehmen wir uns das Handlichere vor. Die Quizfragen, die<br />
die Tage der Rentnerin begleiten. Die Kreuzworträtsel<br />
Beschäftigungen, die uns die letzten Fragen vom Leib halten.<br />
Wie lautet der Schlusssatz von Thomas Manns Zauberberg?<br />
Wie heißt die Hauptstadt von Kolumbien? Wie<br />
hieß der Mann, der den Nordpol entdeckte?<br />
Was steht am Ende von Elfriede Jelineks Kinder der Toten,<br />
ihrem ungelesenen Monumentalroman?<br />
Von Beethoven, dessen Jubeljahr wegen Corona so ziemlich<br />
in die Hosen ging, heißt es, dass er seine Kompositionen<br />
nicht abzuschließen wusste; am wenigsten gelang ihm<br />
das bei seinen Klavierkonzerten, die sich ins Finale stürzen,<br />
dort in ein brausendes Crescendo steigern bis zum<br />
er wartbaren Schlussakkord, der noch und noch einen<br />
draufgibt; das Hämmern hört nicht auf. Der Mann soll<br />
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tagelang um seinen geliehenen Flügel herumgestampft,<br />
gewütet haben, weil ihm kein plausibler Schluss einfiel.<br />
Diese zur schnöden Anekdote geronnene Annahme ist zu<br />
bezweifeln.<br />
Weiter. Wie lautet die letzte Zeile von Goethes Wahlverwandtschaften,<br />
einem Schlüsselwerk der Moderne? Wie<br />
schließt Marcel Proust seine nicht enden wollende Suche<br />
nach der verlorenen Zeit ab? Hat er sie überhaupt abgeschlossen?<br />
Robert Musils unvergänglicher Roman Der<br />
Mann ohne Eigenschaften hat nie einen Schluss gefunden,<br />
er gilt als unvollendet, obschon kein Leser, keine Leserin<br />
einen Schluss vermisst. Das Ende ist schwieriger als der<br />
Anfang, das ist keine sklerotische Altersweisheit.<br />
Werden wir persönlich: Wann haben Sie aufgehört, Französisch<br />
zu lesen oder sich ein Buch auf Spanisch vorzunehmen?<br />
Warum quittierten Sie den Konversationskurs<br />
in Englisch? War’s die Aussichtslosigkeit, vorwärtszukommen,<br />
oder der Umstand, dass die Lektüre mit Wörterbuch<br />
wesentlich an Reiz verliert?<br />
Warum haben Sie aufgehört, ein Instrument zu spielen?<br />
Ist es die Frustration über das Unvermögen oder die Er <br />
kenntnis, dass Aufwand und Ertrag in keinem vernünftigen<br />
Verhältnis stehen?<br />
Wann haben Sie sich entschlossen, den Führerschein<br />
abzugeben? War der Anlass die Vernunft oder der Druck<br />
der Öffentlichkeit?<br />
Haben Sie aus eigenem Antrieb mit einer Tätigkeit, mit<br />
einem Ansinnen, mit einem Verhalten aufgehört oder<br />
wurde Ihnen nahegelegt, damit aufzuhören?<br />
Diese Erwägungen liefen mir durchs Vorderhirn, als ich<br />
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zur Busstation tappte, mein Knie spürte, diesmal war’s das<br />
linke, das nie durch einen Sturz oder eine Verletzung tangiert<br />
gewesen war, es muss Arthrose sein, was es zwackt<br />
und zwickt, nahm ich an, um das Wort Schmerz zu vermeiden.<br />
Ich stand also an der Bushaltestelle mit diesem Klumpen<br />
im Magen, ein schwer zu beschreibendes Unbehagen, das<br />
auf die Seele drückt und den Atem flach hält, diese Ganzkörperempfindung<br />
des Nichtmehr, des Allesvorbei, die<br />
tiefer geht als die manchmal ganz angenehme Nostalgie.<br />
Dann hielt mein Blick an der Litfaßsäule nebenan, die ich<br />
sonst nie betrachte, doch jetzt fiel mir unter kunterbuntem<br />
Popgeschmeiß der ahnungsvolle weißhaarige Kopf<br />
mit den verwitterten Zügen auf, ein grantiger Kerl, aber<br />
ein Kerl, der eine Gitarre in der Linken hielt und sich als<br />
John Mayall herausstellte. So ein alter Sack, dachte ich,<br />
was will der hier und heute? Ich war beleidigt, dass dieser<br />
ausgelaugte Greis sich erlaubte, mein Jugendidol gleichen<br />
Namens zu beschatten, ja, regelrecht zu beschämen. Ich<br />
war hingerissen gewesen von der Platte Turning Point, die<br />
in mir ausgelöst hatte, was gewöhnlich das ganz große<br />
Gefühl heißt, das sonst nur für den berühmten Coup de<br />
foudre reserviert ist.<br />
Auch der nicht enden wollende Mick Jagger gefiel mir<br />
nicht. Wenn er in seiner provokant lasziven Ledrigkeit vor<br />
den Teenies im Hallenstadion herumstakte. Ich rümpfte<br />
die Nase, als eine Kollegin fragte: Kommst du mit? Der<br />
alte Knabe ist immer noch auf Achse. Nein. Auf keinen Fall.<br />
Und ich ging in mich, um nach den Gründen zu fahnden,<br />
weshalb diese Oldies, die mich früher begeistert haben,<br />
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heutzutage anwidern, besonders wenn sie sich in ihrer<br />
Erfolgsgeilheit vor der Jugend produzieren.<br />
Und die alten schwarzen Herren? Die störten mich nicht,<br />
im Gegenteil, ich empfand den Auftritt von schwarzen<br />
Jazzstars jeden Alters als angemessen und würdig, Oscar<br />
Peterson etwa oder Erroll Garner, B. B. King oder McCoy<br />
Tyner, die durften in alle Ewigkeit auftreten, nicht zu<br />
reden von den schwarzen Sängerinnen von Soul und<br />
Blues.<br />
Hatte das damit zu tun, dass die schwarzen Jazzmusiker<br />
für helle Augen von vornherein neutraler wirken, ange zogen<br />
und alterslos, während Nacktheit auf der Bühne ein<br />
weißes Phänomen bleibt? Außerdem benehmen sich die<br />
alten schwarzen Herren des Jazz selten anzüglich dem<br />
Publikum gegenüber.<br />
Dann trat ich zurück und fragte mich, weshalb alte<br />
weiße Musiker keinen HeranschmeißBlues mehr offerieren<br />
sollen, der über Jahrzehnte Millionen von Fans be <br />
glückt hat. Sie können nicht aufhören. Das irritiert mich.<br />
Sie wollen immer noch das Eine, und das Eine ist das Alte.<br />
Sie schmeißen sich an die Jugend heran, in himmelhoher<br />
Selbstüberschätzung und pochen auf ihren offenbar auf<br />
ewig geltenden Kredit. Sprich SexAppeal.<br />
Ein schwerwiegenderer Fall war Bob Dylan. Hatte sich<br />
das Nobelpreiskomitee in der Kategorie getäuscht oder<br />
war das eine schamlose Anbiederung bei der Popularität?<br />
Ich konnte nicht fassen, dass das, was ich bisher für eine<br />
Festung der Integrität gehalten hatte, über Nacht in sich<br />
zusammengekracht war. Und das Nachspiel sprach Bände.<br />
War das ein Witz? Eine Verhöhnung all der seriösen<br />
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Schriftstellerinnen, die ein bedeutendes Stück Weltliteratur<br />
verfasst hatten?<br />
Dann, eines Tages, in heftiger Auseinandersetzung mit<br />
dem Freund der Freunde wurde ich eines Besseren belehrt.<br />
Meine in Blei gegossenen Qualitätsmaßstäbe begannen zu<br />
schmelzen, denn als rettungslos konservative Seele denunziert<br />
zu werden, tat weh.<br />
Plötzlich sah ich ein, dass es auch befreiend wirken<br />
kann, wenn nun in den Künsten der Eklektizismus regiert<br />
und daher Äpfel durchaus mit Birnen verglichen werden<br />
können. Kriterien ändern sich, gerade und vor allem in<br />
dem, was bürokratisch das Kulturschaffen heißt.<br />
Ich stand an der Haltestelle und verpasste den Bus. Tief in<br />
Gedanken ging ich zu Fuß. Nein, die Alten sollen, die Alten<br />
dürfen, die Alten müssen, war schließlich mein Befund.<br />
Aufhören ist keine Option für arrivierte Kulturtäter – in ternational<br />
nicht und auch nicht lokal. Nicht für Adolf Muschg<br />
oder Franz Hohler, und sie war auch keine für Christa Wolf<br />
und Friederike Mayröcker. Währenddessen sich ein Max<br />
Frisch schon Ende sechzig fragte, ob sein Schreiben noch<br />
etwas tauge. Bekanntlich hat er das vierte Tagebuch nicht<br />
autorisiert zur Publikation, es genügte seinem hohen An <br />
spruch nicht. Ob sein Leben ohne Publikation ange neh <br />
mer war, hätte ich gerne gewusst.<br />
Meine Umfrage schlitterte in die Sackgasse, der Befund<br />
war zu vielfältig, die Sachlage zu divers, um eine Theorie<br />
daraus abzuleiten. Die Schlussfolgerung war in ungefähr<br />
diese: Die Trägheit ist die Mutter des Aufhörens, selten die<br />
Einsicht. Der Aufwand, Dinge zu tun, die nicht lebensnotwendig<br />
sind, wird mit vorrückendem Alter beschwerlich.<br />
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So lässt sich das Schreiben, Singsongwriten inbegriffen,<br />
bis zum letzten Atemzug durchaus als lebensnotwendig<br />
erachten, während das Tragen von hohen Absätzen sich<br />
mit der Zeit von selbst erübrigt. Wie so oft in Interviews,<br />
wa ren die Fragen interessanter als die Antworten. Die<br />
Erkenntnis, dass das Thema Aufhören linear und entsprechend<br />
brutal zum Thema Entsorgung führt, blieb spürbar,<br />
doch unausgesprochen. Sie war keine Linderung des Un <br />
abänderlichen, das dahintersteht. Das Endgültige.
Im inneren Ausland<br />
Die große Blonde, die ich im Blick habe, um genau zu sein,<br />
die ehemalige Blonde, jetzt Blondierte, die neben dem<br />
wächsernen Rhododendron sitzt, scheint auf jemanden<br />
zu warten. Vorname: Barbara, Nachname: Kunert, Beruf:<br />
Übersetzerin, Zivilstand: verheiratet, ein erwachsener<br />
Sohn, Habitus: unauffällig. Ich kann mir nicht vorstellen,<br />
dass diese Frau unrechtmäßig Sozialhilfe bezieht. Sie wurde<br />
mir zugeteilt, dabei bin ich ein Greenhorn als Sozialdetektivin,<br />
alles andere als ein Traumjob, aber es sei mit<br />
meiner Qualifikation der einzige einigermaßen zumutbare,<br />
und überhaupt, besser als an der Kasse zu sitzen. Wir<br />
treten jetzt ja alle kurz, heißt es beim RAV, der regionalen<br />
Arbeitsvermittlung, ich muss froh sein um diesen Job, als<br />
studienmüde Dreiviertelsoziologin, dabei habe ich keine<br />
Ahnung, wie ich vorgehen soll, trotz des Crashkurses im<br />
Observieren.<br />
Die Kunert schreckt plötzlich auf, und ich erschrecke mit<br />
ihr. Zum Glück bin ich in Deckung hinter der mit künstlichem<br />
Efeu verkleideten Säule. Sie war offenbar in einem<br />
Flow der Entrücktheit, und jetzt tut ihr der Hintern weh,<br />
denn sie rutscht auf der ketchupfarbenen, leicht wippenden<br />
Kunststoffonstruktion hin und her, Blick auf das<br />
Handy, neben der leeren Kaffeetasse. Jetzt steht sie auf und<br />
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erscheint nach fünf Minuten mit einer zweiten Tasse, in<br />
der sie eifrig rührt.<br />
Ich denke, sie wartet auf einen Anruf, wie jeden Dienstag<br />
um diese Zeit. So viel habe ich bisher herausgefunden,<br />
jeden Dienstag um die gleiche Zeit, am frühen Nachmittag,<br />
trifft Kunert eine andere Frau, vermutlich eine Freundin.<br />
Nun wartet sie auf deren Anruf, da die andere regelmäßig<br />
verspätet ist. Ich zücke das Notizbuch, notiere: Freundin<br />
wie jeden Di verspätet, K. wird sichtlich nervös. Ich erwäge,<br />
ob ich auch einen Latte von der Theke holen soll, um mich<br />
nicht verdächtig zu machen. Verhalten Sie sich wie eine<br />
normale Kundin, hieß es im Crashkurs. Was ich bereits<br />
weiß, ist, dass die Freundin, eine kleine Dunkle mit grauen<br />
Strähnen im Pony, keinen Latte trinken darf, weswegen<br />
die Große, Blondierte, Rücksicht nimmt, und das Modegetränk<br />
vorher hinunterkippt, nein, falsch, sie trinkt langsam,<br />
in kleinen Schlucken, aber jetzt, jetzt hat sie es hörbar<br />
eilig und schlürft, da die kleine Dunkle im Anzug ist. Ich<br />
kann sie an den klackenden Absätzen erkennen, die in meinen<br />
Ohren aufploppen wie der ruchbare Elefant im Raum.<br />
Nein, falsches Bild, und überhaupt, die High Heels der<br />
Freundin sind ja nicht mein Thema. Die Kunert trägt be <br />
que mere Schuhe, halbhohe Lederstiefel von Qualität. Ich<br />
notiere: K. trägt teure Bottinen, und setze ein Fragezeichen<br />
dahinter. Dann erschrecke ich über mich selbst: Solide<br />
Schuhe sollten doch drinliegen, in einem Sozialhilfebudget.<br />
Gute Schuhe sind elementar für die Lebensqualität.<br />
Das Unding von einer Sitzgelegenheit quietscht leicht, als<br />
die Kunert aufsteht, und die kleine Strähnige umarmt.<br />
Hallo Bab, der Bus ist mir vor der Nase abgefahren. Ich bin<br />
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den ganzen Weg hergelaufen. Die Freundin, außer Atem,<br />
reißt das Béret vom Kopf, ich hoffe, du bist nicht sauer.<br />
Gleich hätte ich dich ausrufen lassen.<br />
Echt jetzt?<br />
Ach komm, unser Stammtisch ist leider besetzt, du<br />
musst mit dieser Rutschbahn vorliebnehmen.<br />
Ich bin so froh, dass du da bist, Bet, schallt jetzt die Ku <br />
nert. Ja, sie hat ein schallendes Organ. Dann stecken die<br />
bei den die Köpfe zusammen, und ich verstehe Bahnhof.<br />
Bet für Betty, Bettina, Bertha? Das werde ich noch rauskriegen<br />
müssen, und wenn ich ihren Nachnamen kenne,<br />
könnte der ServilityCheck fällig werden. Das ist ein Fachausdruck<br />
der Branche für das Befragen von Nachbarn und<br />
Freunden. Richtig, eine Zumutung, ja, Observieren ist eine<br />
Zumutung, kein Beruf. Aushorchen und schnüffeln, habe<br />
ich beruflich so etwas angestrebt? Doch was habe ich für<br />
eine Wahl? Putzen bei den Happy Few am Zürichberg wäre<br />
die Alternative.<br />
Mal sehen, ob nun zwischen den beiden etwas geschieht.<br />
Die Kunert zerknüllt das Staniolpapierchen, in dem die<br />
Praline war, die sie aus der Handtasche gefischt hat, hier,<br />
in der Imbissecke des erfolgreichen Großverteilers wird<br />
nichts gratis gereicht, hier braucht man sich nicht um<br />
Kundschaft zu bemühen, die kommt von selber, in Scharen<br />
kommt sie, sodass die Frauen im Ausschank oft überfordert<br />
sind. Kein Lächeln für die Wartenden an der Theke,<br />
jedes außerdienstliche Wort ist zu viel.<br />
Diese Imbissecke des Großverteilers ist ein Stilgemisch<br />
von Pomp und Gemütlichkeit, und wohl gerade darum eine<br />
Oase der Globalisierung. Allein schon diese tropisch auf<br />
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gemotzte Tapetenkulisse, ergänzt von lockenden Kübelpalmen,<br />
die ein Ferienparadies vortäuschen, zweifellos<br />
verkappte Werbung für das Reiseunternehmen Hotelplan,<br />
das der Großverteiler unter anderen Unternehmen führt.<br />
Die Kübelpalme ist eine sanfte Mahnung an ehemalige<br />
Traumdestinationen, die neuerdings verpönt sind, die<br />
Klimajugend überschreit sie jeden Freitag.<br />
Ich rücke mit meinem Kaffee an den Nachbartisch vor<br />
und versuche, etwas vom Gespräch am roten Wipptisch<br />
zu erhaschen. Fehlanzeige, jetzt flüstern die beiden.<br />
Also wende ich mich wieder der Betrachtung der Ausstattung<br />
zu.<br />
Jeder Nische ihre eigene Exotik. Sie gewährt eine ge wisse<br />
Privatheit, die gesucht ist. Verfehlt ist freilich der dekorati<br />
ve Zeigefinger auf die adressierte Kultur, ob goldene BuddhaStatuen,<br />
indische Baldachins oder Elefantensafari, die<br />
wenigen SubsaharaAfrikaner, die hier verkehren, denken<br />
nicht daran, sich in die Werbevision ihrer Herkunft zu setzen.<br />
Sie haben andere Sorgen.<br />
Sie waren zu Hause die Hoffnungsträger der Sippe, die<br />
ihre Heimat verließen, um in Europa ihr Glück zu machen.<br />
Hier werden sie proletarisiert in einem mit Hindernissen<br />
gespickten Arbeitsmarkt, dabei gibt ihnen die Bürokratie<br />
kaum eine Chance. Jetzt erfahren sie eine Ausweglosigkeit,<br />
die den mitgebrachten Ehrenkodex brüskiert; um jeden<br />
Preis müssen sie den Schein des Erfolgs wahren, was der<br />
Not besondere Blüten abknöpft, nicht selten die kleine und<br />
dann die große Delinquenz.<br />
Auch in der Nische mit der fotografisch aufgeblasenen<br />
Sphinx sitzt niemand, jedenfalls würdigen sie die zwei un <br />
weit davon im Gespräch vertieften Ägypter mit keinem<br />
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Blick, sie tragen Poloshirts mit dem für Arriviertheit bürgenden<br />
Label Lacoste und ihnen ist schnuppe, wo sie sitzen,<br />
solange das Menü erschwinglich ist und das Geschäft<br />
läuft, hinter dem sie her sind. Denn die Schattenwirtschaft<br />
blüht in diesen Gefilden, Kundenberater trifft Offshore<br />
Spezialist und dergleichen, wovon ich zwar keinen Deut<br />
verstehe, was aber meine Fantasie anregt. Am redlichsten<br />
kommt mir der Beratungsbetrieb vor, der an den Fensterplätzen<br />
läuft. Dort findet Sprachunterricht für Sans Papiers<br />
und Asylbewerberinnen statt.<br />
Leise, rasch, diszipliniert – als wär’s eine glückende In <br />
klu sion! Obschon das Wort schon seine eigene Ab schreckung<br />
ist. Man will ja nicht in die Kultur eingesperrt werden,<br />
deren Sprache man lernt, man will die Freiheit haben,<br />
anders zu sein und als Andersheit respektiert zu werden.<br />
Deshalb sieht man hier kaum ethnisch gemischte Gruppen.<br />
Die Andersheit bleibt unter sich.<br />
Die Kunert und ihre Freundin. Jeden Dienstag um drei Uhr<br />
fünf. Oder drei Uhr zehn, eher aber drei Uhr fünfzehn. Das<br />
nächste Mal muss es klappen. Das nächste Mal observiere<br />
ich die beiden aus einer nahen Polsterbank mit Rückwand.<br />
Sie plaudern, doch von den vernehmbaren Äußerungen<br />
fällt nichts für mich ab. Also packe ich mein Schreibzeug<br />
in meine Tasche und gehe durch die doppelstöckige<br />
Verpflegungshalle, die man ebenso gut eine Landestelle<br />
der Migration nennen könnte.<br />
Fremde Laute zirkulieren im Pendelverkehr, rundhe rum<br />
versammeln sich Stammesbrüder an ihren Stammtischen,<br />
sie sind von einer urtümlichen, geradezu archaischen<br />
Ländlichkeit, wo das Patriarchat auch in der Kleiderfrage<br />
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