Im Garten Eden der Gentechnik
In Europa sind genetisch veränderte Pflanzen streng
reguliert. Landwirtschaft und Wissenschaft fühlen
sich abgehängt. Die EU will das jetzt ändern – und hat
damit einen erbitterten Streit neu entfacht
In Europa sind genetisch veränderte Pflanzen streng
reguliert. Landwirtschaft und Wissenschaft fühlen
sich abgehängt. Die EU will das jetzt ändern – und hat
damit einen erbitterten Streit neu entfacht
WISSEN - Im Garten Eden der Gentechnik In Europa sind genetisch veränderte Pflanzen streng reguliert. Landwirtschaft und Wissenschaft fühlen sich abgehängt. Die EU will das jetzt ändern – und hat damit einen erbitterten Streit neu entfacht TEXT VON ALINA REICHARDT FOTOS VON STEFFEN ROTH 62
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WISSEN<br />
-<br />
<strong>Im</strong> <strong>Garten</strong> <strong>Eden</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>Gentechnik</strong><br />
In Europa sind genetisch verän<strong>der</strong>te Pflanzen streng<br />
reguliert. Landwirtschaft und Wissenschaft fühlen<br />
sich abgehängt. Die EU will das jetzt än<strong>der</strong>n – und hat<br />
damit einen erbitterten Streit neu entfacht<br />
TEXT VON ALINA REICHARDT FOTOS VON STEFFEN ROTH<br />
62
LANDWIRTSCHAFT<br />
(Un)geliebtes Gewächs<br />
Zellbiologe Friedrich<br />
Kragler kontrolliert sein<br />
Versuchsobjekt, die<br />
Acker-Schmalwand.<br />
Für die Landwirtschaft ist<br />
sie Unkraut, in <strong>der</strong><br />
Wissenschaft eine<br />
wichtige Modellpflanze<br />
FOCUS 18/2023 63
WISSEN<br />
Fadendünn und daumenlang<br />
sind die Stängel <strong>der</strong> Acker-<br />
Schmalwand. Fixiert in einer<br />
gallertartigen Masse liegen<br />
sie in einer transparenten Box.<br />
Wer genau hinschaut, kann<br />
die kleinen Bruchstellen in<br />
den Stängeln noch erahnen.<br />
Hier haben Friedrich Kragler und sein<br />
Team vom Max-Planck-Institut für Molekulare<br />
Pflanzenphysiologie nahe Potsdam<br />
die Pflänzchen durchgeschnitten.<br />
Sie haben winzige Silikonschläuche eingeführt,<br />
genetisch verän<strong>der</strong>tes Wurzelwerk<br />
aufgesteckt und das Ganze beim<br />
Zusammenwachsen beobachtet. Dieses<br />
Aufstecken wird Pfropfen genannt und ist<br />
eine uralte Agrartechnik. Die Wurzel ist<br />
so bearbeitet, dass sie die DNA <strong>der</strong> aufgesteckten<br />
Pflanze verän<strong>der</strong>n kann. So<br />
verhilft sie ihr zu neuen Eigenschaften.<br />
Einer besseren Nährstoffaufnahme etwa.<br />
Die Samen <strong>der</strong> Pflanze werden die neuen<br />
Eigenschaften weitergeben – nicht aber<br />
die genetische Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Wurzel.<br />
„Was wir hier gemacht haben, ist eigentlich<br />
sehr simpel“, sagt Friedrich Kragler<br />
und lacht. Er weiß, dass das nicht stimmt.<br />
So unscheinbar die kleinen Pflänzchen<br />
wirken, sie stehen für etwas Großes: für<br />
eine Entdeckung, die Pflanzenzucht entscheidend<br />
beschleunigen könnte. Und<br />
für den Beweis, dass sich traditionelle<br />
Landwirtschaft und mo<strong>der</strong>ne <strong>Gentechnik</strong><br />
perfekt ergänzen können. Bei einigen<br />
aber wecken sie Ängste. Vor dem<br />
Unbekannten, und davor, dass dem Menschen<br />
die Kontrolle über seine Schöpfungen<br />
entgleitet. Kraglers Forschung<br />
ist damit Teil eines Streits, <strong>der</strong> in Europa<br />
wie auf keinem an<strong>der</strong>en Kontinent tobt<br />
und bald einen neuen Höhepunkt erleben<br />
dürfte. Die Europäische Kommission<br />
will die 20 Jahre alte Rechtsgrundlage für<br />
die Anwendung von <strong>Gentechnik</strong> in <strong>der</strong><br />
Landwirtschaft aktualisieren. Bis Juli ist<br />
ein erster Entwurf geplant.<br />
Vereinigungen aus Wissenschaft und<br />
konventioneller Landwirtschaft for<strong>der</strong>n<br />
diesen Schritt seit Jahren. Sie sehen sich<br />
durch die veralteten Gesetze abgehängt.<br />
Umwelt- und Bioverbände laufen dagegen<br />
Sturm. Sie fürchten Umweltrisiken<br />
und wittern hinter dem Vorstoß Gewinngier<br />
großer Konzerne. Aber auch bei<br />
ihnen selbst dürften wirtschaftliche Interessen<br />
eine Rolle spielen. <strong>Im</strong> Ökolandbau<br />
ist mo<strong>der</strong>ne <strong>Gentechnik</strong> verboten. Viele<br />
Produkte werben damit. Ebenso verhärtet<br />
sind die Fronten in <strong>der</strong> Politik. Grüne, Linke<br />
und Sozialdemokraten sowie Teile <strong>der</strong><br />
AfD machen sich gegen <strong>Gentechnik</strong> stark.<br />
Eine sachliche Debatte ist oft kaum noch<br />
möglich. Denn während <strong>Gentechnik</strong> in <strong>der</strong><br />
Medizin seit Jahren Pionierarbeit leistet, ist<br />
sie in <strong>der</strong> Landwirtschaft zu einem Kampfbegriff<br />
geworden. Dabei ist für eine Einschätzung<br />
<strong>der</strong> geplanten Neuerung wissenschaftliches<br />
Feingefühl gefragt.<br />
Geregelt ist die sogenannte Grüne <strong>Gentechnik</strong><br />
in <strong>der</strong> Freisetzungsrichtlinie von<br />
2001. Sie reguliert vor allem die klassische<br />
<strong>Gentechnik</strong>, also Pflanzen, in die<br />
artfremde DNA eingebaut wurde. In den<br />
späten 90er Jahren feierte etwa <strong>der</strong> Mais<br />
MON810 weltweit Erfolge. Er enthält Erbgut<br />
des Bakteriums Bacillus thuringiensis,<br />
das ein für manche Insekten giftiges<br />
Protein produziert. Das schützt die Pflanzen<br />
vor Schädlingen und soll den Einsatz<br />
von Pestiziden verringern. Er ist die einzige<br />
Genpflanze, die heute noch in <strong>der</strong><br />
EU wachsen darf. Doch dazu später mehr.<br />
EU erlaubt Einfuhr von 90 Gensorten<br />
Bei <strong>der</strong> Neuregelung soll es um eine<br />
Weiterentwicklung gehen, bei <strong>der</strong> keine<br />
Fremd-DNA mehr zum Einsatz kommt<br />
– die Punktmutation (siehe S. 66). Pflanzen,<br />
die damit erzeugt werden, müssten<br />
nach <strong>der</strong> Reform womöglich nicht mehr<br />
als <strong>Gentechnik</strong> gekennzeichnet werden<br />
und keinen strengen Zulassungsprozess<br />
mehr bestehen. Auch Friedrich Kragler<br />
und sein Team arbeiten mit Punktmutation.<br />
Forschende untersuchen dafür die<br />
DNA einer Pflanze auf eine bestimmte<br />
Eigenschaft, zum Beispiel Strukturen, die<br />
als Einfallstor für Pilze dienen. Dann schicken<br />
sie die Genschere Crispr/Cas auf<br />
den Weg. Sie besteht aus einem Erbgut-<br />
Schnipsel, <strong>der</strong> genau auf die ausgesuchte<br />
DNA-Stelle passt, und einem Protein,<br />
das die DNA an dieser Stelle zerschneidet.<br />
Es verän<strong>der</strong>t die vorher ausgesuchte<br />
Eigenschaft gezielt. In diesem Beispielfall<br />
könnte auf Antibiotika gegen den Pilz<br />
verzichtet werden.<br />
„Der große Vorteil dabei ist<br />
das Tempo. Bei herkömmlicher<br />
Züchtung müsste ich über<br />
Jahre versuchen, genau diesen<br />
Effekt zu erzielen, und würde<br />
gleichzeitig auch viele Mutationen<br />
bekommen, die ich gar<br />
nicht wollte“, sagt <strong>der</strong> Biologe<br />
Robert Hoffie, <strong>der</strong> am Leibniz-<br />
Institut für Pflanzengenetik<br />
und Kulturpflanzenforschung<br />
arbeitet. „Gleichzeitig könnte<br />
so eine Punktmutation auch<br />
auf natürlichem Weg entstehen.<br />
Der genetische Eingriff<br />
ist im Nachhinein nicht mehr<br />
nachweisbar.“ Aus diesem<br />
Grund definieren viele Län<strong>der</strong><br />
»<br />
<strong>Gentechnik</strong> wird<br />
die Welt nicht<br />
retten. Aber sie<br />
kann eine sehr gute<br />
Ergänzung sein<br />
«<br />
solche Eingriffe nicht mehr als <strong>Gentechnik</strong>.<br />
„Das heißt, in naher Zukunft könnten<br />
Schiffe mit Pflanzen im Hamburger Hafen<br />
landen, die in den Herkunftslän<strong>der</strong>n nicht<br />
mehr als genetisch verän<strong>der</strong>t gelten. Bei<br />
uns nach <strong>der</strong> aktuellen Rechtslage aber<br />
schon – dann haben wir ein Problem“,<br />
glaubt Hoffie.<br />
Schon lange fahren die EU und ihre<br />
Mitglie<strong>der</strong> einen Zickzackkurs, <strong>der</strong> keiner<br />
Logik zu folgen scheint. Die Freisetzungsrichtlinie<br />
diktiert ein langwieriges<br />
Zulassungsverfahren für gentechnisch<br />
verän<strong>der</strong>te Organismen, kurz GVO. Auch<br />
wissenschaftliche Versuche im Freiland<br />
sind seither nur mit jahrelangem bürokratischem<br />
Vorlauf möglich. Ein gentechnisches<br />
Verfahren erlaubt die Richtlinie<br />
hingegen ausdrücklich: die Mutagenese<br />
(siehe S. 66). Diese Methode stammt aus <strong>der</strong><br />
zweiten Hälfte des letzten Jahrhun<strong>der</strong>ts.<br />
Die DNA <strong>der</strong> Pflanzen wird dabei mithilfe<br />
radioaktiver Strahlung o<strong>der</strong> Chemikalien<br />
verän<strong>der</strong>t. Als das Gesetz 2001 entstand,<br />
waren zahlreiche dieser Pflanzen schon im<br />
Umlauf. Man stufte das Verfahren also als<br />
sicher ein. So erzeugte Lebensmittel sind<br />
laut Richtlinie zwar GVO, dürfen aber ein<br />
Bio-Label tragen und als „gentechnikfrei“<br />
verkauft werden.<br />
Neuere Verfahren wie die Genschere<br />
haben es schwerer. Für eine <strong>Im</strong>portzulassung<br />
damit gezüchteter Pflanzen müssen<br />
Anbieter Untersuchungsreihen im Labor,<br />
im Gewächshaus und im Freiland nachweisen.<br />
Dabei geht es auch um wahrscheinliche<br />
und mögliche Auswirkungen<br />
auf die Umwelt, Bakterien, Viren, die<br />
Gesundheit von Mensch und Tier. Nur die<br />
EU for<strong>der</strong>t so umfassende Einschätzungen<br />
und nimmt sich im Schnitt fünf Jahre Zeit,<br />
um die Anträge zu prüfen. Der Prozess ist<br />
aufwendig und teuer. International agierende<br />
Konzerne wie Bayer o<strong>der</strong> BASF können<br />
sich das leisten, viele ihrer<br />
Pflanzen sind in <strong>der</strong> EU zugelassen.<br />
Insgesamt dürfen <strong>der</strong>zeit<br />
knapp 90 GV-Sorten, darunter<br />
Mais, Soja, Baumwolle<br />
und Raps eingeführt werden.<br />
Ohne diese <strong>Im</strong>porte hätte <strong>der</strong><br />
europäische Markt ein Pro -<br />
blem. So werden jährlich knapp<br />
36 Millionen Tonnen Soja an<br />
Tiere verfüttert, von denen nur<br />
ein Bruchteil hier wächst. Über<br />
90 Prozent stammen aus dem<br />
Ausland und sind mehrheitlich<br />
gentechnisch verän<strong>der</strong>t.<br />
Selbst wollen die EU-Län<strong>der</strong><br />
aber keine GV-Pflanzen<br />
anbauen. Seit 2015 nutzt die<br />
Mehrheit eine rechtliche Hin-<br />
Svenja Augustin,<br />
64 Biologin<br />
FOCUS 18/2023<br />
Foto: ÖkoProg
LANDWIRTSCHAFT<br />
tertür, um das eigene Territorium vom<br />
Anbau auszunehmen. Nur in Spanien und<br />
Portugal wird noch Genmais angebaut.<br />
Da alle gemeinsam über Neuzulassungen<br />
entscheiden, hat seit 2010 kein weiteres<br />
GVO mehr eine Anbauerlaubnis erhalten.<br />
„Wir verbieten etwas, das wir gleichzeitig<br />
in großen Mengen importieren. Kleinere<br />
Saatguthersteller und Landwirte in Europa<br />
sind so vom Fortschritt abgekoppelt“,<br />
sagt Biologe Hoffie.<br />
Dabei hatte die rot-grüne Bundesregierung,<br />
als <strong>der</strong> Mais MON810 in <strong>der</strong> EU<br />
zugelassen wurde, zahlreiche Studien<br />
durchführen lassen. Sie zeigten, dass<br />
gentechnisch verän<strong>der</strong>te Pflanzen für die<br />
Umwelt kein höheres Risiko darstellen<br />
als herkömmlich gezüchtete. „Aber die<br />
Ergebnisse werden von genau diesen Parteien<br />
bis heute aus politischen Gründen<br />
nicht anerkannt. Das macht uns in <strong>der</strong> Wissenschaft<br />
schwer zu schaffen“, sagt Hoffie.<br />
<strong>Im</strong>pfgegner als kritische Experten<br />
So sieht es auch Svenja Augustin. Die<br />
Biologin ist Teil des Exzellenzclusters für<br />
Pflanzenwissenschaften an <strong>der</strong> Heinrich-<br />
Heine-Universität Düsseldorf und war<br />
Sachverständige für den Landwirtschaftsausschuss<br />
im Bundestag. „<strong>Gentechnik</strong> ist<br />
etwas scheinbar Unsichtbares. Natürlich<br />
macht das Angst. Solche Ängste muss man<br />
durch gute Wissenschaftskommunikation<br />
abbauen und sinnvolle Einsatzmöglichkeiten<br />
erklären“, so die Expertin. Auf an<strong>der</strong>en<br />
Kontinenten werden etwa glutenreduzierter<br />
Weizen, länger lagerfähige Kartoffeln,<br />
pilzresistenter Wein und Kakao o<strong>der</strong> trockentolerantes<br />
Soja angebaut. „Man sollte<br />
dabei nicht so tun, als könnte <strong>Gentechnik</strong><br />
die Welt retten. Das wird sie nicht. Aber<br />
sie kann eine sehr gute Ergänzung sein,<br />
um die Landwirtschaft nachhaltiger zu<br />
machen“, erklärt Augustin.<br />
Doch statt dieses Potenzial zu nutzen,<br />
würden gerade Bioverbände und auch<br />
einige Grünen-Politiker irrationale Ängste<br />
verbreiten und immer weitere Risikoforschung<br />
for<strong>der</strong>n. „Ich sehe da starke<br />
Parallelen zur Corona-<strong>Im</strong>pfstoff-Debatte.<br />
Da werden zum Teil homöopathische<br />
Tierärzte und <strong>Im</strong>pfgegnerinnen als kritische<br />
Experten präsentiert“, berichtet die<br />
Biologin. „Es gibt im Grunde keine relevanten<br />
Fragen, die noch offen sind.“<br />
Kritiker warnen etwa vor neuen Allergien<br />
o<strong>der</strong> vor einer unkontrollierten Ausbreitung<br />
<strong>der</strong> Pflanzen in <strong>der</strong> Natur. „Beides<br />
kann aber auch bei konventioneller<br />
Züchtung passieren. Deswegen muss<br />
man die Merkmale <strong>der</strong> fertigen Pflanze<br />
auf Risiken untersuchen und nicht ihre<br />
Herstellungsart“, sagt Augustin.<br />
So for<strong>der</strong>te es 2019 auch ein Zusammenschluss<br />
<strong>der</strong> wichtigsten wissenschaftlichen<br />
Gesellschaften Deutschlands, darunter<br />
die Leopoldina. Auch nach 30 Jahren<br />
Forschung gebe es keine Nachweise,<br />
dass durch <strong>Gentechnik</strong> in <strong>der</strong> Landwirtschaft<br />
Risiken entstehen, heißt es in <strong>der</strong><br />
gemeinsamen Stellungnahme. Das Gesetz<br />
von 2001 sei wissenschaftlich nicht mehr<br />
begründbar, es hemme die Entwicklung<br />
wichtiger Nutzpflanzen und för<strong>der</strong>e die<br />
Monopolisierung. Zu dem gleichen Ergebnis<br />
kam die Europäische Kommission 2021<br />
in einem eigenen Gutachten. Es sei an <strong>der</strong><br />
Zeit, das Gesetz dem wissenschaftlichen<br />
Fortschritt anzupassen.<br />
Ob das gelingt, ist völlig offen. Der Vorschlag<br />
für eine Neuregelung muss zahlreiche<br />
Hürden nehmen. Zunächst muss das<br />
Papier vom europäischen Ausschuss für<br />
Regulierungskontrolle abgesegnet werden.<br />
Ein erster für Anfang Juni geplanter<br />
Entwurf ist hier bereits gescheitert. Die<br />
Kontrollierte Kammer<br />
Hier sprießen Versuchstomaten.<br />
Licht,<br />
Sauerstoffzufuhr und<br />
Temperatur sind<br />
genau festgelegt<br />
Kommission habe etwa Auswirkungen<br />
auf das Vertrauen <strong>der</strong> Verbraucher nicht<br />
berücksichtigt. Die Überarbeitung wird<br />
einige Wochen dauern. Ist <strong>der</strong> Ausschuss<br />
dann zufrieden, sind die Abgeordneten im<br />
Europäischen Parlament gefragt.<br />
Etwa Martin Häusling. Der Biolandwirt<br />
und Sprecher für Agrarpolitik <strong>der</strong><br />
Grünen im Europaparlament will eine<br />
Neuregelung um jeden Preis verhin<strong>der</strong>n.<br />
<strong>Im</strong> Netz erklären er und weitere<br />
Parteimitglie<strong>der</strong>, „dass genmanipulierte<br />
Organismen in einer naturverträglichen<br />
Landwirtschaft nichts zu suchen<br />
haben“. Auch Maria Noichl, SPD-Europaabgeordnete<br />
im Agrarausschuss, sieht<br />
erhebliche Risiken, wie sie dem FOCUS<br />
erklärt. „Die EU-Gesetzgebung zu GVO<br />
ist unser Schutzschild, denn sie sieht<br />
strenge Sicherheitsprüfungen vor.“ Die<br />
konservative EVP, <strong>der</strong>zeit größte Fraktion<br />
im EU-Parlament, positioniert sich an<strong>der</strong>s.<br />
„Wir brauchen endlich einen neuen,<br />
FOCUS 18/2023 65
WISSEN<br />
LANDWIRTSCHAFT<br />
Quellen: BVL, transgen<br />
Wie entstehen neue Sorten?<br />
Pflanzenzucht ist eine uralte Kunst. Heute lässt sie sich mit hochmo<strong>der</strong>ner<br />
Technik verbinden. Drei wichtige Methoden – von alt bis neu<br />
Klassische Kreuzung<br />
Wildpflanze mit<br />
gewünschtem<br />
Merkmal<br />
Traditionell Zwei artverwandte Pflanzen werden<br />
gekreuzt. Die Nachkommen müssen so lange mit <strong>der</strong><br />
Mutagenese<br />
Radioaktive<br />
Strahlen o<strong>der</strong><br />
Chemikalien ...<br />
Erprobt Strahlung o<strong>der</strong> Chemikalien zerbrechen die<br />
Pflanzen-DNA an willkürlichen Stellen. Sie setzt sich<br />
teils fehlerhaft wie<strong>der</strong> zusammen. Per Genanalyse<br />
Punktmutation<br />
Kulturpflanze<br />
mit aktivem Gen<br />
Kulturpflanze<br />
Suchen<br />
... lösen Mutationen aus.<br />
... lösen Mutationen aus.<br />
... lösen Mutationen aus.<br />
Mo<strong>der</strong>n Forschende untersuchen die DNA einer Pflanze<br />
auf eine bestimmte Eigenschaft, die verän<strong>der</strong>t werden<br />
soll. Haben sie die Stelle in <strong>der</strong> DNA gefunden, erstellen<br />
sie im Labor eine Navigations-RNA – einen Erbgut-Abschnitt,<br />
<strong>der</strong> genau auf die ausgesuchte DNA-Stelle<br />
passt. Nun kommt die Genschere zum Einsatz. Sie besteht<br />
aus <strong>der</strong> RNA und dem Protein Cas 9, das DNA-<br />
Stränge zerschneiden kann. Die Navigations-RNA lotst<br />
je nach<br />
Pflanzenart<br />
10 bis 30 Jahre<br />
neue<br />
Kulturpflanze<br />
Kulturpflanze rückgekreuzt werden, bis sie nur noch<br />
das erwünschte Merkmal <strong>der</strong> Wildpflanze tragen<br />
werden die Pflanzen herausgesucht, bei denen auf<br />
diese Weise zufällig erwünschte Mutationen entstanden<br />
sind. Mit ihnen wird weitergezüchtet<br />
Schneiden Reparieren<br />
unerwünschte<br />
Mutation<br />
erwünschte<br />
Mutation<br />
unerwünschte<br />
Mutation<br />
Kulturpflanze<br />
mit inaktivem/<br />
defektem Gen<br />
das Protein an die richtige Stelle, wo es den DNA-Strang<br />
durchtrennt. Dieser setzt sich teils fehlerhaft wie<strong>der</strong><br />
zusammen. Durch die gezielt ausgelöste Mutation wird<br />
<strong>der</strong> DNA-Abschnitt deaktiviert. Sie ist im Nachhinein<br />
nicht mehr von einer natürlichen Mutation zu unterscheiden.<br />
Für die Weiterzucht werden nur Nachkommen<br />
eingesetzt, in denen die Bestandteile <strong>der</strong> Genschere<br />
nicht mehr zu finden sind<br />
EU-weiten Ansatz zum Umgang mit Produkten<br />
aus neuen Züchtungstechniken<br />
anhand ihrer Merkmale“, sagt <strong>der</strong> CDU-<br />
Abgeordnete Norbert Lins, Vorsitzen<strong>der</strong><br />
des Ausschusses für Landwirtschaft im<br />
Europaparlament. Kommt hier eine Mehrheit<br />
zustande, müssen auch die in diesem<br />
Fall zuständigen Landwirtschaftsministerien<br />
<strong>der</strong> Län<strong>der</strong> zustimmen. In Cem<br />
Özdemirs grüner Behörde herrscht Skepsis.<br />
„Die Techniken sind noch sehr neu<br />
und in ihren Effekten weiter zu erforschen.<br />
Die am Vorsorgeprinzip orientierte Regulierung<br />
stellt sicher, dass gentechnisch<br />
verän<strong>der</strong>te Pflanzen eine Risikoprüfung<br />
durchlaufen, gekennzeichnet werden und<br />
rückverfolgbar sind“, so eine Sprecherin.<br />
Mit einer Ablehnung würde sich das<br />
stimmmächtige Deutschland einer Min<strong>der</strong>heit<br />
anschließen. Bislang haben sich<br />
Ungarn, Griechenland, Zypern und Slowenien<br />
gegen eine Neuregelung ausgesprochen.<br />
Die Mehrheit, darunter Frankreich,<br />
Italien und Spanien, hält eine Reform<br />
für sinnvoll. Forschende wie Hoffie und<br />
Augustin hoffen trotz aller Hürden auf<br />
einen raschen Prozess. Denn im kommenden<br />
Jahr stehen EU-Wahlen an. Ist die Entscheidung<br />
bis dahin nicht gefallen, kann<br />
sie sich auf unbestimmte Zeit verzögern.<br />
Verwüstete Forschungsfel<strong>der</strong><br />
Auch Max-Planck-Forscher Friedrich Kragler<br />
hofft, denn seine Forschung könnte<br />
die Landwirtschaft voranbringen. Die Reste<br />
<strong>der</strong> Genschere müssen normalerweise<br />
wie<strong>der</strong> aus gentechnisch verän<strong>der</strong>ten<br />
Pflanzen herausgezüchtet werden. Dank<br />
<strong>der</strong> Pfropfentechnik sind die Samen <strong>der</strong><br />
neuen Pflänzchen sofort einsatzbereit<br />
und weisen keine Spuren <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung<br />
mehr auf. „Das kann Vorteile für<br />
Pflanzen mit langen Reproduktionszyklen<br />
haben, zum Beispiel Oliven- o<strong>der</strong> Apfelbäume“,<br />
sagt Kragler.<br />
Bisher würden bei solchen Kulturen<br />
Antibiotika eingesetzt, um die anfälligen<br />
Bäume zu schützen. „Das wäre dann<br />
nicht mehr nötig“, erklärt er bei einem<br />
Gang durch die lichtdurchfluteten Ge -<br />
wächshäuser des Instituts. Das mo<strong>der</strong>ne<br />
Gebäude liegt inmitten von Wiesen und<br />
Fel<strong>der</strong>n. Dort wächst schon lange nichts<br />
mehr zu Forschungszwecken. Zu aufwendig<br />
waren die Anträge, zu oft zerstörten<br />
<strong>Gentechnik</strong>-Gegner die ausgesetzten<br />
Pflanzen. „Ich sympathisiere ja<br />
sonst mit grüner Politik und war auch<br />
lange Greenpeace-Mitglied. Aber diese<br />
Ablehnung kann ich nicht verstehen“,<br />
erzählt <strong>der</strong> Wissenschaftler. „Wir wollen<br />
doch etwas für die Umwelt tun. Mit uns<br />
bekämpft man den falschen Gegner.“ 7<br />
66 FOCUS 18/2023
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FOCUS 18/2023 67