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5/ 2023 — 21. Jahrgang<br />
Einzelverkaufspreis: [D] 12,00 € — [A, LUX] 13,00 € — [CH] 14,00 CHF<br />
<strong>GIN</strong> &<br />
<strong>TONIC</strong><br />
Wie Ikarus<br />
der Sonne entgegen.<br />
Und jetzt?
AUF EIN GLAS MIT …<br />
»MAN MUSS<br />
ES MACHEN!«<br />
Text & Interview Martin Stein<br />
Fotos Jonas Rinne<br />
Mit seiner Restaurant-Bar<br />
»Imperii« hat André Pintz einen<br />
Leuchtturm nicht nur für die<br />
ostdeutsche Barszene geschaffen.<br />
Seit über acht Jahren<br />
betreibt und entwickelt Pintz<br />
das Unternehmen in seiner<br />
Wahlheimat Leipzig weiter. Und<br />
wie sich im Gespräch darüber<br />
zeigt, ist diese Entwicklung<br />
noch lange nicht abgeschlossen.<br />
Schließlich wandelt sich<br />
ja auch die Welt drumherum.<br />
26
»DRESDEN WAR NICHT<br />
INTERESSANT, BERLIN ZU<br />
GROSS, GERA ZU KLEIN.«<br />
Leipzig! Messestadt, Handelszentrum, achtgrößte<br />
Stadt Deutschlands! Getränketechnischer<br />
Höhepunkt der Stadtgeschichte: immer noch<br />
die saufenden Studenten in Goethes Faust. Mitnichten,<br />
dürstender Fremder! Es kann einem in<br />
Leipzig immer noch ganz kannibalisch wohl<br />
sein, auch wenn man seinen Maßstab nicht am<br />
Befinden von 500 Säuen orientieren will. Zu<br />
Besuch bei ANDRÉ PINTZ, der seit nunmehr<br />
acht Jahren mit dem IMPERII einen Primus<br />
geschaffen hat, der durchaus noch ein paar Pares<br />
begrüßen würde.<br />
Mixology: André, herzlichen Glückwunsch<br />
erst einmal zu acht Jahren Imperii – das ist<br />
ja schon eine anständige Hausnummer. Viele<br />
Bars kriegen das nicht hin.<br />
André Pintz: Das muss man wirklich erst mal<br />
schaffen, gerade mit einem relativ großen Konzept,<br />
was wir ja auch sind …<br />
Schon Grund zum Stolz, oder?<br />
Ja, schon, gerade weil es ja ursprünglich anders<br />
geplant war. Nachdem ich damals in Thüringen<br />
in einer Sports- und Eventbar meine Ausbildung<br />
gemacht hatte, war für mich relativ<br />
schnell klar, dass ich, wenn ich in der Gastronomie<br />
bleibe, nicht in Thüringen bleibe,<br />
sondern in die nächstgrößere Stadt ziehe, also<br />
Leipzig. Dresden war nicht so interessant, Berlin<br />
war zu groß für mich, Gera zu klein …<br />
Bist du Thüringer?<br />
Ja, ich bin in Gera geboren. Ich wollte dann<br />
aber, um in der Gastronomie Fuß zu fassen,<br />
nicht nur ein normaler Angestellter bleiben,<br />
sondern früher oder später meinen eigenen Laden<br />
haben. In Leipzig habe ich dann nach den<br />
ersten zwei, drei Jobs 2011 das Steigenberger<br />
Hotel mit eröffnet, was ein wichtiger Schritt<br />
für mich war. Von einer klassischen Restaurant-Ausbildung<br />
kann man bei mir nicht sprechen,<br />
die Sportsbar hatte ich mit einem Kollegen<br />
ja auch grade erst aufgemacht. Wir wurden<br />
ins kalte Wasser geschmissen und mussten uns<br />
nur fragen, wo wir überhaupt hinwollen.<br />
Ein Crash-Kurs in den wesentlichen Fragen.<br />
Genau. Und das Steigenberger war ja auch eine<br />
Neueröffnung, bei der man sich hineinfinden<br />
musste, das Kennenlernen der Abläufe – aber<br />
das Learning für die eigene Gastronomie war<br />
da schon sehr stark. Dann hatte ich noch das<br />
Glück, mit einem Jägermeister-Stipendium ins<br />
Ausland gehen zu dürfen und war sechs Monate<br />
in Paris.<br />
Du warst ja gerade in deiner Anfangszeit sehr<br />
viel unterwegs, hast auch an etlichen Wettbewerben<br />
teilgenommen und warst dabei auch<br />
nicht gerade erfolglos.<br />
Ja, tatsächlich. Wenn ich heute gefragt werde,<br />
ob ich nicht wieder irgendwo teilnehmen<br />
will, dann kann ich sagen, dass ich überall, wo<br />
ich teilnehmen wollte, das auch durfte, und<br />
bei den Wettbewerben, wo ich aufs Treppchen<br />
kommen wollte, das auch geschafft habe.<br />
Glücklicherweise habe ich auch ein, zwei davon<br />
gewonnen. Dadurch war ich eben auch<br />
viel unterwegs, etwa 2014 mit Mixology in<br />
New Orleans bei den Tales of the Cocktail, was<br />
ein absoluter Traum war. Damals mit Helmut<br />
Adam noch selbst einen Workshop über das<br />
Mixen mit Obstbränden halten zu dürfen – diese<br />
Bühne, die einem da als jungem Bartender<br />
geboten wurde, das war schon krass.<br />
Reisen bildet!<br />
Sehr richtig. Auch die Zeit in Paris war sehr<br />
lehrreich in jeder Beziehung: Was man machen<br />
kann und sollte und was eben auch nicht.<br />
Ich würde jedem jungen Bartender raten, sich<br />
aus seiner eigenen Komfort-Zone rauszubewegen.<br />
Nach Paris war auch relativ klar, dass ich<br />
nicht mehr ins Angestelltenverhältnis zurückkommen<br />
würde. Kurz vorher hatte ich auch<br />
meine Geschäftspartner kennengelernt, und<br />
dann ging es auch relativ schnell: Im August<br />
2015 stand die Eröffnung des Imperii an.<br />
Beeindruckend. Du stützt auch eine alte These<br />
von mir, nach der die großen Bartender in den<br />
seltensten Fällen aus den Metropolen kommen,<br />
in denen sie arbeiten, weil sie mehr Biss und<br />
Ehrgeiz an den Tag legen als jemand, in dessen<br />
Umgebung immer alles im Überfluss vorhanden<br />
war.<br />
Ja, da kann ich komplett mitgehen.<br />
Diejenigen wollen dann aber meist in Hauptstädte.<br />
Du hast dich dafür entschieden, ein<br />
eher unberührtes Feld zu bespielen.<br />
Ich fand Leipzig immer schon sehr schön, war<br />
auch privat oft hier. Von der Ausgehkultur<br />
fand ich immer, dass Leipzig sehr überladen<br />
war, aber eben auch sehr touristisch orientiert.<br />
Ein wichtiger Satz auf die Frage »Warum<br />
Leipzig?« war für mich immer: In Leipzig waren<br />
wir nicht eine Bar von vielen, sondern wir<br />
sind die eine Bar von vielen. Natürlich gibt es<br />
hier wahnsinnig viele und auch sehr schöne<br />
Bars, aber für diese eher internationale und<br />
weltmännische Art von Drinks wollen wir den<br />
Trend vorgeben.<br />
Damit hast du einerseits ein Alleinstellungsmerkmal,<br />
andererseits auch möglicherweise<br />
ein Problem der Akzeptanz. Man kennt das ja<br />
leidvoll, wenn zwar der Geldbeutel im Heute<br />
angekommen ist, der Geschmack aber noch 40<br />
Jahre hinterherhinkt.<br />
Das stimmt. Gerade anfangs, als das Food-Konzept<br />
noch nicht auf dem Stand von heute und<br />
das Essen eher noch Bar-Food war, haben wir<br />
besonders mit den ersten ein, zwei Karten<br />
schon für Verwunderung in der Stadt gesorgt,<br />
weil da nicht der klassische Erdbeer-Daiquiri<br />
oder die Caipirinha stand. Wir haben gesagt,<br />
wir machen kleine Drinks, wir machen kräfti-<br />
27
STADTGESCHICHTEN<br />
WASSERLOS AN<br />
DER LEINE<br />
In Hannover lebt mehr als eine<br />
halbe Million Menschen. Dieser<br />
Umstand macht sich in den Bars<br />
der Stadt nicht wirklich bemerkbar.<br />
Zwischenbericht aus einer<br />
Stadt, die sich barkulturell finden<br />
könnte, aber noch keine genaue<br />
Richtung eingeschlagen hat.<br />
Text Nils Wrage<br />
Foto: Joshua Kettle / unsplash<br />
34
35
COCKTAIL<br />
Der Sonne zu nah?<br />
Doch anders als Ikarus wird Gin<br />
weich fallen.<br />
Text Martin Stein<br />
Illustrationen Jan Hendrik Ax<br />
72
Mainstream.<br />
Müdigkeit.<br />
Meisterschale.<br />
✥ ✁✥✁ ❯✂✄☎ ✆✥❙ ❆✁✆✥✝✥✁ ✁❆❈✂✞ ✟ALL: UNSER<br />
DE❙<br />
AUTOR WEISS, WAS HARRY POTTER MIT DEM<br />
BUCHHANDEL GEMACHT HAT. SPÄTER ERLEBTE<br />
ER DEN <strong>GIN</strong> & <strong>TONIC</strong> ALS BARBETREIBER UND<br />
BAR-JOURNALIST. FEST STEHT: WAS BEI FACHLEUTEN<br />
LÄNGST JENSEITS VOM OVERKILL IST, SCHREITET<br />
IN WIRKLICHKEIT VIELLEICHT NOCH IMMER WEITER<br />
IN DEN MAINSTREAM. DOCH EVENTUELL IST BEIM<br />
<strong>GIN</strong> DABEI DER PUNKT ERREICHT, AN DEM ES LEISER<br />
– WEIL: NORMALER – WIRD. EINE NABELSCHAU<br />
ZWISCHEN LONDON, ATHEN UND FELDWIES.<br />
73
ALCHEMIST<br />
Blöd, wenn der eine Wermut 90 Gramm Zucker<br />
enthält, der andere aber 130.<br />
»Aber 1879 im Manhatten Inn<br />
wurde der ja so und so... «<br />
Zwei » Dash« Bitters sind eine<br />
erschreckend ungenaue Angabe<br />
Eher mit »warmem« oder<br />
sehr kaltem Eis rühren?<br />
80
Text Reinhard Pohorec<br />
Fotos Tim Klöcker<br />
■✍ ✎✏✍✎✑W✎✒t der unbegrenzten<br />
Trinkmöglichkeiten<br />
stechen klassische<br />
Cocktails hervor wie<br />
Monumente längst vergangener<br />
Tage inmitten<br />
funktionaler Bauten einer<br />
modernen Betonwüste.<br />
Warum greifen Menschen<br />
in einer Welt voll innovativer<br />
Mixgetränke immer<br />
wieder zu vertrauten<br />
Klassikern? Wie bewahrt<br />
man ihn auf zeitgemäße<br />
Weise? Und was ist überhaupt<br />
ein Klassiker?<br />
In stolzen Lettern prangt der Leitspruch der<br />
Wiener Secession unter der goldenen Lorbeerlaube<br />
ihres weltberühmten Ausstellungsgebäudes:<br />
»Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre<br />
Freiheit.« Das Wort »Secession« steht heute<br />
gleichermaßen für das ikonische Bauwerk<br />
zwischen Ringstraße und Naschmarkt in der<br />
österreichischen Hauptstadt wie auch die<br />
Künstler:innen-Vereinigung selbst, die 1897<br />
von einer Gruppe rund um Gustav Klimt gegründet<br />
wurde. Die Protagonisten lehnten den<br />
am Wiener Künstlerhaus vorherrschenden<br />
Konservatismus und deren traditionellen – am<br />
Historismus orientierten – Kunstbegriff ab.<br />
Ihre Abspaltung – daher der Name Secession –<br />
läutete die Wiener Moderne ein und markierte<br />
auch in der Architektur als Wiener Variante<br />
des Jugendstils eine bedeutende Epoche der<br />
Kunstgeschichte.<br />
Das von Joseph Maria Olbrich 1898 gestaltete<br />
Ausstellungshaus ist ein Manifest für<br />
die Ideen einer neuen Bewegung. Die verbale<br />
Verunglimpfung der vergoldeten Eisenkuppel<br />
als »Krauthappl« offenbart nicht nur die zwischen<br />
Grant und Schmäh oszillierende Wiener<br />
Seele, sondern versinnbildlicht das Spannungsverhältnis<br />
zwischen arrivierter Klassik<br />
und aufbegehrender Moderne. Was all das in<br />
der »Alchemist«-Rubrik einer Bar- und Spirituosenfachzeitschrift<br />
zu suchen hat, möge sich<br />
der geneigte Leser fragen? Eine ganze Menge!<br />
Die Secession des Drinks –<br />
zuerst eine Frage der Definition<br />
Der Leitspruch der Secession schillert nicht<br />
nur in der Wiener Mittagssonne, er leuchtet<br />
den Weg für so manch kreative Disziplin, auch<br />
für den Cocktail. Der Zeit ihre Kunst, zweifelsohne.<br />
Ob der Kunst jedoch immer ihre Freiheit<br />
eingeräumt werden soll, kann am Tresen<br />
schon zu heißen Debatten über so manch kalten<br />
Drink führen. Umso mehr, wenn alteingesessene<br />
Klassiker Gegenstand der Diskussion<br />
sind. Wie viel Interpretationsspielraum darf<br />
bei der Zubereitung eines Negronis oder Manhattans<br />
gewährt werden? Wer definiert die zu<br />
verwendenden Produkte, deren Proportionen<br />
und ob eine Rezeptur geschüttelt, gerührt<br />
oder vielleicht doch geworfen werden muss?<br />
Und welche Drinks werden überhaupt in den<br />
Rang eines Klassikers erhoben, um als ehernes<br />
Trinkgesetz im Standardwerk der Cocktailgeschichte<br />
manifestiert zu werden?<br />
Treten wir gedanklich einen Schritt zurück.<br />
Als Bartender bereitet man Getränke zum<br />
Genuss für Gäste – oder in den eigenen vier<br />
Wänden für das eigene Wohl – zu. Entgegen<br />
der oft missverstandenen Selbstverherrlichung<br />
und -verwirklichung ist es ein beinahe demütiger<br />
und dienender Akt der Selbstlosigkeit. Der<br />
Köder muss dem Fisch schmecken, nicht dem<br />
Angler.<br />
Gerade im sozialen Kontext einer Bar ist die<br />
Wahl eines Getränks nicht bloß eine praktische<br />
Notwendigkeit, sondern ein höchst persönlicher<br />
Ausdruck von Individualität und<br />
Charakter, aber auch des Wunsches nach Zugehörigkeit<br />
und Akzeptanz. Es ist ein Statement<br />
für einen selbst und gegenüber anderen.<br />
Konsum definiert. Unter all den Möglichkeiten<br />
schillern die klassischen Cocktails wie die<br />
prunkvolle Kuppel der Secession. Werke, die<br />
die Zeit überdauert haben und gleichzeitig den<br />
Geschmack jeder Ära neu herausfordern.<br />
Die Entscheidung für einen klassischen Cocktail<br />
ist wie eine Reise in die Vergangenheit.<br />
Es ist ein Hauch von Nostalgie, der die Sinne<br />
berührt und Erinnerungen an vergangene<br />
Zeiten weckt. Zudem outen sie den Trinker<br />
als Connaisseur. Der Manhattan, der Old Fashioned,<br />
der Martini, sie sind wie literarische<br />
Klassiker, die uns in eine andere Welt des Damals<br />
entführen, Distinguiertheit ausstrahlen.<br />
In einer Ära der ständigen Veränderung und<br />
des rasanten Wandels sind klassische Cocktails<br />
wie eine Bastion des Vertrauten, die in der<br />
stürmischen See der Trends Halt geben.<br />
Gibt es eine Essenz des<br />
Klassikers?<br />
Die amerikanische Wörterbuch-Institution<br />
Merriam-Webster definiert »klassisch« als einen<br />
»Standard der Exzellenz, historisch erinnerungswürdig,<br />
maßgebend, ein typisches oder<br />
perfektes Beispiel oder in irgendeiner Weise<br />
traditionell. Es wird nicht aus der Mode kommen«.<br />
Über den Richter, der dieses Urteil fällt<br />
und einem Cocktail dieses Attribut zuschreibt,<br />
verliert die Literatur freilich kein Wort. Fragt<br />
81
SPIRITUOSE<br />
Text Markus Orschiedt<br />
Fotos Jule Frommelt<br />
Drink-Design Nadine Page<br />
DER<br />
LEUCHTPFAD<br />
✩★✪✫ ✬✫✤✦tet immer noch ein<br />
P✤✦✧★<br />
Halbschattendasein. Vielleicht ist das<br />
besser so. Statt eines langweiligen<br />
Hypes hat es die Barkultur mit einem<br />
Drink für Individualisten zu tun, der<br />
seine Spuren hinterlassen hat. Auswahl<br />
und Qualität der Produkte verbessern<br />
sich ständig. Die Zubereitung folgt<br />
Regeln, ist aber nicht dogmatisch. Und<br />
manche Gewissheiten sind keine.<br />
Früher, in den Anfangsiebzigern, hieß es: Salvador<br />
Allende oder Nixon und Kissinger? Also<br />
chilenisch-südamerikanisch-demokratischer<br />
Sozialismus oder US-Imperialismus? Wenig<br />
später hieß es Túpac Amaru (Bewegung der revolutionären<br />
Linken) und Sendero Luminoso<br />
(Leuchtender Pfad/Maoistische Guerilla) aus<br />
Peru oder Militärdiktatur in Chile? Südamerika<br />
im Aufruhr. Bald ist Allende tot, Chile nun<br />
Pinochet-Land und das Image komplett ruiniert.<br />
Der Pisco Sour ungenießbar geworden.<br />
Alle Blicke der Pisco-Afficionados richteten<br />
sich in das Land der untergegangenen Inkakultur<br />
mit ihrem Machu-Picchu-Kitschtourismus.<br />
Peru ist fortan die Pisco-Hoffnung.<br />
Ja, da war die Welt auch noch klar eingeteilt.<br />
Duale Blöcke, West gegen Ost. Sogar der Norden<br />
gehörte zum Westen, der Süden zum Osten<br />
– wenn auch nur politisch. Klar war die<br />
Sache auch beim Pisco. Pisco Control war<br />
das, was es gab, sonst nichts. Das »Control« im<br />
Namen beschrieb ziemlich genau die Marktsituation.<br />
Wenn man einen Exoten namens Pisco<br />
Sour zubereiten wollte, blieb nur die Marke<br />
chilenischer Provenienz. Erst später wurde der<br />
Topos erweitert, der leuchtende Pfad zu peruanischem<br />
Pisco gewiesen und damit sowohl die<br />
Spirituose als auch der Pisco Sour – zu allem<br />
Unglück auch noch mit Eiweiß zubereitet –<br />
aus der Nerdnische immerhin in die Nische<br />
katapultiert. Spätestens mit dem internationalen<br />
Aufstieg der peruanischen Küche in das<br />
Gourmetsegment und dem stark wachsenden<br />
Interesse an lateinamerikanischen Spirituosen<br />
(denken wir an Tequila und Mezcal) fiel auch<br />
immer mehr Aztekensonne auf den Pisco in<br />
seinem Halbschattendasein.<br />
94
DIE TRAUBE<br />
SELBST<br />
ist im keinen anderen Weinbrand so<br />
präsent wie im Pisco<br />
95
TRINKWELT<br />
TERRA<br />
INTOXICA<br />
106
Was weiß man schon von Australien,<br />
dem weit entfernten Kontinent? Entweder<br />
nur Klischees – überholzten Shiraz<br />
und Surferbiere trinken sie da! Oder<br />
die Trends »Down under« verängstigen<br />
sogar. Etwa, wenn man ein deutscher<br />
Kellermeister ist. <strong>MIXOLOGY</strong> auf<br />
Spurensuche bei Aussie-Bartendern.<br />
Bekannter allerdings dürften Shiraz und Chardonnay<br />
sein, bei denen man ein Big Player<br />
ist. Mit rund 1,2 Milliarden Litern Jahresproduktion<br />
steht Australien heute auf Platz 5<br />
der Wein-Erzeugerländer. 40 % davon werden<br />
im Inland konsumiert. Im Export wiederum<br />
stellen die 50 größten Betriebe 80 % des Outputs.<br />
»Wein spielt eine große Rolle, gerade<br />
in Victoria und der Mornington-Halbinsel«,<br />
bestätigt auch Jakob Etzold. Der seit 2012<br />
in Australien aktive Berliner Bartender sieht<br />
aktuell auch eine Bewegung der Winzer, ins<br />
Destillatgeschäft einzusteigen: »Die brennen<br />
dann vorwiegend Gin und Vodka als zusätzliche<br />
Einnahmequelle, vereinzelt auch Wermut.«<br />
In den Export gelangt davon wenig,<br />
sieht man von Ausnahmen wie dem nationalen<br />
Rum-Heiligtum Bundaberg und den von<br />
Diageo unterstützten Starward-Whiskys aus<br />
Melbourne ab. So sind es weniger die Spirituosen<br />
oder australische Bartender, die das Image<br />
in Europa prägen, eher sorgen die Winzer für<br />
das Outlaw-Image. Emblematische Figuren<br />
wie Taras Ochota, der keine 50 Jahre alt werden<br />
durfte, oder Chester Osborn haben ihre<br />
Weinregionen – Adelaide Hills bzw. McLaren<br />
Vale – in nur wenigen Jahren weltbekannt<br />
gemacht. Nicht wenige progressive Winzer in<br />
Europa tragen die Ochota-Barrels-Leibchen als<br />
Erkennungszeichen unter Insidern.<br />
Daheim in Uraidla nannten sie Taras Ochota,<br />
den Punkrocker a. D., nur »Pizza Jesus«. Im<br />
Altarraum der 1967 geschlossenen St. Stephen’s<br />
Kirche rauchte bei ihm der Holzofen. Und natürlich<br />
frönte er dem ureigenen australischen<br />
Co-Fermenting. Auf die Pressrückstände vom<br />
(weißen) Gewürztraminer kam beim Bilderstürmer<br />
gleich der (rote) Syrah. Für Aktionen<br />
wie diese, dem Horrorkabinett für Kellereiinspektoren<br />
entsprungen, feierte man Ochota.<br />
Text Roland Graf<br />
Illustration Inga Israel<br />
Nur noch ein Schluck vom Espresso, dann ist<br />
Mike Bennies auf Betriebstemperatur. »Wir<br />
sind halt ziemlich gesetzlos«, gibt der offizielle<br />
Erklärbär für den Alkohol der Antipoden zu<br />
Protokoll. Immer wenn die Weinmarketing-Gesellschaft<br />
des fünften Kontinents Besuchern<br />
die Besonderheiten Australiens nahebringen<br />
will, schlägt die Stunde des Spirituosenhändlers<br />
und Autors aus Sydney. Der anarchische<br />
Pioniergeist, den Bennies anspricht, ist eine<br />
Konstante, die sich an vielen Details zeigt.<br />
Kopfschüttelnd etwa nimmt der regelgewohnte<br />
Deutsche zur Kenntnis, dass Alkoholangaben<br />
am Wein-Etikett um 1,5 % Vol. (!) von der Realität<br />
abweichen dürfen. Dass auch kein Qualitätsweinregister<br />
die zugelassenen Rebsorten<br />
staatlich vorgibt, passt da ins Bild. Einzige Voraussetzung<br />
für importierte Setzlinge: eine zweijährige<br />
Quarantäne, die sicherstellt, dass weder<br />
die Reblaus noch Infektionen eingeschleppt<br />
werden. Dann allerdings herrscht Freiheit im<br />
Weingarten: Seit 1985 wächst Sangiovese bei<br />
Coriole im McLaren Vale, Fiano und der<br />
französische Piquepoul folgten auf Mark Lloyds<br />
Weingut. Doch auch Tinto Cão aus Portugal,<br />
Österreichs Weißwein-Liebkind Grüner<br />
Veltliner und selbst der georgische Saperavi<br />
werden heutzutage down under gekeltert.<br />
Pizza-Jesus am Abenteuer-<br />
Spielplatz<br />
Porno-Suche und die<br />
Alt-Lutheraner<br />
Ganz anders als Ochota, aber mit nicht weniger<br />
Bürgerschreck-Attitüde, hat Chester Osborn<br />
die alte d’Arenberg-Kellerei seiner Familie<br />
positioniert. Kulinarik zählt aber auch hier,<br />
nur dass der optisch als Glam-Rock-Bassist der<br />
1980er durchgehende Winzer statt Pizzen auf<br />
michelintaugliche Kulinarik setzt. Der erste<br />
3D-Drucker der südlichen Hemisphäre stand<br />
bei ihm. Zwischen Kunst und Krempel seiner<br />
Wahl, in einem der markantesten Weingüter<br />
der Welt – dem gläsernen Rubik-Würfel. Führt<br />
der Winzer selbst durch den Cube, verblassen<br />
deutsche Stand-up-Comedians dagegen:<br />
»Wenn du den Wein trinkst, sollst du danach<br />
am Sofa einschlafen, bis du deinen Arm nicht<br />
mehr spürst«, erklärt er einen Shiraz namens<br />
»Dead Arm«. Für seine Cuvée aus roten und<br />
weißen Sorten (wir sind immer noch in Australien!)<br />
googelte Osborn: »Offenbar ist ›Drei<br />
Blondinen und ein alter Sack‹ auf Pornoseiten<br />
ein beliebter Suchbegriff – das passte zum<br />
Wein aus unserem ältesten Shiraz und den<br />
neuen Rhône-Sorten Roussanne, Marsanne<br />
und Viognier. Und man merkt sich den Namen<br />
auch.« Es hat schon seinen Grund, warum sich<br />
Chester gerne als Jester (=Hofnarr) vorstellt.<br />
Punk und Vintage Rock, für die diese Winzer<br />
stehen, ließe sich noch um Blasmusik ergänzen.<br />
Nach dem Eufonium, einem gewaltigen<br />
Horn, ist einer der weniger bekannten<br />
Weine von Prue und Stephen Henschke<br />
107