11.09.2023 Aufrufe

Katalog Willi SIBER "Barocke Pracht", 2023

Der Katalog zeigt neue Arbeiten aus 2022-2023. Das Werk von Willi Siber bezieht seine Kraft aus einer Abstraktion, die elementare Gestaltung, Intuition und Assoziation überzeugend verbindet

Der Katalog zeigt neue Arbeiten aus 2022-2023. Das Werk von Willi Siber bezieht seine Kraft aus einer Abstraktion, die elementare Gestaltung, Intuition und Assoziation überzeugend verbindet

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

4 Johann Gottfried Herder, Kalligone. Vom Angenehmen und Schönen, Bd. 1, Leipzig 1800, S. 37. /<br />

5 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, Werke in zwanzig Bänden, hrsg. von Eva<br />

Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1970, Bd. 13, S. 151. / 6 Stendhal, De L’Amour, Edition<br />

établie et commentée par Henri Martineau, Paris 1957, S. 39. / 7 Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden,<br />

Band 2: Genealogie der Moral, München 1954, S. 846. / 8 Wittgenstein, Werkausgabe, Bd. 1, Tractatus logicophilosophicus,<br />

Tagebücher 1914-1916, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main, 9. Auflage, S. 181. /<br />

9 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main, 1995, S. 205. / 10 Walter Benjamin, Gesammelte<br />

Schriften, Bd. 1.1., hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1974, S.<br />

195. / 11 Dieter Brunner, in: <strong>Willi</strong> Siber. Exakte Phantasie, Ausstellungskatalog, hrsg. u. a. vom Städtischen<br />

Kunstmuseum Spendhaus Reutlingen 1996, S. 8. / 12 <strong>Willi</strong> Siber im Gespräch mit Dr. Sabine Heilig, zitiert in: Textheft<br />

zur Ausstellung der weg – <strong>Willi</strong> Siber 1980-2020, 3.11.2019 - 2.2.2020 im Museum Villa Rot, Burgrieden-<br />

Rot, hrsg. von der Hoenes-Stiftung und Marco Hompes 2019, S.4.<br />

könne und »die Schönheit für den Empfindenden gerade das höchste Interesse«<br />

4 habe. In der Ästhetik von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831)<br />

wiederum, der den eigentlichen Ort des Schönen in der Kunst sieht, bestimmt<br />

es sich als »das sinnliche Scheinen der Idee.« 5<br />

Als eine Art Leitmotiv der Ästhetik von Nietzsche über Adorno und Wittgenstein<br />

bis heute darf ein Satz von Stendhal (1783-1842) gelten, bei dem der<br />

Schönheitsbegriff eine Wendung erfährt. In seinen 1822 im Auslauf der Romantik<br />

verfassten Reflexionen De l’amour (Über die Liebe) bringt der französische<br />

Schriftsteller, versteckt in einer Fußnote, den Charakter des Schönen<br />

auf die berühmt gewordene Formel: »La beauté n‘est que la promesse<br />

de bonheur« (Die Schönheit ist nur ein Versprechen des Glücks) 6 . An Stendhal<br />

anknüpfend, aber ohne den Vorbehalt des »Nur« schreibt Friedrich Nietzsche<br />

(1844-1900) in der Genealogie der Moral: »Das Schöne verspricht<br />

Glück.« 7 . Wie Nietzsche betont auch Ludwig Wittgenstein (1889-1951) das<br />

Verbindende zwischen Schönheit und Glück, wenn er lapidar bemerkt:<br />

»Und das Schöne ist eben das, was glücklich macht.« 8 Dass das ästhetische<br />

Erlebnis mit Momenten des Glücks zu tun hat, wenn auch mit leicht melancholischer<br />

Färbung, sieht nicht zuletzt auch Theodor W. Adorno (1903-<br />

1969), der meint: »Kunst ist das Versprechen des Glücks, das gebrochen<br />

wird.« 9 Gebrochen wird die Glücksverheißung zum einen, weil die Erfahrung<br />

des Schönen und damit das Glück nicht dauerhaft währt, und zum<br />

anderen, weil es zwar Aufgabe der Kunst ist, die Realität zu korrigieren –<br />

durch das Aufzeigen von etwas Besserem, Schönerem, Anderem –, aber<br />

die Realisierung dieses Besseren, Schöneren, Anderen nicht mehr in den<br />

Bereich der Kunst fällt.<br />

Eine prägnante, weitergehende Nuancierung des Schönheitsbegriffs geht auf<br />

Walter Benjamin (1892-1940) zurück. In seiner Auseinandersetzung mit Goethes<br />

Wahlverwandschaften schreibt er: »Nicht Schein, nicht Hülle für ein<br />

anderes ist die Schönheit« … »Das Schöne ist weder die Hülle noch der verhüllte<br />

Gegenstand, sondern das Schöne ist der Gegenstand in seiner Hülle.« 10<br />

Das Schöne als Geheimnis teile sich, so Benjamin weiter, weder unmittelbarer<br />

Einfühlung noch naiver Betrachtung mit. In diesen Gedanken kristallisiert<br />

sich, dass das Schöne in seiner Tiefe und Bedeutung etwas Substantielles<br />

voraussetzt, ein gehaltvolles Etwas, das sich aus einer ebenso sinnigen wie<br />

sinnlich ansprechenden Form-Inhalt-Beziehung des Kunstwerkes ergibt.<br />

Genau diesen Anspruch lösen die Werke von <strong>Willi</strong> Siber ein. Ihre Schönheit<br />

generiert sich aus der Stimmigkeit von Form und Inhalt, von künstlerischer<br />

Absicht, Idee und nicht zuletzt aus ihrer Qualität. Dazu gehören Erfindungsgabe<br />

und Imaginationskraft ebenso wie der Mut, Materialien auszuprobieren<br />

und etwas authentisch Neues zu schaffen und in Szene zu setzen.<br />

Diese Stimmigkeit zeigt sich in den frühen archaischen, mit Noppen und<br />

Splittern besetzten Holzarbeiten der 1990er Jahre, in denen der Künstler<br />

die Materialität des Holzes durch Farbe und Emulsionen tilgt und die Skulptur<br />

gleichsam in einen »plastischen Malkörper« 11 umformt, der stark und<br />

verletzlich zugleich wirkt. Sie zeigt sich weiter in der Werkgruppe der Tafelobjekte<br />

mit Nägeln und Beschichtungen aus farbpigmentiertem Epoxidharz,<br />

einem Werkstoff, den der Künstler anfangs der 2000er Jahre für sich neu<br />

entdeckt hat: Im Spiel von Zeigen und Verhüllen, Anschein und Sein entstehen<br />

illusionistische, sinnlich-ästhetisierende Oberflächen. Und sie zeigt<br />

sich nicht zuletzt in den seit 2011 entstehenden Wand- und Bodenobjekten<br />

aus Industriestahl, einem kraftvollen, schweren Material, dessen Energie<br />

der Künstler durch Knicken und eine Beschichtung aus Chrom- oder<br />

Interferenzlack wandelt und in eine ungekannte Eleganz und Leichtigkeit<br />

überführt. Mit ihrer makellos changierenden Oberfläche, die sich in ihrer<br />

Erscheinung je nach Lichteinfall und Betrachterperspektive verändert, entfalten<br />

diese Arbeiten unzählige Farbnuancen – fotografisch nicht fassbare,<br />

unwiederbringliche Augenblicke flüchtiger Einmaligkeiten.<br />

In ihrem Gemachtsein übersetzen die Tafel-, Wand- und Bodenobjekte von<br />

<strong>Willi</strong> Siber in überzeugender Weise die Intention des Künstlers, »Phänomene<br />

von Raum, Licht und Farbe aufzeigen« sowie die Themen »Veränderbarkeit,<br />

Auflösung von Materie und Körperhaftigkeit« 12 behandeln zu wollen.<br />

Immer sucht er nach neuen Möglichkeiten, die Grundlagen sinnlicher<br />

Wahrnehmung zu hinterfragen und das Wechselspiel von Zwei- und Dreidimensionalität,<br />

von Licht und Schatten, Masse und Entkörperlichung auszuloten<br />

und weiterzuentwickeln. Im Spiel mit der Wesenhaftigkeit seiner<br />

Materialien, im Spiel von Hart und Weich, Schwer und Leicht, Transparenz<br />

und Opazität, Verschleiern und Enthüllen, Anschein und Sein fordern<br />

seine Arbeiten unsere Wahrnehmung heraus, eröffnen Assoziationen und<br />

Stimmungen. Diese sinnliche Bedeutungsfreiheit verdankt sich höchster<br />

handwerklicher Perfektion, die allen Arbeiten letztlich ihre Souveränität<br />

verleiht.<br />

Die Objekte von <strong>Willi</strong> Siber beglaubigen ihre Schönheit zum einen aus<br />

ihrem substantiellen künstlerischen Gehalt. Hinzu kommt auf der anderen<br />

Seite »das höchste Interesse«, um es mit Herder zu formulieren,<br />

das seine Arbeiten beim Betrachter wecken. Sie erweisen sich uns als schön,<br />

weil sie sich als etwas Kostbares, Rares präsentieren und Momente des<br />

Glücks eröffnen.<br />

10 11

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!