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fur meine Eltern

:



Vorwort 5

Reisebericht 10

Fotografien 44

Porträts 76

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VORWORT

HEIDRUN LÖB leitende Kuratorin NONAM

Entlegene Welten bieten Stoff für Abenteuer und Fantasie. Je unerreichbarer

und unwirtlicher eine Gegend, desto grösser ist ihr Potenzial

– und ihre Anziehungskraft. Die Arktis rangiert in dieser Hinsicht zweifellos

unter den Spitzenreitern. Hier locken abenteuerliche Temperaturen

von bis zu minus 60 Grad Celsius und eine Welt, die anderen als den

uns bekannten Gesetzen gehorcht und einem gänzlich anderen Rhythmus

folgt.

Wer sich früher in die Arktis wagte, liess sich nicht einfach nur auf

ein Abenteuer ein. Man wusste um die geringen Chancen, das Abenteuer

unbeschadet zu überstehen, und war bereit, Opfer zu bringen.

Was arktische Bedingungen westlichen Wagemutigen seit Jahrhunderten

abverlangen, hat zweifellos dazu beigetragen, ihren Ruf als ultimative

Wildnis, als Rand der Welt, als nahezu unerreichbar und erst recht

als unbezwingbar zu formen.

Obwohl sie längst nicht mehr unerreichbar ist und viele ihrer Geheimnisse

gelüftet sind, hat die Arktis doch nichts von ihrer Faszination

verloren. Im Gegenteil. Immer mehr machen sich auf, um sie mit eigenen

Augen zu sehen. Opfer fordert sie auch heute noch, aber die sind nun eher

finanzieller Art. Kreuzfahrten ins ewige Eis sind gefragt, und wer die Kosten

nicht scheut, dem stehen dank Klimaerwärmung nicht einmal mehr

Eisschollen im Weg, besonders in den gemässigteren Sommermonaten.

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Wenn sich die Arktis aber wieder in die Eiswelt verwandelt, für die

ihr Name Synonym ist, sind es nur noch wenige, die es wagen, sich den

extremen Temperaturen und der durchdringenden Dunkelheit auszusetzen.

Noch weniger wagen es, am Leben der Polar-Inuit teilzunehmen,

wochenlang mit den Jägern auf dem Eis auszuharren, ihre Jagd zu begleiten

und zu dokumentieren. Und wenn sie es doch tun, dann tun es

die wenigsten ein zweites Mal.

Markus Bühler-Rasom ist so einer. Er tat es ein zweites und ein drittes

und im Mai 2015 ein zehntes Mal. Seit 1997 pilgert der Zürcher Fotograf

in den hohen Norden, sooft sich eine Gelegenheit dazu bietet.

Dem Lockruf der Arktis ist er erlegen wie einst die Seeleute dem Gesang

der Sirenen. Aber einfach nur der hohe Norden genügt ihm nicht – es

muss der höchste sein. Der Norden Grönlands hat es ihm angetan. Ob

Ultima Thule sei dahingestellt, aber mit weniger als Thule gibt er sich

nicht zufrieden.

Bis zum Polarkreis ist es ein Leichtes. Aber Thule liegt 1000 Kilometer

nördlich davon – etwa so weit, wie Kopenhagen von Zürich entfernt

ist. Wer in den Norden reist, tut dies meist in den vergleichsweise warmen,

eisfreien und hellen Sommermonaten. Die Kälte muss man aber

trotzdem mögen, denn selbst der Sommer kann für Überraschungen sorgen.

Kälte hin oder her, der Norden fasziniert – auch mich. Dennoch

übersteigt es mein Vorstellungsvermögen, bei minus 40 Grad Celsius

Tage oder gar Wochen auf dem Eis zu verbringen, rohes Robbenfleisch

zu verzehren und Eisbären nachzustellen.

Für mich ist es das, was Markus Bühler-Rasom von anderen Arktis-Begeisterten

unterscheidet – eine Leidenschaft für den Norden Grönlands

und seine Bewohner, die über das übliche Mass hinausgeht. Er

nimmt Anteil am Leben und an den Schicksalen der Menschen, mit denen

er wochenlang auf engstem Raum wohnt, isst, spielt, jagt, lebt, leidet

und lacht. Er selbst sagt, er geht Freunde besuchen.

Kein anderes Volk der Erde lebt weiter nördlich als die Polar-Inuit

oder Inughuit, wie sie sich selber nennen. Ihre Vorfahren waren Kupfer-Eskimo,

die erst um 1700 aus dem arktischen Kanada nach Nord-


westgrönland einwanderten. Die Thule-Region war zu diesem Zeitpunkt

seit rund zweihundert Jahren unbewohnt. Die Kultur, die sie mitbrachten,

unterschied sich von derjenigen der bereits in Grönland lebenden

Inuit und blieb ihnen in ihrer Abgeschiedenheit erhalten. Es heisst, die

Inughuit glaubten lange, sie seien die einzigen Menschen auf der Welt.

Erst ihre Begegnung mit dem Engländer John Ross und seiner Mannschaft

soll diesen Irrtum im Jahr 1818 korrigiert haben.

Obwohl die Polar-Inuit in der Thule-Region leben, sind es doch

keine Thule-Inuit oder Thule-Eskimo. Mit dem Begriff Thule-Eskimo

bezeichnete der dänische Archäologe Therkel Mathiassen eine ausgestorbene

arktische Kultur, deren Überreste er 1920 entdeckte. Die Thule-Kultur

gilt als direkter Vorläufer der heutigen Inuit und Inughuit und

verbreitete sich von Alaska über den Nordosten Kanadas bis nach Nordgrönland.

Archäologen halten es für denkbar, dass die Thule-Eskimo in

nur zwei Generationen von der Beringstrasse bis nach Grönland gelangten,

entlang der Küstenlinie, mit Hundeschlitten über das Eis und mit

Kajak und Umiak über das Wasser.

Jahrtausendelang konnten sich die Kulturen des hohen Nordens gegen

die menschenfeindlichen Bedingungen der Arktis behaupten, und

auch die Inughuit haben Kälte und Eis jahrhundertelang getrotzt. Nun

aber sind die Kultur und die Traditionen der Polar-Inuit gefährdet. Vor

unseren Augen und mit unserem Segen verschwindet eine der bemerkenswertesten

Kulturen unseres Planeten vielleicht schon bald von der

Bildfläche. Im 21. Jahrhundert könnten ihnen nun die grönländischen

Unabhängigkeitsbestrebungen und internationale Artenschutzkonventionen

zum Verhängnis werden. Sie sind eine Minderheit im eigenen

Land und haben es nicht leicht, sich Gehör zu verschaffen, denn sie repräsentieren

nur 1 Prozent der grönländischen Bevölkerung.

2010 registrierte Dänemark rund 800 Polar-Inuit. Vor 1880 wurde

ihre Bevölkerung auf 100 bis 200 Personen geschätzt, zwischen 1880

und 1930 auf etwa 250. Doch auch wenn sie zahlenmässig gegenwärtig

den vielleicht höchsten Stand ihrer gesamten Geschichte erreicht haben,

darf das nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre Jagdtradition

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und damit eine der wichtigsten Grundlagen ihrer Kultur massiv gefährdet

ist. Den Jägern fehlt es an Nachwuchs. Kinder und Jugendliche gibt

es genug, Perspektiven für die Jagd dagegen derzeit kaum. Akut bedrohen

Fangquoten, Exportverbote und nicht zuletzt der Klimawandel die

Existenz der traditionellen Jägerkulturen.

Wenn sie von sich selbst sprechen, nennen sich die Inughuit auch

Grönländer – und bringen damit zum Ausdruck, dass auch sie zu diesem

Land gehören. Und dass sie mitreden wollen, vor allem dann, wenn es

um ihre Zukunft geht. Geografisch wird die grösste Insel der Welt Nordamerika

zugerechnet, politisch gehören Thule und Grönland noch immer

zu Dänemark. Greenland Home Rule, die teilautonome Regierung

aber, verfolgt vehement ihre Unabhängigkeitsziele – und die erlauben

kaum Rücksichtnahme auf die Interessen einer solch kleinen und abgelegenen

Minderheit.

Wenn Markus Bühler-Rasom wieder einmal Freunde besuchen geht,

geht es freilich nicht ohne die Kamera, die ihn überhaupt erst in den Norden

gebracht hat. Sie ermöglicht ihm, immer wieder dorthin zurückzukehren,

mit ihr fängt er auch die Veränderungen ein, die das Leben der

Menschen dort oben heute prägen. Mit den Jahren ist eine Art Chronik

entstanden – gewollt oder zufällig –, die den Wandel ihrer Welt begleitet.

Seine Bilder waren es auch, die den Kontakt zum NONAM herstellten.

2007 zeigte das Museum unter dem Titel «Leben am Rande der Welt» die

erste Ausstellung mit seinen Werken. Es sind Bilder, die ihren Weg in

zahlreiche Magazine und Reportagen gefunden haben und deren eisige

Ästhetik die Ausstellungsbesucher in ihren Bann zog.

Als uns Markus Bühler-Rasom im März dieses Jahres von «Vanishing

Thule» erzählte, wurden wir hellhörig. Zwar war es offensichtlich,

dass eine Kooperation unsere Planung für das Jahr gehörig auf den Kopf

stellen würde, aber – wie sein Freund Hans Jensen wohl sagen würde –

«What the hell», auch wenn es nur eine kurze und vielleicht kleine Ausstellung

werden würde. Die kurze und kleine Ausstellung ist mittlerweile

sowohl zeitlich als auch räumlich ein wenig gewachsen. Mit seinen

Bildern, Eindrücken und Erzählungen stimmt Markus Bühler-Rasom


ein auf diese uns fremde Welt und vereinnahmt uns dafür. Aber er bringt

uns nicht nur die Schönheit der Natur und die Besonderheiten der gefährdeten

Polarkultur näher. Er bringt uns auch zum Nachdenken –

über Fangquoten, Exportverbote, ja sogar über den Tier- und Umweltschutz,

der doch eigentlich gar nicht in Frage gestellt werden kann.

Ich freue mich, den kommenden Herbst und Winter zwischen Markus

Bühler-Rasoms Bildwelten des grönländischen Nordens verbringen

zu dürfen. Ich hoffe sehr, dass uns diese einzigartige Welt dort oben

noch lange, und nicht nur in Form von Bildern, erhalten bleibt und dass

«Vanishing Thule» auch in Zukunft nicht mehr sein wird als der Titel

einer Ausstellung im NONAM und einer wunderbaren Publikation.

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Vanishing

Thule

REISEBERICHT


MARKUS BÜHLER-RASOM Fotograf

Seit 1997 bereise ich die Thule-Region. In meinem ersten Projekt

ging es um die Ernährung der Inuit. Es brachte mich unter anderem in

Regionen zwischen Sisimiut und Ilulissat. In Kopenhagen dokumentierte

ich einige Jahre lang das Schicksal der Inuit in Dänemark. Aber es

waren die Polar-Inuit, die mich wirklich in ihren Bann zogen, und so

begann ich 2010 mit dem Projekt «Vanishing Thule».

Das Leben im hohen Norden ist voller Gegensätze. Das fasziniert

mich. Fotografiere ich die Jäger auf dem Eis, könnte man unter den

meisten Bildern die Jahreszahl auch um einige Jahrhunderte zurücksetzen,

es würde kaum einen Unterschied machen. In den Dörfern und in

der Stadt Qaanaaq merkt man dagegen gleich, dass die Zeit auch in der

Arktis nicht stehen geblieben ist. Beide Lebensformen – die auf dem Eis

und die im Dorf oder in der Stadt – spielen ineinander. Das unbarmherzige

Klima der nördlichsten Region der Erde lässt nichts anderes zu.

Noch immer bin ich ein Fotograf, der Thule bereist, aber inzwischen

ist es mehr als das. Meine Bilder haben sich fast unmerklich zu einer

Chronik entwickelt. Auf meiner letzten Reise im Mai 2015 wurde es so

offensichtlich wie nie zuvor. Ich bin jungen Leuten begegnet, bei denen

ich vor langer Zeit zum Kindergeburtstag eingeladen war. Und anderen,

die gerade geboren waren, als ich zum allerersten Mal in Qaanaaq war.

Aus der Reise ins arktische Abenteuer ist eine Reise zu Freunden geworden.

Und so soll es auch bleiben.

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Es ist Anfang Mai. Ich sitze in Ilulissat am Flughafen

und staune, dass mein Flug nach Qaanaaq tatsächlich

planmässig fliegen wird. Das ist in Grönland nicht

immer so. Die Grönländer nennen ihre Fluggesellschaft

Air Greenland scherzhaft «Imaqa Airways». «Imaqa»

bedeutet «vielleicht». Vermutlich ist es das meistgebrauchte

Wort der grönländischen Sprache. Ob bei der

Jagd auf dem Eis, auf dem Meer, in den Siedlungen

oder am Flughafen, alles ist immerzu «imaqa». Daran

habe ich mich in den vergangenen Jahren gewöhnt.

Aber heute habe ich Glück. Kein defektes Flugzeug,

kein Sturm und auch kein Nebel, der die Reise in die

nördlichste grönländische Stadt verhindert.


Der Flug ist wie eine Reise durch Grönlands Geschichte. An der

Küste dominiert Anfang Mai noch das Eis. Als die grösste Insel der Welt

ihren Namen bekam, war das nicht so. Erik der Rote, seines Zeichens

Wikinger und aus seiner Heimat verbannt, erreichte Grönland 981 während

einer Wärmeperiode im Süden des Landes. Dort war die Insel grün,

und der Rote gab ihr den Namen Grünland oder Grönland. Die Inuit selber

nennen ihr Land Kaalaalit Nunnat, Land der Menschenvölker. Nun

ja, besonders treffend ist keine der Bezeichnungen – das «grüne Land»

hatte trotz allem einen dicken Eispanzer, und im «Land der Menschenvölker»

lebten 57 000 Menschen, die sich, zumindest theoretisch, sagenhafte

2 Millionen Quadratkilometer teilten. Das entspräche einer

Schweiz mit 1 000 Einwohnern.

Weit oben im Norden erkenne ich die Melville-Bucht und Kap York.

Von hier aus unternahm Robert Peary zu Beginn des 20. Jahrhunderts

seine sagenumwobene Reise zum Nordpol. Noch heute streiten sich Historiker,

ob Peary oder Cook zuerst den Pol erreicht hat.

In Kap York nimmt die unglaubliche Geschichte des Inuit-Jungen

Minik ihren Anfang. Seine Geschichte bewegte die Welt. Sie ging durch

die Medien, wurde aufgeschrieben und verfilmt. Minik stammte aus Savissivik,

einem kleinen Dorf unweit von Kap York. Savissivik bedeutet

«der Ort, von dem das Eisen kommt». Ein mächtiger Meteorit war einst

hier niedergegangen. Die Inuit in der Region waren die Ersten, die ihre

Waffen aus Eisen herstellen konnten. 1897 liess Peary den Meteoriten

auf ein Schiff verfrachten und nahm ihn mit nach New York. Er war für

das American Museum of Natural History bestimmt. Der Polarforscher

brachte aber nicht nur einen monumentalen Gesteinsbrocken aus dem

All in die Metropole, sondern auch Menschen – auch sie schienen aus

einer anderen Welt zu kommen. Mit an Bord waren der zehnjährige Minik,

sein Vater Qisuk und vier weitere Inuit. Die Polar-Inuit verfügten

jedoch nicht über die nötigen Abwehrkräfte gegen die Viren der Zivilisation,

und das Museum vergass, sie impfen zu lassen. Alle starben ausser

Minik. Er versprach seinem Vater auf dem Sterbebett, ihn nach heimischen

Sitten im Garten des Museums zu begraben. Die Museumslei tung

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stimmte zu und führte eine Scheinbeerdigung durch. Jahre später entdeckte

Minik das Skelett seines Vaters, öffentlich ausgestellt in einer Vitrine

im Museum of Natural History. Danach wurde das Leben in Amerika

unerträglich für ihn, er wollte zurück in seine Heimat. Dort musste

er jedoch feststellen, dass ihm auch seine Heimat fremd ge worden war.

In Savissivik schenkte niemand seinen Berichten aus der grossen Stadt

Glauben. Ernüchtert und heimatlos kehrte Minik nach Amerika zurück,

wo er im Alter von 31 Jahren an der Spanischen Grippe starb.

Von Kap York führt der Flug weiter nach Uummannaq, besser bekannt

als Thule Airbase. Ein weiterer Schauplatz von Bedeutung. Seit

4500 Jahren war die Thule-Region immer wieder besiedelt. Die Völker

kamen und gingen. Die Vorfahren der heutigen Polar-Inuit be gannen erst

um 1100 n. Chr. die Region zu besiedeln. Dort, wo heute die Airbase liegt,

gründete der dänische Polarforscher Knud Rasmussen 1909 eine Handelsstation.

Er nannte sie Thule. Im Gegensatz zu allen anderen Polarforschern,

die bis dahin den Norden Grönlands erreicht hatten, interessierten

Rasmussen vor allem die Kultur und Sprache der Polar-Inuit – und

nicht der Nordpol. Als Sohn einer Grönländerin und eines Dänen war er

nicht nur mit der Sprache, sondern eine Zeit lang mitten in der Kultur

aufgewachsen, was ihm nun enorme Vorteile verschaffte. Vor allem Rasmussens

Werke und die seiner Weggefährten haben die Kultur der Inuit

in der Welt bekannt gemacht.

Dank Rasmussens Handelsstation konnten die Polar-Inuit mit dem

Süden Grönlands und sogar mit dem Ausland Handel treiben. Für die

Jagdbeute aus der Arktis gab es Gewehre und andere Güter, die das Leben

im hohen Norden erleichterten. Rasmussens Haus steht heute in

Qaanaaq und ist ein Museum. Ursprünglich stand es jedoch, ebenso wie

viele Inuit-Häuser, in Uummannaq. Umsiedlungen sind im Norden

Grönlands ein Kapitel für sich: Die von Uummannaq nach Qaanaaq gehört

zu den tragischsten Episoden in der Geschichte Grönlands. Und die

begann Mitte des 20. Jahrhunderts.

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1950 schlossen Dänemark und die USA ein Abkommen. Die Amerikaner

sollten als Truppenstützpunkt die Thule-Region in Grönland erhalten.

Während des Kalten Krieges war die Lage dieser Region für die USA strategisch

von Nutzen. Im Gegenzug würden die Amerikaner Dänemark im Falle

eines erneuten Krieges – der Zweite Weltkrieg war gerade erst vorüber –

vor weiteren Diktatoren schützen. Grönland war zu diesem Zeitpunkt bereits

seit 230 Jahren dänische Kolonie. Man besiegelte das Abkommen,

ohne die Ureinwohner im Norden auch nur zu informieren. 1951 wurde die

Thule Airbase in nächster Nachbarschaft zu Uummannaq gebaut. Zwei

Jahre später wurden die Bewohner dort erneut vor vollendete Tatsachen

gestellt: Sie hatten drei Tage Zeit, um ihr Hab und Gut zusammenzupacken

und mit Kind und Kegel ins 130 Kilometer nördlich gelegene Qaanaaq zu

ziehen. Als Transportmittel standen ihnen lediglich ihre Hundeschlitten

zur Verfügung. Es war Mai. Wollten sie mit den Schlitten noch über sicheres

Eis gelangen, mussten sie sich sputen. Mein Freund Hans Jensen war

damals zwei Jahre alt. Er erzählt nicht ohne Bitterkeit, wie es damals war.

Man hatte ihnen zugesichert, dass sie in Qaanaaq eingerichtete Häuser

vorfinden würden. Aber als die Familien die beschwerliche Reise nach

Tagen und Wochen hinter sich hatten, stand von den versprochenen Häusern

kein einziges. Das Versorgungsschiff, das das Baumaterial bringen

sollte, konnte das Eis in der Bucht von Qaanaaq erst Monate später passieren.

So lebten sie wohl oder übel in Zelten, bis die Häuser Ende November

endlich einzugsbereit waren.

Die Umsiedlung blieb nicht das einzige Unglück, das der Bau der Thule

Airbase nach sich zog. Ein weiteres, dessen Folgen für Mensch, Tier und

Natur noch heute nicht eindeutig geklärt sind, ereignete sich 1968. Eine

B-52 mit vier Wasserstoffbomben an Bord stürzte im Landeanflug auf den

Luftwaffenstützpunkt ab. Sie schmolz ein gewaltiges schwarzes Loch ins

Eis und versank im Polarmeer. Die konventionellen Sprengladungen der

Atomwaffen wurden ausgelöst, die nähere Umgebung der Absturzstelle

wurde radioaktiv verseucht. Erst Jahre später wurde bekannt, dass nur

drei der vier Bomben geborgen werden konnten. Von der vierten fehlt

noch immer jede Spur.


Der Fall Thule beschäftigt die Gerichte noch heute. Entschädigungsleistungen,

die angeboten wurden, sind im günstigsten Fall symbolisch.

Die Airbase wird noch heute von den Amerikanern betrieben. Ihr Nutzen

ist fragwürdig. Für die Inuit bildet sie eine Verbindung zur Aussenwelt,

die es früher nicht gab, sowie die Möglichkeit medizinischer Versorgung

vor Ort. Die Lebenserwartung ist gestiegen, seit es den Stütz -

punkt gibt. Auf der Kehrseite der Medaille aber stehen die Zwangsumsiedlung,

kontaminierte Jagdgründe und eine noch immer nicht lokalisierte

Bombe, die, keiner weiss wann, für weitere Kontamination sorgen

kann – oder vielleicht schon gesorgt hat.

Während meiner ersten Grönlandreise im Jahr 1997, als man noch

über die Thule Airbase oder Pituffik, wie der Stützpunkt von den Inuit

genannt wird, reisen musste, sass ich wegen heftiger Stürme eine Woche

lang dort fest. Es war eine surreale Woche. In dem streng geheimen

Stützpunkt durfte man sich nicht frei bewegen. Zu den Mahlzeiten wurden

wir abgeholt, um in der Dining Hall zwischen mexikanischer, italienischer

und amerikanischer Küche zu wählen. Die Zeit war diejenige

Washingtons, und bezahlt wurde in Dollar.

Inzwischen kann man Qaanaaq von Kangerlussuak über Ilulissat

und Upernavik direkt anfliegen. Im Mai ist der Flieger gut gebucht. Rund

50 Personen finden in der Dash7 Platz. Im Winter ist das anders. Ich

erinnere mich an einen Flug im Februar 2004. Mit mir an Bord, genau

vor meinen Füssen, ein Sarg. Darin eine Frau, die sich in Dänemark das

Leben genommen hatte. Das Aufgebot für ihre Beerdigung hatte schon

etliche Male gestanden. Aber jedes Mal wurde der Sarg an einem Flughafen

vergessen und die Trauergemeinde in Qaanaaq musste unverrichteter

Dinge wieder abziehen. Was für eine Belastungsprobe! Wenigstens

war, als der Leichnam endlich in Qaanaaq ankam, noch ein Grab frei. Im

Winter können nämlich keine neuen Gräber ausgehoben werden, weil

der Boden tiefgefroren ist.

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ANGEKOMMEN

Dieses Mal ist meine Ankunft nicht von einer traurigen Geschichte

überschattet. Mein Freund Hans erwartet mich am Flughafen. Seit einigen

Jahren wohne ich in meiner Zeit in Qaanaaq in seiner Pension,

wenn ich nicht gerade mit den Jägern auf dem Eis bin. Früher wohnte

ich bei Familien, und in der kleinen Siedlung Savissivik ist das heute

noch so. Aber der Preis dafür ist zuweilen hoch, besonders seit ich selber

Vater bin. Nie werde ich die Nächte bei einer Familie vergessen, in

der getrunken wurde, bis die letzten Hemmungen fielen und die aufgestauten

Aggressionen freie Bahn hatten. Bis zu fünf kleine Kinder suchten

bei mir Schutz vor den eigenen Vätern und Müttern.

Mein Zimmer in der Pension ist, wie üblich, die Nummer 4. Ich habe

die Ehre, im selben Zimmer zu nächtigen wie Kronprinz Frederik von

Dänemark, bevor er vor einigen Jahren zur Siriuspatrouille aufbrach.

Die Nordkappe Grönlands wird regelmässig vom dänischen Militär abgefahren,

um das Hoheitsgebiet zu sichern. Die Patrouille per Hundeschlitten

dauert mehrere Monate.

Nachdem ich also meine Prinzensuite bezogen und mit Hans und seiner

Frau Birthe Kaffee getrunken habe, mache ich mich auf den Weg ins

Dorf, um allen guten Tag zu sagen. Ich treffe Hans, den Polizisten, der

früher Matrose war und seit fünfzehn Jahren in Qaanaaq für Recht und

Ordnung sorgt. Bei den Öltanks treffe ich auf Kakuk. Er wollte ursprünglich

Jäger werden, entschied sich dann aber für die Energieversorgung in

Qaanaaq. Mittlerweile hat er sich zum Leiter der Öltanks hochgearbeitet.

Wir tauschen Neuigkeiten aus und trinken zusammen Kaffee. Endstation

meines ersten Rundgangs ist der Hafen, ein zugefrorener Strand.

Hier treffe ich auf Gedion, der mich schon erwartet hat und sagt, ich solle

mich bereit machen. Morgen brechen wir auf – aufs Eis.

Gedion Kristiansen ist einer der letzten Jäger in der Stadt. Er ist 46

Jahre jung, hat einen Sohn und bei jeder meiner Ankünfte in Qaanaaq

eine neue Freundin. Seit 2003 fahre ich in Qaanaaq immer mit ihm aufs

Eis. Gedion stammt aus einer grossen Jägerfamilie. All seine Vorfahren

waren Jäger, er und seine älteren Brüder, Mamarut und Mikili, machen

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da keine Ausnahme. Die Erwerbsmöglichkeiten für Gedion, seine Brüder

und sämtliche Jäger des Thule-Distrikts haben sich jedoch grundlegend

geändert. Heute stehen die Jäger vor ihrer grössten Belastungsprobe

seit Menschengedenken.

GRÖNLAND UND GREENPEACE

Begonnen hat es in den 80er-Jahren. Damals starteten Greenpeace

und Brigitte Bardot eine Kampagne gegen die Tötung von Robbenbabys.

Die Kampagne richtete sich gegen die kommerzielle, massenweise und

durchaus fragwürdige Abschlachtung von Jungrobben, insbesondere

für die Pelzindustrie. Sie erwischte aber auch diejenigen, die keine

Jungtiere jagten, aber seit Jahrtausenden von der Jagd auf Robben und

andere Meeressäugetiere gelebt haben, weil es in arktischen Regionen

schlicht keine Alternative gibt. Greenpeace versäumte es, die arktischen

Kulturen explizit von dieser Kampagne auszunehmen, was gravierende

Folgen hatte.

Für Greenpeace wurde die Kampagne ein Erfolg, für die Inuit wurde

sie zum Debakel. Der Markt für Robbenfelle brach ein, und die Inuit-Jäger

sahen sich einer wichtigen Einkommensquelle beraubt. Denn wenn

Mensch und Tier satt waren und die eigenen Anoraks und Kamiks (Fellstiefel)

genäht, blieben immer noch genügend Robbenfelle für den Export

übrig. Der aber war nun verboten. Den Einkommensausfall in den

Jägerfamilien mussten fortan Mütter ausgleichen, die einer bezahlten

Arbeit nachgingen. Obwohl ein Jäger nun zu wenig verdiente, um seine

Leute zu ernähren, blieb er der Stolz der Familie und für die Ernährung

zuständig. Dass das Ego der Jäger dennoch unter dieser fremdverschuldeten

Unzulänglichkeit litt, steht auf einem anderen Blatt.

Und nun kommt auch noch der Klimawandel dazu. Sowohl der Wandel

als solcher als auch das, was wir daraus machen. Der Klimawandel

ist gravierend und im Norden Grönlands unübersehbar. Das Eis, das in

den 80er-Jahren in der Thule-Region noch bis zu zwei Meter dick

wurde, bringt es heute auf gerade mal einen Meter. Bildete das Eis früher

zu Beginn der Polarnacht Ende Oktober bereits eine geschlossene,

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solide Fläche, so können die Jäger heute erst ab Ende Januar oder Anfang

Februar aufs Eis. Die Zeit, in der weder auf dem Meer noch auf dem

Eis gejagt werden kann, wird immer länger. Die Jäger beobachten, dass

Robben ihre Jungen nicht mehr in den sicheren Eisspalten der Eisfelder

zur Welt bringen, da diese inzwischen zu dünn sind. Die Robbenbabys

rutschen durch die Spalten hindurch ins Meer und ertrinken. Stattdessen

bringen die Weibchen ihre Jungen nun auf dem offenen Eis zur Welt.

Hier aber sind sie der Kälte und den jagenden Tieren schutzlos ausgeliefert

und überleben oft nicht einmal die erste Nacht. Ich habe unzählige

Gespräche mit den Jägern über diese Veränderungen geführt. Sie sind

sich einig, dass sich die Tiere mit dem Klima arrangieren werden. Sie

ziehen sich in die Fjorde zurück oder wandern weiter nach Norden. Und

die Jäger werden ihnen folgen.

DER PREIS DER UNABHÄNGIGKEIT

Weitaus gravierender sind die Auswirkungen unserer Gier nach Bodenschätzen.

Die Aussicht auf Ölvorkommen in der Arktis hat eine regelrechte

Goldgräberstimmung ausgelöst. Vor wenigen Jahren wurde

ich von einem Konsortium von Amerikanern und Schweden mit Büro an

der Zürcher Bahnhofstrasse angeheuert. Ich sollte ihre Förderaktivitäten

fotografisch begleiten – es ging um alle erdenklichen Rohstoffe in

der Arktis. Geld, so schien es, spielte keine Rolle. Obschon mir die ganze

Geschichte dubios erschien, sah ich darin eine Chance, den scheinbar

unvermeidlichen Wandel in Grönland zu dokumentieren. Ich liess mich

auf die Leute ein. Als 2008, noch bevor ich die Arbeit aufnehmen konnte,

die Immobilienkrise ausbrach, stand das Büro plötzlich leer, und das

Konsortium war spurlos verschwunden. Viele Firmen sind in dieser Zeit

so schnell aus der Arktis verschwunden, wie sie gekommen sind. Weitergesucht

und -gebohrt wird trotzdem. Dass das fragile Ökosystem der

Polarregion dabei ins Wanken gerät, scheint sekundär.

Selbst die Grönländer scheinen derzeit anderes im Sinn zu haben als

den Schutz von Umwelt und Klima. Politisch ist Grönland noch immer

Dänemark unterstellt. Zwar hat das Land auch eine eigene Regierung,

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die Greenland Home Rule. Diese verfügt aber nur über eingeschränkte

politische Rechte und Kompetenzen. Das soll sich ändern. 2008 beschloss

das Land im Rahmen einer Volksabstimmung und mit einer

Mehrheit von 75 Prozent, die vollständige Unabhängigkeit von Dänemark

anzustreben. Doch diese hat ihren Preis. Finanziert werden soll sie

mit den Bodenschätzen des Landes und mithilfe ausländischer Investoren,

die die Erschliessung und Förderung der Ressourcen vorantreiben.

Um den Übergang zur Unabhängigkeit zu erleichtern und die Kosten

für kleine, entlegene Siedlungen zu minimeren, wird hie und da auch

nachgeholfen. Obwohl Fisch das einzig erwähnenswerte Exportgut

Grönlands ist, werden überall im Land die kleineren Fischfabriken geschlossen.

Wer in der Folge ohne Arbeit ist, zieht, so die Hoffnung, in

die grösseren Orte und erspart der Regierung die kostentreibende Versorgung

der vielen kleinen Ortschaften. Ein ähnlicher Plan, der in den

1960er-Jahren unter der Bezeichnung G-60 von Dänemark präsentiert

worden war, wurde damals nach massiven Protesten von grönländischer

Seite wieder fallen gelassen.

HOME-RULE-QUOTEN VS. THULE LAW

Um auf dem internationalen politischen Parkett etwas bieten zu

können, hat Greenland Home Rule als Reaktion auf den Druck von

NGOs und westlichen Staaten für fast alle einheimischen Tiere Fangquoten

festgelegt. Es handelt sich um Quoten für Eisbären, Walrosse

und Kleinwale. Die Fangquoten für Grosswale werden hingegen schon

lange von der International Whaling Commission (IWC) festgelegt. Die

IWC gesteht den grönländischen Inuit die Jagd auf Wale zur Selbstversorgung

zu. Grosswale wie Mink- und Finnwale werden aber nur südlich

der Disko-Bucht gejagt. Die neuen Quoten treffen somit vor allem die

Polar-Inuit. Seit einigen Jahren besteht ausserdem ein vollständiges

Ausfuhrverbot für sämtliche Produkte von Robben, Narwalen, Eisbären

und Walrossen. Und dies, obwohl die Jäger nur vergleichsweise wenige

Tiere jagen und grundsätzlich nicht des Profits wegen. Gejagt wird, was

auch gegessen werden kann. Das selbst auferlegte Thule Law definiert

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genau, welche Jagdmethoden zur Anwendung kommen und wie die Verwertung

erfolgt. Es definiert auch, dass Narwale zu jeder Jahreszeit nur

aus dem Kajak gejagt werden dürfen und nicht aus Schnellbooten, was

sehr viel einfacher wäre. Auch wie ein erlegter Eisbär unter den beteiligten

Jägern aufgeteilt wird, ist in diesem Gesetz festgehalten. Das

Thule Law wurde von Polar-Inuit erlassen, um die eigene Kultur zu

schützen und um Streitereien und Habgier zu unterbinden. Infolge der

Quoten und Exportbestimmungen ist die Jagd als traditionelle Einkommensquelle

nun aber nicht mehr rentabel. Geblieben ist lediglich der

magere lokale und nationale Markt. Gedion würde seinem Sohn Rasmus

deshalb nicht mehr empfehlen, den Beruf des Jägers zu wählen. Er selber

kann sich aber nichts anderes vorstellen.

JAGD AUF NANOQ

Das Wetter ist traumhaft. Ich stelle mich auf eine Reise mit milden

Temperaturen ein, und für einmal soll ich Recht behalten. Bisher war ich

nur in den Monaten Februar bis April auf dem Eis. Vor allem der Februar

hat es in sich. In der Melville-Bucht bei Savissivik habe ich Temperaturen

von bis zu minus 50 Grad Celsius erlebt. Für mein erstes Buch über

die Inuit hatte ich mir in den Kopf gesetzt, die Jäger bei der Jagd auf

Nanoq, den Eisbären, zu begleiten. Dabei habe ich den Thule Spirit in

seiner Reinkultur kennengelernt. Wer sich mit den Jägern aus Savissivik

auf die Jagd begibt, wird vor allem eines lernen: Geduld. Viele lange Winter

bin ich Jahr für Jahr nach Savissivik gereist, um wochenlang mit ihnen

auf dem Eis zu leben. Ständig verfolgten wir Eisbären. Wurde eine

Spur gesichtet – und das war oft der Fall –, wurde sie von Simon Eliassen,

dem Jäger, den ich dort begleiten durfte, auf ihr Alter und die ungefähre

Grösse des Bären überprüft. War die Spur nicht zu alt, wurde die

Verfolgung aufgenommen. Die Verfolgungsjagd ist spannend. Man sieht,

wo der Bär geschlafen, wo er gejagt hat und vieles mehr.

Einmal führte uns eine Spur zu einem Eisberg von der Grösse eines

Fussballstadions. Darin hatte es viele Höhlen. Simon sagte, wir müssten

nun nur noch um den Berg herumfahren. Führt keine Spur weiter, ver-

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steckt sich der Bär in einer dieser Höhlen. Wir sassen beide auf dem

Schlitten, jagdbereit. Simon als Jäger, ich als Fotograf. Das Adrenalin

schoss mir durch den Körper. Ich schwitzte – selbst in der Februarkälte

der Melville-Bucht. Aber – auf der anderen Seite des Eisbergs führte die

Spur weiter. Und sie war frisch. So frisch, dass Simon seine drei stärksten

Hunde vom Zuggeschirr befreite. In einem solchen Fall nehmen die

auf die Eisbärenjagd trainierten Hunde die Spur auf. Sie sollen den Bären

stellen und aufhalten, damit der Jäger mit dem vergleichsweise trägen

Hundegespann zu ihnen aufschliessen kann. Etliche Stunden später standen

wir an der Eiskante, weit weg vom Festland. Der Bär war übers offene

Meer entkommen. Die Rückreise führte durch dichtes, unwegsames Packeis,

während der letzten Stunden tobte ein heftiger Sturm. Todmüde

sank ich in der Schutzhütte auf mein Rentierfell und schlief sofort ein.

Manchmal wurden wir mitten in der Nacht von den Hunden geweckt.

Gilt der Alarm einem Bären, muss man binnen Sekunden parat

sein und draussen auf dem Eis stehen. In den Hütten herrscht deshalb

grosse Ordnung, vor allem was die Kleidung anbelangt. Alles hat seinen

Platz, alles ist vorbereitet. Wird der Bär aber von den Hunden aufgeschreckt,

sucht er das Weite und entkommt. So ging das Tag für Tag,

Woche für Woche, Jahr für Jahr. Dann aber, etliche Frostbeulen später,

sollte es doch noch klappen. Wir waren erst wenige Tage auf dem Eis

und zogen, den Wind im Rücken, in Richtung Norden. Der Eisbär, der

uns somit riechen konnte, verkroch sich hinter einem Eisberg. Er ging

erst weiter, als wir schon einige Kilometer an ihm vorbeigezogen waren.

Nun aber hatte der Bär den Wind im Rücken, und die Hunde rochen ihn.

Und wenn für die Hunde die Jagd eröffnet ist, dann wehe dem, der sich

nicht auf dem Schlitten halten kann. Selbst Simon Eliassens Bruder Magnus

wurde vom Schlitten geworfen, so schnell rannten die Hunde über

das unwegsame Eis. Ole, ein Jäger aus unserem Team, erreichte den

Bären zuerst und erlegte ihn. Die Jäger sagten dem Bären ohne viel Aufsehen

Dank – so, wie sie es bei jedem Tier tun – und begannen sofort mit

der Arbeit. Das Tier muss zerlegt werden, bevor es gefroren ist, denn

ein riesiger Eisbär lässt sich nur zerteilt auf die Schlitten laden.

25



Nach dem Thule Law erhält der Jäger, der den Bären erlegt hat, den

besten Teil, den Oberkörper mit dem Kopf und zwei Pfoten. Der Jäger,

der ihn als Erster gesichtet hat, erhält den Rumpf, der sich gut für Hosen

und Kamiks eignet. Für mich als Fotograf ist die Eisbärenjagd wegen

der Quoten zu einer Lotterie geworden. Oft sind die erlaubten neunzehn

Tiere für den gesamten Thule-Distrikt schon im Februar erlegt. Zumal

es in der Gegend von Savissivik, wo es die meisten Bären gibt, in letzter

Zeit oft vorkommt, dass sich ein vom Hunger getriebenes Tier ins Vierzig-Seelen-Dörfchen

verirrt. Ein Jäger, so hat man mir erzählt, musste

einen Bären von seinem Fenster aus – in Unterhosen – schiessen. Haben

sie sich einmal in ein Dorf vorgewagt, kommen sie auch ein zweites Mal.

Die Tiere müssen dann erlegt werden, nicht nur zum Schutz der Kinder.

DÜNNES EIS

Morgen Mittag wollen wir gemeinsam zur Eiskante aufbrechen. Die

Narwale kommen nun dorthin, und das Wetter ist günstig, sagt Gedion.

Die Reise dauert in diesem Jahr nur noch vier Stunden mit dem Hundeschlitten.

Als ich im April 1997 zum ersten Mal hierherkam, dauerte sie

noch doppelt so lang. Das Eis war damals sehr viel dicker, die Eisfläche

sehr viel grösser, und es dauerte acht Stunden, bis wir mit den Schlitten

die Eiskante weit draussen auf dem Meer erreicht hatten.

Dann ist es so weit. Am Strand trifft Gedion seinen Freund Niels

Mingue. Er wird Gedion begleiten. Ist eine Reise zur Eiskante geplant

und die Kajaks kommen zum Einsatz, gehen die Jäger mindestens zu

zweit. Gerade erst wurde nahe Savissivik ein Jäger im Kajak von einem

Walross angegriffen. Er kenterte und starb. Selbst die Jäger, die ihn begleiteten,

konnten ihm nicht mehr helfen. Bei Reisen auf dem Eis ist

immer Vorsicht geboten. Auch wenn sich unerwartet Eisplatten lösen

und aufs Meer hinaustreiben, ist es gut, jemanden dabeizuhaben.

Als ich Gedion im März 2003 an der Eiskante bei der Robbenjagd

fotografierte, brach wenige Hundert Meter hinter uns die Kante ab. Wir

schafften den Sprung aufs sichere Eis gerade noch rechtzeitig. Es hätte

nicht viel gefehlt, und wir wären auf unserer Eisscholle auf die offene

27


See hinausgetrieben. Damals war ich nur mit Gedion draussen, weil

sein Bruder Mikili tatsächlich irgendwo auf dem Meer umhertrieb. Er

hatte in seinem Zelt auf dem Eis übernachtet und den Abbruch des Eisfeldes

nicht bemerkt. Am Morgen trieb er auf offener See. Es dauerte

lange, bis das Eisfeld wieder anlandete. Erst einen Monat später kehrte

er nach einer langen und beschwerlichen Reise über das Inlandeis wieder

nach Qaanaaq zurück. Für die Jäger wird das Eis immer unberechenbarer.

Es wird immer schwieriger, es richtig zu lesen, und es wird

immer dünner. All das bringt die Jäger zunehmend in Gefahr.

EJ!

Wir reisen etwa 40 Kilometer in Richtung Steensby Land. Die Reise

auf einem Hundeschlitten ist eine herrliche Sache. Das Tempo ist gemächliches

Traben, und während Stunden ändert sich das Panorama

kaum. Immerzu schaut man auf eine nicht enden wollende Eisfläche.

Die Gedankengänge bekommen eine ganz eigene Dynamik. Zu Hause in

der Schweiz werden die Gedanken ständig unterbrochen oder umgeleitet.

Szenerien und Situationen ändern sich laufend. Sei es durch einen

ins Sichtfeld kommenden Baum, ein vorbeifahrendes Auto oder einen

Telefonanruf. Hier in der Arktis ist das anders. Nichts ändert sich, und

meine Gedanken frieren oft stundenlang am selben Thema fest. Einige

wegweisende Entscheidungen für mein Leben habe ich beim Sinnieren

auf dem Eis getroffen.

Auf dem Weg zur Eiskante passieren wir eine kleine Schutzhütte

an der Küste. Hier habe ich schon viele Nächte verbracht, auch meine

erste Nacht auf dem Eis. Und die folgte auf meinen ersten Tag dort

draussen, der mir auch gleich das erste denkwürdige Abenteuer beschert

hatte.

Völlig überwältigt von der Landschaft, den Jägern und der Kälte

sog ich alles auf wie ein Schwamm. Nur ein klitzekleines Detail war mir

entgangen, nämlich wie man laufende Hunde vor einem Hundeschlitten

zum Halten bringt. Und das hatte Folgen. Wenn ein Jäger das Atemloch

einer Robbe sichtet – es ist gerade so gross wie ein Tennisball –, hält er

28


an und schaut, ob es noch frisch ist. Mikili, mit dem ich auf dem Eis

war, fand ein solches Atemloch und beschloss, auf die Robbe zu warten.

Ein Jäger kann stundenlang bewegungslos in eisiger Kälte verharren.

Und damit die Hunde seinen Jagderfolg nicht ruinieren, schickt er

sie einige Hundert Meter weiter. Sicherheitshalber schickte Mikili

nicht nur seine Hunde, sondern auch mich weiter. Da ich nun aber auf

dem Schlitten sass und in Eisbärenhosen und Rentieranorak einem Jäger

wohl zum Verwechseln ähnlich sah – oder es ihnen schlicht egal

war, wer da auf dem Schlitten sass –, liefen die Hunde weiter. Und immer

weiter. Wenn man nicht daran gewöhnt ist, ist es nicht ganz einfach,

sich auf einem dahinsausenden Hundeschlitten zu halten, noch

nicht einmal, wenn man stur geradeausschaut. Sich während der Fahrt

umzudrehen, gleicht einem akrobatischen Akt, zumal für mich und an

meinem ersten Tag. Als es mir schliesslich gelang, war Mikili bereits

aus meinem Sichtfeld verschwunden. Wenigstens war ich nicht abgeworfen

worden. Den Hunden rief ich zu «aretet», aber sie machten keinerlei

Anstalten anzuhalten. Gefühlte zehn Stunden später hielten sie

einfach an und legten sich nieder. Irgendwo mitten in der Arktis. Ich

bekam es mit der Angst zu tun. Was, wenn jetzt ein Eisbär kam?

Der Eisbär kam nicht. Stattdessen kam Argni, ein befreundeter Jäger,

zu Mikilis Atemloch, wo der inzwischen seine Robbe erlegt hatte,

und gemeinsam folgten sie der Spur des Schlittens. Als sie uns erreichten,

war ich, um es vorsichtig zu formulieren, erleichtert. Während ich

noch immer um Fassung rang und mich bemühte, den Schrecken zu

verdauen, hatten Mikili und Argni den Spass ihres Lebens – sie renkten

sich vor lauter Lachen kaum mehr ein. In den achtzehn Jahren, in denen

ich die Arktis besucht habe, gab es unzählige Zwischenfälle ähnlicher

Art. Inzwischen kann auch ich darüber lachen. Überhaupt wird

auf dem Eis viel gelacht. Keine Ahnung, warum. Vielleicht ist es eine

Art Überlebensstrategie, die das harte Leben da draussen erträglicher

macht. Ich lernte, dass «aretet» sitzen bedeutet. Bevor der Hund sich

aber setzt, muss er den Befehl «Halt» hören. Ein einfaches «Ej» hätte

genügt, um die Meute zum Stehen zu bringen.

29



SCHUTZHÜTTEN UND SCHLITTENZELTE

Gedion und Niels erreichen die Eiskante. Der Westwind hat neues

Eis an die Kante getrieben. Bei solchen Verhältnissen kann man mit dem

Kajak nicht raus. Wir trinken Kaffee und warten. Die beiden Jäger beschliessen,

die Nacht hier zu verbringen. Die beiden Schlitten werden

zusammengeführt, darüber wird ein Zelt errichtet, ein Petrolofen angezündet

und Wasser aus einem grossen Eisblock geschmolzen. Das alles

dauert nur wenige Minuten. Es beeindruckt mich immer noch, wie jedes

Ding an seinem Platz ist und jeder Handgriff perfekt sitzt. Im Zelt werden

Rentier- und Moschusochsenfelle ausgelegt. So wird es recht gemütlich.

Auf dem Eis gibt es noch eine andere Übernachtungsmöglichkeit.

Entlang der Küste haben die Inuit kleine Schutzhütten gebaut, die etwas

geräumiger sind als das Lager auf den Schlitten. Meist werden sie aber so

aufgeheizt, das man kaum noch atmen kann. Folgt man aber den Tieren,

muss man ihre Wege gehen. Dann übernachtet man in Zelten. Die Tage

der Iglus sind längst vorüber. Sie werden nur noch in Extremsituationen

gebaut. Etwa wenn ein Sturm aufkommt oder weit draussen auf dem Eis.

Und natürlich für Touristen, die die Eskimo in einem Iglu sehen wollen.

GEFÜHL VON FREIHEIT

Der Wind hat von West auf Ost gedreht, und das Treibeis wird langsam

wieder aufs Meer hinausgetrieben. Wir legen uns ins Zelt, und

meine Gefährten schlafen sofort ein. Bei mir funktioniert das diesmal

nicht. Es ist zwei Uhr morgens, und die Sonne denkt nicht daran unterzugehen.

Daran muss ich mich erst gewöhnen. In Qaanaaq erscheint die

Sonne am 17. Februar zum ersten Mal wieder über dem Horizont, und

schon am 21. April geht sie nicht mehr unter. Dagegen sieht man sie vom

7. November bis zum 17. Februar überhaupt nicht mehr. Die Zeit, in der

es Tag und Nacht gibt, ist sehr kurz. Das ist auch im Alltag spürbar, vor

allem auf dem Eis. Man schläft, wenn man müde ist, und isst, wenn man

Hunger hat. Geregelte Essens- und Schlafenszeiten gibt es nicht. Das

Leben auf dem Eis findet in völligem Einklang mit der Natur statt. Und

im Einklang mit einem selbst. Es ist ein Gefühl von absoluter Freiheit.

31


ZUHÖREN

Am folgenden Tag beschliessen Gedion und Niels, entlang der Eiskante

Richtung Herbert Island zu ziehen, wo eine Gruppe von sechs Jägern

ebenfalls auf Narwale wartet. Die 20 Kilometer lange Reise dauert

nur wenige Stunden. Im Camp treffe ich viele alte Bekannte. Auch Mamarut,

Gedions ältester Bruder, ist da. Er ist so etwas wie der Anführer.

Alle lauschen aufmerksam seinen Ausführungen. Zu Hause läuft ein

Nachtessen mit Freunden anders ab. Nicht vorstellbar, dass einer eine

Geschichte erzählt, die eine Stunde dauert. Dann geht er raus, um eine

Zigarette zu rauchen, und selbst dann käme keiner auf die Idee, seine

Erzählungen zu unterbrechen. Alle warten, bis er zu Ende erzählt hat.

Geschichtenerzählen hat in der Arktis Tradition. Es ist so unterhaltsam,

wie wenn man bei uns ins Kino oder ins Theater geht.

Stoff für unterhaltsame Geschichten habe auch ich schon geliefert.

Meine fehlgeschlagenen Eisbärenreisen sind dafür wie geschaffen.

Sechs lange Wochen war ich mit Simon Eliassen zwischen Kap York und

Savissivik auf dem Eis gewesen, ohne einen Eisbären auch nur zu sichten,

geschweige denn zu jagen. Schliesslich mussten wir aufgeben.

Meine grossen Zehen waren inzwischen schwarz, und ich brauchte einen

Arzt. Ausserdem stand mein Flug nach Hause an. Simon brachte

mich um 7 Uhr morgens zum Helikopterlandeplatz. Wir verabschiedeten

uns und vereinbarten, die Eisbärenjagd im nächsten Jahr wieder gemeinsam

anzugehen. Der Flug von Savissivik ging via Thule Airbase

nach Qaanaaq, von wo aus mich eine Dash7 nach Ilulissat und weiter

nach Kangerlussuak bringen sollte.

Aber am Flughafen gab es keine Dash7. Dafür wartete Hans Jensen

auf mich und teilte mir mit, dass die Flüge gecancelt waren. Entweder

tobte irgendwo ein Sturm oder irgendetwas war defekt. Ich würde erst

in sieben Tagen weiterreisen können. Gerade als wir die Pension betraten

und vier Stunden, nachdem ich Savissivik verlassen hatte, rief Simon

Eliassen an. Gleich nach meinem Abflug sei er aufs Eis rausgefahren,

und keine halbe Stunde von Savissivik entfernt – nun ja, er sei fast

schon mit dem Eisbären zusammengestossen, so nah sei der gewesen.

32


Ich muss gestehen, ich fand es nur halb so lustig wie meine Freunde, die

sich – einmal mehr – kaputtlachten. Und als mir die Ärztin in Qaanaaq

mitteilte, um meine Zehen stünde es gar nicht gut, da lachte Hans schon

wieder. Als ich ihn fragte, was daran denn nun so lustig sei, lehrte er

mich ein grossartiges Lebensmotto. «What the hell», lachte er, «it’s too

late anyway.» Er hatte vollkommen recht – passiert war passiert. Weshalb

sich noch aufregen, wenn man ohnehin nichts mehr ändern konnte?

Meine Zehen haben sich sogar wieder einigermassen erholt, und Stoff

für unterhaltsame Geschichten liefern sie nun allemal.

WARTEN

Auf dieser Reise an die Eiskante friere ich nicht. Die Sonne scheint,

und die Temperaturen bewegen sich im milden Minusbereich. Dieses

Mal wartet eine andere Herausforderung auf mich. Eine, die ich so in

Grönland noch nicht erlebt habe, eine neue Lektion in Sachen Geduld.

Begonnen hat alles recht vielversprechend. Schon während der zweiten

Nacht, gegen 2 Uhr morgens, kommt Hektik auf. Ein Narwal nähert sich

der Eiskante. Wieder geht alles ganz schnell, und schon wenige Minuten

später stehen wir alle an der Eiskante. Alle sind ruhig und schauen aufs

Meer. Und tatsächlich, einer kommt näher. Die Jäger, die sich entlang

der Eiskante verteilt haben, steigen vorsichtig in ihre Kajaks und gleiten

leise ins Wasser. Oft kommen die Narwale in ganzen Herden. Hier aber

ist es nur einer. Ob der Wal die Gefahr erkannt hat oder ob es Zufall war,

weiss ich nicht, aber er ist entkommen. Zurück auf dem Eis steigen die

Jäger aus den Booten und trotten gemächlich zurück zum Camp, um auf

die nächste Gelegenheit zu warten. Das ist die neue Herausforderung.

Warten, sich in Geduld üben, das ist das, was einen Jäger auszeichnet.

Bei allen anderen Jagden, die ich in der Thule-Region bisher erlebt habe,

bedeutete Warten aber auch herumreisen und suchen. Immer blieb man

in Bewegung. Aber auf dieser Jagd kommt sogar die Bewegung zum totalen

Stillstand. Man kann sich das in etwa so vorstellen: Man nimmt einen

Stuhl, setzt sich drauf und schaut. Und es passiert ... nichts. Stundenlang.

Tagelang. Volle fünf Tage sassen wir so an der Eiskante und warteten.

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Nicht ein einziger Wal tauchte auf. Was mich an dieser Erfahrung am

meisten beeindruckt, war die Gelassenheit – von allen, selbst von mir.

Es ist, als schalte man um in einen anderen Modus. Die Zeit verliert an

Bedeutung. Am vierten Tag setzte ich mich um 9 Uhr auf die Kufe des

Hundeschlittens und schaute hinaus aufs Meer. Ab und zu trank ich einen

Kaffee bei den Nachbarn und ass ein Stück Narwal- oder Robbenfleisch.

Mehr passierte nicht. Als ich wieder auf die Uhr schaute, war

ich sicher, seit höchstens zwei Stunden auf den Beinen zu sein. Weit

gefehlt. Es war 15 Uhr, und die Zeit schien sich in Luft aufgelöst zu haben.

Hinzu kam, dass die Tage kein Ende nahmen. Immer war es taghell,

und meistens schien die Sonne. Schlafen konnte ich höchstens zwei

Stunden am Stück. Die Kamera war immer bei mir, die Kleider blieben

angezogen – es hätte ja sein können, dass plötzlich ein Wal auftaucht.

Das hätte jederzeit passieren können – und passierte doch nicht. Als am

siebten Tag starker Wind aufkam, der das Eis erneut zur Kante trieb,

beschlossen die Jäger, nach Qaanaaq zurückzureisen. Und ich? Staune

immer wieder aufs Neue. Über dieses Leben der Jäger. Während dieser

Woche auf dem Eis waren acht Jäger dabei. Erlegt haben sie zwei Robben,

das Fleisch wurde von Hunden und Menschen schon vor Ort verzehrt.

Sie kehrten ohne Beute und, soweit ich das beurteilen kann, dennoch

zufrieden nach Qaanaaq zurück.

BACK IN TOWN

Kurz vor Qaanaaq brach plötzlich grosse Hektik aus. Alle riefen sie

durcheinander, nahmen ihre Feldstecher und suchten die Küste ab. Ihrer

Euphorie nach zu urteilen hätte es eine ganze Herde Eisbären sein müssen,

die sie gesichtet hatten. Da Eisbären aber nicht in Herden auftreten,

musste der Grund ein anderer sein. Und schliesslich erkannte auch

ich sie. Eine ganze Herde Hundeschlitten mit Kindern drauf. Die Schule

veranstaltete ein Rennen. Hundeschlittenrennen gab es in Qaanaaq immer.

Aber die Kinder und Jugendlichen auf den Schlitten machen mir

bewusst, dass ich in all den Jahren auf dem Eis dort draussen kaum

Nachwuchs zu Gesicht bekommen habe.

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36

Auch wenn das Leben in einem Dorf wie Savissivik oder in einer

Stadt wie Qaanaaq in mancher Hinsicht mit meinem Leben zu Hause

vergleichbar ist, unterscheidet es sich in wesentlichen Aspekten doch

grundlegend von allem, was ich kenne. In Savissivik wohne ich am Ende

des Dorfes. Nach dem Frühstück erledige ich in der Regel meine Einkäufe

für den Tag. Der Laden liegt am anderen Dorfende, ich muss also

erst einmal durch den ganzen Ort laufen. Nun gut, das Dorf ist in drei

Minuten durchquert, der Dorfladen ist nur wenige Quadratmeter gross,

verkauft ausschliesslich Konserven und liegt gleich neben dem Flugplatz.

Der Flugplatz ist in Wirklichkeit ein Schotterplatz, auf dem nur

Helikopter landen können. Savissivik ist ein ganz normales grönländisches

Dorf. Die nächste «Ortschaft» liegt 200 Kilometer nördlich, es ist

die für Inuit nicht zugängliche Thule Airbase. Weder in Savissivik noch

in den meisten anderen Haushalten von Qaanaaq gibt es ein Haus mit

fliessendem Wasser. Das Trinkwasser stammt von Eisblöcken, die in

den Häusern geschmolzen werden. In der Schweiz wird diskutiert, wie

wichtig es für die Entwicklung unserer Kinder ist, dass sie in ihren eigenen

Zimmern schlafen und die Betten nicht mit ihren Eltern teilen. Solche

Diskussionen sind in Thule überhaupt kein Thema, denn leisten

könnte sich das ohnehin niemand. Die Häuser werden mit Öl geheizt,

und Öl ist ein teures Importgut. Deshalb sind die Häuser klein. Meist

bestehen sie aus einem Schlafzimmer für die Familie und einem etwas

grösseren Wohnraum, in dem auch gekocht wird. Doch, es gibt sie, die

Unterschiede zu meinem Alltag in der Schweiz. Man gewöhnt sich an die

Umstände, die das Leben in der Arktis mit sich bringt. Allerdings braucht

es etwas Zeit.

Meine ersten Wochen in Qaanaaq waren holprig. Ich war in einer

Familie untergebracht, und wir konnten uns nur mit Händen und Füssen

und mit Zeichnungen verständigen. Sympathiebekundungen funktionierten

auf diese Weise bestens. Bei Essens- und anderen Gepflogenheiten

war es da schon schwieriger. Eines Tages kam ich nach Hause und

musste dringend aufs WC. Weil der Boden die meiste Zeit gefroren ist,

gibt es in der Arktis keine Abwassersysteme. Das Klo besteht somit le-


diglich aus einem Eimer. Manche dieser Eimer werden nur selten geleert.

Auch der, um den es hier geht. An diesem Tag war er jedenfalls,

nun ja, voll. Da gab’s nur eins – Augen zu und durch. Aber es kam noch

schlimmer. Während ich so auf dem Eimer sass, bemerkte ich Blut zu

meinen Füssen. Ich hob den Kopf. Vor mir hing ein riesiger Brocken

Fleisch, der gerade auftaute. Als der Fleischbrocken über dem Eimer

später am Tag weg war und es im Haus ziemlich streng roch, dämmerte

mir, was kommen würde. Etwas, das nach meinem Empfinden nach

furchterregenden 500 Kilogramm Walrossfleisch aussah, lag auf dem

Tisch und wartete darauf, verzehrt zu werden.

GRÖNLÄNDISCHER HAUPTGEWINN

Ich kann nicht behaupten, dass es die grönländische Küche ist, die

mich immer wieder in den Norden treibt. Der Hunger ist dort oben sicher

einer der besten Köche, und ausserdem gewöhnt man sich an alles.

Die erste Robbe war nicht gerade der Hit. Das erste Walross erst recht

nicht. Walrossfleisch ist noch zäher und faseriger – und schon freut man

sich wieder auf Robbenfleisch. Und inzwischen freue ich mich tatsächlich,

wenn es Robbenfleisch gibt. Am besten aber finde ich Mattaq, die

Haut der Narwale, die roh gegessen wird. Und auch das Fleisch des Narwals

schmeckt ausgezeichnet. Meistens wird es in Wasser und Blut gekocht.

Auf dem Eis oder bei Festen im Dorf wird es manchmal auch roh

verspeist. In den meisten Haushalten setzt man sich nicht zusammen an

den Tisch, um zu essen. Jede/r isst, wenn er oder sie Hunger und Zeit

dazu hat. Im Wohnraum wird aber regelmässig gemeinsam Kaffee getrunken

und gespielt. Meist spielt man Bingo oder «Olsen», ein Kartenspiel.

Ein solches Kartenspiel hat mir vor vielen Jahren in Savissivik

einen grossen Sieg beschert. Das kam so: Als ich zu meinen morgendlichen

Erledigungen aufbrach, sah ich, dass vor Magnus Eliassens Haus

die Grönlandflagge hing – jemand hatte Geburtstag. Im Laden lag auch

schon das Geschenkpapier auf dem Tresen – Carl, Magnus’ Sohn, feierte

seinen elften Geburtstag. Ich stattete der Familie einen Besuch ab, wir

tranken Kaffee, und Carl spielte auf seiner Gitarre. Danach spielten wir

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«Olsen», und siehe da, ich gewann in meiner Gruppe. Spät am Abend

wurde ich abermals zu Eliassens beordert. Man erklärte mir, dass nun

alle Gruppensieger gemeinsam im grossen Finale spielten. Da die meisten

Teilnehmer schon etwas angetrunken waren, gewann ich auch dieses.

Magnus überreicht mir meine Siegerprämie: ein Gummiband, ein

Bettüberzug, eine Kerze und 30 Dänische Kronen. Dann zeigt er feierlich

aus dem Fenster. Draussen sehe ich aber nur das Fell eines kürzlich erlegten

Eisbären. Alle lachen. Sie meinen es ernst. So wurde ich stolzer

Besitzer eines echten Eisbärenfells. Auf dem Rückflug nach Qaanaaq

hatte mein Gepäck Übergewicht. Das Fell war noch voller Fett und wog

vermutlich mehr als 50 Kilo. Air Greenland gestattet aber nur 20 Kilo.

Der Flughafenverwalter Odaq, der zugleich auch Manager des Ladens,

der Post und der Bank war und ausserdem einer der Finalisten des «Olsen»-Spiels,

legte das Fell auf die Waage. Diese reichte aber nur bis 20

Kilo. Odaq schmunzelte und bestätigte die 20 Kilo. Das Fell liess ich in

Qaanaaq zurück, wo Hosen und Kamiks daraus angefertigt wurden. Die

Hosen trage ich immer, wenn ich in Qaanaaq aufs Eis gehe. Die Kamiks

stehen heute im Nordamerika Native Museum in Zürich.

SCHATTENSEITEN

Nicht alle Besuche bei den Familien sind heiter. Wenn Alkohol ins

Spiel kommt, kann es schnell ungemütlich werden. Väter und Mütter

trinken, bis sie nicht mehr wissen, was sie tun. Die Kinder beobachten

die Erwachsenen sehr genau und schauen ihnen in die Augen, bevor sie

sich ihnen nähern. Vor einigen Jahren kam es zu einer Tragödie, wie sie

in Grönland allzu oft vorkommt. Mein Freund Simon Eliassen kam zurück

von einer erfolgreichen Jagd. Er und seine Frau Bolethe feierten

eine Party, es wurde getrunken. Was genau geschah, ist unklar, und wie

üblich gibt es verschiedene Versionen. Tatsache ist, dass eine betrunkene

Frau ihren ebenfalls betrunkenen Mann tötete. Eine Familie mit

jungen Kindern und Enkelkindern wurde auseinandergerissen. Die Kinder

wurden auf andere Familien verteilt oder kamen nach Qaanaaq auf

die Schule. Die Mutter kam für mehrere Jahre ins offene Gefängnis in

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Ilulissat. Simon wurde in Savissivik beerdigt. Bolethe lebt heute in Qaanaaq

und arbeitet im Supermarkt. Die Kinder sind inzwischen selber Eltern

oder besuchen eine Schule weit weg von Qaanaaq. Kronprinz Frederik

von Dänemark gründete schon vor Jahren einen Jugendclub in

Qaanaaq, damit die Kinder und Jugendlichen einen Ort haben, wo sie

sich treffen können. Vor allem, wenn es zu Hause unerträglich wird. Am

Abend bin ich in diesem Jugendclub mit Abel zum Billardspielen verabredet.

Abel ist Hans Jensens Enkelsohn. Als ich ankomme, gibt es gerade

einen Vortrag über die Gefahren im Umgang mit Alkohol und Drogen.

Seit Jahren versucht die Regierung das Problem, das ganz Grönland betrifft,

in den Griff zu bekommen. Aber das Leben in Qaanaaq bietet keine

Perspektiven mehr. Früher lebte man dort, um Jäger zu sein, doch diese

Zeiten sind vorbei. In Qaanaaq beträgt die Jugendarbeitslosigkeit mehr

als 80 Prozent. Es ist eine grosse Herausforderung für eine Gesellschaft,

die am finanziellen Tropf Dänemarks hängt. Entweder man bezieht dänisches

Arbeitslosengeld, oder man verdient sein Geld mit Arbeit, die ebenfalls

von den Dänen finanziert wird. Wozu also aufstehen und arbeiten

gehen? 2010 habe ich Jäger um Interviews zum Thema Klimawandel gebeten.

Natürlich wollte ich auch mit jungen Jägern sprechen. Aber in der

ganzen Stadt gab es zu diesem Zeitpunkt keinen einzigen. Die Jagd bietet

den Jungen keine Perspektiven mehr, und Alternativen gibt es hier kaum.

Ein Junge kommt auf mich zu und fragt, ob ich ihn noch kenne. Leider

muss ich verneinen. Kaum zu glauben, es ist Carl! Carl ist inzwischen

22 Jahre alt und lebt jetzt in Qaanaaq. Die Wiedersehensfreude ist gross.

Die jungen Leute im Club erzählen alle dieselbe Geschichte. Einen Job

haben sie hier nicht. Alle warten auf einen Ausbildungsplatz im Süden

des Landes. Tagsüber hängen sie zu Hause rum, abends kommen sie in

den Club. Jäger will keiner mehr werden. Wozu auch, wenn man kein

Geld damit verdienen kann? Vielleicht werden sie eines Tages Fischer.

Mit der Fischerei liesse sich auch in Qaanaaq ein Auskommen verdienen.

Aber der Beruf ist hart, denn hier wird vor allem an Eislöchern

gefischt. Die Arbeit ist anstrengend und aufwendig. Mit den Hundegespannen

fährt man in den Fjord. Leinen, die mehrere Hundert Meter


lang sind, werden mit Ködern bestückt und in ein Eisloch gelassen.

Stunden später wird der Fang eingezogen und auf den Hundeschlitten

gepackt. Das ist nicht jedermanns Sache. Toku, die einzige Berufsjägerin

Grönlands, ist zugleich auch Berufsfischerin. Sie hat den Eindruck,

die Jäger wollten nicht fischen gehen, weil die Fischerei in ihren Augen

nichts Rechtes ist. Ich verstehe die Jäger sehr gut. Wen das Gefühl der

Freiheit und die Abenteuer des Lebens auf dem Eis ein Leben lang begleitet

haben, der stellt nicht leichten Herzens um. Aber es geht um

mehr als um romantische Gefühle oder die Berufsehre. In einer Kultur,

in der sämtliche Vorfahren bis hin zum eigenen Vater Jäger waren, kann

man nicht einfach den Job wechseln. Denn bei diesem Job geht es um

weitaus mehr als das, was wir Job nennen. Es geht um Identität, um das

Fortbestehen der eigenen Kultur oder um ihr Ende.

DIE LETZTEN JÄGER VON THULE

Kulturen befinden sich stets im Wandel. Auch die Thule-Kultur.

Schon in den 1970er-Jahren titelten Grönland-Reportagen «The last

Hunters of Thule», «Die letzten Jäger von Thule». Auch meine Reportagen

wurden von den Magazinen so betitelt. Für die Inuit ist es längst zu

einem Running Gag geworden. Immer wenn ich nach Grönland komme,

will Hans Jensen wissen, für wen ich nun wieder die letzten Jäger aus

Thule fotografiere. Die aber wollen einfach nicht aussterben. Inzwischen

machen sich aber sogar Hans und Gedion Sorgen um ihre Kultur.

Denn wenn die Jungen nicht mehr Jäger werden wollen, geht das Herzstück

einer grossartigen Kultur langsam, aber unaufhaltsam verloren.

Dennoch kann man es ihnen nicht verübeln. Wer wäre schon bereit, sein

Leben einer Aufgabe wie dieser zu widmen, mit all ihren Risiken und

Gefahren, wenn man nicht davon leben kann? Würden die Fangquoten

und Exportverbote für die Inuit aufgehoben, sähe es vermutlich anders

aus. Dann nämlich wäre das Auskommen der Jäger gesichert, und damit

auch das Überleben einer jahrtausendealten Kultur. In den Magazinen

könnte man dann vielleicht noch jahrzehnte-, wenn nicht jahrhundertelang

von den «letzten Jägern von Thule» lesen – imaqa.

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NACHTRAG

Mich selbst zieht das Leben der Polar-Inuit seit nunmehr achtzehn

Jahren in seinen Bann. So weit entfernt es auch sein mag, es hat doch

auch viel mit meiner eigenen Welt zu tun und mit der Gesellschaft, in

der ich lebe. In der Schweiz ist nachhaltige Ernährung gerade voll im

Trend. Aber wie nachhaltig kann diese Ernährung tatsächlich sein, solange

krumme Rüben und Gurken, Äpfel, die nicht der Norm entsprechen,

und ausgediente Legehennen in den Biogasanlagen unseres Landes

verheizt und in Strom umgewandelt werden? Auch der Begriff der

«artgerechten Nutztierhaltung» ist ein Widerspruch in sich. Kann Nutztierhaltung

artgerecht sein? Wirklich artgerecht ist das Leben einer

grönländischen Robbe, auch wenn sie eines Tages an ihrem Atemloch

erlegt wird. Und nachhaltige Ernährung ist es obendrein. Alles wird

verwertet und gerecht verteilt, Menschen und Tiere profitieren davon.

Gejagt wird nur, was auch gegessen werden kann. Wer wie ich das Leben

der Polar-Inuit miterlebt hat, kann weder die ihnen auferlegten

Quoten noch die Exportverbote für fast alle grönländischen Produkte

nachvollziehen. Es scheint, als schützten wir die Tiere in der Arktis, um

uns zu profilieren – und weil wir dabei auf nichts verzichten müssen.

Wie sonst ist das Entsetzen über das Schlachten von Robbenbabys zu

erklären, während hierzulande Kuhbabys massenweise zu Kalbsbratwürsten

verarbeitet werden dürfen? Dabei sind manche Tiere, wie etwa

Robben, gar nicht vom Aussterben bedroht, und Jungtiere werden ohnehin

nicht gejagt. Für andere Tiere mag die Bedrohung real sein, aber

nicht wegen der traditionellen Jagd der Inuit-Jäger. Wenn sie tatsächlich

bedroht sind, dann wegen des von den Industrienationen zu verantwortenden

Klimawandels und der Gier nach Rohstoffen mit all ihren Folgen

für das gesamte Ökosystem der Arktis.

42



Vanishing

Thule

FOTOGRAFIEN


45
































Vanishing

Thule

PORTRÄTS


Sie leben im Thule-Distrikt, hoch oben im Norden

Grönlands. Sie sind zwischen 40 und 90 Jahre alt

und haben eines gemeinsam – sie sind die vielleicht

letzten Jäger von Thule.

Die Jagd ist in Grönland eigentlich Männersache. Toku Oshima interessiert

das nicht, und auch die anderen Jäger, mit denen sie auf die

Jagd geht, kümmern sich nicht darum. Toku weiss sich in Männerwelten

zu behaupten. Und sie weiss, dass es inzwischen so wenige Jäger gibt,

dass man um jede und jeden froh ist, der oder die sich noch für diesen

Beruf entscheidet. Für die Polar-Inuit im Norden Grönlands haben sich

unter dem Einfluss der dänischen Kolonialregierung die Traditionen

schon lange verändert. Die Jagd aber, die für das Überleben in der Arktis

seit je unabdingbar ist, ist bis heute erhalten geblieben. Nun aber

gefährden Klimawandel, Fangquoten und Exportverbote die Existenzen

der Jäger und die Zukunft der traditionellen Kultur mehr als je zuvor.

2010 hat Markus Bühler-Rasom mit fünf Jägern und der einzigen Jägerin

Grönlands gesprochen. Er hat sie nach ihren Erfahrungen auf dem

Eis und nach den einschneidenden Veränderungen gefragt. Ihre Geschichten

wurden dokumentiert, übersetzt und zur besseren Verständlichkeit

mit Informationen ergänzt.

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80

Lars Jeremiassen (*1948)


UNWISSEN DER WISSENSCHAFT

Lars Jeremiassen wurde Jäger, nachdem er die Schule beendet

hatte. Heute ist er 67 Jahre alt und immer noch Jäger. Bis 2008 war er

ausserdem Bürgermeister von Qaanaaq und politisch aktiv. Lars lebt

seit 1968 im Thule-Bezirk. Er kennt die Region wie seine Westentasche,

denn hier jagt er seit bald einem halben Jahrhundert. 1988 zog er mit

seiner Frau Susanne und den vier Kindern von Savissivik in die Stadt.

Nicht dass er freiwillig gegangen wäre, aber ein Jagdunfall, der ihn fast

ruiniert hätte, liess ihm keine andere Wahl. Es geschah draussen auf

dem Eis, mitten in der Nacht. Die Hunde waren festgebunden, als das

Eis plötzlich auseinanderbrach und sich eine riesige Platte aus dem

Wasser emporschob. Sie stürzte herab und begrub die Hunde unter sich.

Kein einziger überlebte. Ohne Hunde kann in Grönland aber auch der

Jäger nicht überleben.

In den 1960er-Jahren limitierte die Kommune Qaanaaq die Jagd

noch selbst. Quoten wie die von Greenland Home Rule, der grönländischen

Regierung, definierten gab es damals noch nicht. Sie waren auch

nicht nötig, denn die Polar-Inuit wussten, wann sie wie viel jagen durften.

Die Beschränkungen galten saisonal und waren im selbst definierten

Thule Law festgehalten. Vor allem Eisbären und Narwale durften

nur zu bestimmten Zeiten gejagt werden. Damals kam das Eis schon Anfang

Oktober. Noch vor dem Beginn der Polarnacht konnte man mit dem

Schlitten aufs Meer fahren. Das war Ende Oktober, und die Sonne stand

noch am Himmel. Jetzt ist das frühestens im Januar möglich. Licht gibt

es dann keins mehr. Früher brach das Eis erst Ende Juli wieder auf, und

heute wird es schon Anfang Juni unsicher. Die Zeit, in der das Eis sicher

ist, hat sich um volle vier Monate verkürzt. Vor 25 Jahren war das Eis

noch eine Armlänge dicker, als er gross ist, sagt Lars. Also fast zwei

Meter dick. Heute reicht es ihm gerade noch bis zu den Knien. Wenn sie

früher eisfischen gingen, mussten sie eine Treppe ins Eis schlagen, damit

sie die Leinen unter Wasser gleiten lassen und das Eisloch immer

wieder freischaufeln konnten. Damals musste man zusammenarbeiten,

denn es war anstrengend, in der Kälte ein mannshohes Loch ins Eis zu

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schlagen. Heute kann das jeder selber. Die Arbeit ist kaum noch anstrengend,

sagt Lars und lacht: Das ist eine der angenehmen Seiten des

Klimawandels. Aber der hat natürlich auch andere Seiten. Die Tiere

bereiten ihm Sorgen, zum Beispiel die Robben. Normalerweise bringen

sie ihre Jungen in den Höhlen des Packeises zur Welt, wo sie vor Wind

und Wetter und auch vor den Eisbären geschützt sind. Aber jetzt ist

das Eis so dünn, dass die Jungen manchmal durchbrechen, ins Wasser

rutschen und ertrinken. Lars hat beobachtet, dass die Weibchen ihre

Jungen sogar auf dem offenen Eis zur Welt bringen. Aber das ist der

sichere Tod, denn wenn sie nicht erfrieren, dann spüren die Bären sie

auf. Auf der ungeschützten Eisfläche sind junge Robben selbst für Raben

und Füchse eine leichte Beute. Und die Bären? Wie steht es um die

Eisbären, um die sich alle Welt Sorgen macht? Die Zählungen der Biologen

sind nutzlos, sagt Lars. Sie zählen nur in den von Menschen bewohnten

Gebieten, aber Eisbären legen grosse Distanzen zurück. Sie

wandern sogar zwischen Grönland und Kanada hin und her. Die Biologen

zählen auch nicht im Gebiet des grossen Nationalparks im Nordosten

Grönlands. Wie wollen sie da wissen, wie viele Bären es wirklich

gibt? Die Eisbären werden sich anpassen, da ist sich Lars sicher. Sie

ziehen sich in die Fjorde zurück, genau wie die Robben. Dort wird es

früher kalt, und das Eis ist dicker. Wohin die Tiere ziehen, spielt im

Grunde keine Rolle. Er wird ihnen folgen, denn er braucht ihre Felle

und ihr Fleisch, um warme Kleidung herzustellen und als Nahrung für

seine Familie und seine Tiere.

Von den Biologen hält Lars wirklich nicht viel. Nicht nur, dass ihre

Zahlen unzuverlässig sind. Sie behaupten auch, Walrosse brächten nur

jedes dritte Jahr Junge zur Welt. Dabei hat er schon Kühe mit drei Jungen

gesehen, die alle unterschiedlich alt waren. Also müssen sie auch

jedes Jahr trächtig sein können. Lars würde sich wünschen, dass Biologen

und Wissenschaftler die Menschen vor Ort mehr in ihre Arbeit einbeziehen.

Schliesslich sind sie es, die tagtäglich mit den Tieren leben

und ihre Gewohnheiten sehr genau kennen. Aber nicht nur die Wissenschaftler

und ihre eigenwilligen Behauptungen stören ihn. Da ist noch


etwas anderes. Grönland will unabhängig werden – und zwar um jeden

Preis. Und den zahlen vor allem die Polar-Inuit. Europa und der Rest der

Welt üben wegen der Klimaerwärmung enormen Druck auf die grönländische

Regierung aus, sagt Lars. Und um gut Wetter zu machen, hat

Grönland vor einigen Jahren die Jagd stark limitiert. Und diese restriktiven

Quoten gelten auch für die traditionellen Jägerkulturen, obwohl

die Tiere ganz sicher nicht wegen der Inuit aussterben. Aber das interessiert

weder den Rest der Welt noch die eigene Regierung. Und so legt

man in Grönlands Hauptstadt Nuuk diese Quoten fest, die die Existenz

der Inuit-Jäger gefährden und die sie als willkürlich empfinden. Von den

rund siebzig Vollzeitjägern im Thule-Distrikt kann kaum noch einer von

der Jagd allein leben. Fast immer müssen die Frauen zusätzliches Geld

verdienen, damit die Rechnungen bezahlt werden können.

Er begreift es nicht, sagt Lars. Wenn er im lokalen Supermarkt in die

Tiefkühlregale schaut, findet er da Poulets, Kühe und Schweine aus allen

möglichen Ländern. Tiere, die niemals frei waren, die in Ställen und

Schlachthöfen darauf gewartet haben, geschlachtet zu werden. Dieses

Fleisch darf nach Grönland importiert werden. Wieso dürfen Tiere, die

bis zuletzt frei in Grönland gelebt haben, nicht nach Europa exportiert

werden? Draussen fegt ein Sturm. Heute schützt hier oben ja sogar das

Wetter die Tiere. Die Jäger bleiben zu Hause und versuchen einem Zürcher

Fotografen klarzumachen, warum die Sache mit den Quoten hier

oben die Falschen trifft. Für die Jäger wird es immer schwieriger, eine

Familie zu ernähren. Die Quoten sind das eine. Das andere sind die Exportverbote,

die verhindern, dass Seehundfelle und andere Jagdprodukte

ins Ausland exportiert werden. In den 1970er-Jahren bekam Lars

für ein Robbenfell noch 500 Dänische Kronen, das waren umgerechnet

290 Franken. Heute sind es nur noch knapp 200 Kronen oder 28 Franken,

und auch die bekommt er nur dank staatlicher Subventionen. Eisbärfelle

kann er aber noch nicht einmal mehr an den Staat verkaufen.

Sie dürfen nur noch für den Eigengebrauch verwendet werden. In den

1970ern verdiente er mit einem solchen Fell noch 20 000 Kronen oder

11 500 Franken.

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Selbst als die Jagd noch nicht reglementiert war und ein Jäger noch

gutes Geld für seine Felle bekam, selbst da haben die Inuit nicht mehr

gejagt als nötig. Warum also jetzt diese Angst vor Überjagung? Lars hält

den Klimawandel für einen Vorwand der grönländischen Regierung, um

den Jägern in Thule das Leben zu verunmöglichen. Der gute Draht zu

Europa ist der Regierung wichtiger als die Thule-Kultur. Das Klima hat

sich auch früher schon verändert, sagt Lars, und die Alten haben ähnliche

Situationen erlebt. Damals, noch bevor er geboren wurde, war es in

der Melville-Bucht wärmer als heute – es gab dort Moschusochsen und

Rentiere. Heute gibt es vor allem Robben und Bären. Lars hofft, dass es

eines Tages wieder so kalt wird, wie er es von früher her kennt. Sein

Vater erlebte noch das nomadische Leben und zog mit seiner Familie

umher. Er selber hat das nicht mehr erlebt, aber er ist noch Jäger geworden.

Seinem Sohn musste er davon abraten, aber es schmerzt ihn

sehr, dass dem Jungen dieses Leben nicht mehr vergönnt ist. Lars fürchtet,

dass das freie Leben der Polar-Inuit bald der Vergangenheit angehören

könnte. Wenn es so weitergeht, ist es die eigene Regierung, die die

Thule-Kultur zu Fall bringt.


IMMER UND AUF ALLES VORBEREITET

Schon als er kleiner Junge wusste Gedion Kristiansen, was er

werden wollte. Als er 15 Jahre alt war, schenkte ihm sein Vater sein

erstes Hundegespann – seither ist auch er Jäger. Aber inzwischen hat

er Grund zu klagen. Früher konnten sie so viel jagen, wie sie brauchten.

Heute legt die grönländische Behörde Quoten für Walrosse, Moschusochsen,

Eisbären und Narwale fest. Nur für Robben gibt es keine –

aber wer weiss, wie lange noch. Ein Auskommen als Jäger gibt es kaum

noch. Für seine Beute bekommt er immer weniger Geld, und die Sachen

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Gedion Kristiansen (*1968)


im Supermarkt werden immer teurer. Seit Ende der 90er-Jahre geht

das jetzt so. Die Biologen behaupten, es gebe zu wenig Tiere. Er war

mal mit dabei und half ihnen bei der Zählung von Narwalen. Danach

hat er nie mehr etwas von ihnen gehört. Sie kommen nur im Frühling,

sagt Gedion. Dabei bleiben die Narwale oft über Winter – wie wollen

sie da die Zahlen bestimmen. Die Home-Rule-Quoten basieren aber auf

den Untersuchungen der Biologen. Warum fragt die Regierung niemanden

aus der Region? Gedion ist sicher, dass es genügend Tiere gibt.

Trotz der Quoten wird er Jäger bleiben. Und sei es nur für den Eigengebrauch.

Sein Sohn Rasmus wird jedoch eine andere berufliche Laufbahn

einschlagen. Für die Jäger werden die Bedingungen zurzeit nicht besser.

Früher, als das Eis noch im Oktober zurückkam, fror das Meer zu und

taute erst Ende Juli wieder auf. Heute kommt es im November und

bricht noch dreimal wieder auf, ehe es ganz zufriert. Oft bricht es aber

schon im Juni wieder auf und bleibt dann offen. Als Jäger muss man das

Wetter und das Eis gut deuten können. Aber genau das wird immer

schwieriger.

2003 zog Gedion mit seinem älteren Bruder Mikili und ihren Hundegespannen

zur Eiskante. Es war Ende Mai oder Anfang Juni. Die Hundegespanne

waren mit den Kajaks beladen. Wie üblich übernachteten sie

in ihren Zelten weit weg von der Kante auf dem dickeren Eis. Doch

selbst hier war es nicht sicher genug. In der Nacht brach das Eis, und

der Wind trieb sie aufs Meer hinaus. Glücklicherweise hatten sie ihre

Kajaks dabei, und es gelang es ihnen, trotz ablandigen Windes, zurück

zur Eiskante zu paddeln. Sie fanden ein kleines Ruderboot, mit dem sie

ihre Ausrüstung und die Hunde von der Scholle holen und zurück zum

sicheren Eis bringen konnten. Die Hundeschlitten zogen sie an langen

Seilen hinter dem Boot her. Seither haben sie kleine Ruderboote dabei,

wenn sie auf die Jagd gehen. Das Eis ist so dünn geworden, dass es oft

auch ohne den Wind aufbricht. Das Leben der Jäger ist noch gefährlicher

geworden, als es ohnehin schon war. Das dünne Eis erschwert die

Jagd erheblich. Wenn sie ein Tier verfolgen, wissen sie nie mit Sicherheit,

ob es hält. Immer müssen sie auf alles vorbereitet sein.

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Toku Oshima (*1975)


GRÖNLANDS EINZIGE JÄGERIN

Toku Oshima ist 40 Jahre alt und von Beruf Jägerin. Ihre Mutter

ist Grönländerin, ihr Vater Japaner. Als Iko Oshima nach Grönland

kam, arbeitete er für ein Museum in Japan. Er sollte Hundeschlitten und

Jagdgegenstände kaufen. In Siorapaluk lernte Iko seine zukünftige Frau

kennen, aber noch konnte er nicht bleiben. Er musste seinen Auftrag

erledigen, aber er versprach wiederzukommen. 1974 liess sich Iko in Siorapaluk

nieder, heiratete, wurde Jäger und schliesslich Vater von vier

Mädchen und einem Sohn. 1975 wurde seine Tochter Toku geboren. Als

Toku klein war, begleitete sie ihren Vater einmal nach Japan. Doch das

war nicht ihre Welt: viel zu viele Menschen und entschieden zu viel

Hektik für eine Grönländerin. Weitaus mehr entsprach ihr da die Jagd

in ihrer arktischen Heimat. Sie lernte von ihrem Vater und von der Gemeinschaft

in Siorapaluk. Als sie 12 war, erlegte sie ihre erste Robbe,

seit 2005 ist sie hauptberuflich Jägerin. Toku Oshima ist die einzige Jägerin

Grönlands. Bevor sie sich ganz der Jagd verschrieb, absolvierte

Toku in Ostgrönland eine Ausbildung als Elektrikerin. So lernte sie ihren

Mann kennen, der aus Dänemark kommt. Ob als Kind, als Elektrikerin

oder als Jägerin, im Grunde ist Toku schon immer in einer Männerwelt

zu Hause gewesen. Als sie 1999 nach Qaanaaq zurückkehrte und

mit dem Jagen begann, fanden das vor allem die Frauen sonderbar. Aber

Toku war an den Umgang mit Männern gewöhnt, und so gab es kaum

Probleme. Die Jäger haben sie immer akzeptiert, sagt sie. Wegen des

Klimawandels und des unsicheren Eises und nicht zuletzt auch wegen

des wechselhaften Wetters gehen die Jäger immer zu zweit auf die Jagd.

Schon deshalb wurde sie von Anfang an gefragt, ob sie mitkomme, weil

die Jäger oft niemand anderen fanden.

Einen Eisbären hat sie noch nie geschossen, sonst aber alle Tiere.

Aber letzte Nacht wurde sie im Traum von einem verfolgt. Das war sehr

beängstigend, sagt sie lachend. Natürlich war sie schon dabei, als ein

Bär geschossen wurde. Aber sie war nur die Dritte in der Reihe. Das Fell

wird nach genau definierten Regeln geteilt. Sie bekam den hinteren Teil

und konnte sich davon neue Hosen anfertigen. Sie selber bedankt sich

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nicht bei den Tieren, wenn sie sie erlegt hat. Aber ja, die Jäger hier tun

das sonst. Sie bedanke sich beim Wetter, denn das Wetter ist eine grosse

Herausforderung. Am Tag zuvor waren sie bei sehr schlechtem Wetter

draussen und erlegten dennoch drei Robben.

Toku kann von der Jagd leben. Das Fleisch verwertet sie für die Familie

und die Hunde. Aus den Fellen macht sie selber Produkte. Taschen,

Kamiks usw. Meist verarbeitet sie das Leder, denn da sieht man nicht,

dass es Seehundfell ist. Das kann ja neuerdings nicht mehr exportiert

werden. Die Leute, die nach Siorapaluk kommen, kaufen ihre Sachen,

egal ob sie aus Grönland oder aus dem Ausland kommen. Toku macht

alles selber. Manchmal kauft sie auch Felle von anderen Jägern dazu.

Es ist sehr viel und sehr harte Arbeit. Eigentlich geht sie am liebsten

fischen, draussen auf dem Eis. Die Jäger mögen das weniger. Sie gehen

lieber auf die Jagd – das ist natürlich abenteuerlicher. Wenn wir fischen,

können wir uns nicht mehr Jäger nennen, argumentieren sie. Dabei

kann man als Fischer sehr gut Geld verdienen. Obwohl die Jäger sehen,

dass es wegen des Klimawandels und der Quoten schwierig geworden

ist mit der Jagd, und obwohl sie ihre Fische der lokalen Fabrik Arctic

Greenfood verkaufen könnten, bleiben sie Jäger. Das Geld müssen die

Frauen nach Hause bringen.

Für die Jäger wird es immer schwieriger. Gerade noch fünf sind

jünger als Toku mit ihren inzwischen 40 Jahren. Die Europäer wollen

das Jagen verbieten, aus Angst, dass die Tiere aussterben. Dabei gibt es

so viele. Noch vor zehn Jahren konnten die Inuit jagen, so viel sie wollten.

Nun heisst es, sie hätten die Tiere fast ausgerottet. Das ist absoluter

Blödsinn, sagt Toku. Sie würden niemals ihre Gründe überjagen.

Sollen sie etwa auch damit anfangen, Tiere in Gefangenschaft zu halten,

um sie dann zu schlachten? In Grönland kann man auch keine Kartoffeln

und kein Gemüse anbauen. Es gibt nur die Tiere. Die Ignoranz

macht Toku wütend. Und der Druck auf die Jäger wird noch weiter zunehmen.

Die Felle und das Fleisch aber brauchen sie – für ihre Kleider

und als Nahrung. Toku ist überzeugt, dass der Klimawandel zu politischen

Zwecken missbraucht wird. Veränderungen hat es immer gege-


ben. Vor Millionen von Jahren gab es Dinosaurier, die gibt es heute

nicht mehr. Vielleicht gibt es irgendwann einmal keine Menschen mehr,

vielleicht auch keine Robben.

Heute verlassen viele junge Leute ihre Gemeinschaft, um zuerst einen

Beruf zu erlernen. Aber wenn sie zurückehren, werden sie hoffentlich

Jäger oder zumindest Teilzeitjäger. Denn wer einmal hier gelebt

hat, der kann auf das freie Leben als Jäger in dieser wunderbaren Landschaft

nicht mehr verzichten. Kein Leben ist so frei wie das der Jäger.

Wie Toku hat auch ihr Bruder zuerst einen Beruf erlernt und wurde

dann Jäger. Wenn man in diesem Umfeld aufwächst, dann ist dieses Leben

in dir, sagt Toku. Sie fühlt sich frei – niemand sagt ihr, wann sie wo

zu erscheinen und was sie zu tun hat. Wenn sie mit ihren Hunden draussen

jagt, in dieser Stille, fühlt sie sich glücklich. Toku wird trotz aller

Restriktionen immer als Jägerin draussen in der Natur sein.

Viele junge Frauen wollen jetzt Elektrikerinnen werden, wie Toku.

Toku aber versucht ihnen klarzumachen, dass das nur funktioniert,

wenn sie es wirklich wollen. Bis jetzt hat es noch keine geschafft. Und

mit der Jagd ist es dasselbe. Einige haben es versucht, aber sie hatten

keine richtige Beziehung zu den Hunden. Toku ist mit Hunden aufgewachsen,

sie betrachtet sie als ihre Kinder.

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Magssanguaq Jensen (*1925)


EINE FRAGE DES ÜBERLEBENS

Magssanguaq Jensen wurde 1925 in Qeqertaq bei Savissivik geboren.

Mit seinen Eltern und Geschwistern zog er nach Upernavik, wo

er mit 14 Jahren konfirmiert wurde. Dann wurde er Jäger – und blieb es

sein Leben lang. Heute ist er 90 Jahre alt – zu alt für die Jagd, vor allem

für die auf Narwale, die seine Spezialität gewesen war. Natürlich war

auch Magssanguaqs Vater Jäger, und er kannte Robert Peary, den amerikanischen

Polarforscher, der jahrelang von Thule aus seine ambitionierten

Nordpolpläne verfolgte und schliesslich auch behauptete, er

habe den Pol als Erster erreicht.

Magssanguaq erlebte eines der tragischsten Kapitel der grönländischen

Geschichte – die Zwangsumsiedlung der Inuit-Bevölkerung von

Pituffik und Uummannaq nach Qaanaaq, die die Errichtung der Thule

Airbase mit sich brachte. 1950 hatten die USA ein Abkommen mit Dänemark

geschlossen, das es ihnen erlaubte, im strategisch interessanten

grönländischen Norden einen Luftwaffenstützpunkt zu errichten. Als

Gegenleistung sicherten die USA Schutz und militärische Unterstützung

gegen allfällige zukünftige Diktatoren zu. So begannen die USA

1951 im Einvernehmen mit Dänemark mit dem Bau der Thule Airbase –

dort, wo Knud Rasmussen 1910 die Handelsstation Thule gegründet

hatte und seither Inuit sesshaft geworden waren. Die Inuit-Bevölkerung

wurde nicht über die Pläne informiert. Magssanguaq war 27 Jahre alt

und hatte seine eigene Familie, als der Luftwaffenstützpunkt fertiggestellt

wurde. Im Mai 1953 erhielten er und seine Frau sowie alle anderen

Bewohner von Uummannaq und Pituffik die Nachricht, dass sie innerhalb

von drei Tagen ihr Hab und Gut zusammenpacken und mit ihren

Kindern ins 130 Kilometer entfernte Qaanaaq umsiedeln mussten. Dort

würden sie neue, fertig eingerichtete Häuser vorfinden, versicherte man

ihnen. Inuit sind duldsame Menschen. Und vermutlich wussten sie auch,

dass es sinnlos sein würde, Widerstand zu leisten. Vielleicht waren es

auch die gravierenden Veränderungen, die bereits stattgefunden hatten,

und die unmittelbare Nachbarschaft des Luftwaffenstützpunkts, die

sie davon ab hielten, sich den Anordnungen zu widersetzen. Sie waren

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schockiert, aber sie packten ihre Habseligkeiten auf ihre Hundeschlitten,

liessen ihre Siedlungen zurück und traten die lange Reise übers Eis

an – in der Hoffnung, in Qaanaaq ein neues Zuhause vorzufinden. Als

sie jedoch zwei beschwerliche Wochen später dort eintrafen, fanden

sie keine Häuser, sondern lediglich Zelte vor. Noch war es so kalt, dass

das Schiff mit dem Baumaterial noch nicht durchs Eis hindurchgekommen

war. Die versprochenen Häuser wurden erst sechs Monate später

fertiggestellt – im November, als das Meer bereits wieder zugefroren

und die Polarnacht hereingebrochen war. Es ist ein Fall, der die Gerichte

bis heute beschäftigt.

Magssanguaq Jensen zog nicht sofort nach Qaanaaq. Mit seiner

Frau und seinem Sohn ging er zunächst nach Herbert Island, wo nur

eine Handvoll Menschen lebten. Eines Nachts aber tobte ein so heftiger

Sturm, dass die Familie fürchtete, ihr Haus könne über ihnen zusammenstürzen,

und sie beschlossen, bei den Nachbarn Zuflucht zu suchen.

Sie waren kaum zur Tür hinaus, als der Wind plötzlich drehte und das

Haus auch schon auf dem Kopf stand. Die Familie war gerade noch mit

dem Schrecken davongekommen. Obdachlos, wie sie nun waren, gingen

sie nach Qaanaaq, wo Magssanguaqs Mutter sie vorübergehend aufnahm.

Auch ihr ramponiertes Haus transportierten sie Stück für Stück

dorthin und bauten es wieder auf – stabiler, als es vorher gewesen war.

Seither hat es allen Stürmen getrotzt – es steht sogar heute noch dort.

Bewohnbar ist es allerdings nicht mehr.

Früher waren die Jagdgründe in Qaanaaq sehr gut, sagt Magssanguaq.

Überall fand man Robben und Narwale. Es gab auch sehr viel

mehr Vögel, aber heute ist das anders. Die vielen Boote, die die lautlosen

Kajaks ersetzen, vertreiben die Tiere mit ihrem Lärm. Und auch

das Wetter hat sich sehr verändert. Auch er erinnert sich an die Zeit,

als die Jäger mit den Hundeschlitten aufs Eis fahren konnten, als die

Sonne noch schien. Bis hinaus nach Herbert Island. Hier oben ist die

Sonne am 24. Oktober zum letzten Mal zu sehen, und sie kehrt erst am

17. Februar wieder zurück. Heute kann man aber erst im Januar aufs

Eis – mehr als drei Monate später. Natürlich können die Jäger mit ihren


Booten auch in der Dunkelheit auf See. Aber ein bisschen Restlicht

braucht man schon. Ab November kann man höchstens noch für zwei

Stunden rausfahren, um zu jagen.

Magssanguaqs neues Haus steht am Strand. Immer wieder schaut er

aufs Meer und in den Himmel. Dieses Jahr werden sie wohl noch an

Weihnachten offene See haben, sagt er und lacht. Sogar der Strand ist

noch eisfrei. Das hat es noch nie gegeben. Auf die Frage, ob er heute

noch jung und Jäger sein wollte, antwortet er: Wenn man hier lebt, muss

man zur Jagd gehen, egal, was für ein Klima herrscht. Es ist ganz einfach

eine Frage des Überlebens.

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Tateraaq Qaerngaq (*1930)


KÄMPFT NICHT GEGEN DAS WETTER AN

Bis 1950 führten die Polar-Inuit im Norden Grönlands ein weitgehend

nomadisches Leben. Sie folgten den Tieren und lebten von der

Jagd. Tateraaq Qaerngaq wurde 1930 in Siorapaluk geboren. Im Alter

von neun Jahren erlegte er seine erste Robbe, mit vierzehn wurde er

Jäger. Sesshaft wurden die Inuit erst mit der Einführung der Schulpflicht.

Ein grosses Problem war das aber nicht, sagt Tateraaq, weil die

Jäger mit ihren Hundeschlitten und den Kajaks trotzdem immer sehr

mobil waren. Die Männer gingen nun aber alleine auf die Jagd, während

die Frauen und Kinder in den Dörfern blieben. Zuvor war die ganze Familie

gemeinsam umhergezogen. Es muss um 1940 herum gewesen sein,

als Qaerngaq zusammen mit seinem Vater im Kajak aufs Meer hinausfuhr.

Sie erlegten eine Robbe und trafen auf ein Frachtschiff aus Südgrönland.

Der Kapitän sah die Robbe und kaufte sie ihnen ab. Für 5 Kronen.

Damals war das sehr viel Geld. Heute können sie die Robben gar

nicht mehr verkaufen. Weder das Fleisch noch die Felle dürfen exportiert

werden.

Heute ist alles ganz anders. Greenland Home Rule hat neue Gesetze

erlassen. Tiere dürfen nur noch mit Lizenzen gejagt werden, und die

sind sehr restriktiv. Es ist eine Entscheidung nach dänischen Massstäben,

und sie basiert auf westlichen Werten. Alles dreht sich nur noch

ums Geld, sagt Tateraaq. Von der Jagd kann man heute nicht mehr leben.

Es sind die Frauen der Jäger, die das Geld verdienen, damit sie

Strom, Heizung und andere Lebenshaltungskosten bezahlen können.

Manche sind nur noch Freizeitjäger, die für den Eigenbedarf jagen und

nicht mehr für die ganze Gemeinschaft. Überhaupt gehen viele Besonderheiten

der Thule-Kultur verloren. Am meisten Sorgen macht ihm die

Sprache. Der Einfluss des südgrönländischen Dialekts verändert sie zusehends.

Aber auch die Jagd ist in Gefahr. Im Sommer muss man vom

Kajak aus jagen. Viele Junge wissen aber gar nicht mehr, wie ein Kajak

gebaut wird, und können nicht damit umgehen. Und auch der Klimawandel

macht den Jägern und ihrer Kultur zu schaffen. Tateraaq beobachtet

den Wandel seit über zwanzig Jahren. Er selbst geht nicht mehr zur

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Jagd. Aber auch keiner seiner fünf Söhne sollte Jäger werden. Das Wetter,

sagt er, ist nicht mehr lesbar. Früher war er oft alleine im Kajak

unterwegs. Immerzu beobachtete er die Spitzen auf den Klippen. Dort

liessen sich Winde gut ablesen. Drehte der Wind, paddelte er an die

Küste, um nicht von einem plötzlich aufziehenden Sturm überrascht zu

werden. Es ist der Kampf zwischen Atuarnar und Nigeq, der da manchmal

tobt. Atuarnar, die Frau, ist der Westwind, Nigeq, der Mann, der

Südostwind. Die beiden sind ein Paar, und sie streiten sich oft. Und wenn

sie aufeinandertreffen, verheisst das für die Jäger nichts Gutes. Das ist

auch heute noch so. Nur lassen sich die Winde nicht mehr vorhersagen,

so wie früher. Heute ist es für einen Jäger viel zu gefährlich, alleine hinauszufahren.

Der Klimawandel macht ihm Angst, sagt Tateraaq. Neben

der von der eigenen Regierung auferlegten Home Rule setzen die klimatischen

Veränderungen die Polar-Inuit noch zusätzlich unter Druck. Seinen

Söhnen hat er gesagt, sie sollten nicht gegen das Wetter ankämpfen.

Sie haben keine Chance, man kann es kaum noch lesen.

Früher einmal hatte Tateraaq vor, ein Buch über die Jagd zu schreiben.

Weil es Söhne ohne Väter gibt, die die Jagd von niemandem erlernen

können. Als sie aber ein Haus bauten, sagte er zu seinen Söhnen, sie

sollten die Dinge, die nicht mehr gebraucht wurden, verbrennen. Sie

verbrannten allen möglichen Unrat – darunter war auch das Buch.


GIER LIEGT UNS NICHT IM BLUT

Argiunnguaq Qaerngaaq ist 49 Jahre alt und mit Tukummeq verheiratet.

Geboren und aufgewachsen ist er auf Herbert Island. 1989 war

er der Letzte, der mit seiner Familie nach Qaanaaq zog. Argiunnguaq ist

Jäger, aber seinen Söhnen rät er nicht mehr, Jäger zu werden. Die Quoten,

die ihnen Greenland Home Rule vorschreibt, machen ein Auskommen

als Jäger unmöglich. Es reicht nur noch für den Eigenbedarf. Argiunnguaq

macht seinem Unmut Luft. Greenland Home Rule wird von

Europa unter Druck gesetzt, damit die Jagd limitiert wird. Er kann das

nicht verstehen. Die Tiere bestimmen doch selber, wann sie hier sind

und wann nicht. Jetzt im Herbst beginnt die Zeit der Walrosse und

Belugas. Später die der Moschusochsen und Rentiere. Danach die Zeit

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Argiunnguaq Qaerngaaq (*1966)


der Polarbären und im Sommer die der Narwale. Die Tiere kommen und

gehen, je nach Jahreszeit. Und es gibt von allen genug. Schon früher, als

es noch keine Quoten gab, und noch bevor Greenpeace in den 1980er-

Jahren dafür sorgte, dass Jäger nicht mehr von der Robbenjagd leben

konnten, schon damals haben sie mit Fellen gehandelt. Aber nie haben

sie ihre Reviere überjagt. Profitdenken und Gier liegen ihnen einfach

nicht im Blut. Die Europäer wollen vor allem immer Profit machen. Bei

ihnen sei es genau das Gegenteil. Manchmal stösst er auf eine Gruppe

mit fünf Walrossen. Aber es käme ihm niemals in den Sinn, alle fünf zu

erlegen. Auch dann nicht, wenn er nur die Stosszähne verkaufen könnte.

Was würde dann mit all dem Fleisch geschehen, das er zurücklassen

müsste? Die Tiere, die sie jagen, werden mit Respekt behandelt. Sie

werden vollständig verwertet. Warum also diese Quoten? So kann die

Thule-Kultur unmöglich überleben. Wollen uns die Europäer das Jagen

verbieten, weil sie Angst haben, wir seien wie sie? Und warum dürfen

wir bei uns im Supermarkt eure Kühe und Schweine und Hühner kaufen?

Die sehen noch nicht mal gut aus. Und im Fernsehen hat er gesehen,

wie die Tiere in Europa gehalten werden. Die seien nicht frei. Weshalb

also dürfen die Inuit nicht einmal genug Tiere jagen, um sie in

Grönland zu verkaufen? Und warum nicht auch in Europa? Immerhin

hatten diese Tiere ein gutes Leben.

Vor einigen Jahren war Argiunnguaq in der Region um Herbert Island

mit einem anderen Jäger unterwegs. Sie hatten die Hundegespanne

und die Kajaks dabei. Plötzlich, und für diese Zeit vollkommen

unüblich, löste sich eine fünf Quadratkilometer grosse Eisplatte, die

aufs offene Meer getrieben wurde. Sie hatten Angst, ihre Hunde und

Schlitten zurückzulassen. Zwei Tage lang trieben sie auf dem Meer, bis

schliesslich der Wind wieder drehte und das grosse Eisfeld zurück ins

feste Eis driften liess. So etwas war ihm zuvor noch nie passiert. Junge

Jäger gibt es schon noch, sagt Argiunnguaq. Aber die meisten sind nur

noch Freizeitjäger. Gut möglich, dass es im Augenblick in Qaanaaq keine

gibt. Und wer weiss, vielleicht kommen tatsächlich bald keine neuen

Jäger mehr nach.

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Markus Bühler-Rasom, 1969 in Zürich geboren, absolvierte eine

Lehre als Fotograf und arbeitet seit 1994 freischaffend für Publi kationen

wie GEO, Stern, Die Zeit, Neue Zürcher Zeitung (Zeitbilder und Folio)

sowie für verschiedene Konzerne und Agenturen. 1997 begann er ein

Langzeit projekt über das heutige Leben der Bewohner Nordgrönlands.

N O R D A M E R I K A

DANKSAGUNGEN

Ich danke meinen Freunden Hans Jensen, Gedion Kristiansen,

Niels Miunge und allen Bewohnern von Qaanaaq für ihre Gastfreundschaft

und dafür, dass sie mich an ihrem Leben auf dem Eis, zur See

und in den Orten teilhaben lassen. Ich bedanke mich ganz speziell bei

Beat Häner vom Schweizer Fernsehen für die grossartige Zeit, die wir

zusammen in Grönland verbracht haben. Ich bedanke mich bei meiner

Frau Corinne und meinen Söhnen Nils, Lars und Finn für ihre grenzenlose

Unterstützung für meine arktische Leidenschaft. Meinem Freund

Matthias Kamm danke ich für seine kritische Betrachtung meiner Arbeiten.

Ich bedanke mich bei Stefan Maier und Andreas Brunner von

Nikon für die grossartige Zusammenarbeit bei diesem Projekt. Andreas

Moser von Netz Natur danke ich für das Zurverfügungstellen meiner

Filmaufnahmen. Christian Spirig danke ich für seinen unermüdlichen

Einsatz bei der Bearbeitung und dem Drucken der Bilder. Heinz Kriesi

und Peter Keller danke ich für all ihren Einsatz beim Bau und bei der

Gestaltung der Ausstellung. Anfang März trafen das Team vom NONAM

und ich zum ersten Mal zusammen, was auch gleich der Start für dieses

Projekt war. In nur einem halben Jahr haben wir diese Ausstellung gemeinsam

konzipiert und realisiert. Ich bedanke mich für diese wunderbare,

immerzu vorwärtsgerichtete und positive Zusammenarbeit mit dem

Team vom NONAM. Ein ganz spezieller Dank innerhalb des Teams geht

weiter an Heidrun Löb für Ihre Zusammenarbeit bei den Texten,

Monika Egli für das nicht selbstverständliche Gelingen, alle Güter aus

Grönland tatsächlich in die Schweiz zu bringen, und Markus Roost für

seinen wunderbaren Umgang mit der Fotografie und der Gestaltung der

Ausstellung sowie des Buches.

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NORDPOL

QAANAAQ

G R Ö N

THULE AIRBASE

SAVISSIVIK

L A N D

ILULISSAT

SISSIMIUT

NUUK


Herausgeberin:

Stadt Zürich

Nordamerika Native Museum

Indianer & Inuit Kulturen

Seefeldstrasse 317

CH–8008 Zürich

Texte: Markus Bühler-Rasom, Heidrun Löb

Korrektorat: Alexandra Bernoulli

Bildbearbeitung: Bilderbub, Christian Spirig

Gestaltung: Markus Roost

Produktion: Druckerei Odermatt

Auflage: 1000 Exemplare

Diese Publikation begleitet die Ausstellung

Vanishing Thule – Eine Kultur auf dünnem Eis.

1. Oktober 2015 – 28. Februar 2016

Ein Kulturangebot des Schul- und Sportdepartements


Stadt Zürich

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