Herzig_Landstrassenkind_Leseprobe

25.10.2023 Aufrufe

Heftig und scheinbar unkontrolliert. Das ist meine Wut. Sie hält mich am Leben. Ich habe zu viel Scheisse im Kopf. Zu viele Bilder, zu viele Ideen, zu viel Ungerechtigkeit. Das muss raus. Ich werde im Frauengefängnis Hindelbank geboren. Dort wird meine Mutter weggesperrt, weil sie mit mir schwanger ist. Etwas anderes hat sie nicht verbrochen. Kein Diebstahl, kein Drogenschmuggel, kein Pflastersteinwurf. Sie hat ungeschützten Sex gehabt. Doch viel schwerer, als was sie getan hat, fällt ins Gewicht, was sie ist: jenisch durch Geburt. Eine «Vagantin», heisst dies in den 1960er­Jahren. «Vagantismus» will der Staat ausrotten. Vormundschaft, Sozialbehörde, Ar menpflege, Psychiatrie, Justiz. Die Staatsmaschine, der Maschinenstaat. Mein Vater ist Rom. Italienisch­französischer Doppel bürger. Dazu ehemaliger Widerstandskämpfer gegen die Nazis und zwanzig Jahre älter als meine Mutter. Das passt der Schweiz nicht. Sie hält ihn für einen Zuhälter. Anders können sich der Gefängnisdirektor und die Vormundin die Beziehung meiner Eltern nicht erklären. Liebe ist keine Option. So steht es in den Akten. Nach einem halben Jahr nimmt mich der Staat meiner Mut ter weg. Der Dorfpfarrer hat eine Familie aufgetrieben, die mich zum Kuhschweizer machen soll. Dort falle ich in einen Topf siedendes Wasser. Natürlich ist es ein Unfall. Weil ich ein so wahnsinnig zappeliges Vagantenkind bin, das nicht still liegen kann. So steht es in den Akten. Ich glaube nichts, was in den Akten steht. Einige Joints, viele Kerzen und «Dirty Old Town» von The Pogues. Mein erstes Bad verlangt nach einem Ritual. Ich bin 21 Jahre alt und habe sechzig bis siebzig Hautverpflan zungen durchgemacht. Um die 35 Vollnarkosen. Vier Wände und Wasser treiben mir die Panik in den Kopf. Mein ganzes bisheriges Leben lang habe ich geduscht. 10

Danke Schweiz, dass du mich kaputt gemacht hast und nicht ein anderes Land. Dann wäre ich jetzt nämlich tot. Mitte fünfzig habe ich chronische Nervenschmerzen in meinen Füssen, obwohl nur noch wenige Nerven da sind, die überhaupt Informationen ans Hirn liefern. Es fühlt sich an wie viel zu enge Gamaschen. Das sind Nachwirkungen meiner Verbrühungen. Wenn ich noch lange lebe, werden die Beine irgend wann einmal amputiert. Ich schlafe nicht mehr als fünf bis sechs Stunden. Und auch das nur mit ein paar Joints. Mein Arzt würde mir sofort Schmerzmittel verschreiben, wenn ich danach fragte. Opioide. Wie die wirken, weiss ich. Ich bin jetzt über zwanzig Jahre clean. Kein Heroin mehr, kein Kokain. Dafür Schmerzen. Das Spital ist mein zweites Zuhause geworden. Mehr als fünf Tage verreisen geht nicht. Ich habe Diabetes. Die Bauchspeicheldrüse funktioniert nicht mehr richtig. Die Leber verfettet, weil ich mir Hepatitis angefixt habe. Ausserdem habe ich immer wieder Hautkrebs. Zunächst an den Armen. Dann wird mir ein Melanom aus der Lippe geschnitten, ein anderes aus dem Kinn. So nahe am Hirn war der Krebs noch nie. Dabei ist der Schädel mein einziges Körperteil, das mehr oder weniger ganz geblieben ist. Abgesehen von der Narbe aus einer Schlägerei mit Skinheads. Ich war in mehr als einer Pflegefamilie, in Heimen, in der Psychiatrie, in der Punkszene, im thailändischen Dschungel, in den Drogen. Ich habe mit meinen verbrannten Beinen Skitouren gemacht, Aikido trainiert, Pogo getanzt, Konzerte gegeben und mich mit Faschos geprügelt. Ich habe Heroin, Kokain und Schlaftabletten gefixt. Ich habe Shit verdealt. Ich habe meine Wut mit Hardcore­Punk in die Welt hinausgeschrien. Ich habe Schulden angehäuft, die ich Jahrzehnte später noch abstottere. Ich habe im Wald geschlafen und in Notschlafstellen. Ich habe Stoff vermittelt, um selbst an Stoff zu kommen. 11

Heftig und scheinbar unkontrolliert. Das ist meine Wut. Sie<br />

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Ich habe zu viel Scheisse im Kopf. Zu viele Bilder, zu viele<br />

Ideen, zu viel Ungerechtigkeit. Das muss raus.<br />

Ich werde im Frauengefängnis Hindelbank geboren. Dort<br />

wird meine Mutter weggesperrt, weil sie mit mir schwanger<br />

ist. Etwas anderes hat sie nicht verbrochen. Kein Diebstahl,<br />

kein Drogenschmuggel, kein Pflastersteinwurf. Sie hat ungeschützten<br />

Sex gehabt. Doch viel schwerer, als was sie getan<br />

hat, fällt ins Gewicht, was sie ist: jenisch durch Geburt. Eine<br />

«Vagantin», heisst dies in den 1960er­Jahren. «Vagantismus»<br />

will der Staat ausrotten. Vormundschaft, Sozialbehörde, Ar menpflege,<br />

Psychiatrie, Justiz. Die Staatsmaschine, der Maschinenstaat.<br />

Mein Vater ist Rom. Italienisch­französischer Doppel bürger.<br />

Dazu ehemaliger Widerstandskämpfer gegen die Nazis und<br />

zwanzig Jahre älter als meine Mutter. Das passt der Schweiz<br />

nicht. Sie hält ihn für einen Zuhälter. Anders können sich der<br />

Gefängnisdirektor und die Vormundin die Beziehung meiner<br />

Eltern nicht erklären. Liebe ist keine Option. So steht es in den<br />

Akten.<br />

Nach einem halben Jahr nimmt mich der Staat meiner<br />

Mut ter weg. Der Dorfpfarrer hat eine Familie aufgetrieben,<br />

die mich zum Kuhschweizer machen soll. Dort falle ich in einen<br />

Topf siedendes Wasser. Natürlich ist es ein Unfall. Weil ich ein<br />

so wahnsinnig zappeliges Vagantenkind bin, das nicht still<br />

liegen kann. So steht es in den Akten.<br />

Ich glaube nichts, was in den Akten steht.<br />

Einige Joints, viele Kerzen und «Dirty Old Town» von<br />

The Pogues. Mein erstes Bad verlangt nach einem Ritual. Ich<br />

bin 21 Jahre alt und habe sechzig bis siebzig Hautverpflan zungen<br />

durchgemacht. Um die 35 Vollnarkosen. Vier Wände und<br />

Wasser treiben mir die Panik in den Kopf. Mein ganzes bisheriges<br />

Leben lang habe ich geduscht.<br />

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