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Herzig_Landstrassenkind_Leseprobe

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als Kultur, sondern als sozialer Missstand. Deshalb sollen jenische<br />

Kinder angepasst werden. Die Mittel sind zerstörerisch:<br />

Kinder werden ihren Eltern weggenommen, Familien auseinandergerissen.<br />

Die Vormundschaftsbehörden entmündigen<br />

Eltern und platzieren Kinder. Sie befehlen administrative<br />

Versor gun gen in Zwangsarbeitsanstalten, in psychiatrischen<br />

Kliniken und wie im Fall von Mariella Mehr auch in Gefängnissen.<br />

In Betrieb genommen wird diese Diskriminierungsma schinerie<br />

1926 von der Stiftung Pro Juventute, die 1912 von der<br />

Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft gegründet<br />

wird. Zunächst geht es Pro Juventute um die Bekämpfung von<br />

Tuberkulose bei Kindern und Jugendlichen, mit der Zeit weitet<br />

die Stiftung ihr Tätigkeitsfeld auf die «Kinder­ und Jugendfürsorge»<br />

insgesamt aus. Finanziert wird diese Tätigkeit durch<br />

Beiträge von Bund, Kantonen und Gemeinden wie auch durch<br />

Spenden, Legate und selbst erwirtschaftete Erträge.<br />

Grundlage für Kindswegnahmen bildet das Zivilgesetzbuch<br />

ZGB von 1912, vorher sind präventive Eingriffe in die<br />

Familie nicht möglich. Einige der von Pro Juventute ange wende<br />

ten Zwangsmassnahmen gibt es bereits vor 1926, andere über<br />

1973 hinaus. Die Stiftung Pro Juventute gibt es heute noch.<br />

Im frühen 20. Jahrhundert stehen sozialdarwinistische<br />

und rassenhygienische Theorien hoch im Kurs in Europa und<br />

in der Schweiz. Auf sie bezieht man sich im Kampf gegen die<br />

Jenischen. Allerdings will die Stiftung Pro Juventute nicht<br />

die Menschen ausrotten, wie es diese Theorien in letzter Konsequenz<br />

vorsehen, sondern ihre Lebensweise. Für die Betroffenen<br />

dürfte es sich trotzdem wie ein Vernichtungsversuch<br />

anfühlen.<br />

Wieder ausgeschaltet wird die Assimilierungsmaschine<br />

der Stiftung Pro Juventute 1973. Zu einer Zeit, in der ein Kulturkampf<br />

tobt. Die Jugendbewegung von 1968 stellt bürgerliche<br />

Werte infrage. Auf der Strasse riecht es nach Tränengas,<br />

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