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Konrad Müller | Klaus Raschzok (Hrsg.): Mysterium, Imagination und Emotion (Leseprobe)

Zu den Selbstverständlichkeiten des aktuellen theologischen Diskurses zählt vielerorts die These: Kirch­liches Handeln zielt auf »Kommunikation des Evangeliums«. Gottesdienst, Diakonie, gesellschaft­liches Engagement und Verkündigung sind als Kommunikations­geschehen zu begreifen. Mehrere der hier vorgelegten Beiträge eines Symposions zu Leit- und Orientierungsbegriffen des Gottes­dienstes stellen diesen Konsens in Frage. Ob »Mysterium«, »Imagination«, »Performanz« oder »Emotion« – die Analyse dieser Orientierungs­begriffe impliziert in der Zusammenschau einen Paradigmen­wechsel. Jeder Anspruch des Evange­liums ruht auf einer heiligen Geschichte, in die sich Menschen mitgehend und imaginierend einfühlen.

Zu den Selbstverständlichkeiten des aktuellen theologischen Diskurses zählt vielerorts die These: Kirch­liches Handeln zielt auf »Kommunikation des Evangeliums«. Gottesdienst, Diakonie, gesellschaft­liches Engagement und Verkündigung sind als Kommunikations­geschehen zu begreifen.
Mehrere der hier vorgelegten Beiträge eines Symposions zu Leit- und Orientierungsbegriffen des Gottes­dienstes stellen diesen Konsens in Frage. Ob »Mysterium«, »Imagination«, »Performanz« oder »Emotion« – die Analyse dieser Orientierungs­begriffe impliziert in der Zusammenschau einen Paradigmen­wechsel. Jeder Anspruch des Evange­liums ruht auf einer heiligen Geschichte, in die sich Menschen mitgehend und imaginierend einfühlen.

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<strong>Konrad</strong> <strong>Müller</strong> | <strong>Klaus</strong> <strong>Raschzok</strong> (<strong>Hrsg</strong>.)<br />

<strong>Mysterium</strong>,<br />

<strong>Imagination</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>Emotion</strong><br />

Zur Phänomenologie<br />

gottesdienstlichen Erlebens


Vorwort<br />

Die Verkündigung des Evangeliums <strong>und</strong> die Feier des Heiligen Abendmahls<br />

bilden die unstrittige Mitte gottesdienstlichen Handelns. Zu der Frage, wie dies<br />

sach- <strong>und</strong> situationsge-mäß geschehen kann, ist in den letzten Jahrzehnten eine<br />

intensive, zum Teil neue Fragestellungen etablierende Diskussion darüber entstanden,<br />

an welchen Leit- <strong>und</strong> Orientierungsbegriffen sich das gottesdienstliche<br />

Gestalten der Gemeinden <strong>und</strong> der Kirchen orientieren soll. Die Liturgischen<br />

Ausschüsse von VELKD <strong>und</strong> UEK, die sich damit befassen, wie gottesdienstliche<br />

Formulare in der Zukunft aussehen, stehen vor weitreichenden Entscheidungen.<br />

Vom 17.-19. Februar 2023 hat das Gottesdienst-Institut der Evang.-Luth.<br />

Kirche in Bayern in der Evangelischen Tagungsstätte Wildbad Rothenburg ein<br />

Symposion zu Leit- <strong>und</strong> Orientierungsbegriffen des Gottesdienstes veranstaltet. Ziel<br />

des Symposions war es, in der aktuellen, immer komplexer werdenden Diskussionslage<br />

gr<strong>und</strong>legenden Gesichtspunkten des evangelischen Gottesdienstes<br />

nachzugehen, die neue Perspektiven zur Analyse <strong>und</strong> Bedeutung jeden gottesdienstlichen<br />

Geschehens enthalten. Ziel war es, Impulse zur Klärung liturgietheologischer<br />

<strong>und</strong> liturgiepragmatischer Fragen zu geben.<br />

Die Reihe der hier abgedruckten Beiträge beginnt mit zwei liturgiehistorischen<br />

Rückblicken von <strong>Klaus</strong> <strong>Raschzok</strong> <strong>und</strong> Sonja Keller. Sie zeigen, wie sich im<br />

deutschsprachigen Protestantismus in den letzten zwei Jahrh<strong>und</strong>erten die Vorstellungen<br />

von Liturgie <strong>und</strong> Gottesdiensttheologie stark pluralisiert haben.<br />

Trotz der überbordenden Fülle unterschiedlicher Gottesdiensttheorien bleiben<br />

dabei zentrale Fragestellungen ausgeblendet. Dies entfalten die Beiträge von<br />

Konstanze Kemnitzer (›<strong>Imagination</strong>-Loop‹), Hanns Kerner (›<strong>Emotion</strong>‹), Ursula<br />

Roth (›Performanz‹, ›Performativität‹), Christian Lehnert (›Gestalt‹) <strong>und</strong> Andreas<br />

Schmidt (›Akroasis‹). Sie weisen auf Dimensionen gottesdienstlicher Kommunikation<br />

hin, welche die liturgiewissenschaftliche Diskussion vertiefen beziehungsweise<br />

um wesentliche <strong>und</strong> neue Aspekte bereichern könnten. Bedeutsamkeit<br />

hängt nicht nur an Bedeutung. Sie lebt auch davon, dass die Einbildungskraft<br />

adressiert, <strong>Emotion</strong> erzeugt, ein emotiver Weg ›gelernt‹, verschiedene Formen der


6<br />

Vorwort<br />

Performanz berücksichtigt <strong>und</strong> Bedeutung mit Klang zu komplexen Gestalten<br />

verb<strong>und</strong>en werden.<br />

Die beiden letzten Beiträge dieses Bandes befassen sich damit, wie die vorgenannten<br />

Gesichtspunkte miteinander verb<strong>und</strong>en sind. Jürgen Bärsch arbeitet<br />

dies implizit an Odo Casels Verständnis der Feier des ›Paschamysteriums‹ aus.<br />

Die abschließende Zusammenfassung entwickelt aus der Zusammenschau der<br />

einzelnen Beiträge unter dem Titel ›<strong>Mysterium</strong>, <strong>Imagination</strong> <strong>und</strong> <strong>Emotion</strong>‹ explizit<br />

Perspektiven für einen gottesdienstlichen Paradigmenwechsel, welcher eine zu<br />

einseitige Fokussierung des evangelischen Gottesdienstverständnisses auf Wort,<br />

Verkündigung, Kommunikation <strong>und</strong> begriffliches Verstehen hinterfragt.<br />

Alle hier abgedruckten Beiträge, einschließlich der Zusammenfassung, gehen auf<br />

die Vorträge zurück, die auf dem Symposion gehalten wurden. Nur der einleitende<br />

Artikel von <strong>Klaus</strong> <strong>Raschzok</strong> wurde durch eine erweiterte Darstellung der<br />

gottesdienstlichen Theorielandschaft ergänzt. Dadurch kann die ganze Breite der<br />

komplexen gottesdiensttheologischen Diskussion, die sich seit 1850 exponentiell<br />

pluralisiert hat, <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene Aporie gottesdienstlicher Konsensbildung<br />

zu einer sachgemäßen Anschauung gebracht werden.<br />

Nürnberg/Neuendettelsau, im Oktober 2023<br />

<strong>Konrad</strong> <strong>Müller</strong><br />

<strong>Klaus</strong> <strong>Raschzok</strong>


Inhalt<br />

Historische Profile<br />

Deutschland - Schweiz<br />

<strong>Klaus</strong> <strong>Raschzok</strong><br />

Der Traum vom liturgischen Eigenheim ..................................................... 11<br />

Zur jüngeren Geschichte des protestantischen liturgietheoretischen<br />

Diskurses am Beispiel seiner Leitbilder <strong>und</strong> Orientierungsbegriffe<br />

Sonja Keller<br />

Agendenfrei <strong>und</strong> predigtzentriert Gottesdienst feiern ............................... 67<br />

Die jüngere Geschichte des liturgietheoretischen Diskurses in der<br />

Deutschschweiz<br />

Phänomenologische Perspektiven<br />

<strong>Imagination</strong> --- <strong>Emotion</strong> ---Performativität --- Gestalt --- Akroasis<br />

Konstanze Kemnitzer<br />

›The <strong>Imagination</strong>-Loop‹ als liturgietheoretisches Modell ........................... 87<br />

Hanns Kerner<br />

Das Unvorhersehbare programmieren ...................................................... 105<br />

<strong>Emotion</strong>ale Skripte des Gottesdienstes<br />

Ursula Roth<br />

›Performativ‹, ›Performativität‹, ›Performanz‹ als Leit- <strong>und</strong><br />

Orientierungsbegriffe für das Verständnis des Gottesdienstes ............... 123<br />

Christian Lehnert<br />

Impuls zum Begriff der Gestalt ................................................................... 141<br />

Andreas Schmidt<br />

Ist Singen nützlich? ..................................................................................... 147<br />

Die Bedeutung des Singens für die Theologie


8<br />

Inhalt<br />

Synthesen<br />

<strong>Mysterium</strong> --- Leiterzählung --- Kommunikationsprofil<br />

Jürgen Bärsch<br />

›<strong>Mysterium</strong>‹ als ein Leitbegriff römisch-katholischer Liturgie ............... 157<br />

Plädoyer für eine explizite Theologie des Gottesdienstes<br />

<strong>Konrad</strong> <strong>Müller</strong><br />

<strong>Mysterium</strong>, <strong>Imagination</strong> <strong>und</strong> <strong>Emotion</strong> ....................................................... 175<br />

Perspektiven zu einem gottesdienstlichen Paradigmenwechsel<br />

Autorenverzeichnis .............................................................................................. 195


Historische Profile<br />

Deutschland – Schweiz


<strong>Klaus</strong> <strong>Raschzok</strong><br />

Der Traum vom liturgischen<br />

Eigenheim<br />

Zur jüngeren Geschichte des protestantischen<br />

liturgietheoretischen Diskurses am Beispiel seiner<br />

Leitbilder <strong>und</strong> Orientierungsbegriffe<br />

Das hier präsentierte Kaleidoskop von 70 Leitbildern <strong>und</strong> Orientierungsbegriffen<br />

ist ein Versuch, schlaglichtartig die wechselvolle jüngere Geschichte des protestantischen<br />

liturgietheoretischen Diskurses zu skizzieren. Allerdings handelt es<br />

sich dabei um eine Art Panorama-Aufnahme, die angesichts der Fülle an Einzelentwürfen<br />

lediglich Schwerpunkte kurz zu markieren <strong>und</strong> gemeinsame Züge <strong>und</strong><br />

Auffälligkeiten herauszuarbeiten vermag. 1<br />

1. Friedrich Niebergall: Der Traum vom liturgischen<br />

Eigenheim <strong>und</strong> die liturgietheoretische ›Achsenzeit‹<br />

1919<br />

Evangelische Kirchenfrömmigkeit, so Friedrich Niebergall 1919, habe es nicht<br />

nötig, »immer in einem alten umgebauten Hause zu wohnen, sondern [sollte] sich<br />

endlich auch einmal, wenn die Zeit gekommen ist, ein eigenes liturgisches Häuslein<br />

errichten« 2 .<br />

1<br />

Bewusst werden homiletische Publikationen einbezogen, wenn diese wirkungsgeschichtlich<br />

entscheidende Aussagen zur Liturgietheorie enthalten, die bisher nur begrenzt wahrgenommen<br />

wurden. - Thomas Melzl hat eine Prüfung der in den letzten Jahrzehnten in der<br />

evangelischen Liturgiewissenschaft verwendeten Begriffe (Ordnung, Gespräch, Lernprozess,<br />

Struktur, Inszenierung Dramaturgie, Weg, Stil, Klangraum) auf ihre mögliche zukünftige<br />

Leitbild-Funktion hin vorgenommen, vgl. Thomas Melzl: Ordnung --- Struktur --- Weg.<br />

Auf der Suche nach dem leitenden Paradigma liturgischer Erneuerung, in: JLH 60 (2021),<br />

9-46.<br />

2<br />

Friedrich Niebergall: Praktische Theologie. Lehre von der kirchlichen Gemeindeerziehung<br />

auf religionswissenschaftlicher Gr<strong>und</strong>lage, Bd. 2: Die Arbeitszweige. Gottesdienst<br />

<strong>und</strong> Religionsunterricht. Seelsorge <strong>und</strong> Gemeindearbeit, Tübingen 1919, 45.


12<br />

<strong>Klaus</strong> <strong>Raschzok</strong><br />

Das Jahr 1919 mit Friedrich Niebergalls Traum vom liturgischen Eigenheim<br />

des Protestantismus lässt sich (frei nach Karl Jaspers) als liturgietheoretische<br />

›Achsenzeit‹ bezeichnen. Mit dem Wegfall des landesherrlichen Kirchenregimentes<br />

endet in Deutschland zugleich auch die ›Agendenhoheit‹ der Landesherrschaften<br />

in den protestantischen Kirchen. Die gottesdienstliche Ordnung ist<br />

nicht mehr weiter durch den jeweiligen Landesherrn sanktioniert, so dass eine<br />

Art liturgischen Vakuums entsteht. Bereits während des Ersten Weltkriegs <strong>und</strong> in<br />

seiner Folge vollzieht sich im deutschsprachigen Protestantismus in der<br />

gottesdienstlichen Reflexion wie Praxis ein Erwachen aus allem vermeintlich<br />

erstarrt Kirchlichen. Damit kann geradezu von einer Gottesdienstaufbruchsbewegung<br />

gesprochen werden. 3<br />

Dazu gehören evangelische Schulgottesdienste, in<br />

denen die Schülerschaft mit vaterländischem Pathos auf den Krieg eingestimmt<br />

wird, Gottesdienste zur Verabschiedung der in den Krieg ziehenden Freiwilligen,<br />

Gedenkfeiern in den Kirchen für die Gefallenen sowie Gottesdienste ›auf dem<br />

Felde‹ mit einem bisher nicht gekannten gottesdienstlichen Miteinander von<br />

Juden, Katholiken <strong>und</strong> Protestanten, die von den Beteiligten als enge kirchliche<br />

Grenzen sprengend erlebt werden.<br />

Friedrich Niebergall versteht den Gottesdienst in der Tradition von Julius<br />

Smend <strong>und</strong> Friedrich Spitta als Verkehr der Kinder Gottes mit ihrem Vater. Der<br />

liturgische Wechselverkehr zwischen Pfarrer <strong>und</strong> Gemeinde stellt den idealen<br />

Verkehr zwischen Gott <strong>und</strong> der Gemeinde dar. Liturgie ist für Niebergall ästhetisch-religiöse,<br />

Predigt erziehlich-religiöse Gestimmtheit. Gebete, Lieder, Sprüche,<br />

Lesungen <strong>und</strong> Predigt werden zu einem Ganzen aufgebaut, das diesem Verhältnis<br />

Ausdruck gibt. Das Haupthindernis für die neue Freiheit der Gottesdienstgestaltung<br />

sieht Niebergall in der vor allem im Bereich der lutherischen Kirchen ›zähen‹<br />

liturgischen Überlieferung, die den in seinen Augen unevangelischen Typus der<br />

Messe bis in die Gegenwart ängstlich konserviert »<strong>und</strong> jede Abweichung als<br />

Frevel am Heiligtum betrachtet« 4 habe.<br />

3<br />

Vgl. <strong>Klaus</strong> <strong>Raschzok</strong>: Trendsetter des Aufbruchs. Die »Frontkämpfer des Gottesdienstes«<br />

(Hans Asmussen), in: Ders.: Traditionskontinuität <strong>und</strong> Erneuerung. Praktisch-theologische<br />

Einsichten zu Kirchenraum <strong>und</strong> Gottesdienst, Leipzig 2014, 195-216; Ders.: Konfessionelle<br />

Identität in ökumenischer Perspektive. Facetten der Nördlinger Kirchengeschichte, in:<br />

Jahrbuch des Historischen Vereins für Nördlingen <strong>und</strong> das Ries 29 (1999), 97-123; zum<br />

Schulgottesdienst 1917 Seite 100 <strong>und</strong> zu Kriegspredigten 1914-1918 Seiten 107f.<br />

4<br />

Nierbergall (wie Anm. 2), 44.


Der Traum vom liturgischen Eigenheim 13<br />

2. Methodisches Vorgehen am Beispiel der<br />

Preußischen Agende <strong>und</strong> des Evangelischen<br />

Gottesdienstbuches<br />

Die vorgestellten Leitbilder <strong>und</strong> Orientierungsbegriffe partizipieren jeweils am<br />

liturgiewissenschaftlichen, liturgiepolitischen <strong>und</strong> liturgiepragmatischen Diskurs<br />

ihrer Zeit. Da dies nicht zu jedem einzelnen Leitbild <strong>und</strong> Orientierungsbegriff<br />

detailliert entfaltet werden kann, soll das Phänomen anhand der Leitbilder der<br />

Preußischen Agende <strong>und</strong> des Evangelischen Gottesdienstbuches exemplarisch<br />

verdeutlicht werden.<br />

2.1 Gleichförmigkeit gottesdienstlicher Formen (Friedrich Wilhelm III.<br />

von Preußen, 1822)<br />

Die Preußische Agende als Leitagende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts setzt sich in Preußen<br />

wie in zahlreichen weiteren protestantischen Territorien durch <strong>und</strong> markiert<br />

einen entscheidenden Bruch mit der bisherigen Praxis. 5 Bereits im Vorwort von<br />

1822 wird die Vorstellung von der über jeden Wechsel der Zeit erhabenen<br />

Gleichförmigkeit der gottesdienstlichen Formen mit den christlichen Vorfahren<br />

von Friedrich Wilhelm III. als Leitgedanke hervorgehoben:<br />

»Ueber jeden Wechsel der Zeit erhaben, sind diese herrlichen Liturgien auch<br />

jetzt noch eben so erbauend <strong>und</strong> erhebend, als sie es damals unsern frommen<br />

Vorfahren waren.<br />

Dem ohngeachtet hat man sich von den vorgeschriebenen Formen immer<br />

mehr <strong>und</strong> mehr entfernt, <strong>und</strong> an die Stelle alter ehrwürdiger Gebräuche ist die<br />

Willkühr getreten.<br />

Die evangelische Kirche soll aber in ihrer Lehre <strong>und</strong> Anordnung, die Gemeinschaft<br />

des christlichen Glaubens, auf das Feststehende <strong>und</strong> Ewige des Christenthums<br />

begründen, <strong>und</strong> wenn gleich die Formen der kirchlichen Gebräuche nicht<br />

das Wesentliche der Gottesverehrung ganz allein ausmachen, so soll doch durch<br />

die Gleichförmigkeit derselben, nicht allein eine gemeinschaftliche Ueberzeugung,<br />

sondern auch eine heitere Seelenruhe <strong>und</strong> fromme Zuversicht, in dem<br />

ansprechenden Gedanken erzeugt werden, daß es dieselben Lobpreisungen, Dank-<br />

5<br />

Vgl. zur Preußischen Agende <strong>Klaus</strong> <strong>Raschzok</strong>: Lutherische Liturgie vom 17. bis zum 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert, in: Jürgen Bärsch/Benedikt Kranemann (Hg.): Geschichte der Liturgie in den<br />

Kirchen des Westens. Rituelle Entwicklungen, theologische Konzepte <strong>und</strong> kulturelle Kontexte,<br />

Bd.1: Von der Antike bis zur Neuzeit, Münster 2008, 575-646, hier: 624-629; <strong>Klaus</strong><br />

<strong>Raschzok</strong>: »Liturgie der Heiligen Allianz«. Die preußische Agende von 1821 als interkonfessioneller<br />

europäischer Gottesdienstentwurf?, in: Jörg Dittmer/Jan Kemnitzer/Michael<br />

Pietsch (Hg.): Christlich-jüdisches Abendland? Perspektiven auf Europa (Theologische<br />

Akzente 9), Stuttgart 2020, 235-268.


14<br />

<strong>Klaus</strong> <strong>Raschzok</strong><br />

sagungen, Bitten, Fürbitten <strong>und</strong> Gelübde sind, welche unsere christlichen Vorfahren<br />

seit mehreren Jahrh<strong>und</strong>erten beteten, <strong>und</strong> die nach uns unsere Kinder, will's<br />

Gott - beten werden.« 6<br />

Die preußische Agende Friedrich-Wilhelms III. ist aus dem Zusammenspiel<br />

von Liturgiepolitik, Liturgiewissenschaft <strong>und</strong> Liturgiepragmatik zu verstehen.<br />

Liturgiepolitisch tritt die Ordnung an die Stelle der bisher im Gefolge von<br />

Aufklärung <strong>und</strong> Rationalismus empf<strong>und</strong>enen gottesdienstlichen Willkür. Der<br />

Monarch nimmt diese Aufgabe selbst für seine Landeskirche in die Hand, überlässt<br />

sie nicht mehr seinen geistlichen Beratern <strong>und</strong> realisiert damit zugleich<br />

gottesdienstlich die Union der lutherischen <strong>und</strong> reformierten Gemeinden seines<br />

Territoriums. Friedrich Wilhelm III. begründet dieses Vorgehen, mit dem er sein<br />

Amt als Summepiscopus seiner Kirche verantwortlich wahrnimmt, mit den<br />

Worten:<br />

»Von allem Schlimmen in der Welt ist das Schlimmste die Willkühr. Sie tritt<br />

<strong>und</strong> reißt da ein, wo die Gesetze nichtmehr gelten <strong>und</strong> man ihre Autorität nicht<br />

mehr ehrt. In der Willkühr offenbart sich der Egoismus, der Alles besser wissen<br />

<strong>und</strong> besser machen will. [...] So lange einsichtsvolle Männer Abänderungen treffen,<br />

mag es hingehen, es liegt wenigstens Verstand darin; wenn aber jeder unverständige<br />

Priester seine ungewaschenen Einfälle zu Markte bringt, modeln <strong>und</strong><br />

abändern will, was die unsterblichen Reformatoren Luther <strong>und</strong> Melanchthon gemacht<br />

<strong>und</strong> angeordnet haben, was wird <strong>und</strong> kann da aus der Sache werden? Wie?<br />

Haben wir kein jus canonicum, kein jus liturgicum, kein jus circa <strong>und</strong> in sacra<br />

mehr? [...] Solchen Unfug kann, darf <strong>und</strong> werde ich nicht mehr ruhig mit ansehen.«<br />

7<br />

Liturgiewissenschaftlich wählt der theologisch wie liturgisch gebildete Monarch<br />

dazu das Verfahren der Komparatistik <strong>und</strong> nimmt eine vergleichende Analyse<br />

von Agenden <strong>und</strong> Kirchenordnungen vor, aus denen er seinen neuen Agendenentwurf<br />

kontrahiert. 8 Die Arbeit an der Agende wird zum persönlichen Herzensanliegen<br />

des Monarchen. So heißt es in einem zeitgenössischen Bericht: »Man<br />

konnte ihn St<strong>und</strong>en lang, Tage lang mit seinen geliebten Agenden sich beschäftigen<br />

sehen, welche oft alle Stühle im ganzen Zimmer besetzten, wenn der König<br />

verglich <strong>und</strong> exzerpierte«. 9 Mittels dieser kompilatorischen Arbeitsweise erstellt<br />

Friedrich Wilhelm III. eine Synopse von zehn reformatorischen Agenden, die mit:<br />

»Form, die Messe zu halten nach verschiedenen Kirchen-Agenden aus den ersten<br />

Zeiten der Reformation als Gr<strong>und</strong>lage zu der in Vorschlag gebrachten Liturgie.<br />

6<br />

Vorwort zur preußischen Agende 1822, in: Wolfgang Herbst (Hg.): Evangelischer Gottesdienst.<br />

Quellen zu seiner Geschichte. 2., völlig neubearb. Auflage Göttingen 1992, 170f.<br />

7<br />

Zitiert nach Rulemann Friedrich Eylert: Charakter-Züge aus dem Leben des Königs von<br />

Preußen Friedrich Wilhelm III. Gesammelt nach eigenen Beobachtungen <strong>und</strong> selbstgemachten<br />

Erfahrungen, 3 Bände, 3. Auflage Magdeburg 1844ff., Bd. III/1, 304.<br />

8<br />

Vgl. <strong>Raschzok</strong>, Heilige Allianz (wie Anm. 5), 237f.<br />

9<br />

Hermann Theodor Wangemann: Die kirchliche Cabinetts-Politik des Königs, Berlin 1884,<br />

110f.


Der Traum vom liturgischen Eigenheim 15<br />

Eigenhändig angefertigter Entwurf des Königs Friedrich Wilhelm III., aus dem<br />

Jahre 1817«, überschrieben ist. 10<br />

Liturgiepragmatisch <strong>und</strong> die enorme Durchsetzungskraft der Agende fördernde<br />

Eingriffe betreffen das den Gemeinden vertrautere Apostolikum, welches das<br />

Nicaenum bzw. das in den lutherischen Kirchen an dessen Stelle gesungene<br />

Luther-Lied: ›Wir glauben all an einen Gott‹, ersetzt. Sodann wird der Gottesdienst<br />

auf eine St<strong>und</strong>e Gesamtdauer anstelle der bisher im lutherischen Gottesdienst<br />

üblichen drei St<strong>und</strong>en beschränkt. Die Gebete <strong>und</strong> liturgischen Formulierungen<br />

der Agende sind von den Geistlichen wortwörtlich zu gebrauchen. Die Predigt mit<br />

dem Kanzelsegen erhält eine erratische Endstellung, wenn keine Kommunikanten<br />

angemeldet sind <strong>und</strong> das Abendmahl entfällt. Vertraute Anbetungsformen aus der<br />

Abendmahlsliturgie (Sursum Corda, Präfation, Sanctus) wandern vor die Predigt,<br />

werden vom Abendmahl gelöst <strong>und</strong> bleiben somit auch im Wortgottesdienst ohne<br />

Abendmahl erhalten. Das Vaterunser wird zum auf der Kanzel gesprochenen Kirchengebet<br />

gezogen, geht mit diesem eine neue Einheit ein <strong>und</strong> ist nicht mehr an<br />

die Feier des Abendmahls geb<strong>und</strong>en. <strong>Emotion</strong>alität wird vor allem durch die am<br />

russischen Hofkomponisten Dimitri Bordniansky orientierte, mit Elementen der<br />

preußischen Militärmusik durchsetzte musikalische Gestaltung erzeugt, die der<br />

zeitgenössischen ›Russophilie‹ des Königs <strong>und</strong> der Volkstümlichkeit einer ganzen<br />

Generation entgegenkommt. Die Gemeinde, deren Antwortgesänge zunächst von<br />

einem Männerchor übernommen werden, wird emotional-korporal in den Gottesdienst<br />

einbezogen, bleibt aber eher passives Objekt des Feiergeschehens. Mittels<br />

ihrer psychologisch-dogmatischen Logik kann die Preußische Agende auf diese<br />

Weise unterschiedliche liturgische Traditionen zu einer neuen Einheit<br />

zusammenführen.<br />

10<br />

»Eifriger, als sonst, las <strong>und</strong> studirte Er [...] die alten Liturgien <strong>und</strong> Agenden Seiner Ahnherren<br />

der Churfürsten Joachim II., Johann Georg, aus den Jahren 1540, 1558, 1572; Er<br />

übersah den ganzen Gang, welchen die Kirchen=Ordnung bis auf Seine Zeit genommen<br />

hatte; Er verglich damit das Werk Luthers <strong>und</strong> seiner Gehülfen; Er durchforschte <strong>und</strong> exzerpierte<br />

seine Schriften, <strong>und</strong> wurde, als ein wohl unterrichteter, evangelischer Christ, der<br />

seine Bibel ehrt <strong>und</strong> kennt, Seines Glaubens nicht nur gewiß sondern wußte auch, was Er,<br />

als König, der Landeskirche in Seiner Zeit schuldig war. Sein gutes <strong>und</strong> umfassendes treues<br />

Gedächtnis kam Ihm dabei zu Hülfe; Er wußte nicht nur die Sachen, sondern auch die agierenden<br />

Personen <strong>und</strong> die Jahreszahlen, selbst das Datum des Tages, sicher <strong>und</strong> genau anzugeben.<br />

Er war also ganz dazu geeignet, diese liturgische Reform selbst zu beurtheilen <strong>und</strong><br />

zu leiten; Sein dauerndes Interesse für die ernste Sache ging aus Seiner Liebe für sie <strong>und</strong><br />

Seiner gründlichen Kenntniß von ihr selbst hervor. Er war ganz der Mann dazu, dieß zu<br />

Stande zu bringen, <strong>und</strong> ohne Seinen unmittelbaren Einfluß würde es nicht bewirkt sein«<br />

(Eylert [wie Anm. 7], 315).


16<br />

<strong>Klaus</strong> <strong>Raschzok</strong><br />

2.2 Stabile Gr<strong>und</strong>struktur bei variabler Ausformung (Evangelisches<br />

Gottesdienstbuch, 1999)<br />

Das Evangelische Gottesdienstbuch von 1999 <strong>und</strong> seine Vorfassung, die Erneuerte<br />

Agende von 1989, verstehen sich als Werkbuch. Dessen liturgietheoretisch entscheidendes<br />

Kriterium ist das Prinzip der stabilen Gr<strong>und</strong>struktur bei variabler<br />

Ausformung.<br />

»Der Gottesdienst folgt einer erkennbaren, stabilen Gr<strong>und</strong>struktur, die vielfältige<br />

Gestaltungsmöglichkeiten offen hält (Kriterium 2). Die stabile Gr<strong>und</strong>struktur ist<br />

aller aktuellen Gestaltung vorgegeben. Das Zeugnis der Schrift <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>erkenntnisse<br />

des Glaubens haben sich in elementaren Texten der Christenheit ebenso<br />

niedergeschlagen wie in der Struktur des Gottesdienstes. Die Gr<strong>und</strong>struktur besteht<br />

aus einem zweigliedrigen Kern: der Verkündigung <strong>und</strong> der Feier des Mahls.<br />

Er wird von einem hinführenden, sammelnden <strong>und</strong> einem in den Alltag hinausführenden,<br />

sendenden Teil umschlossen. Diese Gr<strong>und</strong>struktur ist den christlichen<br />

Kirchen gemeinsam. Sie kommt in den beiden Gr<strong>und</strong>formen zum Ausdruck, auch<br />

wenn diese unterschiedliche Schwerpunkte in der Entfaltung der einzelnen Teile<br />

setzen. Sie stellt die Basis <strong>und</strong> den Rahmen dar, wenn eine Gemeinde ihren Gottesdienst<br />

an ihrem Ort <strong>und</strong> in ihrer Situation lebendig gestaltet, <strong>und</strong> sie bedarf solcher<br />

konkreten Ausgestaltung.« 11<br />

Das Evangelische Gottesdienstbuch <strong>und</strong> sein Leitbild der stabilen Gr<strong>und</strong>struktur<br />

bei variabler Ausformung lässt sich ebenfalls als Zusammenspiel von Liturgiewissenschaft,<br />

Liturgiepragmatik <strong>und</strong> Liturgiepolitik verstehen. Liturgiewissenschaftlich<br />

baut die Arbeit am Evangelischen Gottesdienstbuch <strong>und</strong> an dessen Vorentwurf<br />

Erneuerte Agende auf der die akademischen wie kirchlichen Zeitgenossen<br />

zunächst beeindruckenden akribischen Agendenkomparatistik von Frieder<br />

Schulz 12<br />

auf. Dieser ermittelt aus seinen vergleichenden Ablaufstudien eine<br />

gemeinsame gottesdienstliche Struktur. Sie bildet jedoch vor allem die ›Schreibtischlogik‹<br />

der einen Gottesdienst vorbereitenden <strong>und</strong> planenden Liturginnen <strong>und</strong><br />

Liturgen <strong>und</strong> weniger die Erlebnislogik der Feiernden ab. Frieder Schulz ist einer<br />

der letzten Vertreter einer evangelischen Liturgiewissenschaftler-Generation, die<br />

als gelehrte Pfarrer <strong>und</strong> nicht als Hochschullehrer forschten <strong>und</strong> arbeiteten. Auch<br />

wenn sein eher pragmatischer <strong>und</strong> weniger kultur- <strong>und</strong> sozialwissenschaftlich<br />

f<strong>und</strong>ierter Strukturbegriff kritisch diskutiert wurde, überzeugten doch dessen<br />

11<br />

Evangelisches Gottesdienstbuch. Agende für die Evangelische Kirche der Union <strong>und</strong> für<br />

die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands, hg. von der Kirchenleitung<br />

der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands <strong>und</strong> im Auftrag des Rates<br />

von der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche der Union, Berlin/Bielefeld/Hannover<br />

1999, 15.<br />

12<br />

Vgl. Frieder Schulz: Agende --- Erneuerte Agende --- Gottesdienstbuch. Evangelische<br />

Agendenreform in der 2. Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts (Texte aus der VELKD 89), Hannover<br />

1999.


Der Traum vom liturgischen Eigenheim 17<br />

liturgiepolitische wie liturgiepragmatische Implikationen die für die Agendenarbeit<br />

zuständigen Kommissionsmitglieder. 13<br />

Der Gottesdienst wird liturgiepragmatisch nach Kriterium 1 als Gestaltungsaufgabe<br />

der Gemeinde verstanden <strong>und</strong> durch eine im Evangelischen Gottesdienstbuch<br />

enthaltene Liturgiedidaktik unterstützt. Mit der Ergänzung der unhandlichen<br />

Agende durch ein Ringbuch wird einer inzwischen üblichen gottesdienstlichen<br />

Praxis entsprochen. Die Agende dient als Werkbuch <strong>und</strong> nicht mehr als<br />

verbindliche, wortwörtlich zu Gehör zu bringende Vorlage für die Gottesdienste.<br />

Die Orientierung an sieben Kriterien für die gottesdienstliche Arbeit legt die mit<br />

dem Evangelischen Gottesdienstbuch verb<strong>und</strong>enen Entscheidungen <strong>und</strong> Weichenstellungen<br />

offen. 14<br />

Entscheidendes Ziel des Evangelischen Gottesdienstbuches<br />

ist die Zusammenführung der agendarischen Gottesdienstformen mit den<br />

Gottesdiensten in neuer Gestalt mittels der propagierten stabilen Gr<strong>und</strong>struktur<br />

bei variabler Ausformung. Die ursprünglich beabsichtigte Domestizierung der<br />

Gottesdienste in neuer Gestalt mittels eines verbindenden einheitlichen Modells<br />

als zunächst scheinbar überzeugender Lösungsansatz konnte sich jedoch in der<br />

Praxis nur bedingt durchsetzen <strong>und</strong> eine weitere Ausdifferenzierung der gottesdienstlichen<br />

Landschaft nicht verhindern. Liturgiepolitisch war mit dem Evangelischen<br />

Gottesdienstbuch das erste gemeinsame Agendenwerk der (damaligen)<br />

13<br />

Vgl. Melzl (wie Anm. 1), 21-25, zum »Strukturbegriff der agendarischen Erneuerung«.<br />

Dieser »sollte einerseits die Gottesdienstexperimente als strukturell verwandt mit dem<br />

agendarischen Gottesdienst ausweisen. Er sollte aber andererseits auch ein gestalterisches<br />

Prinzip an die Hand geben, um experimentelle Gottesdienste letztlich im Gleichklang mit<br />

dem agendarischen Gottesdienst zu gestalten.« (22) Die Funktion des Begriffs ›Struktur‹<br />

wird jedoch nicht abschließend geklärt <strong>und</strong> steht im Widerspruch zum Erleben des Gottesdienstes.<br />

--- Zur Diskussion um den Strukturbegriff des Evangelischen Gottesdienstbuches<br />

vgl. Manfred Josuttis: Die Erneuerte Agende <strong>und</strong> die agendarische Erneuerung, in: PTh 80<br />

(1991), 504-516; Karl-Heinrich Bieritz: Struktur. Überlegungen zu den Implikationen<br />

eines Begriffs im Blick auf künftige Funktionen liturgischer Bücher (1979), in: Ders.: Zeichen<br />

setzen. Beiträge zu Gottesdienst <strong>und</strong> Predigt (Praktische Theologie heute 65), Stuttgart<br />

1995, 61-81, sowie Hanns Kerner: Die Erneuerung des Gottesdienstes --- Gottesdienst<br />

als Gestaltungsaufgabe, in: Hans-Christoph Schmidt-Lauber/Karl-Heinrich Bieritz (Hg.):<br />

Handbuch der Liturgik. Liturgiewissenschaft in Theologie <strong>und</strong> Praxis der Kirche, Leipzig/<br />

Göttingen 1995, 971-984, der sich gegen die Ansicht wendet, Wiedererkennbarkeit <strong>und</strong><br />

Mitvollzug sei bereits durch Erkennen einer Gr<strong>und</strong>struktur gegeben. Kerner verweist auf<br />

den seines Erachtens falschen Eindruck, als ob die angebotenen Varianten gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

miteinander kombinierbar seien. Das Modell löse die tatsächlichen Schwierigkeiten nicht<br />

<strong>und</strong> enthalte zudem keine ausreichenden Hinweise für die Dramaturgie des Gottesdienstes.<br />

(978) Ähnlich <strong>Konrad</strong> <strong>Müller</strong>: Struktur, Milieu <strong>und</strong> Verb<strong>und</strong>enheit. Überlegungen zur<br />

Fortführung gottesdienstlicher Reformprozesse, in: Andreas von Heyl/Konstanze Kemnitzer<br />

(Hg.): Modellhaftes Denken in der Praktischen Theologie (FS <strong>Klaus</strong> <strong>Raschzok</strong>), Leipzig<br />

2014, 147-167: »Der Versuch, das Erleben des Gottesdienstes durch sich wiederholende<br />

Strukturen zu sichern, scheint mir zu einer weiteren Schwächung der Erlebnistiefe des<br />

Gottesdienstes zu führen.« (159)<br />

14<br />

Evangelisches Gottesdienstbuch (wie Anm. 11), 15-17.


18<br />

<strong>Klaus</strong> <strong>Raschzok</strong><br />

Evangelischen Kirche der Union (EKU) <strong>und</strong> der Vereinigten Evangelisch-<br />

Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) für die Gottesdienste an Sonn- <strong>und</strong><br />

Feiertagen entstanden. Es führt deren Traditionen mittels des von Frieder Schulz<br />

entwickelten »Prinzip(s) der festen Gr<strong>und</strong>struktur in variabler Ausformung« 15<br />

zusammen <strong>und</strong> tritt an die Stelle der beiden Agenden I von 1955 (VELKD) bzw.<br />

1959 (EKU). Auf diese Weise sollte eine zukünftige dynamische Ausgestaltung der<br />

Gr<strong>und</strong>struktur ermöglicht werden 16 . Bis heute ist das Evangelische Gottesdienstbuch<br />

Ursprung des sogenannten ›Verbindungsmodells‹ zwischen den Evangelischen<br />

Kirchen der Union (heute: Union Evangelischer Kirchen) <strong>und</strong> der Vereinigten<br />

Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands unter dem gemeinsamen Dach<br />

der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Mit seinem Leitbild der stabilen<br />

Gr<strong>und</strong>struktur bei variabler Ausformung steuert das Evangelische Gottesdienstbuch<br />

seitdem die weitere gemeinsame Arbeit an den bisher eigenständigen Agendenwerken.<br />

17<br />

3. Leit- <strong>und</strong> Orientierungsbegriffe<br />

liturgietheoretischer Reflexion von der Mitte des<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>erts bis zur Gegenwart<br />

3.1 Evangelische Kultustheorie im Gefolge Schleiermachers<br />

3.1.1 Darstellende Mitteilung des religiösen Bewusstseins (Friedrich<br />

Schleiermacher, 1850)<br />

Für Friedrich Schleiermacher ist der Zweck des Gottesdienstes »die darstellende<br />

Mittheilung des stärker erregten religiösen Bewußtseins.« 18 Die wesentlichen Bestandteile<br />

des Cultus sind religiöse Rede, Gesang <strong>und</strong> Gebet. Das, »was dargestellt<br />

werden soll: so sind diese nichts anderes als die religiösen Gemüthszustände.«<br />

15<br />

A.a.O., 17.<br />

16<br />

Vgl. Helmut Schwier: Die Erneuerung der Agende. Zur Entstehung <strong>und</strong> Konzeption des<br />

»Evangelischen Gottesdienstbuches« (Leiturgia --- Neue Folge 3), Hannover 2000, der die<br />

Bedeutung von Frieder Schulz für das Zustandekommen des Evangelischen Gottesdienstbuches<br />

detailliert nachgezeichnet hat.<br />

17<br />

Vgl. Johannes Goldenstein: Zur Zukunft der Agendenarbeit, in: Konstanze Kemnitzer<br />

(Hg.): Gussformen der Gottesdienstgestaltung. Das Agendenwerk der VELKD zwischen<br />

Neuaufbruch <strong>und</strong> Restauration, Leipzig 2021, 273-282. --- Deutlich wird dies z. B. an der<br />

Neufassung der Ordinations- <strong>und</strong> Berufungsagende: Berufung --- Einführung --- Verabschiedung.<br />

Agende 6 für die Union Evangelischer Kirchen in der EKD. Agende IV, Teilband 1 der<br />

VELKD für evangelisch-lutherische Kirchen <strong>und</strong> Gemeinden, Hannover/Bielefeld 2012.<br />

18<br />

Friedrich Schleiermacher: Die Praktische Theologie, hg. von Jacob Frerichs, 1850,<br />

zitiert nach Wolfgang Herbst (wie Anm. 6), 195.


Sonja Keller<br />

Agendenfrei <strong>und</strong> predigtzentriert<br />

Gottesdienst feiern<br />

Die jüngere Geschichte des liturgietheoretischen Diskurses<br />

in der Deutschschweiz<br />

Als Geschichte der programmatischen Arbeit an liturgischen Leitbegriffen, die<br />

sich in langwierigen Agendenreformen manifestiert, lässt sich der deutschschweizerisch-reformierte<br />

Diskurs nicht erzählen. Der liturgische Diskurs in der reformierten<br />

Deutschschweiz, auf den sich dieser Beitrag bezieht, kann nicht mit der<br />

komplexen Entwicklung vom Strukturpapier 1974 bis zum Erscheinen des Evangelischen<br />

Gottesdienstbuchs (EGb) 1999 verglichen werden. 1 Leit- <strong>und</strong> Orientierungsbegriffe<br />

im engeren Sinne sind für den reformierten liturgischen Diskurs<br />

nur ansatzweise überliefert. 2<br />

Ein Äquivalent zum Leitbegriff ›Struktur‹ im EGb<br />

wurde für den reformierten Gottesdienst bisher nicht entwickelt. Mit Blick auf die<br />

Gottesdienstpraxis kann vom reformierten Gottesdienst nur im Plural gesprochen<br />

werden. 3 Als traditionsverbindendes Element kann die große Bedeutung, die der<br />

Predigt beigemessen wird, angesehen werden. Das gilt für die Gottesdienste in der<br />

Deutschschweiz <strong>und</strong> erst recht für die weltweite reformierte Gottesdienstkultur.<br />

Das liturgische Proprium des reformierten Gottesdienstes lässt sich bis auf die<br />

zentrale Bedeutung der Bibel für den Gottesdienst kaum weiter spezifizieren, was<br />

auch daran liegt, dass der Einfluss <strong>und</strong> die Rezeption ökumenischer <strong>und</strong> stärker<br />

1<br />

Vgl. Michael Meyer-Blanck: »… dass unser lieber Herr selbst mit uns rede …«. Möglichkeiten<br />

des evangelischen Gottesdienstbuches für die lutherischen <strong>und</strong> unierten evangelischen<br />

Kirchen, in: Ders.: Agenda. Zur Theorie liturgischen Handelns, Tübingen 2013, 88---<br />

110, hier: 91.<br />

2<br />

Die signifikant andere Diskurslage in der reformierten Deutschschweiz wird etwa daran<br />

erkennbar, dass Liturgie <strong>und</strong> Predigt vielfach als Gegenüber verstanden wurden. Vgl. Alfred<br />

Ehrensperger: Die Gottesdienstreform der evangelisch-reformierten Zürcher Kirche<br />

von 1960---1970 <strong>und</strong> ihre Wirkungsgeschichte, in: Martin Klöckener (Hg.): Liturgie in<br />

Bewegung: Beiträge zum Kolloquium Gottesdienstliche Erneuerung in den Schweizer Kirchen<br />

im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert, 1.---3. März 1999 an der Universität Freiburg/Schweiz, Freiburg<br />

2000, 192---205, hier: 192.<br />

3<br />

Vgl. Ralph Kunz: Reformierte Liturgie im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert, in: Jürgen Bärsch/Benedikt<br />

Kranemann (Hg.): Geschichte der Liturgie in den Kirchen des Westens, Bd. 2: Moderne <strong>und</strong><br />

Gegenwart, Münster 2018, 399---439, hier: 402.


68<br />

Sonja Keller<br />

liturgisch orientierter Gottesdienstverständnisse zwischen der Deutschschweiz,<br />

der Romandie <strong>und</strong> den Niederlanden stark variieren. 4<br />

Mit Blick auf den reformierten Gottesdienst in der Deutschschweiz <strong>und</strong> seine<br />

liturgiewissenschaftliche Begleitung bleiben verbindliche Leit- <strong>und</strong> Orientierungsbegriffe<br />

eine Leerstelle, <strong>und</strong> doch folgen reformierte Gottesdienste selbstverständlich<br />

wiedererkennbaren Abläufen, weshalb an dieser Stelle danach gefragt wird,<br />

welche liturgischen Dispositive den reformierten Gottesdienst in der Deutschschweiz<br />

formen. Diese multiperspektivische Suchbewegung dient dazu, spezifische<br />

Eigenschaften des reformierten liturgischen Diskurses anhand verschiedener<br />

Quellen herauszuarbeiten. Dieses Dispositiv 5 soll im ersten Teil auf der Gr<strong>und</strong>lage<br />

zentraler liturgischer Texte <strong>und</strong> Arbeitshilfen umrissen werden. Darauf folgt<br />

eine knappe Darstellung zentraler öffentlicher Diskussionen über die reformierte<br />

Liturgie im zweiten Teil. Im Anschluss daran wird nach leitenden Strukturprinzipien<br />

des reformierten Gottesdienstes in den einschlägigen jüngeren liturgietheoretischen<br />

Qualifikationsarbeiten von Ralph Kunz, David Plüss <strong>und</strong> Christian Walti<br />

gefragt, in denen liturgiewissenschaftliche Gr<strong>und</strong>fragen anhand semiotischer,<br />

performativitätstheoretischer <strong>und</strong> videographischer Forschungs- <strong>und</strong> Reflexionsperspektiven<br />

bearbeitet werden. Diese Studien sind in allgemeine deutschsprachige<br />

liturgiewissenschaftliche Diskurse eingeb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> setzen sich in unterschiedlicher<br />

Weise alle mit der Agendenfreiheit des reformierten Gottesdienstes<br />

auseinander. Im Fazit werden die Themen <strong>und</strong> Fragen verdichtet dargestellt.<br />

1. Einführung<br />

Der liturgische Diskurs unter den Reformierten in der Deutschschweiz ist gr<strong>und</strong>legend<br />

von der Agendenfreiheit <strong>und</strong> damit der Gestaltungsfreiheit als Kennzeichen<br />

des reformierten Gottesdienstes geprägt. 6 Aus dieser Diskurslage kann allerdings<br />

nicht auf die Abwesenheit geprägter Gottesdienstformen 7 oder einen Mangel<br />

4<br />

Vgl. Bruno Bürki: Gottesdienst im reformierten Kontext, in: Hans-Christoph Schmidt-<br />

Lauber/Michael Meyer-Blanck/Karl-Heinrich Bieritz (Hg.): Handbuch der Liturgik.<br />

Liturgiewissenschaft in Theologie <strong>und</strong> Praxis der Kirche, Göttingen 3 2003, 160---171, hier:<br />

163ff.<br />

5<br />

In Anlehnung an Andrea D. Bührmann <strong>und</strong> Werner Schneider, die den Dispositivbegriff<br />

methodisch konkretisieren, wird unter Dispositiv eine vorherrschende Wissensordnung<br />

verstanden, die in Wechselwirkung zu sozialen oder diskursiven Praktiken besteht. Vgl.<br />

Andrea D. Bührmann/Werner Schneider: Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld<br />

2008, 95.<br />

6<br />

Eine gesteigerte liturgische Pluralisierung ist seit den 1970er Jahren auch für den reformierten<br />

Kontext zu beobachten. Vgl. Kunz (wie Anm. 3), 403.<br />

7<br />

So wurde in einigen Kantonen in der Deutschschweiz Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts nach<br />

dem Zürcher Muster (Votum, Lied, Gebet, Predigt, Gebet, Fürbitten, Lied, Segen) Gottes-


Agendenfrei <strong>und</strong> predigtzentriert Gottesdienst feiern 69<br />

an Diskussionen über verbindliche Gottesdienststücke 8<br />

in der Geschichte<br />

geschlossen werden. Bis Mitte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts zeichnete sich der in der<br />

Deutschschweiz verbreitete spätmittelalterliche Prädikantengottesdienst durch<br />

Schlichtheit <strong>und</strong> Stabilität aus. Der Gottesdienst gewann durch die Konzentration<br />

auf Bibel <strong>und</strong> Predigt seine spezifische Gestalt. 9 In der Einleitung des Liturgiebuches<br />

aus dem Jahr 1972 wird schlicht festgestellt, dass kein Liturgiezwang<br />

herrscht. 10 Die Tradition der liturgischen Vielfalt lässt sich auf verschiedene einschneidende<br />

Entwicklungen zurückführen, wozu auch die Anfänge der Reformation<br />

in Zürich gehören, die aus der Predigttätigkeit der Theologen hervorgegangen<br />

ist <strong>und</strong> die sich nicht als Liturgiereform vollzogen hat, sondern auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage der Ausweitung <strong>und</strong> Neuformatierung des Predigtgottesdienstes. 11<br />

Die liturgische Pluralität ist für den reformierten Gottesdienst konstitutiv,<br />

wenn nicht sogar identitätsstiftend, was praktisch dazu führt, dass die liturgischen<br />

Gestaltungsspielräume außerordentlich groß sind. Katrin Kusmierz <strong>und</strong><br />

Andreas Marti stellen dazu prägnant fest: »Den Gottesdienst in den reformierten<br />

Kirchen der Deutschschweiz gibt es nicht, da er zu großen Teilen in der Verantwortung<br />

der einzelnen Pfarrpersonen (bzw. der einzelnen Gemeinden oder der<br />

Synoden) liegt, die relativ viel Gestaltungsfreiheit haben, da wenig verbindliche<br />

liturgische Vorgaben zu berücksichtigen sind bzw. diese von Ort zu Ort variieren<br />

können.« 12<br />

Regionalen Gottesdiensttraditionen <strong>und</strong> der liturgischen Kompetenz<br />

der reformierten Liturginnen <strong>und</strong> Liturgen kommt damit eine große Bedeutung<br />

zu, sofern sie die liturgische Gestaltung sowie die Auswahl der biblischen Texte<br />

verantworten. 13<br />

Für die Frage nach liturgischen Diskurslinien im deutschschweizerischen<br />

reformierten Kontext der letzten fünf Jahrzehnte sind diese Rahmenbedingungen<br />

überaus relevant, <strong>und</strong> der liturgietheoretische Diskurs bzw. seine Zurückgenommenheit<br />

lassen sich überhaupt nur angesichts dieser Prägung verstehen. Das<br />

dienst gefeiert, <strong>und</strong> das Zürcher Kirchenbuch von 1916 wurde weit über die Kantonsgrenzen<br />

hinaus intensiv rezipiert. Vgl. Emanuel Kellerhals: Geschichte des Gottesdienstes<br />

in der reformierten deutschen Schweizer Kirche im Entwurf, o. O. 1973, 262.<br />

8<br />

Im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert fand etwa eine Debatte über die Verbindlichkeit von agendarischen<br />

Gebeten statt. Vgl. Michael Baumann: Reformierter Gottesdienst in der Deutschschweiz<br />

vom 16. bis zum 19. Jahrh<strong>und</strong>ert, in: Bärsch/Kranemann (wie Anm. 5), 647---667, hier:<br />

663.<br />

9<br />

Vgl. Kunz (wie Anm. 3), 402.<br />

10<br />

Vgl. Liturgiekonferenz der evangelisch-reformierten Kirchen in der deutsch-sprachigen<br />

Schweiz (Hg.): Liturgie; Bd. I: Sonntagsgottesdienst, Bern 1972, 9.<br />

11<br />

Vgl. Ehrensperger (wie Anm. 2), 193; Baumann (wie Anm. 8), 653.<br />

12<br />

Kathrin Kusmierz/Andreas Marti: Zur Geschichte des reformierten Gottesdienstes in<br />

der Deutschschweiz im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert, in: David Plüss/Katrin Kusmierz/Matthias<br />

Zeindler/Ralph Kunz (Hg.): Gottesdienst in der reformierten Kirche. Einführung <strong>und</strong><br />

Perspektiven, Zürich 2017, 39---56, hier: 40.<br />

13<br />

Vgl. Ralph Kunz/Andreas Marti/David Plüss: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Reformierte<br />

Liturgik --- kontrovers, Zürich 2011, 7---10, hier: 9.


70<br />

Sonja Keller<br />

Liturgiebuch, das in der Praxis nur spärlich zur Anwendung kommt, versteht sich<br />

angesichts seiner fehlenden Verbindlichkeit als Empfehlung von Modellen für die<br />

Feier des reformierten Gottesdienstes. 14 Liturgiepraktisch hat das natürlich nicht<br />

zur Folge, dass jeden Sonntag vor Ort ein ganz anderer Gottesdienst gefeiert wird.<br />

In Gemeinden mit Pfarrteams, die unterschiedlichen liturgischen Stilen anhängen,<br />

formuliert mancherorts der Kirchengemeinderat Rahmenbedingungen für<br />

die liturgische Gestaltung der Gottesdienste. Dazu gehören etwa Regelungen über<br />

die Frequenz der Abendmahlsfeier oder zur Häufigkeit von Gottesdiensten auf<br />

Schweizerdeutsch. 15<br />

Als zentrales Strukturmerkmal des reformierten Gottesdienstes<br />

kann die Predigt beschrieben werden. 16 Die Predigtfokussierung in der<br />

Deutschschweiz führte lange Zeit zu einer relativen Unbestimmtheit der Gottesdienstelemente<br />

vor <strong>und</strong> nach der Predigt. Reformierte Liturgie als eigene Größe<br />

wurde <strong>und</strong> wird vielfach in Abgrenzung zur katholischen Liturgie beschrieben,<br />

wobei der Terminus ›reformiert‹ als Markierung von Differenz verwendet wird<br />

<strong>und</strong> inhaltlich unbestimmt bleibt. 17 Vielfalt bzw. die Rahmung von Vielfalt <strong>und</strong> das<br />

Ringen um Freiheit <strong>und</strong> Verbindlichkeit können als Leitmotive der liturgischen<br />

Arbeit im Kontext der reformierten Deutschschweiz beschrieben werden. In der<br />

beobachtbaren Vielfalt spiegelt sich ein beträchtlicher <strong>und</strong> kreativitätsfördernder<br />

Formenreichtum. 18<br />

2. Liturgische Dispositive<br />

Die Reformierten in der Schweiz kennen keine verbindliche Agende, doch es<br />

existiert eine Reihe liturgischer Orientierungshilfen, deren liturgietheoretischer<br />

Anspruch an dieser Stelle erläutert wird.<br />

14<br />

Vgl. Thomas Bornhauser: Liturgische Orientierung I: Situationsanalysen. Der reformierte<br />

Gottesdienst in der Deutschschweiz. Tatsachen <strong>und</strong> Tendenzen zu Beginn des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts,<br />

1---30, hier: 9, = https://www.gottesdienst-ref.ch/perch/resources/01situation-<br />

2.pdf [aufgerufen am 30.05.2023].<br />

15<br />

In der Kirchenordnung der Zürcher Landeskirche heißt es dazu nüchtern: »Die Kirchgemeinschaften<br />

verwenden Bibelübersetzung, Gesangbuch <strong>und</strong> Liturgie entsprechend ihrer<br />

Tradition.« (Art. 37) (https://refhorgen.ch/wp-content/uploads/2022/05/Kirchenordnung-<br />

Kanton-Zuerich-090316.pdf [aufgerufen am 30.05.2023]).<br />

16<br />

Vgl. Bornhauser (wie Anm. 14), 4.<br />

17<br />

Vgl. Baumann (wie Anm. 8), 648.<br />

18<br />

Das Liturgiebuch aus den 1970er Jahren dokumentiert etwa eine an der Messform orientierte<br />

Ordnung des Abendmahls im dritten Band. Ob sie ab <strong>und</strong> an zur Anwendung kommt,<br />

bleibt allerdings fraglich. Vgl. Liturgiekommission der evangelisch-reformierten Kirchen in<br />

der deutschsprachigen Schweiz: Vorwort, in: Liturgiekonferenz der evangelisch-reformierten<br />

Kirchen in der deutschsprachigen Schweiz (Hg.): Liturgie; Bd. III: Abendmahl, Bern<br />

1983, 147ff.


Agendenfrei <strong>und</strong> predigtzentriert Gottesdienst feiern 71<br />

2.1 Das Zürcher Kirchenbuch (Zürcher Liturgie)<br />

Zu den wichtigen kantonalen Agenden <strong>und</strong> liturgischen Hilfestellungen gehört<br />

das sog. Zürcher Kirchenbuch aus dem Jahr 1969, sofern damit eine sprachliche<br />

Erneuerung gegenüber dem Kirchenbuch von 1916 einhergeht <strong>und</strong> erstmals der<br />

fünfgliedrige Aufbau des Gottesdienstes skizziert wird. 19 Die im aktuellen Reformierten<br />

Gesangbuch aus dem Jahr 1998 abgedruckte Gottesdienstordnung des<br />

Predigtgottesdienstes geht weitgehend auf diese Konzeption zurück. 20 Die Zürcher<br />

Gottesdienstreform der 1960er Jahre beschreibt Alfred Ehrensperger aufgr<strong>und</strong><br />

des gr<strong>und</strong>legenden Ansatzes dieser Reform als außerordentlich bedeutsam: »Die<br />

für diese Gottesdienstreform Verantwortlichen hatten das erklärte Ziel, Gr<strong>und</strong>lagenarbeit<br />

am Gottesdienstverständnis überhaupt zu leisten, <strong>und</strong> sie waren von<br />

der Einsicht geleitet, dass Liturgie ein in sich stimmiges Geschehen mit eigener<br />

Dynamik sein müsse. Erstmals wurde die Frage diskutiert, welche Funktion eine<br />

liturgische Ordnung erfüllen könne <strong>und</strong> müsse, welche überzeugenden Teilschritte<br />

<strong>und</strong> Elemente diese Liturgie haben müsse. Die Befreiung des Gottesdienstes<br />

aus dem erstarrten Gegenüber von Predigt <strong>und</strong> liturgischem Rahmen […]<br />

waren klare Ziele der damaligen Zürcher Gottesdienstreform.« 21<br />

Der Aufbau des Gottesdienstes zeichnet sich gemäß des Zürcher Kirchenbuches<br />

durch fünf Teile aus, worin auch die Novität der »Zürcher Liturgie« besteht.<br />

Bis Mitte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts war der reformierte Gottesdienst liturgisch vor<br />

allem durch seine Predigtzentrierung inhaltlich <strong>und</strong> formal bestimmt. Die Predigtzentrierung<br />

wurde durch die Zürcher Liturgie aufgebrochen, sofern nun das<br />

Ganze der Liturgie <strong>und</strong> ihr Wegcharakter in den Blick gekommen sind. 22 Der Weg<br />

des Gottesdienstes besteht demnach aus fünf Sinneinheiten: Am Anfang steht im<br />

ersten Teil die Sammlung der Gemeinde durch das Glockengeläute, das Orgel-Eingangsspiel,<br />

Gruß- <strong>und</strong> Eingangswort <strong>und</strong> ein erstes Lied. Darauf folgt im zweiten<br />

Teil der Lob- <strong>und</strong> Anbetungsteil mit Psalmgebet <strong>und</strong> Lob- oder Anbetungslied. Der<br />

dritte, der ›Verkündigungsteil‹, umfasst Lesungen, Lied <strong>und</strong> Predigt, worauf ein<br />

Orgelspiel oder ein Lied folgen. Der vierte, der Fürbittenteil umfasst die Fürbitten,<br />

das Unser Vater <strong>und</strong> die Abkündigungen. Der Gottesdienst endet mit der Sendung<br />

im fünften Teil. Dazu gehören Segen, Sendungswort <strong>und</strong> Schlusslied. Diese Weg-<br />

Struktur beschreibt die inhaltliche Abfolge der Stücke des Gottesdienstes <strong>und</strong><br />

benennt damit deren konstitutive Bedeutung für den Gottesdienst. 23<br />

19<br />

Vgl. Kirchenrat des Kantons Zürich (Hg.): Kirchenbuch, Bd. I/1: Ordnungen <strong>und</strong> Texte<br />

für den Gottesdienst der Gemeinde, Zürich 1969.<br />

20<br />

Vgl. Gesangbuch der Evangelisch-reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz,<br />

Basel 1998, 150.<br />

21<br />

Ehrensperger (wie Anm. 2), 194---195.<br />

22<br />

Vgl. Kunz (wie Anm. 3), 414.<br />

23<br />

Vgl. Kirchenrat des Kantons Zürich (Hg.): Kirchenbuch (wie Anm. 19), XIII.


72<br />

Sonja Keller<br />

Der Kommentar zum Kirchenbuch ist in diesem Zusammenhang theologisch<br />

aufschlussreich, sofern dort ganz kompakt ein reformiertes Gottesdienstverständnis<br />

formuliert <strong>und</strong> die Zentralstellung der Predigt festgestellt wird: »Der reformierte<br />

Gottesdienst dient in erster Linie der Glaubenserkenntnis <strong>und</strong> hat daher das<br />

Wort Gottes zu seinem Zentrum. Seine Träger sind die Menschen, wie sie heute<br />

leben, denken <strong>und</strong> reden. Der Gottesdienst dient ihnen nicht in erster Linie zu<br />

einer intellektuellen Erkenntnis, sondern vor allem zu einer Einübung in ein<br />

Leben mit dem Evangelium Jesu Christi, mit dem Gebet zu Gott <strong>und</strong> nicht zuletzt<br />

in ein Zusammensein mit den Menschen, die den Glauben der Gemeinde teilen<br />

oder ihm fragend, suchend oder zweifelnd gegenüberstehen.« 24<br />

Liturgietheoretisch ist diese Bestimmung gehaltvoll: Das intellektuelle Motiv<br />

des reformierten Gottesdienstes haben die Autoren offenbar deutlich vor Augen.<br />

Der Gottesdienst dient demnach der Erkenntnis <strong>und</strong> der Einübung des christlichen<br />

Lebens. Die Erkenntnis geht dabei von der Bibel aus, die im Mittelpunkt des<br />

Gottesdienstes steht. Bemerkenswert ist dabei der Rekurs auf die Gemeinde. Hier<br />

deutet sich ein Bewusstsein dafür an, dass die Gemeinde konstitutiv für die Feier<br />

des Gottesdienstes ist <strong>und</strong> die Gemeinde dem Glauben fragend, suchend <strong>und</strong> zweifelnd<br />

gegenübersteht. Dass die Predigt auf die Lebenswelt dieser suchenden<br />

Gemeinde zu beziehen ist, lässt den Erneuerungsanspruch der Zürcher Liturgie<br />

erkennen.<br />

2.2 Das deutschschweizerische Liturgiewerk<br />

Das inhaltlich an das Zürcher Kirchenbuch angelehnte deutschschweizerische<br />

Liturgiewerk besteht aus den fünf Bänden Sonntagsgottesdienst, Festtagsgottesdienst,<br />

Abendmahl, Taufe <strong>und</strong> Bestattung. Die Nutzung des Liturgiewerkes ist insgesamt<br />

wenig ausgeprägt --- abgesehen von einzelnen Bänden. Im Vorwort des<br />

ersten Bandes wird die Kontextualität des Glaubens der Gemeinde betont, die sich<br />

verändert, worauf sich der Gottesdienst notwendigerweise beziehen soll. Hinsichtlich<br />

der Suche nach reformierten liturgischen Diskursdispositiven ist das Vorwort<br />

des ersten Bandes zum Sonntagsgottesdienst aus dem Jahr 1972 überaus aufschlussreich:<br />

»Eine neue Liturgie hat deshalb heute nicht mehr dieselbe Funktion wie<br />

früher, nämlich die äussere Gestalt des Gottesdienstes für ein bestimmtes Kirchengebiet<br />

einigermassen verbindlich <strong>und</strong> gleichförmig festzulegen. Dies gilt es<br />

im Auge zu behalten, auch wenn eine Liturgie von einer Synode genehmigt oder<br />

wenigstens empfohlen wird. Trotz dieser unwiderleglichen Tatsachen, die hier,<br />

ohne ein Urteil zu fällen, einfach realistisch festgestellt werden, hat sich die<br />

schweizerische Liturgiekommission verpflichtet gesehen, ihre Arbeit fortzusetzen<br />

<strong>und</strong> den ihr von den Kirchenbehörden erteilten Auftrag zu Ende zu führen. Eben<br />

weil heute der Aufbau des Gottesdienstes <strong>und</strong> die im Gottesdienst verwendeten<br />

24<br />

Kirchenrat des Kantons Zürich (Hg.): Zürcher Kirchenbuch, Kommentar I. Teil <strong>und</strong><br />

Einführung zur Gottesdienstordnung, Zürich 1971, 7.


Phänomenologische<br />

Perspektiven<br />

<strong>Imagination</strong> – <strong>Emotion</strong> –<br />

Performativität – Gestalt – Akroasis


Konstanze Kemnitzer<br />

›The <strong>Imagination</strong>-Loop‹ als<br />

liturgietheoretisches Modell<br />

Was hat Gottesdienst mit <strong>Imagination</strong> zu tun? Lässt sich davon liturgie-theoretisch<br />

oder nur liturgie-poetisch sprechen? Letzteres hat u.a. Christian Lehnert in seinen<br />

fliegenden Blättern zu Kult <strong>und</strong> Gebet unternommen <strong>und</strong> sann dort angesichts<br />

zahlreicher einzelner Phänomene seines Liturgie-Erlebens über das Ineinander<br />

von Wirklichkeitswahrnehmung <strong>und</strong> Vorstellungswelten nach. 1 Das andere Anliegen,<br />

auch liturgie-theoretisch zu <strong>Imagination</strong> in Gottesdienst <strong>und</strong> Predigt zu forschen,<br />

ist auf der Basis zahlreicher Untersuchungen <strong>und</strong> Befragungen von Gottesdienstverantwortlichen<br />

eine vordringliche <strong>und</strong> zukunftsweisende Aufgabe:<br />

»Menschen leben nicht nur von <strong>und</strong> mit Erfahrungen. Sie leben auch von <strong>und</strong> mit<br />

<strong>Imagination</strong>en. (…) Jegliche Rede von Gott ist <strong>Imagination</strong>« 2 , <strong>und</strong> Gottesdienstfeiernde<br />

haben »mit Sicherheit (…) ein Bedürfnis nach <strong>Imagination</strong> einer christlichen<br />

Bildwelt <strong>und</strong> christlichen Erzählungen. (…) Sie kommen in den Gottesdienst<br />

mit einem Bedürfnis nach Evangelium: einer Geschichte, die die Erzählung ihres<br />

Lebens, das vielleicht vor der Geburt begann <strong>und</strong> nach dem Tod weitergeht, in ihre<br />

imaginierte Welt einzeichnet. Und sie hoffen auf eine welt-imaginierende<br />

Erzählung, die erlöst. Von Ängsten, von Feinden, von Klägern, von ihrem eigenen<br />

Zweifel.« 3<br />

Zum entsprechenden liturgiewissenschaftlichen Diskurs trage ich im Folgenden<br />

mit dem von mir entwickelten Paradigma der ›<strong>Imagination</strong> des Evangeliums‹<br />

bei. Dieses eignet sich in diesem Kontext zur Erforschung der gesamten christlichen<br />

Kulturpraxis des Gottesdienstfeierns, d.h. aller Formen <strong>und</strong> Formulare, Stile<br />

<strong>und</strong> Strömungen, Elemente <strong>und</strong> Ereignisse. Es evoziert gr<strong>und</strong>legende Hypothesen<br />

1<br />

Lehnert formuliert: »Ein Teil der Seele hat sich die Wirklichkeit gewählt, ein anderer den<br />

Traum. Beide haben sich ineinander vermischt, um meinen Tag zu bilden, Wärme <strong>und</strong><br />

Erregung <strong>und</strong> Einsicht <strong>und</strong> Vertrauen. Die Sehnsucht entwirft sich die Erscheinungen, die<br />

sie sucht, wie lange Schatten, <strong>und</strong> verliert sie, um sie zu vermissen.« (Christian Lehnert:<br />

Der Gott in einer Nuß. Fliegende Blätter von Kult <strong>und</strong> Gebet, Berlin 2017, 226.)<br />

2<br />

<strong>Konrad</strong> <strong>Müller</strong>: Wort <strong>und</strong> Wirkung. Zur Gr<strong>und</strong>legung der Predigt, Leipzig 2015, 367f.<br />

3<br />

A.a.O., 368f.


88<br />

Konstanze Kemnitzer<br />

zu gottesdienstlichen Ereignissen in produktions- <strong>und</strong> rezeptionsästhetischer Hinsicht<br />

durch interdisziplinäre Verknüpfung mit weiteren kultur-, geistes- <strong>und</strong> humanwissenschaftlichen<br />

<strong>Imagination</strong>stheorien. Zentrale Einsichten hierzu werden<br />

im Folgenden in vier Schritten entfaltet: (1) F<strong>und</strong>amentalliturgische Bemerkungen<br />

zum Gottesdienst als <strong>Imagination</strong> des Evangeliums; (2) <strong>Imagination</strong>sforschung<br />

<strong>und</strong> praktisch-theologische <strong>Imagination</strong>stheorie; (3) Gottesdienst als ›<strong>Imagination</strong>-Loop‹.<br />

Ein liturgietheoretisches Modell in interdisziplinärer Aufnahme<br />

sozialkultureller <strong>und</strong> sozialpsychologischer Forschungsergebnisse <strong>und</strong> (4) Gottesdienst<br />

als <strong>Imagination</strong> des Evangeliums in den Herausforderungen des Kulturwandels.<br />

1. F<strong>und</strong>amentalliturgische Bemerkungen:<br />

Gottesdienst als <strong>Imagination</strong> des Evangeliums<br />

Praktische Theologie im cultural turn forscht mit phänomenologischen Methoden<br />

an Ereignissen der christlichen Kulturpraxis. Michael Schüssler u.a. sprechen, um<br />

die Zentralstellung dieses Fokus zu betonen, vom ›Ereignis-Dispositiv‹.<br />

Dahinter steht »die Erfahrung, dass wir heute unser Leben, die Zeit, aber auch<br />

Gott viel weniger im Griff haben, als (modern) oft unterstellt wurde. Die Gr<strong>und</strong>these<br />

lautet: Mit jedem Ereignis kann sich die Welt <strong>und</strong> die eigene Biographie<br />

radikal verändern. Man weiß aber nur selten genau wohin. In jeder Gegenwart<br />

muss deshalb neu begonnen werden. Neu begonnen wird aber nie vor einer tabula<br />

rasa, sondern in Differenz <strong>und</strong> verändernder Wiederholung bisheriger sozialer<br />

Strukturen <strong>und</strong> kultureller Erfahrungsmuster. (…) Das Ereignis-Dispositiv<br />

beschreibt die Gegenwart nach dem Verblassen moderner Machbarkeits- <strong>und</strong> Fortschrittsvorstellungen.«<br />

4<br />

Auch die Liturgik ist dementsprechend als praktisch-theologische Disziplin<br />

im cultural turn gr<strong>und</strong>legend als Ereignis-Wissenschaft konstituiert. Liturgik im<br />

cultural turn erforscht potentiell alles, was Menschen als Gottesdienstereignisse<br />

erleben <strong>und</strong> kartographiert das Phänomenfeld des gottesdienstlichen Handelns<br />

bzw. der ›gottesdienstlichen Existenzweise‹ des Menschen. Diese ist nicht beschränkt<br />

auf die kirchlich verantwortete Gottesdienstpraxis, die ihrerseits aber<br />

natürlich ein Gebiet darin ist. Das Phänomenfeld der gottesdienstlichen Existenzweise<br />

des Menschen ist aber weit vielfältiger als das, was als spezifisch konfessionell-(frei)kirchliches<br />

gottesdienstliches Leben bezeichnet werden kann.<br />

Diese Gr<strong>und</strong>these gilt nicht allein aufgr<strong>und</strong> der Entkirchlichungs-, Deinstitutionalisierungs-<br />

<strong>und</strong> Pluralisierungsprozesse der Gegenwart, sondern aus substantiell<br />

theologischem Gr<strong>und</strong> in reformatorischer Perspektive: Unter Rückgriff<br />

4<br />

Michael Schüßler: Praktische Theologie im Ereignis-Dispositiv. Positionen zwischen<br />

Dekonstruktion <strong>und</strong> Option, in: Pastoraltheologische Informationen (2015/2), 97---103, hier:<br />

98.


›The <strong>Imagination</strong>-Loop‹ als liturgietheoretisches Modell 89<br />

auf Martin Luther ist das Wort ›Gottesdienst‹ selbst eine Metapher 5 , die den Begriff<br />

der Messe nach <strong>und</strong> nach durch eine spezifische bildhafte Modellvorstellung, eine<br />

weitgreifende ›<strong>Imagination</strong> des Evangeliums‹ ersetzt: Gottes Dienst ist demnach<br />

die souveräne, unverfügbare Gnadenentscheidung Gottes, des Schöpfers des<br />

Himmels <strong>und</strong> der Erde, dem es gefiel, in Christus Mensch zu werden <strong>und</strong> allein<br />

aus Gnade den Menschen von Sünde <strong>und</strong> Tod zu erretten, auf dass der Mensch<br />

diesem Herrn allein eigen sei, an den er aber nicht aus eigener Vernunft noch<br />

Kraft glauben kann, sondern durch das Evangelium berufen wird, mit seinen<br />

Gaben erleuchtet, geheiligt <strong>und</strong> erhalten --- <strong>und</strong> das nicht nur als einzelner<br />

Mensch, sondern als ganze Christenheit auf Erden, deren Gliedern der so aufleuchtende<br />

Gott täglich vergibt <strong>und</strong> sie ins ewige Leben leitet. 6<br />

In dieser <strong>Imagination</strong> des Dienens Gottes, des Vaters, seines Sohnes Jesus<br />

Christus <strong>und</strong> des Heiligen Geistes, ist jeder Gottesdienst der Menschen ein Resonanz-Ereignis,<br />

ein Antwort-Geschehen, Wiederhall <strong>und</strong> Echo im irdischen Leben.<br />

Gottesdienst als <strong>Imagination</strong> des Evangeliums ist in diesem Sinne alles, was im<br />

menschlichen Dasein als respondierendes Lieben <strong>und</strong> Dienen-Wollen des Menschen<br />

aufleuchtet. Das betrifft alle, vom Priester am Altar bis zum Fürsten in<br />

Regierungsgeschäften, bis hin zu den Knechten <strong>und</strong> Mägden:<br />

»Aber wenn du eyn geringe hausmagd fragist, warumb sie die schüssel<br />

wasche odder die kue melke, so kann sie sagen: ich weys, das, das ich thue, Gott<br />

gefellt, syntemal ich Gottis wortt <strong>und</strong> befehl habe.« 7<br />

Luther argumentierte in diesem Zusammenhang mit »einem dem Hieronymus<br />

zugeschriebenen Satz, der sagt: ›Alle Werke der Gläubigen sind Gebet‹ sowie einem<br />

(…) bereits vorgef<strong>und</strong>enen Sprichwort, das heißt: ›Wer treu arbeitet, der betet<br />

zweifach‹.« 8 Die menschliche Existenz, die immer Arbeit ist, ist Gottesdienst als<br />

»Dienst am Nächsten <strong>und</strong> im Dienst am Nächsten.« 9<br />

Es hat also eine gewisse Tragik, dass auf die Frage: ›Was ist Gottesdienst im<br />

evangelischen Sinne?‹, vielerorts fast reflexartig mit der berühmten <strong>und</strong> w<strong>und</strong>erbaren<br />

Torgauer Formel geantwortet wird. 10<br />

Denn so plastisch ihre elliptische<br />

5<br />

»Der Begriff ›Gottesdienst‹ begegnet uns in der deutschen Sprache seit dem 13. Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />

[…] Luther benutzte ihn mit seiner metaphorischen Plastizität in seinen liturgischen<br />

Schriften wohl sehr bewusst, um die Priorität des Dienstes Gottes an uns Menschen durch<br />

sein Kommen in Wort <strong>und</strong> Sakrament anzuzeigen.« Wolfgang Ratzmann: Gottesdienst, in:<br />

Wilhelm Gräb/Birgit Weyel (Hg.), Handbuch Praktische Theologie, Gütersloh 2007, 519---<br />

530, hier: 519.<br />

6<br />

Siehe dazu Martin Luther: Der kleine Katechismus, WA 30/I, 292---298.<br />

7<br />

Martin Luther: Epistel S. Petri gepredigt <strong>und</strong> ausgelegt, Erste Bearbeitung 1523, WA 12,<br />

259---399, hier: 377.<br />

8<br />

Wolfgang Huber: Weltlicher Gottesdienst. Zur Aktualität der reformatorischen Wirtschaftsethik,<br />

in: Udo Di Fabio (Hg.), Reformation <strong>und</strong> Ethik der Wirtschaft, 2018, 43---64,<br />

hier: 55.<br />

9<br />

A.a.O., 53f.<br />

10<br />

Vgl. Dorothea Wendebourg: Gottesdienst, in: Volker Leppin/Gury Schneider-Ludorff<br />

(Hg.): Das Lutherlexikon, Regensburg 2 2015, 273---275, hier: 273. Auch in diesem Artikel


90<br />

Konstanze Kemnitzer<br />

Gestalt von anabatischer <strong>und</strong> katabatischer Bewegung zwischen Gottes Reden <strong>und</strong><br />

Antworten des Menschen ist, ist sie doch durch den Anlass der Einweihung der<br />

Schlosskirche zu Torgau 1544 spezifisch auf das Ereignis im Kirchenraum verengt.<br />

Wer dagegen Gottesdienst als <strong>Imagination</strong> des Evangeliums betrachtet, holt<br />

das f<strong>und</strong>amentalliturgische Nachdenken aus dem die Metapher begrenzenden<br />

Kontext der besonderen Einweihungshandlung jenes schmucken Gotteshauses zu<br />

Torgau heraus <strong>und</strong> wagt den Blick auf das weite Phänomenfeld Gottesdienst nach<br />

evangelischem Verständnis. Dort ereignet sich jenes Resonieren zwischen der<br />

freisprechenden Gnade extra nos <strong>und</strong> gerechtfertigten Sünderinnen <strong>und</strong> Sündern<br />

weit über die liturgische Feierpraxis als Gemeinde der Herausgerufenen, als<br />

Ekklesia, hinaus. 11<br />

›Gottesdienst als <strong>Imagination</strong> des Evangeliums‹, als f<strong>und</strong>amentalliturgisches<br />

Theorieparadigma, dient also der Betonung, dass jedes Ereignis Gottesdienst sein<br />

kann --- <strong>und</strong> dass es entscheidend darum geht, die Weite des Feldes des menschlichen<br />

Resonierens auf die Gnade in Christus wahrzunehmen, um die Liturgik als<br />

Wissenschaft aus der Verengung auf die Erforschung spezifischer kirchlicher oder<br />

gemeindlicher Gottesdienstformen herauszuführen. Die Erforschung, was Gottesdienst<br />

sei, ist nicht zuletzt angesichts der Herausforderungen der Gegenwart im<br />

Kulturwandel, den wir in interdisziplinären Diskursen zum Anthropozän 12 , zur<br />

ist die Torgauer-Formel wieder Ausgangspunkt, über Luthers Verständnis von Gottesdienst<br />

nachzudenken, so dass viele seiner theologischen Überlegungen zum Gottesdienst unberührt<br />

bleiben.<br />

11<br />

Mit dem Ereignis-Dispositiv der Praktischen Theologie im cultural turn <strong>und</strong> auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage dieser evangelischen Theologie des Lebens als Gottesdienst ist die Frage: ›Was<br />

ist Gottesdienst?‹, stets mit der Frage: ›Wo ist Gottesdienst?‹, verknüpft, <strong>und</strong> wenn die<br />

Antwort allein auf Zeiten <strong>und</strong> Orte, die vom Alltag separiert wären verweist, muss sie als<br />

überaus reduziert gelten. Mühsam muss dann von ›anderen Formen‹ gesprochen werden,<br />

wenn eine spezifische Gr<strong>und</strong>form des Gottesdienstes als Standard normiert ist, wie dies<br />

besonders im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert durch die Agenden als Gussformen der Gottesdienstgestaltung<br />

geschah. Siehe hierzu Konstanze Kemnitzer (Hg.): Gussformen der Gottesdienstgestaltung.<br />

Das Agendenwerk der VELKD zwischen Neuaufbruch <strong>und</strong> Restauration, Leipzig<br />

2021. Doch auch die sogenannten alternativen Gottesdienstformen sind noch immer eine<br />

Verengung des Verständnisses von Gottesdienst, <strong>und</strong> wie anästhetisierend diese liturgietheoretischen<br />

Normen <strong>und</strong> Modelle für die lebendige Vielfalt des Phänomenfeldes Gottesdienst<br />

sind, zeigte sich spätestens angesichts der Pandemie <strong>und</strong> in der Mühsal, die es<br />

bedeutete, z.B. Gottesdienste via Zoom als Gottesdienste zu würdigen.<br />

12<br />

Siehe Konstanze Kemnitzer: Die erschreckenden Grenzen des Raumes. Überlegungen<br />

zu einer Praktischen Theologie im Anthropozän, in: Ulrich Beuttler/Markus Mühling/<br />

Martin Rothgangel (Hg.): Raum. Interdisziplinäre Aspekte zum Verständnis von Raum<br />

<strong>und</strong> Räume, Berlin 2022, 123---136.


›The <strong>Imagination</strong>-Loop‹ als liturgietheoretisches Modell 91<br />

Metamorphose der Welt 13 <strong>und</strong> zur Digitalität 14 zu erfassen suchen, f<strong>und</strong>amentalliturgisch-phänomenologisch<br />

umfassender anzugehen, als dass wir allein die großkirchliche<br />

<strong>und</strong> gruppengemeinschaftliche Gottesdienstpraxis 15 kartographieren<br />

<strong>und</strong> reflektieren könnten. Mit dem Paradigma der <strong>Imagination</strong> des Evangeliums<br />

verläuft die f<strong>und</strong>amentalliturgisch herauszuarbeitende Differenz angesichts der<br />

Nöte <strong>und</strong> Tragödie der Menschheit 16 nicht zwischen einzelnen liturgischen Gestalten<br />

der gottesdienstlichen Praxis der Gegenwart, sondern zwischen Gottesdienst<br />

<strong>und</strong> Götzendienst als existenzielle Differenz von Leben <strong>und</strong> Tod, von Liebe versus<br />

Menschenverachtung, von Freiheit versus Sklaverei.<br />

2. <strong>Imagination</strong>sforschung <strong>und</strong> praktisch-theologische<br />

<strong>Imagination</strong>stheorie<br />

<strong>Imagination</strong> bezeichnet die menschliche Fähigkeit des bildhaften Vorstellens <strong>und</strong><br />

inneren Schauens.<br />

Anna Abrahm, the E. Paul Torrance Professor in Creativity and Gifted Education<br />

at the University of Georgia, wählt zur Einführung in das interdisziplinäre<br />

Cambridge Handbook of the <strong>Imagination</strong> zur Veranschaulichung dessen, was <strong>Imagination</strong><br />

ist, eine Fotographie eines »fragment of a queen's face« aus dem Metropolitan<br />

Museum of Art, datiert auf 1353 --- 1336 vor Christus. Zu sehen ist die nur<br />

noch zu zwei Dritteln des Kopfes erhaltene Büste, ein Fragment eines Gesichtes. 17<br />

Obwohl wichtige Bestandteile fehlen, erkennen Betrachtende leicht ein menschliches<br />

Gesicht. Wenn sie danach gefragt werden, wie sie sich den Rest des Kopfes<br />

vorstellen könnten, haben sie nur wenig Mühe, dies mental zu rekonstruieren. Sie<br />

können die Merkmale des Bildes nutzen, um daraus die Beschreibung eines<br />

Mannes oder einer Frau zu erstellen, die zur Bauernschaft oder zum Königshaus<br />

gehören können. Sie können sich verschiedene Kopfausstattungen, die zu einer<br />

ägyptischen Königin passen, im Vergleich zu einer indischen Gottheit vorstellen.<br />

Und sie können noch weiter gehen in die hypothetischen Annahmen <strong>und</strong> sich die<br />

möglichen Ideen des Künstlers über seine Arbeit, sein Subjekt, seine Zuschauerschaft<br />

ausmalen. Diese Fähigkeit, Bilder heraufzubeschwören, Ideen, Eindrücke,<br />

13<br />

Vgl. Ulrich Beck: Die Metamorphose der Welt, Berlin 2 2017.<br />

14<br />

Vgl. Armin Nassehi: Muster, Theorie der digitalen Gesellschaft, München 2 2019; Andreas<br />

Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin<br />

5<br />

2018.<br />

15<br />

Vgl. Wolfgang Steck: Praktische Theologie. Horizonte der Religion, Konturen des neuzeitlichen<br />

Christentums, Strukturen der religiösen Lebenswelt, Bd.1, Stuttgart 2000, 315.<br />

16<br />

Siehe dazu Konstanze Kemnitzer: »Der ferne Nächste«. Zum Selbstverständnis der<br />

Aktion »Brot für die Welt« 1959 --- 2000, Stuttgart 2008, 21.<br />

17<br />

Vgl. Anna Abraham: Surveying the <strong>Imagination</strong> Landscape, in: Dies.: The Cambridge<br />

Handbook of the <strong>Imagination</strong>, Cambrigde 2020, 1---10, hier: 1ff.


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Cover: Zacharias Bähring, Leipzig<br />

Satz: Dr. <strong>Konrad</strong> <strong>Müller</strong>, Berg<br />

Druck <strong>und</strong> Binden: BELTZ Grafische Betriebe, Bad Langensalza<br />

ISBN 978-3-374-07470-9 // eISBN (PDF) 978-3-374-07471-6<br />

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