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MIXOLOGY ISSUE #117 - IKARUS GIN & TONIC?

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5/ 2023 — 21. Jahrgang<br />

Einzelverkaufspreis: [D] 12,00 € — [A, LUX] 13,00 € — [CH] 14,00 CHF<br />

<strong>GIN</strong> &<br />

<strong>TONIC</strong><br />

Wie Ikarus<br />

der Sonne entgegen.<br />

Und jetzt?


AUF EIN GLAS MIT …<br />

»MAN MUSS<br />

ES MACHEN!«<br />

Text & Interview Martin Stein<br />

Fotos Jonas Rinne<br />

Mit seiner Restaurant-Bar<br />

»Imperii« hat André Pintz einen<br />

Leuchtturm nicht nur für die<br />

ostdeutsche Barszene geschaffen.<br />

Seit über acht Jahren<br />

betreibt und entwickelt Pintz<br />

das Unternehmen in seiner<br />

Wahlheimat Leipzig weiter. Und<br />

wie sich im Gespräch darüber<br />

zeigt, ist diese Entwicklung<br />

noch lange nicht abgeschlossen.<br />

Schließlich wandelt sich<br />

ja auch die Welt drumherum.<br />

26


»DRESDEN WAR NICHT<br />

INTERESSANT, BERLIN ZU<br />

GROSS, GERA ZU KLEIN.«<br />

Leipzig! Messestadt, Handelszentrum, achtgrößte<br />

Stadt Deutschlands! Getränketechnischer<br />

Höhepunkt der Stadtgeschichte: immer noch<br />

die saufenden Studenten in Goethes Faust. Mitnichten,<br />

dürstender Fremder! Es kann einem in<br />

Leipzig immer noch ganz kannibalisch wohl<br />

sein, auch wenn man seinen Maßstab nicht am<br />

Befinden von 500 Säuen orientieren will. Zu<br />

Besuch bei ANDRÉ PINTZ, der seit nunmehr<br />

acht Jahren mit dem IMPERII einen Primus<br />

geschaffen hat, der durchaus noch ein paar Pares<br />

begrüßen würde.<br />

Mixology: André, herzlichen Glückwunsch<br />

erst einmal zu acht Jahren Imperii – das ist<br />

ja schon eine anständige Hausnummer. Viele<br />

Bars kriegen das nicht hin.<br />

André Pintz: Das muss man wirklich erst mal<br />

schaffen, gerade mit einem relativ großen Konzept,<br />

was wir ja auch sind …<br />

Schon Grund zum Stolz, oder?<br />

Ja, schon, gerade weil es ja ursprünglich anders<br />

geplant war. Nachdem ich damals in Thüringen<br />

in einer Sports- und Eventbar meine Ausbildung<br />

gemacht hatte, war für mich relativ<br />

schnell klar, dass ich, wenn ich in der Gastronomie<br />

bleibe, nicht in Thüringen bleibe,<br />

sondern in die nächstgrößere Stadt ziehe, also<br />

Leipzig. Dresden war nicht so interessant, Berlin<br />

war zu groß für mich, Gera zu klein …<br />

Bist du Thüringer?<br />

Ja, ich bin in Gera geboren. Ich wollte dann<br />

aber, um in der Gastronomie Fuß zu fassen,<br />

nicht nur ein normaler Angestellter bleiben,<br />

sondern früher oder später meinen eigenen Laden<br />

haben. In Leipzig habe ich dann nach den<br />

ersten zwei, drei Jobs 2011 das Steigenberger<br />

Hotel mit eröffnet, was ein wichtiger Schritt<br />

für mich war. Von einer klassischen Restaurant-Ausbildung<br />

kann man bei mir nicht sprechen,<br />

die Sportsbar hatte ich mit einem Kollegen<br />

ja auch grade erst aufgemacht. Wir wurden<br />

ins kalte Wasser geschmissen und mussten uns<br />

nur fragen, wo wir überhaupt hinwollen.<br />

Ein Crash-Kurs in den wesentlichen Fragen.<br />

Genau. Und das Steigenberger war ja auch eine<br />

Neueröffnung, bei der man sich hineinfinden<br />

musste, das Kennenlernen der Abläufe – aber<br />

das Learning für die eigene Gastronomie war<br />

da schon sehr stark. Dann hatte ich noch das<br />

Glück, mit einem Jägermeister-Stipendium ins<br />

Ausland gehen zu dürfen und war sechs Monate<br />

in Paris.<br />

Du warst ja gerade in deiner Anfangszeit sehr<br />

viel unterwegs, hast auch an etlichen Wettbewerben<br />

teilgenommen und warst dabei auch<br />

nicht gerade erfolglos.<br />

Ja, tatsächlich. Wenn ich heute gefragt werde,<br />

ob ich nicht wieder irgendwo teilnehmen<br />

will, dann kann ich sagen, dass ich überall, wo<br />

ich teilnehmen wollte, das auch durfte, und<br />

bei den Wettbewerben, wo ich aufs Treppchen<br />

kommen wollte, das auch geschafft habe.<br />

Glücklicherweise habe ich auch ein, zwei davon<br />

gewonnen. Dadurch war ich eben auch<br />

viel unterwegs, etwa 2014 mit Mixology in<br />

New Orleans bei den Tales of the Cocktail, was<br />

ein absoluter Traum war. Damals mit Helmut<br />

Adam noch selbst einen Workshop über das<br />

Mixen mit Obstbränden halten zu dürfen – diese<br />

Bühne, die einem da als jungem Bartender<br />

geboten wurde, das war schon krass.<br />

Reisen bildet!<br />

Sehr richtig. Auch die Zeit in Paris war sehr<br />

lehrreich in jeder Beziehung: Was man machen<br />

kann und sollte und was eben auch nicht.<br />

Ich würde jedem jungen Bartender raten, sich<br />

aus seiner eigenen Komfort-Zone rauszubewegen.<br />

Nach Paris war auch relativ klar, dass ich<br />

nicht mehr ins Angestelltenverhältnis zurückkommen<br />

würde. Kurz vorher hatte ich auch<br />

meine Geschäftspartner kennengelernt, und<br />

dann ging es auch relativ schnell: Im August<br />

2015 stand die Eröffnung des Imperii an.<br />

Beeindruckend. Du stützt auch eine alte These<br />

von mir, nach der die großen Bartender in den<br />

seltensten Fällen aus den Metropolen kommen,<br />

in denen sie arbeiten, weil sie mehr Biss und<br />

Ehrgeiz an den Tag legen als jemand, in dessen<br />

Umgebung immer alles im Überfluss vorhanden<br />

war.<br />

Ja, da kann ich komplett mitgehen.<br />

Diejenigen wollen dann aber meist in Hauptstädte.<br />

Du hast dich dafür entschieden, ein<br />

eher unberührtes Feld zu bespielen.<br />

Ich fand Leipzig immer schon sehr schön, war<br />

auch privat oft hier. Von der Ausgehkultur<br />

fand ich immer, dass Leipzig sehr überladen<br />

war, aber eben auch sehr touristisch orientiert.<br />

Ein wichtiger Satz auf die Frage »Warum<br />

Leipzig?« war für mich immer: In Leipzig waren<br />

wir nicht eine Bar von vielen, sondern wir<br />

sind die eine Bar von vielen. Natürlich gibt es<br />

hier wahnsinnig viele und auch sehr schöne<br />

Bars, aber für diese eher internationale und<br />

weltmännische Art von Drinks wollen wir den<br />

Trend vorgeben.<br />

Damit hast du einerseits ein Alleinstellungsmerkmal,<br />

andererseits auch möglicherweise<br />

ein Problem der Akzeptanz. Man kennt das ja<br />

leidvoll, wenn zwar der Geldbeutel im Heute<br />

angekommen ist, der Geschmack aber noch 40<br />

Jahre hinterherhinkt.<br />

Das stimmt. Gerade anfangs, als das Food-Konzept<br />

noch nicht auf dem Stand von heute und<br />

das Essen eher noch Bar-Food war, haben wir<br />

besonders mit den ersten ein, zwei Karten<br />

schon für Verwunderung in der Stadt gesorgt,<br />

weil da nicht der klassische Erdbeer-Daiquiri<br />

oder die Caipirinha stand. Wir haben gesagt,<br />

wir machen kleine Drinks, wir machen kräfti-<br />

27


STADTGESCHICHTEN<br />

WASSERLOS AN<br />

DER LEINE<br />

In Hannover lebt mehr als eine<br />

halbe Million Menschen. Dieser<br />

Umstand macht sich in den Bars<br />

der Stadt nicht wirklich bemerkbar.<br />

Zwischenbericht aus einer<br />

Stadt, die sich barkulturell finden<br />

könnte, aber noch keine genaue<br />

Richtung eingeschlagen hat.<br />

Text Nils Wrage<br />

Foto: Joshua Kettle / unsplash<br />

34


35


COCKTAIL<br />

Der Sonne zu nah?<br />

Doch anders als Ikarus wird Gin<br />

weich fallen.<br />

Text Martin Stein<br />

Illustrationen Jan Hendrik Ax<br />

72


Mainstream.<br />

Müdigkeit.<br />

Meisterschale.<br />

✥ ✁✥✁ ❯✂✄☎ ✆✥❙ ❆✁✆✥✝✥✁ ✁❆❈✂✞ ✟ALL: UNSER<br />

DE❙<br />

AUTOR WEISS, WAS HARRY POTTER MIT DEM<br />

BUCHHANDEL GEMACHT HAT. SPÄTER ERLEBTE<br />

ER DEN <strong>GIN</strong> & <strong>TONIC</strong> ALS BARBETREIBER UND<br />

BAR-JOURNALIST. FEST STEHT: WAS BEI FACHLEUTEN<br />

LÄNGST JENSEITS VOM OVERKILL IST, SCHREITET<br />

IN WIRKLICHKEIT VIELLEICHT NOCH IMMER WEITER<br />

IN DEN MAINSTREAM. DOCH EVENTUELL IST BEIM<br />

<strong>GIN</strong> DABEI DER PUNKT ERREICHT, AN DEM ES LEISER<br />

– WEIL: NORMALER – WIRD. EINE NABELSCHAU<br />

ZWISCHEN LONDON, ATHEN UND FELDWIES.<br />

73


ALCHEMIST<br />

Blöd, wenn der eine Wermut 90 Gramm Zucker<br />

enthält, der andere aber 130.<br />

»Aber 1879 im Manhatten Inn<br />

wurde der ja so und so... «<br />

Zwei » Dash« Bitters sind eine<br />

erschreckend ungenaue Angabe<br />

Eher mit »warmem« oder<br />

sehr kaltem Eis rühren?<br />

80


Text Reinhard Pohorec<br />

Fotos Tim Klöcker<br />

■✍ ✎✏✍✎✑W✎✒t der unbegrenzten<br />

Trinkmöglichkeiten<br />

stechen klassische<br />

Cocktails hervor wie<br />

Monumente längst vergangener<br />

Tage inmitten<br />

funktionaler Bauten einer<br />

modernen Betonwüste.<br />

Warum greifen Menschen<br />

in einer Welt voll innovativer<br />

Mixgetränke immer<br />

wieder zu vertrauten<br />

Klassikern? Wie bewahrt<br />

man ihn auf zeitgemäße<br />

Weise? Und was ist überhaupt<br />

ein Klassiker?<br />

In stolzen Lettern prangt der Leitspruch der<br />

Wiener Secession unter der goldenen Lorbeerlaube<br />

ihres weltberühmten Ausstellungsgebäudes:<br />

»Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre<br />

Freiheit.« Das Wort »Secession« steht heute<br />

gleichermaßen für das ikonische Bauwerk<br />

zwischen Ringstraße und Naschmarkt in der<br />

österreichischen Hauptstadt wie auch die<br />

Künstler:innen-Vereinigung selbst, die 1897<br />

von einer Gruppe rund um Gustav Klimt gegründet<br />

wurde. Die Protagonisten lehnten den<br />

am Wiener Künstlerhaus vorherrschenden<br />

Konservatismus und deren traditionellen – am<br />

Historismus orientierten – Kunstbegriff ab.<br />

Ihre Abspaltung – daher der Name Secession –<br />

läutete die Wiener Moderne ein und markierte<br />

auch in der Architektur als Wiener Variante<br />

des Jugendstils eine bedeutende Epoche der<br />

Kunstgeschichte.<br />

Das von Joseph Maria Olbrich 1898 gestaltete<br />

Ausstellungshaus ist ein Manifest für<br />

die Ideen einer neuen Bewegung. Die verbale<br />

Verunglimpfung der vergoldeten Eisenkuppel<br />

als »Krauthappl« offenbart nicht nur die zwischen<br />

Grant und Schmäh oszillierende Wiener<br />

Seele, sondern versinnbildlicht das Spannungsverhältnis<br />

zwischen arrivierter Klassik<br />

und aufbegehrender Moderne. Was all das in<br />

der »Alchemist«-Rubrik einer Bar- und Spirituosenfachzeitschrift<br />

zu suchen hat, möge sich<br />

der geneigte Leser fragen? Eine ganze Menge!<br />

Die Secession des Drinks –<br />

zuerst eine Frage der Definition<br />

Der Leitspruch der Secession schillert nicht<br />

nur in der Wiener Mittagssonne, er leuchtet<br />

den Weg für so manch kreative Disziplin, auch<br />

für den Cocktail. Der Zeit ihre Kunst, zweifelsohne.<br />

Ob der Kunst jedoch immer ihre Freiheit<br />

eingeräumt werden soll, kann am Tresen<br />

schon zu heißen Debatten über so manch kalten<br />

Drink führen. Umso mehr, wenn alteingesessene<br />

Klassiker Gegenstand der Diskussion<br />

sind. Wie viel Interpretationsspielraum darf<br />

bei der Zubereitung eines Negronis oder Manhattans<br />

gewährt werden? Wer definiert die zu<br />

verwendenden Produkte, deren Proportionen<br />

und ob eine Rezeptur geschüttelt, gerührt<br />

oder vielleicht doch geworfen werden muss?<br />

Und welche Drinks werden überhaupt in den<br />

Rang eines Klassikers erhoben, um als ehernes<br />

Trinkgesetz im Standardwerk der Cocktailgeschichte<br />

manifestiert zu werden?<br />

Treten wir gedanklich einen Schritt zurück.<br />

Als Bartender bereitet man Getränke zum<br />

Genuss für Gäste – oder in den eigenen vier<br />

Wänden für das eigene Wohl – zu. Entgegen<br />

der oft missverstandenen Selbstverherrlichung<br />

und -verwirklichung ist es ein beinahe demütiger<br />

und dienender Akt der Selbstlosigkeit. Der<br />

Köder muss dem Fisch schmecken, nicht dem<br />

Angler.<br />

Gerade im sozialen Kontext einer Bar ist die<br />

Wahl eines Getränks nicht bloß eine praktische<br />

Notwendigkeit, sondern ein höchst persönlicher<br />

Ausdruck von Individualität und<br />

Charakter, aber auch des Wunsches nach Zugehörigkeit<br />

und Akzeptanz. Es ist ein Statement<br />

für einen selbst und gegenüber anderen.<br />

Konsum definiert. Unter all den Möglichkeiten<br />

schillern die klassischen Cocktails wie die<br />

prunkvolle Kuppel der Secession. Werke, die<br />

die Zeit überdauert haben und gleichzeitig den<br />

Geschmack jeder Ära neu herausfordern.<br />

Die Entscheidung für einen klassischen Cocktail<br />

ist wie eine Reise in die Vergangenheit.<br />

Es ist ein Hauch von Nostalgie, der die Sinne<br />

berührt und Erinnerungen an vergangene<br />

Zeiten weckt. Zudem outen sie den Trinker<br />

als Connaisseur. Der Manhattan, der Old Fashioned,<br />

der Martini, sie sind wie literarische<br />

Klassiker, die uns in eine andere Welt des Damals<br />

entführen, Distinguiertheit ausstrahlen.<br />

In einer Ära der ständigen Veränderung und<br />

des rasanten Wandels sind klassische Cocktails<br />

wie eine Bastion des Vertrauten, die in der<br />

stürmischen See der Trends Halt geben.<br />

Gibt es eine Essenz des<br />

Klassikers?<br />

Die amerikanische Wörterbuch-Institution<br />

Merriam-Webster definiert »klassisch« als einen<br />

»Standard der Exzellenz, historisch erinnerungswürdig,<br />

maßgebend, ein typisches oder<br />

perfektes Beispiel oder in irgendeiner Weise<br />

traditionell. Es wird nicht aus der Mode kommen«.<br />

Über den Richter, der dieses Urteil fällt<br />

und einem Cocktail dieses Attribut zuschreibt,<br />

verliert die Literatur freilich kein Wort. Fragt<br />

81


SPIRITUOSE<br />

Text Markus Orschiedt<br />

Fotos Jule Frommelt<br />

Drink-Design Nadine Page<br />

DER<br />

LEUCHTPFAD<br />

✩★✪✫ ✬✫✤✦tet immer noch ein<br />

P✤✦✧★<br />

Halbschattendasein. Vielleicht ist das<br />

besser so. Statt eines langweiligen<br />

Hypes hat es die Barkultur mit einem<br />

Drink für Individualisten zu tun, der<br />

seine Spuren hinterlassen hat. Auswahl<br />

und Qualität der Produkte verbessern<br />

sich ständig. Die Zubereitung folgt<br />

Regeln, ist aber nicht dogmatisch. Und<br />

manche Gewissheiten sind keine.<br />

Früher, in den Anfangsiebzigern, hieß es: Salvador<br />

Allende oder Nixon und Kissinger? Also<br />

chilenisch-südamerikanisch-demokratischer<br />

Sozialismus oder US-Imperialismus? Wenig<br />

später hieß es Túpac Amaru (Bewegung der revolutionären<br />

Linken) und Sendero Luminoso<br />

(Leuchtender Pfad/Maoistische Guerilla) aus<br />

Peru oder Militärdiktatur in Chile? Südamerika<br />

im Aufruhr. Bald ist Allende tot, Chile nun<br />

Pinochet-Land und das Image komplett ruiniert.<br />

Der Pisco Sour ungenießbar geworden.<br />

Alle Blicke der Pisco-Afficionados richteten<br />

sich in das Land der untergegangenen Inkakultur<br />

mit ihrem Machu-Picchu-Kitschtourismus.<br />

Peru ist fortan die Pisco-Hoffnung.<br />

Ja, da war die Welt auch noch klar eingeteilt.<br />

Duale Blöcke, West gegen Ost. Sogar der Norden<br />

gehörte zum Westen, der Süden zum Osten<br />

– wenn auch nur politisch. Klar war die<br />

Sache auch beim Pisco. Pisco Control war<br />

das, was es gab, sonst nichts. Das »Control« im<br />

Namen beschrieb ziemlich genau die Marktsituation.<br />

Wenn man einen Exoten namens Pisco<br />

Sour zubereiten wollte, blieb nur die Marke<br />

chilenischer Provenienz. Erst später wurde der<br />

Topos erweitert, der leuchtende Pfad zu peruanischem<br />

Pisco gewiesen und damit sowohl die<br />

Spirituose als auch der Pisco Sour – zu allem<br />

Unglück auch noch mit Eiweiß zubereitet –<br />

aus der Nerdnische immerhin in die Nische<br />

katapultiert. Spätestens mit dem internationalen<br />

Aufstieg der peruanischen Küche in das<br />

Gourmetsegment und dem stark wachsenden<br />

Interesse an lateinamerikanischen Spirituosen<br />

(denken wir an Tequila und Mezcal) fiel auch<br />

immer mehr Aztekensonne auf den Pisco in<br />

seinem Halbschattendasein.<br />

94


DIE TRAUBE<br />

SELBST<br />

ist im keinen anderen Weinbrand so<br />

präsent wie im Pisco<br />

95


TRINKWELT<br />

TERRA<br />

INTOXICA<br />

106


Was weiß man schon von Australien,<br />

dem weit entfernten Kontinent? Entweder<br />

nur Klischees – überholzten Shiraz<br />

und Surferbiere trinken sie da! Oder<br />

die Trends »Down under« verängstigen<br />

sogar. Etwa, wenn man ein deutscher<br />

Kellermeister ist. <strong>MIXOLOGY</strong> auf<br />

Spurensuche bei Aussie-Bartendern.<br />

Bekannter allerdings dürften Shiraz und Chardonnay<br />

sein, bei denen man ein Big Player<br />

ist. Mit rund 1,2 Milliarden Litern Jahresproduktion<br />

steht Australien heute auf Platz 5<br />

der Wein-Erzeugerländer. 40 % davon werden<br />

im Inland konsumiert. Im Export wiederum<br />

stellen die 50 größten Betriebe 80 % des Outputs.<br />

»Wein spielt eine große Rolle, gerade<br />

in Victoria und der Mornington-Halbinsel«,<br />

bestätigt auch Jakob Etzold. Der seit 2012<br />

in Australien aktive Berliner Bartender sieht<br />

aktuell auch eine Bewegung der Winzer, ins<br />

Destillatgeschäft einzusteigen: »Die brennen<br />

dann vorwiegend Gin und Vodka als zusätzliche<br />

Einnahmequelle, vereinzelt auch Wermut.«<br />

In den Export gelangt davon wenig,<br />

sieht man von Ausnahmen wie dem nationalen<br />

Rum-Heiligtum Bundaberg und den von<br />

Diageo unterstützten Starward-Whiskys aus<br />

Melbourne ab. So sind es weniger die Spirituosen<br />

oder australische Bartender, die das Image<br />

in Europa prägen, eher sorgen die Winzer für<br />

das Outlaw-Image. Emblematische Figuren<br />

wie Taras Ochota, der keine 50 Jahre alt werden<br />

durfte, oder Chester Osborn haben ihre<br />

Weinregionen – Adelaide Hills bzw. McLaren<br />

Vale – in nur wenigen Jahren weltbekannt<br />

gemacht. Nicht wenige progressive Winzer in<br />

Europa tragen die Ochota-Barrels-Leibchen als<br />

Erkennungszeichen unter Insidern.<br />

Daheim in Uraidla nannten sie Taras Ochota,<br />

den Punkrocker a. D., nur »Pizza Jesus«. Im<br />

Altarraum der 1967 geschlossenen St. Stephen’s<br />

Kirche rauchte bei ihm der Holzofen. Und natürlich<br />

frönte er dem ureigenen australischen<br />

Co-Fermenting. Auf die Pressrückstände vom<br />

(weißen) Gewürztraminer kam beim Bilderstürmer<br />

gleich der (rote) Syrah. Für Aktionen<br />

wie diese, dem Horrorkabinett für Kellereiinspektoren<br />

entsprungen, feierte man Ochota.<br />

Text Roland Graf<br />

Illustration Inga Israel<br />

Nur noch ein Schluck vom Espresso, dann ist<br />

Mike Bennies auf Betriebstemperatur. »Wir<br />

sind halt ziemlich gesetzlos«, gibt der offizielle<br />

Erklärbär für den Alkohol der Antipoden zu<br />

Protokoll. Immer wenn die Weinmarketing-Gesellschaft<br />

des fünften Kontinents Besuchern<br />

die Besonderheiten Australiens nahebringen<br />

will, schlägt die Stunde des Spirituosenhändlers<br />

und Autors aus Sydney. Der anarchische<br />

Pioniergeist, den Bennies anspricht, ist eine<br />

Konstante, die sich an vielen Details zeigt.<br />

Kopfschüttelnd etwa nimmt der regelgewohnte<br />

Deutsche zur Kenntnis, dass Alkoholangaben<br />

am Wein-Etikett um 1,5 % Vol. (!) von der Realität<br />

abweichen dürfen. Dass auch kein Qualitätsweinregister<br />

die zugelassenen Rebsorten<br />

staatlich vorgibt, passt da ins Bild. Einzige Voraussetzung<br />

für importierte Setzlinge: eine zweijährige<br />

Quarantäne, die sicherstellt, dass weder<br />

die Reblaus noch Infektionen eingeschleppt<br />

werden. Dann allerdings herrscht Freiheit im<br />

Weingarten: Seit 1985 wächst Sangiovese bei<br />

Coriole im McLaren Vale, Fiano und der<br />

französische Piquepoul folgten auf Mark Lloyds<br />

Weingut. Doch auch Tinto Cão aus Portugal,<br />

Österreichs Weißwein-Liebkind Grüner<br />

Veltliner und selbst der georgische Saperavi<br />

werden heutzutage down under gekeltert.<br />

Pizza-Jesus am Abenteuer-<br />

Spielplatz<br />

Porno-Suche und die<br />

Alt-Lutheraner<br />

Ganz anders als Ochota, aber mit nicht weniger<br />

Bürgerschreck-Attitüde, hat Chester Osborn<br />

die alte d’Arenberg-Kellerei seiner Familie<br />

positioniert. Kulinarik zählt aber auch hier,<br />

nur dass der optisch als Glam-Rock-Bassist der<br />

1980er durchgehende Winzer statt Pizzen auf<br />

michelintaugliche Kulinarik setzt. Der erste<br />

3D-Drucker der südlichen Hemisphäre stand<br />

bei ihm. Zwischen Kunst und Krempel seiner<br />

Wahl, in einem der markantesten Weingüter<br />

der Welt – dem gläsernen Rubik-Würfel. Führt<br />

der Winzer selbst durch den Cube, verblassen<br />

deutsche Stand-up-Comedians dagegen:<br />

»Wenn du den Wein trinkst, sollst du danach<br />

am Sofa einschlafen, bis du deinen Arm nicht<br />

mehr spürst«, erklärt er einen Shiraz namens<br />

»Dead Arm«. Für seine Cuvée aus roten und<br />

weißen Sorten (wir sind immer noch in Australien!)<br />

googelte Osborn: »Offenbar ist ›Drei<br />

Blondinen und ein alter Sack‹ auf Pornoseiten<br />

ein beliebter Suchbegriff – das passte zum<br />

Wein aus unserem ältesten Shiraz und den<br />

neuen Rhône-Sorten Roussanne, Marsanne<br />

und Viognier. Und man merkt sich den Namen<br />

auch.« Es hat schon seinen Grund, warum sich<br />

Chester gerne als Jester (=Hofnarr) vorstellt.<br />

Punk und Vintage Rock, für die diese Winzer<br />

stehen, ließe sich noch um Blasmusik ergänzen.<br />

Nach dem Eufonium, einem gewaltigen<br />

Horn, ist einer der weniger bekannten<br />

Weine von Prue und Stephen Henschke<br />

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