Jürgen van Oorschot | Andreas Wagner (Hrsg.): Biografie und Lebensalter (Leseprobe)

Anthropologie wird manifest, wenn es um Biografie und Lebensalter geht. So verwundert es nicht, wenn Fragen konkreter Lebensführung, ihrer materialen und sozialen Grundlagen sowie die Biografie neben dem Alten Testament auch in der Altorientalistik und der Ägyptologie intensiv diskutiert werden. Der vorliegende Band versammelt neben je einem ägyptologischen und hethitologischen Exempel alttestamentliche Beiträge zur Rechtsanthropologie, zur Ethik sowie ausgewählten Literaturbereichen des Alten Testaments inkl. Ben Sirach, in denen Aspekte von Biografie und Lebensalter mit ihren Hinweisen auf die materiale, soziale und theologische Verfasstheit des Menschen dargestellt werden. Anthropologie wird manifest, wenn es um Biografie und Lebensalter geht. So verwundert es nicht, wenn Fragen konkreter Lebensführung, ihrer materialen und sozialen Grundlagen sowie die Biografie neben dem Alten Testament auch in der Altorientalistik und der Ägyptologie intensiv diskutiert werden. Der vorliegende Band versammelt neben je einem ägyptologischen und hethitologischen Exempel alttestamentliche Beiträge zur Rechtsanthropologie, zur Ethik sowie ausgewählten Literaturbereichen des Alten Testaments inkl. Ben Sirach, in denen Aspekte von Biografie und Lebensalter mit ihren Hinweisen auf die materiale, soziale und theologische Verfasstheit des Menschen dargestellt werden.

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62 Birgit Christiansen Nur einige wenige Texte weichen von den Gepflogenheiten ab und enthalten Elemente, die für biographische bzw. autobiographische Texte typisch sind. Als Beispiel verweist Maul auf eine Königsinschrift des assyrischen Herrschers Asarhaddons (680–669 v. Chr.), in der auch familiäre Zwistigkeiten vor dessen Thronbesteigung Erwähnung finden. Der von Maul zitierte Passus lautet: 3 Obwohl ich jünger war als meine älteren Brüder, hat auf Befehl des Assur, Sin, Schamasch, Bel und Nabu, der Ištar von Ninive und der Ištar von Arbela mein Vater, der mich erzeugt hat, in der Versammlung meiner Brüder mein Haupt fest erhöht mit den Worten: ‚Dieser ist mein Thronfolger.‘ […] Böse Zunge, Verleumdung und Lüge streuten sie gegen den Willen der Götter über mich aus, Lügen und Unheilvolles sprachen sie hinter meinem Rücken, sowie Gehässigkeiten. Das mir wohlgesonnene Herz meines Vaters verfeindeten sie gegen den Willen der Götter mit mir. Insgeheim empfand jedoch sein Herz Mitleid, und sein Augenmerk blieb darauf gerichtet, daß ich die Königsherrschaft ausübe. Da redete ich mit meinem Herzen, und mein Gemüt erwog folgendermaßen: ‚Ihre Taten sind hoffärtig und sie vertrauen auf ihren eigenen Verstand. Was werden sie wohl ohne die Götter verüben?‘ (Prisma-Inschrift Ninive A Asarhaddons I 8–34) Da der Text erst verfasst wurde, als Asarhaddon die Thronfolge für seine Söhne regelte, dient er nach Maul nicht in erster Linie dazu, Asarhaddons eigene Thronbesteigung zu rechtfertigen (die stattfand, obwohl er offenbar bei seinem Vater in Ungnade gefallen war). Die zentrale Botschaft sei vielmehr, dass es sinnlos sei, eine göttlich sanktionierte Thronfolge in Frage zu stellen. 4 Im Hinblick auf die Fragestellung des vorliegenden Beitrags lässt sich auf jeden Fall festhalten, dass der Text zwar autobiographische Züge enthält, sich aber insgesamt nicht als Autobiographie charakterisieren lässt. 5 Wie aber verhält es sich mit dem Schrifttum der Hethiter aus dem bronzezeitlichen Anatolien? Lässt sich hier ähnliches wie für die Schriftquellen des alten Mesopotamien feststellen oder sind uns von den Hethitern Texte überliefert, die ein höheres Maß an (auto)biographischen Zügen aufweisen oder sich gar als (Auto)biographien bezeichnen lassen? Dieser Frage möchte ich in den folgenden Abschnitten nachgehen. 2. Biographische bzw. autobiographische Schilderungen im Hethitischen Schrifttum Grundsätzlich ist festzustellen, dass sich im hethitischen Schrifttum deutlich mehr Schilderungen mit (auto)biographischen Bezügen als in der babylonischen und assyrischen Überlieferung finden. So nehmen Texte unterschiedlicher Genres wie königliche Annalen, Staatsverträge, Erlässe und Gebetstexte 3 MAUL, Altorientalische Tatenberichte, 20–21. 4 MAUL, Altorientalische Tatenberichte, 21–22. 5 Siehe zu dem Text auch TADMOR, Autobiographical Apology, 36–57.

Biographische Schilderungen bei den Hethitern 63 häufiger auf persönliche und familiäre Erfahrungen und Ereignisse wie Krankheit, Tod, Konflikte mit Familienmitgliedern oder Anfeindungen durch politische Gegner Bezug. Bisweilen finden sich auch Schilderungen, die in der Retrospektive wichtige Stationen der eigenen Lebensgeschichte in ihrer Abfolge beschreiben und interpretieren. Der Terminus ‚autobiographisch‘ impliziert hier natürlich nicht unbedingt, dass diese Schilderungen tatsächlich von der Person stammen, die im Text als Ich-Erzähler und Protagonist auftritt. Sie werden zwar als wörtliche Rede der jeweiligen Person, bei der es sich zumeist um den Herrscher handelt, ausgegeben. Die Texte wurden aber ebenso wie in Mesopotamien und anderen Kulturen des Altertums von Schreibern niedergeschrieben und häufig unter Rückgriff von Standardformen und auf der Grundlage früherer Texte komponiert. Es handelt sich damit also zumeist um eine ‚autobiographische Fiktion‘. Allerdings sei daran erinnert, dass dies auch bei modernen Autobiographien der Fall ist. So bedienen sich heute zahlreiche mehr oder weniger prominente Personen eines Ghostwriters oder zumindest professioneller Unterstützung wie Lektoren und anderen Beratern. Und ebenso wie autobiographische Schilderungen des Altertums sind autobiographische Texte jüngerer Zeit stets subjektiv und werden meist mit dem Ziel geschrieben, das eigene Handeln in ein positives Licht zu rücken und zu rechtfertigen. Negative Ereignisse, Schwierigkeiten, Rückschläge und bisweilen auch eigenes Fehlverhalten werden zwar oft erwähnt. Sie dienen aber zumeist als Kontrastfolie, die die Schilderung interessanter machen und die Erfolge umso stärker hervorheben. Außerdem wird damit erreicht, dass die Leser die Erzählung stärker mit ihrer eigenen Lebensgeschichte verknüpfen können und somit stärker emotional beteiligt werden. Doch auch dann, wenn eine Person versucht, schonungslos und ungeschönt von ihrem Lebensweg zu berichten, muss sie unter der Vielzahl von Ereignissen eine Auswahl treffen. Ein umfassender und neutraler Bericht über das eigene Leben ist also schlechterdings nicht möglich. Und Ähnliches gilt auch für Biographien. Diese mögen zwar das Leben der anderen Person aus einer größeren Distanz und kritischer betrachten als eine Autobiographie. Doch auch sie sind keine objektive oder neutrale Schilderung der Vita der betreffenden Person, weil der Verfasser des Textes nur das berichten kann, was ihm zugänglich ist und eine subjektive Auswahl aus den Lebensereignissen trifft. Was und wie berichtet wird, hängt zudem stark von der Beziehung zu der Person und der Einstellung ihr gegenüber ab. Dies alles gilt es bei der Betrachtung antiker Texte zu berücksichtigen. Sie unterscheiden sich zwar von heutigen Texten unter anderem dadurch, dass die heutigen Standards der Textproduktion und Vervielfältigung den damaligen Menschen unbekannt waren. So wurden beispielsweise Elemente aus älteren Texten übernommen bzw. zitiert, ohne dass dies kenntlich gemacht wurde. Und auch die Autorenschaft bleibt oft unklar. Einem Text den autobiographischen Charakter abzusprechen, nur weil er bewusst oder unbewusst mit dem Ziel verfasst wurde, das eigene Handeln in der Vergangenheit vor sich und anderen zu

Biographische Schilderungen bei den Hethitern 63<br />

häufiger auf persönliche <strong>und</strong> familiäre Erfahrungen <strong>und</strong> Ereignisse wie Krankheit,<br />

Tod, Konflikte mit Familienmitgliedern oder Anfeindungen durch politische<br />

Gegner Bezug. Bisweilen finden sich auch Schilderungen, die in der Retrospektive<br />

wichtige Stationen der eigenen Lebensgeschichte in ihrer Abfolge<br />

beschreiben <strong>und</strong> interpretieren.<br />

Der Terminus ‚autobiographisch‘ impliziert hier natürlich nicht unbedingt,<br />

dass diese Schilderungen tatsächlich von der Person stammen, die im Text als<br />

Ich-Erzähler <strong>und</strong> Protagonist auftritt. Sie werden zwar als wörtliche Rede der<br />

jeweiligen Person, bei der es sich zumeist um den Herrscher handelt, ausgegeben.<br />

Die Texte wurden aber ebenso wie in Mesopotamien <strong>und</strong> anderen Kulturen<br />

des Altertums von Schreibern niedergeschrieben <strong>und</strong> häufig unter Rückgriff<br />

von Standardformen <strong>und</strong> auf der Gr<strong>und</strong>lage früherer Texte komponiert. Es handelt<br />

sich damit also zumeist um eine ‚autobiographische Fiktion‘. Allerdings sei<br />

daran erinnert, dass dies auch bei modernen Autobiographien der Fall ist. So<br />

bedienen sich heute zahlreiche mehr oder weniger prominente Personen eines<br />

Ghostwriters oder zumindest professioneller Unterstützung wie Lektoren <strong>und</strong><br />

anderen Beratern.<br />

Und ebenso wie autobiographische Schilderungen des Altertums sind autobiographische<br />

Texte jüngerer Zeit stets subjektiv <strong>und</strong> werden meist mit dem<br />

Ziel geschrieben, das eigene Handeln in ein positives Licht zu rücken <strong>und</strong> zu<br />

rechtfertigen. Negative Ereignisse, Schwierigkeiten, Rückschläge <strong>und</strong> bisweilen<br />

auch eigenes Fehlverhalten werden zwar oft erwähnt. Sie dienen aber zumeist<br />

als Kontrastfolie, die die Schilderung interessanter machen <strong>und</strong> die Erfolge<br />

umso stärker hervorheben. Außerdem wird damit erreicht, dass die Leser<br />

die Erzählung stärker mit ihrer eigenen Lebensgeschichte verknüpfen können<br />

<strong>und</strong> somit stärker emotional beteiligt werden. Doch auch dann, wenn eine Person<br />

versucht, schonungslos <strong>und</strong> ungeschönt von ihrem Lebensweg zu berichten,<br />

muss sie unter der Vielzahl von Ereignissen eine Auswahl treffen. Ein umfassender<br />

<strong>und</strong> neutraler Bericht über das eigene Leben ist also schlechterdings<br />

nicht möglich. Und Ähnliches gilt auch für Biographien. Diese mögen zwar das<br />

Leben der anderen Person aus einer größeren Distanz <strong>und</strong> kritischer betrachten<br />

als eine Autobiographie. Doch auch sie sind keine objektive oder neutrale Schilderung<br />

der Vita der betreffenden Person, weil der Verfasser des Textes nur das<br />

berichten kann, was ihm zugänglich ist <strong>und</strong> eine subjektive Auswahl aus den<br />

Lebensereignissen trifft. Was <strong>und</strong> wie berichtet wird, hängt zudem stark von<br />

der Beziehung zu der Person <strong>und</strong> der Einstellung ihr gegenüber ab.<br />

Dies alles gilt es bei der Betrachtung antiker Texte zu berücksichtigen. Sie<br />

unterscheiden sich zwar von heutigen Texten unter anderem dadurch, dass die<br />

heutigen Standards der Textproduktion <strong>und</strong> Vervielfältigung den damaligen<br />

Menschen unbekannt waren. So wurden beispielsweise Elemente aus älteren<br />

Texten übernommen bzw. zitiert, ohne dass dies kenntlich gemacht wurde. Und<br />

auch die Autorenschaft bleibt oft unklar. Einem Text den autobiographischen<br />

Charakter abzusprechen, nur weil er bewusst oder unbewusst mit dem Ziel verfasst<br />

wurde, das eigene Handeln in der Vergangenheit vor sich <strong>und</strong> anderen zu

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