11.09.2023 Aufrufe

Native Art Now

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.



Zeitgenössische indigene Kunst



Vorwort

Manche Dinge brauchen ihre Zeit. Sechs Jahre ist es her, seit Denise Daenzer,

die ehemalige und langjährige Leiterin des NONAM, und ich an einer von der

Kanadischen Botschaft in Berlin initiierten Reise quer durch Kanada teilnahmen.

Ziel dieser «Familiarization Tour» war es, KuratorInnen und DirektorInnen aus

dem deutschsprachigen Raum mit zeitgenössischer indigener Kunst vertraut zu

machen. Die Reise beinhaltete persönliche Begegnungen mit Kunstschaffenden

sowie Besuche von Museen, Galerien, Künstlerkooperativen und Kulturzentren.

Sie war gewissermassen die Initialzündung für den nun erfolgten Ankauf zeitgenössischer

indigener Kunst und die damit verbundenen Ausstellungen Land,

Kunst, Horizonte (05–10/14) und Native Art Now (11/2014– 06/15).

Es ist kein Geheimnis – indigene Gegenwartskunst hat in der europäischen Kunstszene

keinen leichten Stand. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Zwar sind

indigene Kunst- und Filmschaffende mittlerweile regelmässig an internationalen

Grossereignissen wie der Biennale in Venedig, der Art Basel oder der Dokumenta

in Kassel vertreten, und hie und da schimmern sie vereinzelt auch in Kunstausstellungen

auf. Dennoch fallen sie in diesem Bereich vor allem durch Abwesenheit

auf, Internationalität und Globalität hin oder her. KuratorInnen und Institutionen

ohne ethnologischen Hintergrund scheinen um indigene Gegenwartskunst einen

Bogen zu machen. Auch unsere Mitreisenden liessen wenig Zweifel daran, dass

für ihre Arbeit nicht in Frage kam, was sie sahen. Was bemerkenswert erschien,

wurde uns ans Herz gelegt, den Vertreterinnen des Hauses mit dem ethnologischen

Hintergrund. Das «Wäre das nichts für euch?» hallt heute noch in unseren

Ohren nach. In den indigenen Ateliers blieb bisweilen ein Hauch von Überheblichkeit

zurück. Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten und über Kuratoren-Entscheide

wohl ebenso wenig. Dennoch – ob die Haltung ohne das Wissen

um die indigenen Hintergründe dieselbe geblieben wäre?

Für unsere eigene Arbeit waren die Kunst und Kunstschaffenden, denen wir begegneten

mehr als nur interessant. Vieles von dem, was wir sahen, unterschied

sich deutlich von anderen Werken moderner oder zeitgenössischer indigener

Kunst, wie wir sie bis dahin kannten. Auch von solchen, die sich bereits in unserer

eigenen Sammlung befanden. Wir begegneten einer neuen Generation von

Künstlern und uns neuen Formen indigener Kunst. Darunter viele Werke, die auf

den ersten Blick nicht als solche erkennbar waren. Werke, die ohne jedes «Primärmerkmal»

auskamen – ohne Federn, ohne Glasperlen, in welcher Form auch immer.

Und wenn sie sich doch dieser Merkmale bedienten dann zogen sie den Betrachtern

die verbliebenen stereotypen Zähne auf andere Weise – mal mit, mal

ohne Narkose.

Wir waren begeistert. Nicht zuletzt deshalb, weil indigene Gegenwartskunst ein

durchaus dehnbarer Begriff ist und frühere Erfahrungen zuweilen auch für Ernüchterung

gesorgt hatten. Hier aber war das anders. Nicht nur was die zeitge­

3


mässen, ästhetischen und qualitativ hochwertigen Werke betraf. Wir begegneten

Kunstschaffenden, die uns eloquent in ihre Konzepte einführten und tragfähige

Brücken von der Vergangenheit in die Gegenwart schlugen. Sie hatten Geschichten

zu erzählen – durchdacht, komplex, witzig, sarkastisch, politisch, poetisch,

überraschend und überzeugend. Als Ethnologinnen genossen wir eine Art Heimvorteil,

denn die zugrundeliegenden Themen waren uns zumindest in Ansätzen

bekannt. Erst durch das Zusammenspiel von Kunst und Kontext, das sich ohne

Hintergrundwissen und die Kenntnis von Geschichte und Kulturen kaum erschliesst,

liessen sich die Werke wirklich erfassen.

Seit den Begegnungen im Herbst 2008 ist einiges passiert. Wir haben zeitgenössische

indigene Kunst in unsere Sonderausstellungen integriert, KünstlerInnen,

die wir während der Reise kennengelernt haben, waren im NONAM zu Gast, wir

haben vereinzelt indigene Gegenwartskunst angekauft und Werke in unsere permanente

Ausstellung integriert. Wir haben weiter recherchiert, Kontakte auf- und

ausgebaut und Pläne geschmiedet und uns das Ziel gesetzt, unsere museumseigene

Sammlung zukunftsorientiert zu erweitern – mit Ausdrucksformen, die

indigene Perspektiven und kritische Auseinandersetzungen der Gegenwart

reflektieren.

Denise Daenzer hat schon vor vielen Jahren damit begonnen, Gegenwartskunst

zum festen Bestandteil der Sammlung NONAM zu machen. Ankäufe im grösseren

Stil waren jedoch nicht möglich. Das 50-Jahr-Jubiläum des Museums bot schliesslich

den geeigneten Anlass, um einen Vorstoss zu wagen und die notwendigen

finanziellen Drittmittel zu beantragen. Im Juni 2013 erhielten wir vom Lotteriefonds

des Kantons Zürich die Zusage für einen namhaften Unterstützungsbetrag.

Unser Ziel rückte in greifbare Nähe.

Die Entscheidung für diese Sammlungserweiterung ist ein logischer Schritt in unserer

Sammlungsgeschichte. Denn die Geschichte der indigenen Kulturen Nordamerikas

hört nicht dort auf, wo die Plains-Kulturen aufgehört haben, im Tipi zu

leben. Die Geschichte ist weitergegangen. Die Kulturen haben sich entwickelt

und verändert. Ebenso wie unsere eigenen Kulturen. Im Grunde ist es einfach, um

nicht zu sagen banal.

Mit ihren zeitgenössischen Werken bringen Künstlerinnen und Künstler aus Kana

da und den USA dezidiert zum Ausdruck, was es heisst, im 21. Jahrhundert indigen

zu sein – vor dem Hintergrund einer kolonialen Vergangenheit, die bis in die

Gegenwart nachhallt, angesichts unzeitgemässer, aber alltäglicher stereotyper

Erwartungen und nicht zuletzt auch vor dem Anspruch, indigene Identitäten zu

bewahren, wiederherzustellen, vor allem aber selbstbestimmt zu definieren. Zeitgenössische

indigene Kunst ist eine Herausforderung – nicht nur für diejenigen,

die hinter dem Begriff «Indianer» die üblichen Wild-West-Fantasien erwarten –

auch für diejenigen, die Vermittlungsarbeit leisten, und auch für uns als Institution,

an die bestimmte Erwartungen herangetragen werden. Bildung und Aufklärung

gehören zu den Kernaufgaben eines Museums, besonders wenn es sich

mit Kulturen befasst, die in der Gegenwart leben und diese zum Gegenstand ihrer

4


Kunst machen. Offenheit, Neugier und die Bereitschaft zum Umdenken, Neudenken

und manchmal auch Querdenken: Mehr braucht es nicht, um den Zugang

zu indigener Gegenwartskunst zu finden. Was ihn erschwert, ist das Festhalten

an stereotypen Bildern und Erwartungen und nicht zuletzt die in Europa ebenso

wie in Kanada und den USA noch immer verbreitete Annahme, Indianer seien

ausgestorben.

15 indigene Künstlerinnen und Künstler setzten sich quicklebendig, engagiert,

witzig, sarkastisch, ernst, intelligent, unabhängig und experimentierfreudig mit

ihren persönlichen und kulturellen Geschichten auseinander. Es ist wohl kein Zufall,

dass viele Kunstschaffende heute explizit auf das traditionelle Geschichtenerzählen

verweisen und sich als moderne Storyteller verstehen. Ihre Werke erzählen

viele Geschichten. Sie handeln von Hingabe und Tod, von arktischen

Ge heimnissen, der Kraft des Humors, historischen Superhelden, den legendären

Geheimcodes der Navajo und vielem mehr. L’art pour l’art ist es nicht, was wir hier

zeigen. Zeitgenössische indigene Kunst ist geprägt von den Menschen hinter

den Werken und von ihren Geschichten, sie holt Traditionen in die Gegenwart

und nimmt sie mit in eine selbstbestimmte Zukunft – mit oder ohne Perlen und

Federn.

Wir danken dem Lotteriefonds des Kantons Zürich für die grosszügige Unterstützung,

die die zukunftsorientierte Erweiterung der Sammlung NONAM erst möglich

gemacht hat.

Die Realisierung eines Sammlungsankaufs dieser Grössenordnung bedarf nicht

nur der finanziellen Absicherung. Projekte wie dieses sind immer auch das Resultat

von Entwicklungen, Diskussionen und Entscheidungsprozessen, in die sowohl

Personen als auch Institutionen involviert sind. Nicht alle können hier genannt

werden. Einige nehmen jedoch eine Schlüsselrolle ein. Wir danken den Kanadischen

Botschaften in Berlin und Bern. Ohne die Familiarization Tour im Jahr 2008

und ohne das Engagement beider Botschaften wären wichtige Prozesse nicht ins

Rollen und wichtige Kontakte nicht zustande gekommen. Dr. Peter Bolz, der

ehemalige Leiter der Amerikaabteilung des Ethnologischen Museums in Berlin

Dahlem, formulierte seine Unterstützung für die geplante Sammlungserweiterung

mit zeitgenössischer indigener Kunst schwarz auf weiss und trug damit

massgeblich zum Erfolg des Projekts bei. Für wertvolle Inputs, Tipps, Hinweise

und Perspektiven, für die Herstellung zahlreicher Kontakte zu Kunstschaffenden

in Santa Fe und Umgebung, für Zeit und Kilometer danken wir Ryan Rice, dem

ehemaligen Leitenden Kurator des Museum of Contemporary Native Art. Und

schliesslich gilt unser Dank den indigenen Künstlerinnen und Künstlern aus Kanada

und den USA für das entgegengebrachte Vertrauen. Es ist uns eine Freude

und eine Ehre, die wunderbaren, vielschichtigen Kunstwerke, die sie dem NONAM

anvertraut haben, zu präsentieren und die Geschichten, die ihnen inne wohnen,

zum Leben zu erwecken.

Heidrun Löb, leitende Kuratorin NONAM

5



Native Art Now 9

Nicholas Galanin 21

Shan Goshorn 28

Jeff Kahm 38

Cannupa Hanska Luger 46

Sonya Kelliher-Combs 56

Gina Adams 66

Ross Chaney 76

Michael Belmore 83

Frank Shebageget 92

Diego Romero 100

David Bradley 109

Chris Pappan 117

Will Wilson 126

Maria Hupfield 136

Jason Garcia 144

Wally Dion 152

7


8


Native Art Now

Ilona Shulman Spaar

Zeitgenössische indigene Kunst ist im Gegensatz zu «traditioneller»

indianischer oder Inuit-Kunst hierzulande wenig bekannt.

Man kennt die geschnitzten Holzmasken der Nordwestküste,

die Perlenstickereien der Plains, die Webteppiche der

Navajo und die Töpferkunst der Pueblos. Aber Töpferschalen

mit Comic-Szenen? Eine in Häkeldecken gehüllte stählerne

Tierskulptur? Oder eigenwillige Hautobjekte, mit Stacheln gespickt

und mit Mustern aus Menschenhaar? Indigene Gegenwartskunst

des 21. Jahrhunderts präsentiert sich auf ungewöhnliche

Art und Weise. Mit grosser Selbstverständlichkeit nimmt

sie sich so viele Freiheiten wie kaum je zuvor. Sie blickt zurück

auf eine Entstehungsgeschichte, die eng mit der Kolonialgeschichte

und der Politik Nordamerikas verbunden ist. Ihre Ursprünge

liegen, je nach Region und Definition, zwischen fünfzig

und fünfhundert Jahre zurück. Heute erreicht indigene Kunst

das bisher vielleicht grösste Mass an künstlerischer Selbstbestimmung

und formaler Unabhängigkeit sowie beachtliche internationale

Anerkennung.

9


Ob modern oder gegenwärtig, indigene Kunst hat ihre eigene Geschichte. Sie

ist das Resultat von Kulturkontakten, Kolonialpolitik, Widerstand und kultureller

Kontinuität. Sie reiht sich ein in jahrtausendealte Traditionen künstlerischer Ausdrucksformen,

von denen sie sich jedoch in wesentlichen Punkten unterscheidet

und manchmal auch bewusst distanziert. Von Anfang an wurde sie für eine Klientel

ausserhalb der indigenen Gemeinschaft geschaffen. Inhalte wurden angepasst,

sodass sie für ein aussenstehendes Publikum und für potenzielle Käufer

verständlich wurden. Die Kunst diente dem Erhalt und der Wiederbelebung der

Kulturen um 1900, als es als unausweichliche Tatsache angesehen wurde, dass

die Indigenen eine «aussterbende Rasse» seien. Viele Traditionen liefen Gefahr,

infolge der von den Regierungen in Kanada und den USA verhängten Ausübungsverbote

in Vergessenheit zu geraten. 1 In Kunstwerken manifestierte sich

der Widerstand gegen die Auflösung der Kulturen im ethnischen Schmelztiegel

Nordamerikas und gegen die fortgesetzte Kolonialpolitik. Bis heute kommuniziert

indigene Kunst den Widerstand der indigenen Bevölkerung gegen die

Diskreditierung und Zerstörung ihrer Kulturen und ihren Überlebenswillen.

Erst der Kulturkontakt, dann die Kunst

Verglichen mit der altehrwürdigen materiellen Kultur der Vergangenheit ist indigene

Kunst gerade erst aus dem Ei geschlüpft. Wer nach ihren Ursprüngen sucht,

findet sich dennoch weit in der Vergangenheit wieder. Ihre Geschichte beginnt

mit Eroberern, Missionaren und Einwanderern aus Europa, die neben Kupferkesseln

und Glasperlen auch Papier und Schreibutensilien ins Land brachten. Missionare

und Nonnen verwendeten Bilder, um religiöse Vorstellungen zu veranschaulichen,

und lehrten in Missionsschulen neben Katechismus, Schreiben und Sticken

auch das Malen und Zeichnen auf Papier. Zu den frühesten erhaltenen Werken

gehören die Bilder der Tuscarora-Brüder Dennis und David Cusick aus den

1820er-Jahren. In «Scene of Indian Life: Keep the Sabbath» sahen euro-kanadische

Betrachter die Erfolge der Zivilisierung der Wilden, während Indigene die

integrierten Identitätsmerkmale im Bild als kulturell bestärkende Botschaften

verstehen konnten. 2

Buchhaltungspapier statt Bisonhaut

Etwa fünfzig Jahre später entstand in den Plains-Reservaten als Ersatz für die

traditionell angefertigten bildlichen Darstellungen auf Tierhäuten die sogenannte

Ledger-Kunst. Ursprünglich hielten Männer historische Ereignisse, Heldentaten

und Visionen auf Bison- und Wapitihäuten fest. Nach der Zwangsumsiedlung in

die Reservate standen Tierhäute nicht weiter zur Verfügung. Stattdessen gab es

Papier aus Kontenbüchern (Ledger Books), das Händler, Missionare und Regierungsbeamte

zur Verfügung stellten. Darauf hielten die ihrer traditionellen Aufgaben

beraubten Krieger und Jäger Szenen des neuen und befremdenden Alltags

1 Janet C. Berlo & Ruth B. Philipps.

Native North American Art. Oxford University Press, 1998.

2 Ibid.

10


ebenso fest wie historische Ereignisse und Traditionen, die bereits der Vergangenheit

angehörten. Missionare, Anthropologen und Touristen waren die Abnehmer

der Ledger-Zeichnungen, die heute nicht nur wertvolle historische und ethnografische

Zeugnisse darstellen, sondern vielen zeitgenössischen Künstlern als

Ursprung der modernen indigenen Kunst gelten. 3

Informanten werden Künstler, Ethnografen Mäzene

Die Assimilationspolitik, die seit 1870 in den USA und später auch in Kanada verfolgt

wurde, hatte die Auslöschung der kulturellen Identitäten und die vollständige

Eingliederung der indigenen Bevölkerung in die dominanten nordamerikanischen

Gesellschaften zum Ziel. Sowohl Kanada als auch die USA setzten hierzu

vor allem auf Internatsschulen zur Umerziehung indigener Kinder sowie auf ein

rigoroses Verbot der Ausübung, Vermittlung und Darstellung kultureller Tra ditionen

und Inhalte. Angesichts der aggressiven Assimilationspolitik galt der

Un tergang der indigenen Kulturen zu Beginn des 20. Jahrhunderts gemeinhin

als unausweichlich. Der drohende Verlust indigener Merkmale wie Traditionen,

Zeremonien, Rituale, aber auch der traditionellen Kleidung und Gegenstände

mobilisierte nicht nur Fotografen wie Edward Curtis. Er veranlasste auch Wissenschaftler

zu dokumentieren, was von den ehemals souveränen Kulturen noch übrig

war, häufig im Auftrag der Regierung. Anthropologen beauftragten indigene

Informanten mit der Herstellung von Bildern, die die Kulturen und Traditionen

möglichst unverfälscht wiedergeben sollten. Jesse W. Fewkes, der für die Smithsonian

Institution arbeitete, gilt als erster in einer Reihe von Mäzenen, die seit

1900 massgeblich zur Entstehung indigener Kunst beitrugen, sie begünstigten

und über Jahrzehnte hinweg förderten. 4 Mit genauen Vorstellungen von den Werken,

die sie erwarteten, bestimmten die Auftraggeber ihre Art und Ausgestaltung

wesentlich mit. Angefertigt im Dienste der Wissenschaft wurden sie zunächst

eher als kulturelle Belegexemplare und ethnografische Artefakte behandelt denn

als Kunst im eigentlichen Sinn. Ihr künstlerischer Wert und das Talent der Informanten

blieben den Wissenschaftlern jedoch nicht verborgen. Indem sie Werke

schufen, die einem aussenstehenden Publikum traditionelle, wenn nicht sogar

geheime Inhalte vermittelten, betraten die Künstler Neuland und begaben sich in

eine Position zwischen der eigenen und der dominanten Kultur. 5 In wirtschaftlich

prekären Zeiten profitierten sie finanziell von ihrer Kunst. Zugleich leisteten sie

einen wichtigen Beitrag zum Erhalt ihrer Kulturen und zur Verbreitung eines

positiven Images der durch Regierungspropaganda jahrzehntelang diskreditierten

und im Ansehen tief gesunkenen indigenen Kulturen. Andererseits folgten sie

den inhaltlichen und stilistischen Vorgaben ihrer Auftraggeber, die möglichst

«authentische» und nicht durch euro-amerikanische Einflüsse verfälschte Darstellungen

verlangten.

3 Ibid.

4 Ibid.

5 Ibid.

11


Kunst zum Überleben

Gut ein halbes Jahrhundert lang stand die Politik der Assimilation im Vordergrund.

Erst die anhaltende Wirtschaftskrise und die ernüchternden Resultate des

von der Regierung in Auftrag gegebenen Meriam Report von 1928 sorgten für ein

Umdenken. 6 Der Bericht legte die Verfehlungen der Assimilationspolitik offen

und zeigte, dass das System der Residential Schools 7 die soziale und ökonomische

Situation der Indigenen erheblich verschlechterte und damit auch die

Abhängigkeit von Regierungsgeldern in keiner Weise minderte. Vor dem Hintergrund

der Great Depression führten die Ergebnisse des Berichts zu einem

grundlegenden Umdenken und einer politischen Kehrtwende, formuliert im Indian

New Deal und gesetzlich verankert im Indian Reorganization Act (IRA).

Erstmals wurde definiert, wer als «Indian» zu betrachten war – mit gravierenden

Folgen für zukünftige Fragen ethnischer Zugehörigkeit und der damit verbundenen

Rechte wie etwa dem Zugang zum indigenen Kunstmarkt. 8

Die Perspektive, dass Kunst der indigenen Bevölkerung ein Einkommen und damit

eine gewisse ökonomische Eigenständigkeit ermöglichen konnte, war mehr

als willkommen. Anstelle der Gesetze, die kulturelle Äusserungen jeder Art verboten,

wurden traditionelle Aspekte indigener Kulturen nun geradezu glorifiziert.

Fortan unterstützte die amerikanische Regierung Initiativen zur Förderung indigener

Kunst im ganzen Land: 1931 fand in New York die «Indian Tribal Art»-Ausstellung

statt. 1932 gründete Dorothy Dunn das «Studio School Art Programm»

für indigene Studenten. 1936 richtete die Regierung das Indian Arts and Crafts

Board (IACB) ein, das die Entwicklung eines Marktes für indigene Kunst vorantreiben

sollte. 1939 wurde indianische Kunst zum Gegenstand der «Golden Gate

International Exhibition» in San Francisco. 9

Traditionen über alles – Dorothy Dunn und das «The Studio School»

1932 initiierte die nicht-indigene Künstlerin Dorothy Dunn mit dem «Studio Art

Program» der Santa Fe Indian School das wichtigste, erfolgreichste und folgenreichste

Kunst programm seiner Zeit. Dunn, selbst Absolventin des School of Art

Institute of Chicago und ausgebildete Kunstlehrerin, war eine der Hauptakteurinnen

der Etablierung der sogenannten traditionellen indianischen Malerei. Sie ging

von der Existenz eines authentisch indigenen Malstils aus und ermutigte ihre

Schüler, diesen Stil durch das Studium traditioneller Textilien oder überlieferter

Designs auf Keramiken und Korbwaren wie der zuentdecken und in ihre Kunst zu

6 Stephen Fadden & Stephen Wall. Invisible Forces of Change:

United States Indian Policy and American Indian Art.

In: Manifestations. New Native Art Criticism, Museum

of Contemporary Native Arts, 2011.

7 Internatsschulen für indigene Kinder, die das Ziel verfolgten,

ihre Kulturen auszulöschen, die Menschen aber in die

dominante Gesellschaft zu assimilieren.

8 Ibid., S. 35.

9 Janet C. Berlo & Ruth B. Philipps. Native North American Art,

S. 279, Oxford University Press, 1998.

12


integrieren. Auf perspektivisches Zeichnen, Kunst theorie oder Kunstgeschichte

verzichtete Dunn bewusst. Sie setzte auf ein kulturelles Erinnerungsvermögen

und die Intuition ihrer Schüler. 10 Die Werke, die im Rahmen der «Studio School»

entstanden, kennzeichnete ein charakteristischer, zweidimensionaler Stil. Sie

zeigten Traditionen, Zeremonien und kulturelle Alltagsszenen. Was zuvor noch

illegal war, wurde nun als Ausdruck indigener Kultur gefördert, zelebriert und

vermarktet.

Kontrollierte Kunst

1941 hielt indigene Kunst Einzug ins Museum of Modern Art (MoMA) in New York

und erlangte damit die höchsten Weihen moderner Kunst. Anstatt einer wirklichen

Erfolgsgeschichte spiegelte der weitere Verlauf jedoch die Geschichte einer

im Interesse der Regierung massiv geförderten und ebenso bevormundeten

Kunst. Das Ziel des IACB, die ökonomische Eigenständigkeit der indigenen Bevölkerung

zu fördern und damit die Staatskassen zu entlasten, entging auch der

Kunstwelt und ihren Kritikern nicht. Der indigene Kunstmarkt wurde von Händlern

kontrolliert, die von der Regierung lizenziert waren. Auf diese Weise sollte

die «Authentizität» der Werke gewährleistet und die Rechte indigener Künstler

geschützt werden. Jedoch bestimmten nicht-indigene Instanzen über Inhalte, Stil

und Formensprache der Werke, definierten, was «traditionell» und «authentisch»

war, und damit auch, was sich für den Kunstmarkt eignete. 11 Möglichst rein, ursprünglich

und ethnografisch korrekt sollte es sein, das Gegenteil der amerikanischen

Gesellschaft. Indigene Kunst hatte in den USA inzwischen eine breite gesellschaftliche

Anerkennung erlangt. Indianische Kulturen wurden vor allem von

Teilen der amerikanischen Bevölkerung, die den Entwicklungen der modernen

Gesellschaft, den Auswüchsen der Industrialisierung und dem wachsenden Konsumstreben

kritisch gegenüberstanden, als Bereicherung einer pluralistischen

Gesellschaft und – romantisch verklärt – als Gegenpole der Moderne betrachtet.

Künstler der New Yorker Avantgarde waren fasziniert von der Ursprünglichkeit

und Reinheit, den ungezähmten Kräften und der Einheit mit der Natur, die sie in

traditionellen indigenen Werken sahen. 12 In überlieferten Ausdrucksformen glaubten

manche sogar die Quelle eines originären amerikanischen Kunststils gefunden

zu haben, der Unabhängigkeit von der dominanten europäischen Moderne

verhiess und der amerikanischen Moderne zur dringend erforderlichen eigenen

Handschrift verhelfen sollte. 13 Künstlerinnen und Künstler, die sich der indigenen

Formen und Symbole bedienten, sich davon inspirieren und sie in ihre Werke einfliessen

liessen, wurden der Moderne zugerechnet. Indigene Kunstschaffende,

mochte ihre Kunst noch so abstrakt und modern sein, kamen für die Moderne

10 Ibid.

11 Ibid.

12 Bill Anthes. Native Moderns. American Indian Painting 1940–1960,

S. 120. Duke University Press, Durham and London, 2006.

13 Ibid.

13


Kunst nicht in Frage. Denn indigen und zugleich modern zu sein, galt als Widerspruch

in sich 14 – als ebenso unmöglich, wie etwas zugleich alt und neu, primitiv

und progressiv sein konnte.

Sackgasse Primitivismus

Der nach dem MoMA erwartete Durchbruch als Moderne Kunst blieb aus. Kunstkritiker

verorteten indigene Kunst neben Folk Art und naiver Kunst in der Primitivismus-Ecke.

15 Die Zuordnung mochte im Zusammenhang mit der sogenannten

Traditionellen Indianischen Malerei (die weitaus weniger traditionell war, als der

Begriff suggerierte) ihre Berechtigung haben. Für Künstler, die sich davon distanzierten

und eigene, unabhängige Stile und Wege suchten, entpuppte sie sich als

Sackgasse. Nur wenigen gelang es, sich in der Modernen Kunst zu positionieren.

Leon Polk Smith und George Morrison hatten Erfolg. Sie vermieden sowohl in

ihrer Kunst als auch in ihrer Selbstdarstellung Bezüge zu ihrer indigenen Kultur,

die ihre Karriere negativ beeinflusst hätten. Die Begriffe «indigen» und «modern»

manifestierten sich in der Kunstwelt als Gegenpole 16 – «indigen» und «Gegenwart»

werden mitunter noch heute als solche betrachtet.

Manifest für künstlerische Freiheit

Wie alle Schüler des Kunstprogramms gestaltete auch der Lakota-Künstler Oscar

Howe seine Bilder nach den Vorgaben der Studio School. Mit seinen Darstellungen

von Lakota-Tänzen und -Traditionen erzielte er beachtliche Erfolge. Er nahm

Teil an den renommierten jährlichen Ausstellungen und Wettbewerben des Philbrook

Museum in Tulsa, Oklahoma und gewann zahlreiche Preise. In den 1950ern

entwickelte Howe einen neuen, unabhängigen Stil. 1958 bewarb er sich erneut in

Philbrook – nun aber wurde sein Werk abgelehnt. «Zu wenig traditionell» lautete

das Urteil der überwiegend indigenen Jury, 17 das Howe nicht auf sich sitzen liess.

Er verfasste den folgenden Brief an die Jurymitglieder:

Whoever said that my paintings are not in the traditional Indian style has poor

knowledge of Indian art indeed. There is much more to Indian Art than pretty,

stylized pictures. There was also power and strength and individualism (emotional

and intellectual insight) in the old Indian paintings. Every bit in my paintings

is a true, studied fact of Indian paintings. Are we to be held back forever with one

phase of Indian painting, with no right for individualism, dictated to as the Indian

has always been, put on reservations and treated like a child, and only the White

Man knows what is best for him? Now, even in Art, “You little child do what we

think is best for you, nothing different.” Well, I am not going to stand for it. Indian

Art can compete with any Art in the world, but not as a suppressed Art … (Oscar

Howe, Letter to Philbrook Indian Art Annuals Jurors) 18

14 Ibid.

15 Ibid.

16 Ibid.

17 Ibid.

18 Ibid.

14


In seinem Schreiben an die Jury gab er seiner Empörung über eine stilistische

Bevormundung und eine Orientierung an statischen Beurteilungskriterien Ausdruck,

die indigenem Kunstschaffen jegliche künstlerische Freiheit nahm. Howes

Manifest zeigte Wirkung. Philbrook revidierte seine Beurteilungskategorien, öffnete

den Wettbewerb für eine grössere Bandbreite an Werken und machte den

Weg frei für die Indianische Moderne der 1960er-Jahre.

Fast zeitgleich schloss die Studio School ihre Pforten. Ihre Errungenschaften

sind unbestritten, ihr eigenwilliges Programm wird jedoch kritisch reflektiert. Es

fügte sich nahtlos in die Geschichte und die Politik seiner Zeit und hinterliess

Generationen von indigenen Kunstschaffenden ein schwieriges Erbe. Das in den

1930ern etablierte Konstrukt von Authentizität und Tradition hält sich ebenso

hartnäckig wie die romantisierten Zerrbilder indigener Kulturen, die in den drei

Jahrzehnten der Studio School massgeblich mitgeprägt wurden. Obwohl sie einer

vernünftigen Grundlage entbehren, werden Authentizität und Traditionsverbundenheit

in indigener Kunst nach wie vor als Wertmassstab und Verkaufsargument

ins Feld geführt.

Institutionelle Selbstbestimmung und kritische Kunst.

Wo einst die Studio School ihre Schüler und Schülerinnen ausbildete, wurde 1962

das Institute of American Indian Art (IAIA) eröffnet, das sich als zentrale Einrichtung

für die Entwicklung moderner indigener Kunst etablierte. Die Ära des Mäzenatentums,

der Bevormundung und der künstlerischen Stilvorgaben durch

nicht-indigene Auftraggeber, Ethnologen, Regierungsbeamte und Lehrpersonen

ging damit offiziell zu Ende. Das IAIA setzte auf indigene Selbstbestimmung, das

Curriculum wurde in Eigenregie entwickelt und integrierte indigene Formen des

Lehrens, renommierte indigene Künstler wie Fritz Scholder und Allan Houser engagierten

sich in der Lehre. Das Institut wurde zur wichtigsten Ausbildungsstätte

für moderne und zeitgenössische Kunst in Nordamerika. Viele erfolgreiche Künstler

aus Kanada und den USA wurden dort ausgebildet und lehrten später selber

dort. 1991 wurde es um das Institute of American Indian Arts Museum erweitert,

das sich heute als Museum of Contemporary Native Arts ausschliesslich zeitgenössischer

indigener Kunst widmet und die einzige Institution dieser Art in Nordamerika

ist.

Die Indianische Moderne nahm Abstand von romantisierenden Darstellungen und

vom Einheitsstil der Studio School. Stattdessen nahm sie Kurs auf die kritische

Konfrontation, die die indigene Kunst der folgenden Jahrzehnte prägte und die

auch unbequeme Wahrheiten indigener Lebenswelten thematisierte. Sie experimentierte

mit Stilen und Medien, platzierte politische Botschaften und jonglierte

virtuos mit Humor, Ironie und sarkastischen Seitenhieben auf stereotype Erwartungen.

Indigene Künstler machten Gebrauch von ihrem Recht auf individuellen

Ausdruck und begannen, ihre Kulturen mit den Waffen der modernen Kunst gegen

Kitsch und Klischee zu verteidigen. Sie nahmen Bezug auf ihre kulturelle Herkunft

oder auf pan-indianische Aspekte.

15


Indigene Kunst und europäische Kriterien

Sammler, Galerien und ethnografische Museen lehnten moderne indigene Werke

zunächst vielfach als unauthentisch ab, und auch Kunstmuseen zeigten wenig

oder kein Interesse. Kritiker sahen in der Indianischen Moderne in erster Linie

zeitverzögerte Kopien der Modernen Kunst, die in Europa Jahrzehnte zuvor für

Schlagzeilen gesorgt hatte. Indigene Kunst wurde nach europäischen Massstäben

beurteilt, ihre Eigenständigkeit wurde kaum anerkannt. Auch Oscar Howe gehörte

zu den fehlinterpretierten Künstlern. Zeitlebens dementierte er die seinen

Werken zugeschriebenen Einflüsse des Kubismus und verwies auf die Kultur der

Lakota als Quelle seines künstlerischen Ausdrucks. Der Eurozentrismus der westlichen

Kunstkritik ist bis heute ein zentrales und häufig moniertes Thema des indigenen

Kunstdiskurses.

Echtheitszertifikat für Künstler

Trotz aller Vorbehalte befand sich indigene Kunst auf dem Vormarsch. Kanada

widmete ihr 1967 anlässlich der Weltausstellung in Montreal einen eigenen Pavillon.

Es war das erste Mal, dass Indigene im Rahmen einer Ausstellung von solch

internationaler Ausstrahlung die Repräsentation ihrer Kulturen selbst bestimmten.

In den 1970er Jahren wurden Kunstschulen und -projekte mit indigenem Fokus

gegründet, indigene Künstler in die Royal Academy of Arts gewählt und mit

dem «Order of Canada», der höchsten kanadischen Auszeichnung, gewürdigt.

Moderne indigene Kunst wurde salonfähig. Es etablierte sich ein eigener Markt,

der lukrative Einkünfte versprach. Auf diesem rang eine stetig wachsende Zahl

indigener Kunstschaffender um eine begrenzte Klientel von Kunstliebhabern und

Sammlern. An die Stelle der Frage nach der Authentizität der Werke trat nun die

Frage nach der «Echtheit» der Künstler. Tatsächlich waren keineswegs alle Künstlerinnen

und Künstler, die sich auf diesem Markt tummelten, Indianer. 1990 wurde

in den USA mit dem Indian Arts and Crafts Act (IACA) das Recht auf Herstellung

und Vermarktung indigener Kunst gesetzlich auf Kunstschaffende mit nachweisbar

indigenen Wurzeln beschränkt. Da jedoch vielen Indigenen die Anerkennung

des Status aus fragwürdigen Gründen verwehrt blieb, wurden fortan auch indigene

Künstler vom Markt ausgeschlossen, die nicht über den offiziellen Status

verfügten. Das Gesetz war und ist umstritten. Nicht zuletzt, weil es eher einen

Käuferschutz darstellt als einen Rechtsschutz für Künstler. Für indigene Künstler

ohne Status bedeutet es ein erhebliches Handicap. Der Indian Arts and Crafts Act

knüpfte an die Definition ethnischer Zugehörigkeit an, die erstmals im Rahmen

des Indian Reorganization Act in den 1930ern von der Regierung formuliert worden

war.

Indigene Kuratoren, Künstler, Kritiker

Zu Beginn der 1990er-Jahre konzipierten indigene Kuratoren und Kunstschaffende

Ausstellungen, die ihre eigene Sicht und Reflexionen zu 500 Jahren Kolumbus

wiedergeben sollten. «Land, Spirit, Power» an der National Gallery Ontario,

«Indigena» am Canadian Museum of Civilization und «The Submuloc Show / Co­

16


lumbus Wohs» von Atlatl waren weit davon entfernt, die fragwürdige Entdeckung

Nordamerikas zu feiern, und warteten stattdessen mit kritischer Gegenwartskunst

und postkolonialen indigenen Perspektiven auf. In Kanada ist indigene

Kunst inzwischen regelmässig Gegenstand von Ausstellungen renommierter Galerien

und Museen wie etwa der Art Gallery of Ontario oder der Vancouver Art

Gallery. Viele Ausstellungen entstehen unter der Leitung indigener Kuratoren,

auch Rezensionen und Kunstkritik werden zunehmend aus indigener Sicht verfasst.

Die Entwicklung geht nicht zuletzt zurück auf das im Jahr 2005 gegründete

Aboriginal Curational Collective (ACC), das von indigenen Kunstschaffenden ins

Leben gerufen wurde, um die nicht-indigene Dominanz in den Bereichen Kunst,

Diskurs und Ausstellungen zu durchbrechen und Selbstbestimmung und Professionalisierung

zu fördern.

Indigene Kunst in europäischen Ausstellungen

In Europa hielt indigene Gegenwartskunst 1995 Einzug an der «Biennale» in Venedig

und ist dort seither regelmässig repräsentiert. Auch von der «Documenta» in

Kassel und der «Art Basel» ist sie kaum mehr wegzudenken. Vereinzelt sind indigene

Kunstschaffende auch in Gruppenausstellungen europäischer Kunstmuseen

vertreten. Dennoch sind die Worte von Oscar Howe auch nach fast sechzig Jahren

vor allem diesseits des Atlantiks noch immer aktuell. Auch heute sieht sich indigene

Kunst mit Erwartungen konfrontiert, die sich mehr an der Vergangenheit

als an der Gegenwart orientieren. Und noch immer dient eine falsch ver standene

Authentizität als Massstab für ihre Gültigkeit, Glaubwürdigkeit und Echtheit.

Die Authentizität indigener Gegenwartskunst zu erkennen und anzuerkennen bedeutet

für viele europäische Betrachter eine Herausforderung – vor allem, wenn

weder Form noch Materialien eine Brücke zur Vergangenheit schlagen. Dennoch

sind Traditionen, Zeremonien, Rituale, Geschichte oder Geschichten auch in abstrakten,

experimentellen, hypermodernen, multimedialen und individuellen Werken

gegenwärtig – als integrale Bestandteile zeitgenössischer indigener Kunst.

Ihre Relevanz wird von Kunstschaffenden, Kuratoren und Kritikern gleichermassen

und mit Nachdruck betont. Sie anzuerkennen, auch wenn sie nicht erkennbar

sind, ist ein Schritt hin zu einer offenen und im positiven Sinn neugierigen Begegnung

mit einer Kunst, die von einem eigenen Selbstverständnis und einer eigenen

Vergangenheit geprägt ist und die viel zu erzählen hat. Denn auch unter

der Oberfläche von Leiterplatten, Acrylwolle und Moosgummi, Kupferperlen und

Schichten aus Wachs und Polyurethan sind unzählige Geschichten verborgen, die

es zu entdecken gilt.

17


Literatur

Bill Anthes.

Native Moderns. American Indian Painting 1940–1960.

Duke University Press, Durham and London, 2006.

Janet C. Berlo & Ruth B. Philipps.

Native North American Art.

Oxford University Press, 1998.

Sherry Farrell Racette.

Encoded Knowledge: Memory and Knowledge

in Contemporary Native American Art.

In: Manifestations. New Native Art Criticism,

Museum of Contemporary Native Art (MoCNA), 2013.

Stephen Fall & Stephen Wadden.

Invisible Forces of Change: United States Indian Policy

and American Indian Art.

In: Manifestations. New Native Art Criticism,

Museum of Contemporary Native Art (MoCNA), 2013.

Maria A. Caro.

Owning the Image:

Indigenous Arts since 1990.

In: Manifestations. New Native Art Criticism,

Museum of Contemporary Native Art (MoCNA), 2013.

18


Native

ART NOW

19


20 Filmstill aus: PORTRAIT NICHOLAS GALANIN, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.


Nicholas Galanin

Tlingit, Alëut, Europäisch, * 1979, Alaska, USA

«Through education and creative

risk­taking, I hope to progress cultural

awareness both in and out of this

Indigenous world.» 1

1 http://nativeartscollective.com/artist/tlingit­aleut/nicholas­galanin

21


22 Filmstills aus: PORTRAIT NICHOLAS GALANIN, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.


Nicholas Galanin ist Künstler, Filmemacher und Musiker. Kreativität

liegt in seiner Familie. Schon sein Urgrossvater fertigte

Skulpturen aus Holz an, sein Vater arbeitet mit Edelmetall und

Stein. Galanin genoss bei seinem Vater und seinem Onkel sowie

bei anderen indigenen Künstlern eine tra ditionelle Ausbildung,

zu der auch das Holzschnitzen ge hörte. Darauf folgten Ausbildungen

an Kunstschulen und Universitäten in Alaska, England

und Neuseeland. Galanin lebt in Sitka, Alaska, einem Ort, dessen

Einzigartigkeit ihn inspiriert.

Das Konzept als A und O

Galanin orientiert sich an Themen seiner indigenen Kultur. Essenziell ist für ihn

der konzeptorientierte Prozess, der im Gegensatz zur traditionellen Kunst Me dien

und Material bestimmt. Das Konzept verschafft ihm künstlerische Freiheit und

Unabhängigkeit gegenüber den Erwartungen von Galeristen und Sammlern. Auf

diese Weise schöpft er seine Kreativität auf grösstmögliche Weise aus. 2

Neben Skulptur und Videokunst engagiert sich Galanin auch in den Bereichen

Fotografie, Multimedia-Installation und Schmuckdesign. Inspiration schöpft er

so wohl aus herkömmlichen 3 Kunstformen als auch aus der zeitgenössischen Konzeptkunst.

Galanin weiss, dass sein Spagat zwischen der traditionellen Kunst der

Tlingit und konzeptueller Kunst ein gewisses Risiko birgt. Während die Einbeziehung

von kulturellen Inhalten, Stilen oder Materialien oft als Ausdruck von Respekt

gegenüber der eigenen Kultur verstanden und sogar eingefordert wird, rufen

zeitgenössische Ausdrucksformen mitunter Skepsis und Ablehnung hervor.

Galanin betrachtet beides als Notwendigkeit. Trotz ihrer markanten Bezüge zur

Tlingit-Kultur versteht Galanin seine Kunst als Kommunikationsmittel, das sich

einer universellen Sprache bedient und Betrachter, gleich welcher Kultur, dazu

auffordert, das eigene kulturelle Bewusstsein weiterzuentwickeln.

2 Artist statement auf http://galan.in/

3 Galanin bevorzugt den Ausdruck «herkömmlich»

gegenüber dem Begriff «traditionell».

23


24

THE GOOD BOOK (VOL. 15), Nicholas Galanin, 2006, Bibel, Menschenhaar. Sammlung NONAM.


Das Gute und das Böse

THE GOOD BOOK VOL. 15 (2006)

«The Good Book (Vol. 15)» gleicht einer traditionellen Rabenmaske, wie man sie

in der Kultur der Tlingit an der pazifischen Nordwestküste findet. Doch die Maske

ist nicht wie sonst üblich aus Zedernholz geschnitzt, sondern setzt sich aus über

tausend Seiten einer Bibel – The Good Book – zusammen. Die Maske hat Galanin

mithilfe von Computer und Lasertechnologie in Form gebracht. Mit wenigen, aussagekräftigen

Gesten bringt der Künstler ein brisantes Thema der kolonialen Vergangenheit

auf den Punkt: die Christianisierung der indigenen Kulturen durch

europäische Missionare. Die Skulptur reflektiert die Absurdität eines aufgezwungenen

Glaubens, der ohne Überzeugung und ohne ein Gefühl der Zugehörigkeit

praktiziert wird.

Die Figur des Raben ist für die Tlingit und andere Kulturen der pazifischen Nordwestküste

von zentraler Bedeutung. Der Rabe ist der Protagonist zahlreicher Mythen

und Legenden. Seine Geschichten sind witzig, humorvoll, provokant, satirisch,

vielschichtig, moralisierend, lehrreich und ernsthaft. Der Rabe schlüpft in

viele Rollen. Mal ist er der Erschaffer der Welt oder der Entdecker der Menschen,

ein andermal erscheint er als selbstsüchtiger, tollpatschiger und hinterlistiger Intrigant.

Rabengeschichten sind so widersprüchlich wie das Leben selbst und wollen

aus westlicher Sicht oft keinen Sinn ergeben. Im Gegensatz zu christlichen

Weltbildern, die die Welt in Gut und Böse teilen, stehen Widersprüche und Gegensätze

in indigenen Mythen oft nah beieinander «Vol. 15» macht in dieser Hinsicht

keine Ausnahme.

25


26

THE GOOD BOOK 2.0, Nicholas Galanin, 2014, Papier, Menschenhaar. Sammlung NONAM.


THE GOOD BOOK 2.0 (2014)

Und auch die nächste Generation ist bereits entwickelt. Sie wartet mit einer bahnbrechenden

Neuerung auf. Diesmal: kein Text. Die weissen Seiten sind dennoch

auf viele Arten lesbar. Und wo nichts geschrieben steht, ist Platz für neue Geschichte(n).

Auch hier materialisiert sich Rabe, der Trickster. Der Bibeltext jedoch

ist verschwunden. Steckt der Rabe dahinter, der, Gott gleich, einst selber die Welt

erschuf? Erfindet er sie nun wieder neu, oder hat er Platz geschaffen für indigene

Generationen, die ihre Geschichte(n) selber schreiben? Und schliesslich erinnern

die leeren Seiten auch an die Tradition der mündlichen Überlieferung, die einst

ganz ohne Schrift alles Wichtige bewahrte.

Die «The Good Book»-Serie begann 2006 als Teil eines Projekts mit dem Titel

«What have we become?» Darin setzte sich der Künstler mit der Frage der kulturellen

Repräsentation der Tlingit und Alëuten aus der Perspektive der modernen

Anthropologie und Ethnologie auseinander, einer Perspektive, die indigenen Kulturen

grundsätzlich fremd ist. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass sich Indigene nur

bedingt der auf ihre Kulturen projizierten Sicht entziehen können. «Wir verarbeiten

sie, und sie wird ein Teil von uns» 4 , erklärt Galanin. Es geht um Fragen nach

Anpassung und Widerstand und um Forderungen nach kultureller Eigenständigkeit

und Selbstbestimmung hinsichtlich der eigenen kulturellen Repräsentation.

Und Galanin geht es um mehr als das: «We are being culturally dishonest if we

reject all that passes through our culture. Economics and cultural objects, curio

and collector, Indians and museum, history and the present.» 5 Wir sind bei der

Betrachtung unserer Kultur nicht ehrlich, wenn wir uns weigern zu sehen, wodurch

unsere Kultur beeinflusst wird. Dazu gehören Ökonomie und kulturelle Objekte,

Kuriositäten und Sammler, Indianer und Museen, Geschichte und Gegenwart.

Galanin begegnet seiner Kultur mit Respekt und Wertschätzung. Ihren Entwicklungen,

Neuerungen und Veränderungen begegnet er mit Offenheit und Neugier,

integriert sie in seine Kunst und nimmt mit seiner vielbeachteten Kunst selbst

Einfluss darauf. Seine Kultur und Individualität wertschätzt er gleichermassen.

Beides zusammen gewährleistet Inspiration und künstlerische Freiheit.

4 http://www.e-junkie.info/2011/04/

interview-with-nicholas-galanin-artist.html

5 http://contemporarynativeartists.tumblr.com/

post/479617639/nicholas-galanin-tlingit-aleut

27


Shan Goshorn

Eastern Band Cherokee, * 1957, Maryland, USA

«Combining historical documents and

photographs with traditional techniques

and patterns, I strive to educate an

audience about unique issues that continue

to impact Indian people.» 6

28

6 http://abbemuseum.org/exhibits/twistedpathIII/ShanGoshorn.html


Filmstill aus: PORTRAIT SHAN GOSHORN, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.

29


30 Filmstills aus: PORTRAIT SHAN GOSHORN, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.


Shan Goshorn versteht sich nicht nur als Künstlerin, sondern

auch als Menschenrechtsaktivistin. Ihre Kunst umfasst Korbflechten,

Fotografie, Perlenarbeiten, Malerei und Schmuckdesign.

Goshorns Werke werden in nationalen und internationalen

Museen ausgestellt, u.a. im National Museum of the American

Indian (NMAI) in Washington DC, im Institute of American

Indian Arts (IAIA) und im Museum of Contem porary Native Arts

(MoCNA) in Santa Fe sowie im Minneapolis Institute of Art in

Minnesota. Zu den zahlreichen Auszeichnungen und Würdigungen

ihrer Arbeit gehört auch die Native Arts and Cultures Foundation

Artist Fellowship 2014. Neben ihrer künstlerischen Tätigkeit

engagiert sich Goshorn in beratenden Funktionen für

kulturelle Institutionen. Goshorn ist sich der Wertschätzung der

indigenen Kulturen in Europa, aber auch der verbreiteten Hollywood-Klischees

bewusst. Mit ihrer Kunst hofft sie zur Aufklärung

des Publikums und zur Auflösung stereotyper Wahrnehmungen

und Erwartungen beizutragen. 7 Die Künstlerin lebt und

arbeitet in Tulsa, Oklahoma.

7 Interview mit der Autorin, 2014.

31


32

WHITEWASHED, Shan Goshorn, 2014, Arches Aquarellpapierstreifen, bedruckt mit Archivtinte, Acrylfarbe. Sammlung NONAM.


Die Kunst des Korbflechtens und sozialer Aktivismus

WHITEWASHED (2014)

Zu Goshorns bekanntesten Werken gehören Körbe und Behältnisse, die die

Künstlerin im traditionellen Stil der Cherokee von Hand anfertigt. Die Techniken

des Korbflechtens, zu der die einfache und die komplexere doppelte Flechttechnik

zählen, eignete sich Goshorn autodidaktisch an. Mittlerweile hat die Künstlerin

letztere so perfektioniert, dass das Museum ihres Stammes sie als eine von 14

lebenden Personen der Cherokee anerkennt, die gegenwärtig die schwierige

doppelte Flechttechnik beherrschen. 8 Goshorns Designs orientieren sich an Mustern

der Cherokee oder entspringen ihrer eigenen Fantasie. 9 Für «Whitewashed»

verwendete sie das traditionelle Motiv des Cross on the Hill, dessen raffinierte

Details besonders auf der Innenseite des Korbes zu erkennen sind. 10

Ihre tiefe Verbundenheit mit der Tradition ihrer Vorfahren hindert Goshorn nicht

daran, die traditionelle Technik mit zeitgenössischen Materialien zu kombinieren

wie etwa den Reproduktionen historischer Manuskripte oder Archivfotos. 11 Dabei

flicht sie filigran geschnittene Streifen von Fotos und Schriften so ineinander,

dass sowohl das Bild als auch die Schrift auf dem fertigen Korb nicht nur erkennbar,

sondern lesbar sind. Die eigentliche Flechtarbeit von «Whitewashed» nahm

etwa eine Woche in Anspruch, es ging ihr jedoch ein sehr viel längerer Forschungs­

und Vorbereitungsprozess voraus. Im Prozess der Datensammlung und

Materialvorbereitung sieht Goshorn Parallelen zur traditionellen Korbherstellung

ihrer Vorfahren, die das Holz der Weissen Eiche, des River Cane, einer nordamerikanischen

Bambusart, und der Heckenwildkirsche sammelten, lange bevor sie

mit der Webarbeit beginnen konnten. 12

Die Fotos und Texte in Goshorns Arbeiten dokumentieren Themen der indigenen

Geschichte und Gegenwart wie Internatsschulen, Umsiedlung, Vertragsbrüche

oder die kommerzielle Aneignung indigener Kultur durch die Sport­ und Unterhaltungsindustrie

– Themen, die sich noch heute auf das Leben und den Alltag

der indigenen Bevölkerung auswirken. Die historischen Traumata werden von Generation

zu Generation weitervererbt und sind noch lange nicht überwunden.

Goshorns Ziel sind die Aufklärung eines breiten Publikums und das Anstossen

überfälliger Diskussionen zu mitunter unbequemen Themen.

8 http://abbemuseum.org/exhibits/twistedpathIII/ShanGoshorn.html

9 Zu den traditionellen Mustern gehören unter anderem: Spider’s Web,

Cross on the Hill, Mountains, Lightning, Man in the Coffin, Fishbone,

Peace Pipe, Chief’s Daughter und Chief’s Heart.

10 Interview mit der Autorin, 2014.

11 Zu den herkömmlichen Materialien gehören

Weisse Eiche, River Cane und Honeysuckle.

12 Interview mit der Autorin, 2014.

33


34

WHITEWASHED, Shan Goshorn, 2014, Arches Aquarellpapierstreifen, bedruckt mit Archivtinte, Acrylfarbe. Sammlung NONAM.


Ihre Gefässe haben sich als geradezu ideal erwiesen, um zu vermitteln, was ihr am

Herzen liegt. Ihre Formen und die Tatsache, dass man in sie hineinschauen kann,

wecken die Neugier der Betrachter – angezogen von den ungewöhnlichen Bildwelten

der Aussenseite und der technischen Perfektion des Flechtwerks beugen

sie sich vor, um hineinzuschauen, und möchten schliesslich mehr erfahren. Für

Goshorn sind die Körbe mit ihren Innenwelten wie geschaffen für einen aufrichtigen

Dialog, den sie als wichtigen Teil ihres sozialen Wirkens versteht. 13

Kollektives Trauma

«Whitewashed» klärt die Öffentlichkeit über eines der dunkelsten Kapitel der

euro-amerikanischen Kolonialisierungspolitik des 19. und 20. Jahrhunderts auf:

die Zwangsassimilierung indianischer Kinder und Jugendlicher in christlichen Internatsschulen.

Passend zu seinem Titel zeigt der Korb auf der Aussenseite eine

historische Fotografie, die indigene Mädchen umgeben von Bügelbrettern und

Wäschekörben zeigt. Sie alle besuchten das Sherman-Riverside-Internat in Kalifornien,

wo sie in Haus- und Landwirtschaft unterrichtet wurden. Dass «Whitewashed»

jedoch weit mehr thematisiert als nur den Unterricht in der Wasch küche,

liegt auf der Hand. Die geflochtenen Textstreifen geben 10 000 – 12 000 Namen

und Stammeszugehörigkeiten ehemaliger Schüler und Schülerinnen der Carlisle

Indian Boarding School in Pennsylvania wieder. Carlisles Philosophie lautete: «Kill

the Indian, Save the Man» (Töte den Indianer, rette den Menschen). Jeder der

eingeflochtenen Namen steht für ein indigenes Kind, das in die dominante euro-amerikanische

oder euro-kanadische Gesellschaft assimiliert und dessen kulturelle

Identität ausgelöscht werden sollte. Mit anderen Worten, es sollte weissgewaschen

werden.

13 Teresa Barbaro, Shan Goshorn: Re-Weaving History,

in: American Indian, Summer/Fall 2014, S. 22–35.

35


36

WHITEWASHED, Shan Goshorn, 2014, Arches Aquarellpapierstreifen, bedruckt mit Archivtinte, Acrylfarbe. Sammlung NONAM.


Viele Kinder wurden gegen ihren Willen und gegen den Willen ihrer Familie in

weit entfernten Internaten untergebracht. Ihre Familie sahen manche von ihnen

viele Jahre lang nicht mehr. Die Kinder wurden in westliche Kleidung gesteckt,

ihre Haare wurden abgeschnitten, erlaubt war nur eine Sprache, die sie zunächst

gar nicht verstanden. Kulturelle Äusserungen und Rituale waren strengstens untersagt.

Manche Schulen haben im Nachhinein traurige Berühmtheit erlangt. Körperliche

Züchtigung, psychischer und sexueller Missbrauch, Mangelernährung,

Zwangssterilisation und Mord: Die Liste der Anklagepunkte, die Überlebende der

Internatsschulen zusammengetragen haben, ist lang. Die letzte dieser Schulen

wurde 1996 in der kanadischen Provinz Saskatchewan geschlossen.

Viele in «Whitewashed» verwobene Namen sind verblasst und verschmelzen zunehmend

mit dem Weiss der Aussenseite. Nora, vom Stamm der Creek, ist einer

der Namen, die noch zu entziffern sind. Wie mag Noras Geschichte ausgesehen

haben? Wurde auch sie weissgewaschen wie so viele vor und nach ihr? Vielleicht

gehörte sie aber zu denjenigen, die nach aussen hin weiss und angepasst erschienen,

die sich in ihrem Innern jedoch stets ihre wahre Identität bewahren konnten.

Das kräftige Rot auf der Innenseite des Korbes setzt ihnen allen ein Denkmal. Im

Kern verborgen und geschützt, leuchtet es lebendig und überstrahlt das gebleichte

Weiss der Aussenseite.

37


J e ffK a h m

Anishinaabe (Ojibway), Lakota, Irisch, Litauisch, * 1965, Connecticut, USA

«In essence, I’m exploring a visual language

that has been used by my ancestors for

hundreds of years. I’m celebrating these roots

by claiming a vernacular language rooted in

Indigenous abstraction.» 14

38

14 Interview mit der Autorin, 2014.


Filmstill aus: PORTRAIT JEFF KAHM, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.

39


40 Filmstills aus: PORTRAIT JEFF KAHM, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.


Jeffrey Kahmakoatayo alias Jeff Kahm wurde in Edmonton,

Alberta geboren und wuchs bei seiner Grossmutter im Little

Pine First Nations Reserve auf. Kahm studierte Kunst am Institute

of American Indian Arts (IAIA) in Santa Fe, am Kansas City

Art Institute und an der University of Alberta, Edmonton. Seit

2003 lebt und arbeitet Kahm in Santa Fe, wo er am IAIA Malen

und Zeichnen unterrichtet. Kahms Austausch mit seinen Studenten

stellt eine wichtige Inspirationsquelle für sein eigenes

Kunstschaffen dar. Zu seinen zahlreichen Ausstellungen innerund

ausserhalb der USA gehören die Einzelausstellungen «Paradigm»

in der Urban Shaman Contemporary Aboriginal Art

Gallery in Winnipeg (2013) und «Vernacular» am Museum of

Contemporary Native Arts in Santa Fe (2012). Kahms bevorzugter

Kunststil ist die abstrakte Malerei.

41


42


Wechselspiele abstrakter Kunst

In seiner indigenen Gemeinschaft wurde Kahm schon in jungen Jahren als Künstler

wahrgenommen. Sein Talent war bereits in seiner Kindheit offensichtlich,

und bestärkt von Lehrer und Grossmutter wusste er früh, was er später werden

wollte. Eine seiner ersten Inspirationsquellen waren die Bilder des Cree-Malers

Allen Sapp. Kahm malte zunächst im gegenständlichen Stil. Zu seinen Motiven

gehörten PowWow-Tänzer, Landschaften und Tipi-Szenen. Die Entwicklung hin

zur abstrakten Malerei, für die der Künstler heute bekannt ist, verlief in Etappen.

Kahms Lehrer am Kansas City Art Institute, Ron Slowinski, und die Maler Graham

Peacock und Phil Darrah, denen er an der University of Alberta in Edmonton

begegnete, führten ihn in die abstrakte Malerei ein. Dabei entdeckte er das Color

Field Painting, die geometrische Abstraktion und die New York School der

1940er- und 1950er-Jahre. Zu den Vertretern dieser Kunstrichtungen gehörten

auch Barnett Newman, Adolf Gottlieb und Jackson Pollock, die von der indigenen

Kunst Nordamerikas inspiriert waren. Der indigene Einfluss auf moderne

amerikanische Kunstströmungen wurde lange Zeit ignoriert. Heute wird er weitgehend

anerkannt. 15

Kahm fühlt sich insbesondere von der Unmittelbarkeit der abstrakten Malerei angezogen,

zu der visuelle Grundprinzipien wie Linie, Farbe, Struktur, Repetition

und Harmonie gehören – Prinzipien, die seit je in der indigenen Kunst verankert

sind. Kahm bezeichnet seine Arbeit mit dem abstrakten Formenrepertoire als instinktiven

Prozess. Das Malen in Serie und in Variationen erlaubt es ihm, eine Idee

in ihrer gesamten Tiefe zu erforschen und bewusster zu arbeiten. 16

15 Siehe hierzu als Beispiel: Bill Anthes:

American Indian Painting, 1940–1960,

Durham and London: Duke University

Press, 2006, S. 59–88;

W. Jackson Rushing: Ritual and

Myth: Native American Culture and

Abstract Expressionism, in:

The Spiritual in Art: Abstract Painting,

1890–1985, Los Angeles: Los Angeles

County Museum of Art, S. 273–95, 1986.

16 Interview mit der Autorin, 2014.

43


44

TRANSITION (II – V), Jeff Kahm, 2008, Acryl auf Leinwand. Sammlung NONAM.


Die visuellen Sprache der Ahnen

TRANSITION II–V (2008)

Die Unmittelbarkeit der abstrakten Malerei zieht Kahm an. Seine Bilder sprechen

die universelle Sprache der Geometrie. Streifen, Zickzackmuster, Kreise, Linien

und Rechtecke finden in indigenen Kulturen seit je Verwendung. Dennoch wirken

die Formen überaus zeitgenössisch. Auch Kahms Bildern haftet etwas Zeitloses

an. Seine Formen nehmen Bezug auf die abstrakten Zeichen und Muster seiner

Vorfahren und reflektieren Kontinuität in der kulturellen Entwicklung. Zugleich

sind sie Ausdruck des konstanten Wandels (Transition), den Entwicklungen mit

sich bringen. Die harten, trennscharfen Kanten der geometrisch angeordneten

Linien stehen in der Tradition des amerikanischen Hard Edge Painting. Die glänzenden,

satten Farben können als Metaphern für Technologie und den damit einhergehenden

Wandel betrachtet werden. Als Kahm mit der Hard-Edge-Technik

begann, erforschte er Konzepte des Wandels in indigenen Kulturen, ausgelöst

durch moderne Technologie.

Beeindruckend sind die enorme Stofflichkeit und Verschiedenartigkeit der Struktur.

Bei den kräftigen Farben handelt es sich um Acrylfarbe, die Kahm mithilfe

eines Farbrollers aufträgt. Das zusätzlich aufgetragene Acrylgel verdickt die

Farbe, wodurch der Effekt noch verstärkt wird. Bei «Transition 2» wurde der Farbe

zusätzlich Sand hinzugefügt.

Parflèche-Designs, Perlenobjekte und Quill-Arbeiten der Plains-Kulturen sind

wichtige Inspirationsquellen für Kahm, ebenso wie Stoffe aus Peru und Textilien

aus dem amerikanischen Südwesten. Kahm nimmt in seinen Werken jedoch nie

Bezug auf bestimmte Designs. Vielmehr versteht er geometrische Muster mit indigenem

Ursprung als inspirierende Wegbegleiter auf einer kreativen Reise.

45


Cannupa Hanska Luger

Mandan, Hidatsa, Arikara, Lakota, Norwegisch, Österreichisch,

* 1979, North Dakota, USA

«My creative process is a song

stuck in my head and the only way

to get it out is to sing it.» 17

46

17 http://cannupahanska.com/bio.php


Filmstill aus: PORTRAIT CANNUPA HANSKA LUGER, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.

47


48 Filmstills aus: PORTRAIT CANNUPA HANSKA LUGER, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.


Cannupa Hanska Luger wurde in der Standing Rock Reservation

in Fort Yates, North Dakota, geboren. Zusammen mit seinen

sechs Geschwistern wuchs er bei seiner Mutter, einer Künstlerin,

auf. Die Höhen und Tiefen des Künstlerlebens lernte Luger

früh kennen. Die Entscheidung, selbst Künstler zu werden, fiel

ihm dennoch leicht. Von seinem Vater, auf dessen Farm in North

Dakota er als Kind die Sommer verbrachte, lernte er die Vorzüge

körperlicher Arbeit kennen. Luger beschreibt sich selbst

als Kind des Universums, das von einem Ort des «Nichtwissens»

stammt und Elemente von Sonne und Mond in sich trägt. 18 Der

Künstler studierte am Institute of American Indian Arts (IAIA)

in Santa Fe mit Fokus auf Keramik. Seine Werke sind in vielen

wichtigen Sammlungen vertreten. Luger lebt mit seiner Frau

und seinen beide Söhnen in Santa Fe, New Mexico.

18 http://www.blueraingallery.com/artists/cannupa_hanska_luger

49


50

I LOVE YOU TO DEATH, Cannupa Hanska Luger, 2012, Keramik, Filz, Moosgummi, Metall, Häkeldecken. Sammlung NONAM.


Geben und Nehmen

I LOVE YOU TO DEATH (2011)

& EAT PREY, LOVE I (2011)

Grazil, doch bereits gebeugt vom Gewicht seines Widersachers, steht der Rehbock

in «I love you to death» auf seinen filigranen Beinen, wohl ahnend, dass er

schon bald sein Leben lassen wird. Der Angreifer: ein Puma, der sich so geschmeidig

und lautlos angeschlichen hat, wie es nur Wildkatzen können. Erstaunt dreht

das Reh ihm den Kopf entgegen. Der Puma ist im Begriff, seine Beute durch einen

Genickbiss zu töten. Für Irritation sorgen die gespitzten roten Lippen der beiden

Mischwesen. Es scheint, als verharrten sie in Erwartung eines Kusses zwischen

Liebenden.

Die dargestellte Szene weckt viele Assoziationen – von der Beziehung zwischen

Raubtier und Beute ebenso wie von Liebe, Erotik und Gewalt. Die Skulptur reflektiert

die Grazilität des Rehs und die gespannte Kraft des Pumas. Mit ihren androgynen

Menschengesichtern erscheinen sie zudem wie merkwürdige Chimären

aus einer anderen Welt. Indem Luger ihnen ein menschliches Antlitz verleiht, verweist

er sowohl auf menschliche Aspekte im Tier als auch auf die animalische

Seite im Menschen. Er spricht von «umgekehrter Personifikation» (Reverse Personification).

Seine Wesen erinnern an Shapeshifter, die sich von Menschen in Tiere

und von Tieren in Menschen verwandeln können.

In «I Love you to Death» wird der Puma seine Beute erlegen, das Reh wird das

Opfer sein. In der gängigen Wahrnehmung unserer Gesellschaft gewinnt der

Stärkere, der Schwächere verliert. Vorstellungen vom Verhältnis zwischen Raubtier

und Beute, Mächtigen und Bemächtigten, Tätern und Opfern sind in unserem

Bewusstsein tief verankert. Mit «I Love you to Death» stellt Luger scheinbar eindeutige

Machtbeziehungen in Frage: «I want to show the desperation in the predator,

the fragility of the lifestyle. That they have as much to lose as they have to

gain. I wish to empower the prey, to change the idea that it is not a life taken, it is

a life given. That sacrifice is heroic.» 19

Luger weist darauf hin, wie Gegensatzpaare wie Schönheit und Brutalität, Liebe

und Gewalt oft nah beieinander bestehen können. Ebenso wie Liebe tödlich sein

kann, kann auch der Akt des Tötens als Akt der Liebe betrachtet werden, in dem

sich Jäger und Beute in einem einzigartigen Moment vereinen. Was für uns heute

befremdend klingen mag, war einst ein wichtiger Aspekt der Spiritualität und der

19 Ich möchte die Verzweiflung des Raubtiers zeigen, die Fragilität

seiner Lebensweise. Dass es so viel zu verlieren wie zu gewinnen hat.

Ich möchte die Beute ermächtigen zu denken, dass nicht ein Leben

genommen, sondern eines gegeben wird. Dieses Opfer ist heroisch.

51


52

EAT PREY, LOVE I, Cannupa Hanska Luger, 2014, Keramik, ungesponnene Wolle. Sammlung NONAM.


Philosophie indigener Jäger. Jagdglück hing nicht nur vom Geschick des Jägers

ab. In manchen Kulturen war es ausschlaggebend, ob ein Jäger das Mitleid eines

Tiers erregen konnte, damit es sich für ihn und seine Familie opferte.

Um die Beziehung zwischen Raubtier und Beute geht es auch in «Eat Prey, Love

I». Eine Eule verzehrt die Eingeweide ihrer Beute, eines Wiesels. «Schrecklich

schön» präsentiert sich der Kreislauf von Leben und Tod, wie er sich seit je wiederholt.

Der Titel, «Eat Prey, Love» (Iss die Beute, liebe) verweist einmal mehr auf

die Beziehung zwischen Liebe und Tod, Geben und Nehmen. Zugleich darf er als

ironischer Kommentar auf «Eat, Pray, Love» verstanden werden, einen Hollywoodstreifen

zum Thema Selbstfindung und Spiritualität, in dem die weibliche Hauptperson

ihr seelisches Gleichgewicht dank italienischer Pasta, Meditation und einer

neuen Liebe wiedererlangt.

Die Kraft des kreativen Akts

Der kreative Akt ist für Luger von zentraler Bedeutung. 20 Im Lauf dieses Prozesses

entwickelt er eine besondere Beziehung zum Material und ist bestrebt, dessen

Eigenschaften mit seiner gestalterischen Idee in Einklang zu bringen. Das

Resultat manifestiert sich in der Form. Dieser Prozess kommt einer Kommunikation

zwischen Künstler und Material gleich, die sich zuweilen als Herausforderung

entpuppt. Dabei ist es ihm ein Anliegen, eine ehrliche und aufrichtige Interpretation

des Hier und Jetzt zu entwerfen.

Bezeichnend für Lugers Skulpturen ist die Kombination verschiedenster Materialien

und ihre handwerkliche Verarbeitung. Ihre zum Teil schrillen Farben und ihre

Stofflichkeit ziehen den Betrachter in ihren Bann. Für «I Love you to Death» hat

der Künstler nebst Ton gehäkelte Decken aus dem Secondhandladen und diverse

im Hobbymarkt gekaufte Materialien verwendet. Die Skulptur wirkt deshalb nah

am Alltag und dennoch einer Fabelwelt entsprungen. Lugers Interesse gilt den

Wechselbeziehungen zwischen einfachen und anspruchsvollen Materialien wie

etwa Wolle und Stahl oder Moosgummi und Keramik. Die Arbeit mit alltäglichen

Materialien reflektiert auch die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Wertvorstellungen.

Ihre Verwendung im Alltag macht sie zu Projektionsflächen für

vorgefasste Meinungen. Indem Luger über die herkömmliche Verwendung hinausgeht,

fordert er gängige Vorstellungen heraus.

Im Mittelpunkt seines Schaffens steht die Arbeit mit Ton, einem Material, das die

Menschheit seit je begleitet. Luger fasziniert insbesondere der Kreislauf von Ton

und Keramik: Ein Tonblock wird zerstört, eine Skulptur wird erschaffen. Extreme

Hitze verwandelt Ton in Keramik, die eines Tages zerfallen und wieder Teil der Erde

werden wird – ein immer wiederkehrender, harmonischer Prozess von Schöpfung

und Zerstörung.

20 Interview mit der Autorin, 2014.

53


54

SOUNDBELLS, Cannupa Hanska Luger, 2013, Audio-Installation, Keramik. Sammlung NONAM.


Eine Antwort auf Stereotypen

SOUNDBELLS (2013)

Luger setzt sich mit Stereotypen auseinander. Neben zahlreichen anderen Akteuren

ist es heute vor allem die Unterhaltungs- und Popindustrie, die stereotype

Bilder indigener Kulturen transportiert, weiterentwickelt und verstärkt. Dass Stereotypen

mitunter zu Ikonen mutieren, die von nachfolgenden Generationen als

«echt» missverstanden werden, dürfte nicht nur Luger beunruhigen.

2013 entwarf der Künstler eine Reihe von Keramikskulpturen, die von der «Indian

Princess» bis hin zum «Curtis» je einem klassischen indigenen Stereotyp entsprachen.

Träger dieser Stereotypen waren Ghettoblaster aus Keramik, ausgestattet

mit typischen Merkmalen wie Federschmuck, Traumfänger und dergleichen. Die

Ausstellung im Museum of Contemporary Native Arts in Santa Fe schloss mit einer

Performance, in der Luger die «Stereotypes» vor Publikum und laufender

Kamera zerstörte. Einzig der mit einer Baseballkappe behütete «Luger» blieb

unangetastet.

«Soundbells» markiert den Gegenpol zu «Stereotypes». Die Serie umfasst vier

organisch geformte Keramikskulpturen: Herbst, Winter, Frühling und Sommer in

den Farben des verarbeiteten Tons: Rot, Weiss, Schwarz und Gelb. Die Farben

verweisen auf die vier Himmelsrichtungen und zeigen den Menschen an, wo sie

stehen. Darüber hinaus repräsentieren die «Soundbells» auch die Elemente Erde,

Feuer, Wind und Wasser, die jedes Lebewesen in sich trägt. Die Soundbells sind

überzogen von Unregelmässigkeiten und Rissen – Hinweise darauf, dass nichts frei

von Fehlern ist. Fehler zu haben bedeutet lebendig zu sein. Denn, so der Künstler,

perfekt ist nur der Moment der Schöpfung. Was darauf folgt, ist Unordnung.

Aus den «Soundbells» ertönen sphärische Klänge. Sie widerspiegeln das Empfinden

von Lebewesen, besonders aber von Menschen indigener Herkunft. Nicht die

äussere Erscheinung will wahrgenommen werden, die oft auf der Grundlage von

stereotypen Erwartungen beurteilt wird, sondern die verborgenen Klangwelten

im Innern, die nicht ohne Weiteres erkennbar sind, die den Menschen aber ausmachen.

«Soundbells» setzt sich mit dem auseinander, was Indigen-Sein heute

ausmacht. Jede der «Soundbells» ist äusserlich fehlerhaft. Ihre Musik lenkt die

Aufmerksamkeit jedoch auf den emotionalen Kern, der wahrhaftig und aufrichtig

ist. Die «Soundbells» tönen an, dass die Hinwendung zu Äusserlichkeiten von der

inneren Wahrheit wegführt. 21

21 Interview mit der Autorin, 2014.

55


Sonya Kelliher-Combs

Inupiaq, Athabaskisch, Deutsch, Irisch, * 1969, Alaska, USA

«Issues of personal, family, and cultural identity

continue to be at the heart of my work. I use

traditional symbols and patterns, and non­traditional

mediums to illustrate these ideas.» 22

56

22 http://museums.alaska.gov/TemporaryExhibits/Sonya/Sonya_Interview.htm


Filmstill aus: PORTRAIT SONYA KELLIHER-COMBS, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.

57


58 Filmstills aus: PORTRAIT SONYA KELLIHER-COMBS, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.


Sonya Kelliher-Combs wuchs in Nome, einer kleinen Ortschaft

in Alaska, auf. Ihren Bachelor in Fine Arts machte sie an der University

of Alaska in Fairbanks, ihren Master an der Arizona State

University. Obwohl sie schon als Kind zeichnete, sah sie sich nie

als werdende Künstlerin. Eher habe die Kunst sie ausgesucht

als sie die Kunst. 23 Ihre Werke sind in vieler Hinsicht eng mit ihrer

Heimat verbunden und reflektieren Themen wie Identität,

Selbstbestimmung, Verlust der Gemeinschaft und gravierende

soziale Probleme. Die Künstlerin ist regelmässig in nationalen

und internationalen Ausstellungen vertreten, unter anderem in

«Hide. Skin as Material and Metaphor» am National Museum of

the American Indian (NMAI). Kelliher-Combs’ Arbeit wurde mit

zahlreichen renommierten Auszeichnungen und Stipendien gewürdigt.

Als Fürsprecherin der Kunst und der Kultur Alaskas ist

sie Mitglied diverser Kunstgremien in der Arktis. Sonya Kelliher-Combs

lebt und arbeitet in Anchorage.

Kelliher-Combs ist in verschiedenen Kunstgattungen zu Hause:

crossmediale Malerei, Skulptur, Collage, Zeichnung und Installation.

In ihren Werken bringt sie synthetische und organische,

traditionelle und moderne Materialien zum Einsatz. Trotz der

unterschiedlichen künstlerischen Kategorien und Materialien

sprechen ihre Werke eine gemeinsame und unverkennbare

Sprache.

23 http://indiancountrytodaymedianetwork.com/

2011/03/11/sonya-kelliher-combs-art-lines-and-shadows-22296

59


GUARDED SECRETS, Sonya Kelliher-Combs, 2014, Foto: Chris Arend.

Karibu- und Schafrohhaut, Stacheln des nordamerikanischen

Baumstachlers, Nylonfaden, Archivklebstoff. Sammlung NONAM.

SMALL SECRETS, Sonya Kelliher-Combs, 2014,

Karibu-Rohhaut, Nylonfaden, Menschenhaar, Glasperlen. Sammlung NONAM.

60


Enthüllte Geheimnisse

GUARDED SECRETS (2014)

& SMALL SECRETS (2014)

Für ihre dreidimensionalen Werke verarbeitet Kelliher-Combs häufig Tierhaut zu

Objekten, die sie mit anderen organischen oder synthetischen Materialien wie

menschlichem Haar, Nylonfäden, Glasperlen und Fellen kombiniert. In «Guarded

Secrets» spickt sie Karibu- und Schafshaut mit den Stacheln des nordamerikanischen

Baumstachlers. Die auf diese Weise wehrhaft gemachten, zellenartigen

Hautbeutel wirken anziehend und abstossend zugleich: anziehend, weil die ungewöhnlichen

Objekte unsere Neugier wecken und wir sie genauer unter die Lupe

nehmen möchten. Abstossend, weil die Stacheln uns eine Annäherung an das

Innere der eigenwilligen Hüllen nahezu verunmöglichen.

Mit nur wenigen Materialien und einfachen Formen gelingt es der Künstlerin, auf

das komplexe Thema gehüteter Geheimnisse – «Guarded Secrets» – hinzuweisen.

Die Geheimnisse sind nach aussen hin sorgfältig abgeschirmt und von innen gestärkt.

Sie bergen Gegensätze: sich verschliessen oder sich öffnen, verbergen

oder enthüllen, schweigen oder zur Sprache bringen, sich schützen oder Verletzlichkeit

offenlegen. Die elliptisch geformte Membran erinnert nicht zufällig an

Geschlechtsorgane.

Auch «Small Secrets» handelt von verborgenen Geheimnissen. In den durchscheinenden

und dennoch undurchsichtigen Behältnissen lassen sich Dinge so verwahren,

dass sie nie ans Licht kommen. Geheimnisse und Tabus wie körperlicher

und psychischer Missbrauch, Gewalt oder Selbstmord werden zuweilen über Generationen

hinweg unter Verschluss gehalten. Indem sie das Schweigen bricht

und dem oft Unaussprechlichen eine Stimme verleiht, enttabuisiert Kelliher-Combs

tragische Ereignisse. Ihr künstlerisches Engagement und ihre Bemühungen,

Licht ins Dunkel zu bringen, werden in der indigenen Gemeinschaft nicht

immer begrüsst. 24

24 Ringlero, Aleta, Sonya Kelliher-Combs: Secret Skin, in: Hide. Skin as

Material and Metaphor, Washington / New York: National Museum of the

American Indian Smithsonian Institution, 2010, S. 46.

61


62

GUARDED SECRETS, Sonya Kelliher-Combs, 2014,

Karibu- und Schafrohhaut, Stacheln des

nordamerikanischen Baumstachlers, Nylonfaden,

Archiv klebstoff. Sammlung NONAM.

SMALL SECRETS, Sonya Kelliher-Combs, 2014,

Karibu-Rohhaut, Nylonfaden, Menschenhaar,

Glasperlen. Sammlung NONAM.


Kelliher-Combs’ Werke beziehen sich sowohl auf das eigene Umfeld als auch auf

dysfunktionale Aspekte der Gesellschaft im Ganzen wie soziale Ausgrenzung

oder persönliche und kulturelle Traumata. Kelliher-Combs versteht die Auseinandersetzung

mit diesen Themen als Chance: «Creating work that addresses difficult

issues like suicide, abuse, and marginalization of populations is not always

easy. The essential part, to me, is to make work that is true and honest. Sometimes

creating this work is cathartic. Sometimes it feels like cutting out a piece of cancer,

but most often it is quiet and a time to contemplate. Often people have told

me how my work has affected them. I can only hope that this work shows people

that they are not alone and that these painful issues must be voiced in order to

transform and promote healing.» 25 Arbeiten hervorzubringen, die schwierige Themen

aufgreifen wie Selbstmord, Missbrauch und Marginalisierung von Menschen,

ist nicht immer einfach. Mir ist wichtig, Arbeiten zu gestalten, die wahrhaftig und

ehrlich sind. Manchmal wirkt die Herstellung einer solchen Arbeit befreiend.

Manchmal fühlt es sich an, als ob man ein Stück Krebs herausschneiden würde,

aber meist ist es eine ruhige Angelegenheit und eine Zeit der Selbstversenkung.

Leute haben mir oft gesagt, wie sie meine Arbeit berührt hat. Ich kann nur hoffen,

dass meine Arbeit den Leuten zeigt, dass sie nicht allein sind und dass diese

schmerzhaften Themen zur Sprache gebracht werden müssen, wenn sie ein Stück

weit transformiert und geheilt werden sollen.

25 http://contemporarynativeartists.tumblr.com/post/19262685549/

sonya-kelliher-combs-inupiaq-athabascan

63


64

UNRAVELED WALRUS FAMILY PORTRAITS, Sonya Kelliher­Combs, 2014, Acrylpolymer,

Polyurethan, Walrossmagen, Archivtinte, Nylonfaden. Sammlung NONAM.


Haut als Symbol

UNRAVELED WALRUS

FAMILY PORTRAITS (2014)

Kelliher-Combs verwendet neben synthetischen Materialien vor allem Tierhäute

und -därme in ihrer Kunst, die sie als Nebenprodukt der saisonalen Jagd von

Freunden erhält. In der Tradition der arktischen Kulturen erfüllten Tierhäute wichtige

Funktionen. Kelliher-Combs weiss um die hervorragenden Eigenschaften des

Materials. Sie verwendet die Häute nicht nur zur Herstellung von Objekten, sondern

in gedehnter, gefalteter oder geschichteter Form auch als Grundlage für

ihre Bilder. Aus Acrylpolymer stellt sie synthetische Häute selber her. In der Gegenüberstellung

von synthetischen und organischen Materialien erforscht sie die

Wechselwirkung der westlichen und der indigenen Kultur. In Arbeiten wie «Unraveled

Walrus Family Portraits» wird Kelliher-Combs’ Gespür für die Ästhetik der

Transparenz der Haut sichtbar. Kombiniert mit Acrylfarben und Tinte werden die

Häute zu Trägern mysteriöser, metamorpher Formen, wie sie sowohl in der Natur

als auch im Menschen vorkommen.

Kelliher-Combs versteht Haut als eine Oberfläche, über die ein Individuum seine

soziokulturelle Herkunft kommuniziert, als Symbol für individuelle und kulturelle

Identität. In Verbindung mit den verwendeten Mustern, Symbolen und Techniken

besitzen ihre Werke sowohl historische als auch persönliche Bedeutung und reflektieren

die Auseinandersetzung der Künstlerin mit ihrer eigenen hybriden

Identität. Anhand der seriellen Werke setzt sie ihre Auseinandersetzung fort und

definiert ihren Platz innerhalb von Familie, Gemeinschaft und nicht zuletzt in der

Welt immer wieder neu. 26

26 Interview mit der Autorin, 2014.

65


Gina Adams

Anishinaabe (Ojibway), Lakota, Irisch, Litauisch, * 1965, Connecticut, USA

«In storytelling I am moved by a sense of discovery

and connection, and much of it is also deeply

connected and rooted in place and land. My life’s

journey is about where the land, peoples, and

stories come together. It is my wish that the viewer

will bring their own experience when viewing my

work. Thank you for taking the time for your own

discovery as it brings meaning to the day.

Miigwetch / Thank you.» 27

66

27 http://www.ginaadamsartist.com/bio.html


Filmstill aus: PORTRAIT GINA ADAMS, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.

67


68 Filmstills aus: PORTRAIT GINA ADAMS, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.


Gina Adams verbrachte ihre frühe Kindheit in San Francisco

Bay und ihre Jugendjahre in Maine. Sie studierte Kunst an der

University of Kansas, wo sie mit einem Master of Fine Arts abschloss.

Adams’ crossmediale, hybride Kunst umfasst Skulptur,

Keramik, Malerei, Druck und Zeichnung. Ihre Arbeiten sind Gegenstand

zahlreicher Ausstellungen in den USA, ihre Werke

sind in öffentlichen und privaten Sammlungen vertreten. Zu

ihren jüngeren Ausstellungen gehören «Stands With A Fist» am

Museum of Contemporary Native Art in Santa Fe und «Survival

/ Zhaabwiiwin» am Bemis Center for Contemporary Arts in

Omaha, Nebraska sowie am Institute of Contemporary Art in

Portland, Maine. Adams ist als Kuratorin tätig, unterrichtet an

Universitäten und nimmt an Artist-in-Residence-Programmen

teil. Für ihre Arbeit erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen. Die

Künstlerin lebt und arbeitet in Lawrence, Kansas. 28

Hybride Welten

Gina Adams erschafft ihre Welten nicht auf dem Rücken einer Schildkröte, wie es

dem Schöpfungsmythos ihrer indigenen Kultur entsprechen würde. Sie erschafft

Welten auf dem Rücken eines Basketballs. Das Recht auf Land mag vielerorts

Geschichte sein, das Recht auf eigene Welten und Wirklichkeiten ist für Gina

Adams Gegenwart und Zukunft. Adams’ Werke reflektieren ihre multikulturelle

Herkunft und Identität sowie die Welt, in der sie heute lebt. Was sie beschäftigt

und bewegt, fliesst in ihre Arbeit ein. Alles findet seinen Platz – von der litauischen

Spitze ihrer Grossmutter über die Midewiwin-Lehren ihres Grossvaters bis

hin zu postkolonialen Theorien. Die Künstlerin forscht und gestaltet, nimmt auseinander

und setzt neu wieder zusammen. Sie mischt Medien, Themen und Kulturen

und erschafft kunstvolle Hybride, die tief in indigener Erde wurzeln.

28 http://www.ginaadamsartist.com/bio.html

69


70

HONORING MODERN, Gina Adams, 2010, Keramik, Enkaustik. Sammlung NONAM.


Adams’ «Weltkugeln» bestehen aus gebranntem Ton. Als Teil

des Landes symbolisiert die Tonerde das Überleben indigener

Kulturen seit alters her. Die Wulsttechnik des Aufbaus steht für

Kulturverlust – für indigenes Wissen, das nicht auf traditionellem

Weg an die Künstlerin weitergegeben wurde. Die keramische

Ober fläche ist in der griechisch-römischen Technik der

Enkaustik mit in Wachs gebrannten Motiven überzogen. Das

Einbrennen sollte schon in der Antike die Gedanken der Künstler

unvergänglich machen.

HONORING MODERN (2010)

Auch im 21. Jahrhundert sind die Folgen der erzwungenen Integration der indigenen

Bevölkerung in die nordamerikanische Gesellschaft noch weithin spürbar. Für

Adams und viele andere sind Assimilation und Identitätsverlust Teil der Familiengeschichte.

Identität stiften heute aber längst nicht mehr nur überlieferte Kulturen

und Traditionen. Längst gibt es auch andere Möglichkeiten und gänzlich neue

Identitäten, zum Beispiel im Sport.

Für «Honoring Modern» stand ein Basketball Pate. Auf der keramischen Oberfläche

ist der Schriftzug des amerikanischen Sportartikelherstellers Wilson erkennbar.

Basketball ist eine der Sportarten, die indigenen Heranwachsenden Perspektiven

bieten: Stipendien für Studierende, Ruhm, Ehre und ein gesichertes

Einkommen für professionelle Athleten, vor allem aber Identität. Und wer Glück

hat, sichert sich sogar einen Platz in der American Indian Athletic Hall of Fame. 29

Ein Spiel als Überlebenschance.

«Honoring Modern» entstand im Kontext von Adams’ Auseinandersetzung mit

der kulturellen Assimilation ihrer Vorfahren. Ihr Grossvater war Opfer der Assimilierungspolitik

der USA, er wurde gezwungen, eine der vielen Internatsschulen zu

besuchen. «Honoring Modern» könnte als kritischer Kommentar verstanden werden,

denn auch die Internatsschulen setzten auf Basketball und andere Sportarten,

um die Assimilation voranzutreiben.

Doch Spiele, Sport und Wettkampf sind in indigenen Traditionen fest verankert.

Grosse Krieger, erfolgreiche Jäger und ruhmreiche Wettkämpfer genossen grosses

Ansehen. Das Gleiche gilt für Sportidole und Basketballhelden. So kann auch

ein Basketball neue Welten erschliessen und die Grundlage für eine neue Identität

liefern. Grund genug, auch das Moderne zu ehren.

29 http://www.ginaadamsartist.com/honoring_modern.html

71


72

HONORING MODERN UNIDENTIFIED, Gina Adams, 2013, Keramik, Enkaustik. Sammlung NONAM.


Menschen ohne Namen und Geschichte

HONORING MODERN UNIDENTIFIED (2013)

Auch «Honoring Modern Unidentified» wurde auf einem Basketball erschaffen.

Das Werk basiert auf der Recherche von Fotografien nicht identifizierter indigener

Personen, die im Museumskontext zu Illustrationszwecken für Artefakte verwendet

wurden. Die Zuordnungen waren willkürlich und reflektierten keine tatsächlichen

Verbindungen zwischen Bild und Objekt. Durch die konstruierten

Zusammenhänge und die Instrumentalisierung der Anschauungsobjekte wird der

Verlust von Identität, Kultur und Land verstärkt. Motive aus der Kultur der Anishinaabe

erinnern an die Herkunft der Künstlerin. Die Zeichen und Symbole

stammen von traditionellen Birkenrindenmustern und stellen den Bezug zur Midewiwin

her, der grossen Medizingesellschaft der Anishinaabe, der auch Adams’

grossväterliche Linie angehörte und deren Lehren und Heilwissen sich auch die

Künstlerin widmet. Gina Adams erschafft Welten und Identitäten – für Menschen,

an die sich niemand mehr erinnert, für Athleten, für die ein Spiel die Welt bedeutet,

und nicht zuletzt auch für sich selbst. 30

30 http://www.ginaadamsartist.com/

honoring_modern_unidentified.html

73


74

SCRIBE, Gina Adams, 2010, Enkaustik. Sammlung NONAM.


SCRIBE (2010)

Ihre Rückkehr zum Land und zu ihren Ältesten inspirierte Gina Adams zu «Scribe».

Die Serie ist eine Hommage an die Medizingesellschaft der Anishinaabe mit ihren

überlieferten Lehren und Prophezeiungen, mit ihrem Heil- und Heilpflanzenwissen.

«Scribe» würdigt die Heilkraft des Landes und das Land als Heiler.

Die Lehren der Midewiwin wurden auf Birkenrindenrollen geritzt. Die Anishinaabe

hielten in Zeichen und Symbolen rituelle, spirituelle und kosmologische Inhalte

fest und verorteten den Platz der Menschen in der Welt. Wer wie Gina Adams

zwischen verschiedenen Kulturen aufgewachsen ist, tut sich mitunter schwer, seinen

Platz zu finden. Die Künstlerin erschafft eigene Landschaften und eine eigene

Zeichensprache. In diese übersetzt sie die Spitzenarbeiten ihrer irischen und litauischen

Grossmütter, die Perlenarbeiten ihrer Anishinaabe- und Lakota-Grossväter

und die Muster traditioneller Birkenrindenrollen. In Landschaften aus Wachs

markieren ihre Zeichen Meilensteine einer Suche nach Herkunft, Identität und

Zugehörigkeit.

75


Ross Chaney

Osage, Cherokee, * 1972, Oklahoma, USA

«My art is a reflection

of my personal experience

as I can move and flow

in several cultures and

languages. I am a free

agent and not tied down

to one system of

demands.» 31

76

31 Interview mit der Autorin, 2014.


Filmstill aus: PORTRAIT ROSS CHANEY, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.

77


78 Filmstills aus: PORTRAIT ROSS CHANEY, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.


Ross Chaney ist Mitglied des Osage-Stammes und der Cherokee

Nation und wuchs in Oklahoma auf. Als Legastheniker machte

er schon früh seine Erfahrungen mit Verlust und dem Gefühl,

nicht dazuzugehören. Während seine Mutter seine Bildung im

Auge behielt, suchte er selber Zuflucht in der Kunst. Inzwischen

haben beide Wege zu Zielen geführt. Als erster Student der

University of Oklahoma erhielt Chaney ein Stipendium in Japan.

In Kyoto erwarb er einen Mastertitel in International Relations,

in einem zweiten Studium widmete er sich der japanischen

Kunst, Sprache und Kultur. Im Alter von fünfundzwanzig Jahren

hielt er bereits seinen zweiten Masterabschluss in Händen. Japan

liess ihn nicht wieder los.

Hauptberuflich arbeitet Chaney als Direktor für ökonomische

Ent wicklung für die Stadt Santa Fe in New Mexico, nebenberuflich

ist er Multimedia-Künstler. In seiner Freizeit engagiert er

sich in einem Zentrum für Kinder, die Traumata und Trauer verarbeiten.

Er arbeitet in Medien wie Malerei, Zeichnung, Video,

Film und Installation. Als Künstler bezeichnet er sich als autodidaktischen

Aussenseiter.

79


80

VERMONT TO SANTA FE, WATER AND SNOW, Ross Chaney, 2012/2013, Sumi-Tusche auf Archivpapier. Sammlung NONAM.


Kulturübergreifende Meditationen

VERMONT TO SANTA FE,

WATER AND SNOW (2012–2013)

Feine Linien fügen sich zu lebhaften Mustern zusammen. Chaneys abstrakte

Werke erinnern an Bilder in der Natur: Abdrücke im Schnee, schmelzendes Wasser,

Ritzen in Steinen, knorrige Äste, Spinnennetze. «Vermont to Santa Fe, Water

and Snow» reflektiert Chaneys kulturübergreifende Meditationen zu Mensch, Umwelt

und heutigem Leben. Die Verbundenheit des Künstlers mit der japanischen

Kultur ist unverkennbar und äussert sich nicht zuletzt im Gebrauch der Sumi-Tinte,

die auch in der Zen-Malerei verwendet wird. Die Entstehung der vierteiligen Serie

ist mit der Erinnerung an eine intensive, tranceähnliche Erfahrung in Vermont

verbunden. Die Serie wurde in Vermont begonnen und in Santa Fe beendet. 32

Intuition statt Perfektion

Intuitives Schaffen spielt für Chaney eine wichtige Rolle. In seiner künstlerischen

Arbeit vermeidet er bewusst jedes Streben nach Perfektion. Sein Kunstschaffen

gleicht einer Entdeckungsreise, die geprägt ist von Erinnerungen, Worten und

Farben sowie von traditionellen und zeitgenössischen Symbolen. Der Künstler

schöpft gerne aus dem Unbewussten. Seine Arbeiten sind von der japanischen

Kultur und von seiner eigenen indigenen Herkunft inspiriert. Seine abstrakte Malerei

reflektiert zuweilen die Musik der alljährlichen In-Lon-Schka-Tänze in Pawhuska,

Oklahoma.

Chaney ist überzeugt von der heilenden und verändernden Kraft der Kunst. Werke

lösen Assoziationen, Gedankengänge und Emotionen aus, stossen Handlungen

an und setzen Erkenntnisse frei. Kurz: Sie entwickeln ein Eigenleben. Chaney

stellt seine Kunst in den Kontext der Komplexitätstheorie, der zufolge die Elemente

eines grösseren Ganzen stets in Bewegung sind, agieren, reagieren und

sich verändern und somit Einfluss nehmen auf das System, dessen Bestandteil sie

sind und das sie schliesslich ebenfalls verändern.

32 Interview mit der Autorin, 2014.

81


82 Michael Belmore beim Arbeiten an «Roiling in Silence», Zürich, 2014. Foto: Julia Tabakhova.


Michael Belmore

Anishinaabe (Ojibway), * 1971, Ontario, Kanada

«A lot of my work is in essence conceptual. But it’s

very much grounded in the traditions of where my

grandparents came from, where I come from. It’s

about being connected to the land.» 33

33 https://www.youtube.com/watch?v=xSjnO74Kp70

83


84 Michael Belmore beim Arbeiten an «Roiling in Silence», Zürich, 2014. Fotos: Julia Tabakhova.


Michael Belmore ist Mitglied der Royal Canadian Academy of

Arts. Sein Diplom in Bildhauerei und Installation erhielt er vom

Ontario College of Art and Design in Toronto. Geboren und

aufgewachsen ist Belmore nördlich von Thunder Bay, Lake

Superior.

Belmore arbeitet mit Kunststoff, Metall, Stein und Holz. Bekannt

ist er für seine grossformatigen Werke in Stein und Metall.

Material spielt in seiner Arbeit eine wichtige Rolle, seine

Geschichte, seine Herkunft und seine Eigenschaften eröffnen

den Zugang zum Verständnis der Skulpturen und Installationen.

Dabei dienen die verwendeten Rohstoffe immer der mahnenden

Erinnerung – an den Preis der Ware und an die imaginären

Werte, die Menschen der Natur zuweisen.

Belmores Arbeit wurde mit zahlreichen Auszeichnungen gewürdigt,

unter anderem vom Ontario Arts Council, vom Canada

Council und von der Canadian Native Arts Foundation.

85


86

ROILING IN SILENCE, Michael Belmore, 2014, Behauene Flusskiesel, Kupferfolie. Sammlung NONAM.


Die Kraft von Wasser, Stein und Zeit

ROILING IN SILENCE (2014)

Nichts prägte Nordamerika so sehr wie die gestalterische Kraft des Wassers.

Michael Belmores Arbeit ist inspiriert von der Landschaft des Nordens. Steine,

Wasser und Zeit faszinieren ihn. Ebenso das Land und wie es geformt wurde.

Seine Arbeit befasst sich mit Orten, wo Wasser und Land aufeinandertreffen.

Das Nordufer des Lake Superior lieferte die Inspiration für Installationen mit Stein

wie «Roiling in Silence». Das Clink-clink-clink geschliffener, in den Wellen rollender

Kiesel löste bei Belmore die Frage nach ihrem Ursprung und den Kräften aus,

die die Steine einst formten und ans Ufer brachten.

Der Bildhauer bearbeitet sorgfältig ausgewählte Steine und arbeitet sich in ihr

Inneres vor. Wo die Natur konkave Rundungen hinterlassen hat, antwortet er mit

konvexen Formen. So fügt er Stein um Stein aneinander und lässt Skulpturen

wachsen.Aus verborgenen Ritzen leuchtet Kupfer. Es erinnert an die indigen genutzten

Kupfervorkommen des Lake Superior und an Schätze, die Steine in ihrem

Innern verbergen. Ausserdem ist es ein Signal, das an menschliche Begehrlichkeiten

erinnert, die das Land zur Ware machen.

Für das NONAM übersetzte Michael Belmore seine Kunst in die Sprache der Steine

und des Wassers in der Schweiz.

87


88

BASIN, Michael Belmore, 2012, Kupfer. Sammlung NONAM.


BASIN (2012)

Wie aus der Vogelperspektive schaut man hinab auf Belmores «Basin», eine

Landschaft aus Kupfer, in deren Mitte der flächenmässig grösste Süsswassersee

der Welt, der Lake Superior, zu erkennen ist. Durch seine fein gehämmerte Oberflächenstruktur

hebt sich das Becken des Sees klar von der gewellten Kupferplatte

ab. Der Lake Superior enthält zehn Prozent des weltweiten Süsswasservorkommens

und wird von über dreihundert Zuflüssen gespeist. Mit seinen 10000

Jahren ist er der jüngste See seiner Art. Regelmässig kehrt Belmore zum Ufer des

Lake Superior zurück, der für ihn ein Stück Heimat ist. Das Land bestimmt Belmores

Kreativität entscheidend mit. Es liefert ihm Inspiration für seine Arbeit und

das Material für seine Kunst – und es prägt es seine Identität.

Die Landschaft rund um den See ist das Resultat eines gewaltigen Naturakts, in

der das Wasser die Hauptrolle spielt. Daneben prägte jedoch nichts die Landschaft

so sehr wie der Mensch, der Flüsse korrigiert, Bäche umleitet, Feuchtgebiete

reguliert und, nicht nur im übertragenen Sinn, Berge versetzt. «Basin»

widerspiegelt den menschlichen Einfluss auf die Umwelt und den Menschen als

eigenmächtigen Gestalter der Landschaft. Die Struktur des gehämmerten Kupfers

erinnert an vernarbte Haut und weist darauf hin, dass der Mensch irreversible

Spuren hinterlässt. Belmore übersetzt den Eingriff des Menschen in die Natur in

den Arbeitsprozess, den er auf das Kupfer anwendet. Die Formbarkeit des Metalls

setzt er gleich mit der Formbarkeit der Landschaft. Jeder Hammerschlag hinterlässt

seine Spuren. Das endgültige Muster entsteht aus dem Zusammenspiel

kunstvoll gesetzter, gelungener Schläge und solcher, die fehlgeschlagen sind.

Die Entdeckung der Langsamkeit

Beeindruckend und geradezu unzeitgemäss ist Belmores Umgang mit der Zeit,

der in seinen Arbeitsprozessen zum Ausdruck kommt. In einer Zeit, in der Geschwindigkeit

und Schnelllebigkeit den Alltag bestimmen, zeigt sich Belmore von

solchen Einflüssen unbeeindruckt. Zeit und Aufwand schrecken ihn nicht – beides

gesteht er seinen Werken zu. Er nimmt sich Zeit, um sein Material kennenzulernen,

und widmet sich seinen Werken mit Geduld, Hingabe und Ausdauer. Seine

Arbeiten sind kunstvolle Meditationen, die in langwierigen, gleichförmigen Prozessen

entstehen – wie geschaffen, um nicht nur in den Körper, sondern auch zur

Seele des Materials vorzudringen.

89


90

EFFUSE, Michael Belmore, 2014, Kupferdraht, Kupfer- und Aluminiumperlen. Sammlung NONAM.


EFFUSE (2014)

«Effuse» verbindet die traditionelle Perlenarbeit der Anishinaabe mit der digitalen

Computersprache, dem ASCII-System des Binärcodes. Die Algonkin-Kulturen

des östlichen Waldlandes verwendeten Meeresschnecken und Muscheln zur Herstellung

von Perlen in zwei Farben (Weiss und Violett), die sie in Gürteln und

Bändern verarbeiteten. Die sogenannten Wampum Belts bildeten die Grundlage

von Verträgen. Ihre Zeichen und Symbole dokumentierten die Übereinkünfte der

Vertragspartner. Das binäre System des ASCII verwendet für seine Codes zwei

Zeichen, etwa 0 und 1. Belmore bedient sich des Binärcodes in einer Abfolge aus

Kupfer- und Aluminiumperlen. Wer den Code entschlüsselt, erhält die Aussage

«spread out flat without definite form» (flach ausgebreitet ohne endgültige

Form). Er erinnert an vergessene Codes, die die Grundlage heutiger Wirklichkeiten

sind – seien es die Verträge der Wampum Belts oder die Codes hinter der

Technologie, die wir täglich verwenden.

91


Frank Shebageget

Anishinaabe (Ojibway), * 1972, Ontario, Kanada

«My focus on historical and contemporary intercultural

history was an attempt to locate positive

connections that have been established between

native and non­native cultures, without falling into

tropes of stereotypical issues about native culture.» 34

92

34 Jennifer Gibson: Frank Shebageget, Winnipeg: Gallery 1C03

und Anthropology Museum of the University of Winnipeg, 2013, S.4.


Foto: Frank Shebageget, 2004.

93


94 Fotos: Frank Shebageget, 2008.


Frank Shebageget ist bekannt für seine grossformatigen Installationen,

in denen er persönliche, kulturelle, historische und

zeitgenössische Elemente zu eindrücklichen und vielschichtigen

Werken verbindet. Viele seiner Arbeiten bestehen aus unzähligen

von Hand gefertigten Einzelobjekten, die zu einem

wahrhaft grossen Ganzen verschmelzen. Der Künstler arbeitet

vor allem mit Holz, Metall und Zement. Shebageget wuchs im

kanadischen Upsala, im Norden des Lake Superior auf. Geschichte

und Geografie seiner Heimat liefern ihm viele Impulse

für sein Kunstschaffen. Shebageget studierte am Ontario College

of Art, Toronto, und absolvierte seinen Master in Kunst an

der Universität in Victoria, British Columbia. Seine Werke sind

in wichtigen kanadischen Sammlungen vertreten, u.a. in der

Ottawa Art Gallery und der Canada Council Art Bank.

95


96

LODGE, Frank Shebageget, 2008, Lindenholz, Stahl. Sammlung NONAM.


Fliegende Biber erschliessen das Land

LODGE (2008)

1692 kleine Flugzeuge liegen kreuz und quer über- und untereinander auf einem

grossen Haufen. Es sind ebensoviele handgefertigte Modelle des legendären

Wasserflugzeugs Beaver, wie seit 1947 in Kanada gebaut wurden. Beaver gelten

als Ikonen kanadischen Ingenieurwesens und Designs. Die akribische Handarbeit

des Künstlers kontrastiert die industrielle Produktion der Originale und erinnert

zugleich auch an die überaus arbeitsamen Nager, nach denen die Flugzeuge benannt

sind. Biber sind hervorragende Baumeister, die unentwegt ihre Arbeit verrichten

und mit ihren Bauten und Dämmen massgeblich ihre Umwelt verändern.

So gesehen erinnert der Biberdamm auch an Staudammprojekte, die indigenes

Land unter Wasser setzten und Teile der indigenen Bevölkerung ihrer Lebensgrundlage

beraubten. Die zentrale Rolle des Bibers im Pelzhandel und in der Entstehung

des Landes machten ihn zu einem der Wahrzeichen Kanadas.

Neben ihrer Robustheit und Zuverlässigkeit waren die Beaver vor allem wegen

ihrer Flexibilität gefragt. Dank Schwimmern und Ski waren sie auch in unwegsamem

Gelände einsetzbar. Beaver erreichten entlegene indigene Dörfer, verbanden

Orte miteinander, gewährleisteten den Zugang zu externen Gütern, brachten den

Fortschritt und steigerten die Lebensqualität. Jedoch weckten sie – das ist die

Kehrseite der Medaille – auch kommerzielle Interessen am Land der Ureinwohner

und förderten die Ressourcenspekulation der westlichen Industriegesellschaft.

Die Erschliessung Kanadas mithilfe der Beaver rief auch Wasserkraftprojekte auf

den Plan, in deren Windschatten historische Vertragsrechte missachtet wurden,

Zwangsumsiedlungen erfolgten und sensible Ökosysteme zerstört wurden.

Wer mit den kuppelförmigen Behausungen der Anishinaabe vertraut ist, fühlt

sich durch Form und Titel der Installation auch an die traditionelle indigene Behausung,

den Wigwam, erinnert, der ebenfalls oft schlicht als Lodge bezeichnet

wird. Und schliesslich ist die aus Beaver-Modellen bestehende «Lodge» auch ein

Biberbau. Sowohl Beaver (Flugzeug) als auch Biber (Pelztier) prägten die Erschliessung

Kanadas massgeblich mit. Beide trugen dazu bei, dass die Europäer

immer weiter ins Land vordrangen – das Flugzeug durch seine Geländegängigkeit,

das Pelztier, weil sein kostbares Fell europäische Jäger und Händler immer

weiter ins Landesinnere lockte. Shebagegets Werke sind komplex und, im Fall

von «Lodge», im wörtlichen Sinn vielschichtig. Sie reflektieren Welten und Zusammenhänge

nicht in Schwarz und Weiss, sondern in vielen verschiedenen

Schattierungen.

97


98

CASTOR‘S CASTOREUM, Frank Shebageget, 2006, Giessharz, Acryl, Biberpelz. Sammlung NONAM.


CASTOR’S CASTOREUM (2013)

Hübsch leuchten sorgfältig arrangierte Flakons, die man eher in einer Parfümerie

als in einer Ausstellung erwarten würde. Ihr Design ist organisch, ihre Farbgebung

bunt und doch geheimnisvoll. Tatsächlich ist das eigenwillige Design gar

kein Design, sondern es handelt sich um Abgussformen der Drüsensäcke des Bibers.

In den Drüsen oder Geilsäcken produziert der Biber das einst begehrte und

teuer gehandelte Bibergeil oder Castor Castoreum, das in der Herstellung hochwertiger

Parfums unentbehrlich war.

«Castor’s Castoreum», das sind schick aufgemachte Produkte, die die Aufmerksamkeit

auf sich ziehen, um unvermittelt auf eine andere Fährte zu lenken. Shebageget

betrachtet das Produkt im Kontext seiner Geschichte und touchiert auf

subtile Weise ein Thema, das ethische Fragen aufwirft.

Sein Drüsensekret und der wertvolle Pelz machten den Biber zu einer begehrten

Beute im nordamerikanischen Pelzhandel. Indigene Jäger tauschten die Pelze an

den Handelsstationen gegen europäische Güter und rotteten den Biber unter

dem Druck der Nachfrage in Europa in vielen Regionen nahezu aus. Auch für Shebagegets

Familie stellte der Handel mit Biberfell und dem Castoreum eine Einnahmequelle

dar. Der Künstler erinnert sich, wie er als Kind seiner Mutter dabei

zusah, wie sie Felle dehnte, trocknete und den erlegten Tieren die Drüsen herausschnitt.

Diese verkaufte sie für einen Stückpreis von 10 bis 15 kanadische Dollar

an die Hudson’s Bay Company. «One time, when I was about 5 years old, I was

playing in the basement and my mother came in carrying a couple of beaver

castors. She proceeded to string them up on the support beam and I asked her:

‹Why did you do that?›. She told me ‹They make perfume out of them!›»

99


Diego Romero

Cochiti Pueblo, Euro-Amerikanisch, * 1964, Kalifornien, USA

«I think that I have developed a narrative and

a voice. I like these little cartoony, political comments

on bowls, and I like the fact that I can comment

on the history of the pueblo people.» 35

100

35 http://www.robertnicholsgallery.com/Robert_Nichols_Gallery/Artists/Pages/DIEGO_ROMERO_1_files/diego­statement_1.jpg


Filmstill aus: PORTRAIT DIEGO ROMERO Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.

101


102 Filmstills aus: PORTRAIT DIEGO ROMERO Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.


Diego Romero stammt aus einer ausgesprochen kreativen Familie.

Er und sein Bruder Matéo sind bereits in dritter Generation

professionelle Künstler. Als Sohn eines Vaters mit Wurzeln

bei den Cochiti Pueblo und einer euro-amerikanischen Mutter

wuchs Romero in Berkeley, Kalifornien, auf. Er selbst bezeichnet

sich als Mischung aus Stadtkind und Cochiti-Indianer. Schon

als Kind faszinierten ihn Ruinen und antike Keramik. Die Ausbildung

am Institute of American Indian Arts (IAIA) in Santa Fe

war nicht mehr als ein logischer Schritt. Er besuchte ausserdem

die Otis-Parsons School of Design und die University of California

(UCLA) in Los Angeles. Romeros Keramiken sind in Museumssammlungen

auf der ganzen Welt vertreten, unter anderem

im Denver Art Museum, im British Museum in London sowie in

der Fondation Cartier in Paris.

Zu seinen Inspirationsquellen zählt Romero die Gutenachtgeschichten

seines Vaters, griechische Mythologie, die vorkolumbianische

Mimbres-Keramik aus New Mexico, Legenden

der Cochiti Pueblo, Marvel-Comics und CNN. Romero gehört

einer Generation von Keramikkünstlern an, die antike und präkolumbische

Motive mit provokativen Inhalten zu einer explosiven

Mischung vermengen, die sie mit zeitgenössischen grafischen

Elementen zum Ausdruck bringen.

103


104

GAMBLER & DEALER, Diego Romero, 2013, Keramik. Sammlung NONAM.


Comics in Ton

GAMBLER & DEALER (2013)

Romeros Arbeiten sind selten unverfänglich. Oft sind sie gekennzeichnet von bissiger

Satire, schonungslosen Szenen der Kolonialgeschichte und unverschleierten

Darstellungen des indigenen urbanen Lebens oder des Alltags im Reservat.

Die Keramikschalen «Gambler» und «Dealer» zeigen zwei von Romero erfundene

Figuren, die Chongo-Brüder. Sie tauchen in unterschiedlichen Rollen in

seinen Werken auf, als Superhelden, Säufer oder Spieler. 36 Chongo bezeichnet

einen indigenen Mann aus dem Südwesten, der sein Haar in Form eines traditionellen

Haarknotens trägt. Ein weiteres Merkmal der Brüder sind ihre markanten

Bierbäuche.

Die Casinoszene in «Gambler» erinnert an einen Comic. Der Spieler ist ins Roulettespiel

versunken und wirkt reichlich mitgenommen. Im Hintergrund leuchtet

hell das Lämpchen eines Spielautomaten, fast meint man, das Gedudel des Apparats

zu hören. Spielsucht ist in indigenen Kreisen ein grosses Thema. Von den einen

als Chance für Selbstbestimmung und ökonomisches Wachstum betrachtet,

sehen andere das Geschäft als Gefahr für die indigene Bevölkerung und verweisen

auf die Ungleichheit des Reichtums von Stämmen mit und ohne Casinos. 37

Der «Dealer» zeigt die Casinoszene von der andern Seite. Er trägt eine Fliege um

den Hals, und seine Ähnlichkeit mit Coyote, dem Trickster, ist unverkennbar. Er

giert nach dem Geld des Spielers. Haartracht und Bierbauch deuten darauf hin,

dass sich dahinter wohl ebenfalls ein Chongo-Bruder verbirgt. Auch er ist mit

starrem Blick und offenem Mund ins Spiel vertieft. Im Hintergrund auch hier das

Lämpchen – es lässt Coyotes Kassen klingeln.

36 In der Literatur werden die «Chongo Brothers» manchmal als Repräsentationen

von Diego Romero und seinem Bruder Matéo bezeichnet. Der

Künstler verneint jedoch diesen Zusammenhang.

37 Seit dem Inkrafttreten des «Indian Gaming Regulatory Act» (IGRA) im

Jahr 1988 ist es den indigenen Stämmen in den Vereinigten Staaten per

Gesetz erlaubt, Casinos auf Reservatsland zum Zweck der wirtschaftlichen

Entwicklung zu betreiben.

105


106

GAMBLER & DEALER, Diego Romero, 2013, Keramik. Sammlung NONAM.


Romeros Ton gewordene Comics sind keine Geschichten in Schwarz und Weiss,

von Tätern und Opfern. Zwar können die Chongo-Brüder durchaus als Metapher

für den entrechteten, am Rande der Gesellschaft lebenden Indianer verstanden

werden. Doch treten sie an anderer Stelle auch als Geschäftsleute oder engagierte

Aktivisten auf. Die Chongo-Brüder spiegeln Charakterzüge, die Romero in

allen Bereichen der indigenen Gesellschaft des Konsumzeitalters wahrnimmt. 38

Faszination Keramik

Romeros Begeisterung für Keramik hat nicht zuletzt mit der Lebensdauer des

Materials zu tun. Der Gedanke, dass sich Menschen auch in tausend Jahren noch

seine Keramiken ansehen können, fasziniert. Wie viele der Cochiti-Keramiker verwendet

Romero Ton aus traditionellen Quellen. Er bedient sich bei der Herstellung

der Schalen der überlieferten Cochiti-Coiling-Technik 39 und erweitert diese

mit innovativer Grafik und einer komplexen Farbbehandlung. Nachdem die Schalen

von Hand aus weissem Ton geformt und die Oberfläche mit einem Stein geglättet

worden ist, wendet sich Romero der grafischen Gestaltung zu. Seine Motive

überträgt er mithilfe von Schablonen und Bleistift auf den Ton und malt sie

dann mit einer Mischung aus natürlichem rotem Cochiti-Ton und industrieller

schwarzer Unterglasur nach. Schliesslich werden die Gefässe in einem elektrischen

Ofen gebrannt, der bis zu 927 Grad heiss wird. Nach der Signierung werden

sie nochmals gebrannt, diesmal bei tieferer Temperatur. Alle Schritte sind

präzise aufeinander abgestimmt. Die Herstellung einer Schale nimmt mehrere

Wochen in Anspruch.

38 http://www.britesites.com/native_artist_interviews/dromero.htm

39 Bei der Coiling-Technik werden die Gefässe ohne Töpferscheibe

von Hand angefertigt. Die Gefässe werden mit schlangenförmigen

Rollen aus Ton geformt.

107


108


David Bradley

Minnesota Chippewa, Europäer,* 1954, Minnesota, USA

«To be an artist from the Indian world carries with it

certain responsibilities. We have an opportunity to

promote Indian truths and at the same time help

dispel the myths and stereotypes that are projected

upon us. I consider myself an at-large representative

and advocate of the Chippewa people and American

Indians in general. It is a responsibility which I do

not take lightly.» 40

40 http://plainsart.org/collections/david-p-bradley/

109


110 Foto: David Bradley, 2013.


David Bradley wuchs in Minnesota auf und ist Mitglied des Minnesota

Chippewa Tribe. Er ist ein international anerkannter Maler,

Grafiker, Bildhauer, Schmuckdesigner und Keramiker. Bradley

studierte am College of Santa Fe und am Institute of

American Indian Arts (IAIA) in Santa Fe, wo er auch als Gastprofessor

und Artist in Residence tätig war. Bradleys Kunst

wurde mit zahlreichen Auszeichnungen und Stipendien geehrt.

Sie ist Gegenstand von nationalen und internationalen Ausstellungen

und in Sammlungen auf der ganzen Welt vertreten.

Bradley versteht sich jedoch nicht nur als Künstler, sondern

auch als Aktivist für indigene Angelegenheiten. Bradley war Vize-Präsident

und Mitbegründer der Native American Artists

Association (NAAA) und Mitglied des Planungsteams für das

Smithsonian National Museum of the American Indian (NMAI)

in Washington, DC. Der Künstler lebt und arbeitet in Santa Fe,

New Mexico.

111


112

LAND O‘FAKES, David Bradley, 2009, Acryl auf Leinwand. Sammlung NONAM.


Von der Butterschachtel zum politischen Statement

LAND O’FAKES (2007)

Bradleys Werk ist bekannt für seinen erzählerischen Stil, der in Allegorien spricht

und auf Parodie und Persiflage zurückgreift. Der Künstler schöpft aus dem formalen

Repertoire der Folk Art und der amerikanischen Pop Art. Als Inspirationsquellen

bezeichnet er die Kunst von Allan Houser (Apache), Fritz Scholder (Luiseño),

Fernando Botero, Diego Romero und Henri Rousseau. Bradleys Werke stecken

voller Humor, Satire und Sarkasmus. Seine Kunst ist untrennbar mit seiner politischen

Aktivität verbunden. Seine künstlerischen Reflexionen sollen die indigene

Bevölkerung dazu aufrufen, ihre Identität für sich zu beanspruchen und ihre Kultur

zu bewahren.

Das Zusammenspiel von Persiflage und politischem Statement tritt in «Land

O’Fakes» deutlich zu Tage. Der Schriftzug «Land O’Fakes» und die indianisch anmutende

Frau persiflieren die Butterverpackung der amerikanischen Marke Land

O’Lakes. Die Firma aus Minnesota, der Heimat des Künstlers, wirbt für ihr Produkt

mit einem der meistverbreiteten Stereotype: der indianischen Prinzessin. Obendrein

könnte die vermeintliche Indianerin auch eine Fälschung sein, eine Weisse

im Indianerkostüm. Ihr Flaggenkleid deutet darauf hin, dass sie geradezu die Personifikation

des Land O’Fakes, des Landes der Fälschungen – Amerikas –, ist.

Vor dem Gesicht hält sie eine austauschbare Maske, in der Hand eine Waage.

Diese wiegt einen Dollarschein gegen eine Feder auf. Auf die Kommodifizierung

und Kommerzialisierung indigener Kultur spielen auch die Schriftzüge «Museum

Currency» (Museumswährung) und «1990 Indian Arts and Crafts Act» an. Letzterer

verweist auf das 1990 in den USA in Kraft getretene Gesetz, das den Missbrauch

der Bezeichnung «indianische Kunst» durch nicht-indianische Künstler

unter Strafe stellt. 41 Als Mitglied der Native American Artists Association (NAAA)

gehörte Bradley zu den treibenden Kräften hinter dem Gesetz. Vor und nach der

Implementierung gab es zahlreiche heftige Kontroversen darüber, wer das Recht

hatte, sich als indianischen Künstler zu bezeichnen, und was als indianische Kunst

gelten sollte. Bradleys eigenen Aussagen zufolge hatte sein Engagement für das

Gesetz gravierende persönliche und berufliche Konsequenzen. 42 Der erhängte

Künstler in «Land O’Fakes» dürfte vor diesem Hintergrund nicht nur seine Allegorie

entlarvter Künstler sein, sondern auch ein Abbild dessen, was Bradley selbst

als Rufmord bezeichnete. Das Werk weist nachdrücklich auf den bitteren Nachgeschmack

kultureller, historischer und künstlerischer Aneignung hin.

41 Mehr zum Indian Arts and Crafts Act

auf Seite 16 dieses Katalogs.

42 Restless Native. The Art of David Bradley,

Restless Native Publishing, 2013.

113


114

POCAHONTAS. OVER THE HILLS AND FAR AWAY, David Bradley, 2011, Acryl auf Leinwand. Sammlung NONAM.


POCAHONTAS.

OVER THE HILLS AND FAR AWAY (2012)

Es gibt wohl kaum eine Legende, die die Vorstellung der Indianerin stärker zementierte

als die erfundene Geschichte der Indianerprinzessin Pocahontas. Der

Mythos, dessen Wurzeln im 17. Jahrhundert liegen, wurde vor allem durch den

Disneyfilm weltbekannt. Über die Details der wahren Begebenheiten sind sich

Forscher bis heute uneinig. Sicher ist aber, dass sie nicht halb so romantisch verliefen

wie von Disney dargestellt. Man geht davon aus, dass Amonute, wie

Pocahontas wirklich hiess, von den Kolonialisten zunächst als Gefangene auf einem

englischen Schiff gehalten wurde. Unter dem Namen Rebecca heiratete sie

den Engländer John Rolfe, mit dem sie nach England ging, wo sie auch den gemeinsamen

Sohn zur Welt brachte. Vermutlich wurde sie vom britischen Königshaus

als «Indianerprinzessin» und Botschafterin ihres Vaters, des Häuptlings

Powhatan, empfangen. Im Alter von zweiundzwanzig Jahren starb sie infolge einer

Krankheit in England.

Bradleys Werk nimmt Bezug auf einen Kupferstich von Simon van de Passe aus

dem Jahr 1616, auf dem Pocahontas in englischer Hoftracht dargestellt ist. Im Stil

der gebildeten englischen Adelsschicht mit einem Monokel ausgestattet, steht

sie vor Stonehenge. Einer der monumentalen Steine trägt den Schriftzug des Beatles-Songs

«All you need is love». Mit einem Fragezeichen versehen, weckt er

Zweifel an der romantischen Liebe Pocahontas’. Der zweite Teil des Titels, «Over

the Hills and Far Away», bezieht sich auf ein Album von Led Zeppelin und/oder

auf das gleichnamige englische Volkslied aus dem 17. Jahrhundert. Pocahontas’

Heimat jedenfalls lag jenseits der Berge und sehr weit entfernt.

Das englische Kostüm ist ein Zeichen einer zumindest äusserlichen Anpassung.

Den Hut schmückt eine einzelne Feder, in der Hand hält Pocahontas eine Stielbrille

mit einem weissen und einem roten Glas – zweifellos hatte sie Einblick in

beide Welten. Das Herz, das sie um den Hals trägt, ist jedoch leuchtend rot.

Und schliesslich kann das Bild auch als Akt umgekehrter kultureller Aneignung

gedeutet werden: Bradley inszeniert Pocahontas als Touristin vor dem Stonehenge-Monument

und stellt ihr Worte und Lieder zur Seite, die vom englischen Königshaus

geadelte Musiker berühmt gemacht haben. Bradley bedient sich des

kulturellen Erbes der ehemaligen Kolonialmacht, so wie sich Unterhaltungsindustrie,

Marketing- und Modebranche, Tourismus, Künstler, Autoren und unzählige

andere Nichtindigene seit je des Erbes der indigenen Kulturen bedienen und daraus

Profit schlagen. Bradley fragt nicht, er nimmt sie sich, die kulturellen Aushängeschilder

– und platziert darauf seine kritischen Botschaften. Und als wäre

das nicht schon genug, verdient er damit, wenn schon keinen Adelstitel, so doch

Ruhm und Ehre und seinen Lebensunterhalt.

115


116 Filmstill aus: PORTRAIT JEFF KAHM, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.


Chris Pappan

Osage, Kaw, Cheyenne, River Sioux, Europäisch,* 1971, Colorado, USA

«Native Americans have a unique history

that people can learn from in order to

create a brighter, more peaceful future.» 43

43 Interview mit der Autorin, 2014.

117


118 Filmstills aus: PORTRAIT JEFF KAHM, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.


Chris Pappan ist bekannt für seine Bilder im Stil der Ledger

Art 44 des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sowie als Vertreter

der indigenen Lowbrow 45 -Kunstbewegung, der Graffiti- und

Pinup-Künstler angehören, die schrille und provozierende Motive

in tadelloser technischer Präzision herstellen. Pappan ist

Absolvent des Art Institute of Chicago, Illinois, und des Institute

of American Indian Arts (IAIA) in Santa Fe. Als einer von drei

Gewinnern des 2013-Landmarks-Fellowship-Projekts des renommierten

Tamarind Institute in Albuquerque bot sich Pappan

die einzigartige Gelegenheit, mit Aborigines-Künstlern in

Australien zusammenzuarbeiten. Der kreative Austausch «down

under» hinterliess bleibende Eindrücke. Dass seine Kunst neu

auch Teil der Sammlung NONAM ist, empfindet Pappan als

Ehre. Er hofft, dass seine Werke zu einem neuen Verständnis

der indigenen Menschen und Völker Nordamerikas beitragen. 46

Der Künstler lebt mit seiner Frau und seiner Tochter in Chicago,

Illinois.

44 Als Ledger Art wird eine grafische Kunstrichtung der Prärie-Kulturen

bezeichnet, die aus den sogenannten Ledger Drawings des 19. Jahrhunderts

hervorgegangen ist. Der Name leitet sich ab von der englischen

Bezeichnung für Kontobücher, Ledger Books. In Ermangelung von

Bison- und anderen Tierhäuten in den neu eingerichteten Reservaten

begannen die Männer traditionelle piktorale Darstellungen auf Buchhaltungspapier

zu zeichnen – das einzige Papier, das ihnen in den Reservaten

zur Verfügung stand.

45 Der Lowbrow-Stil wird auch als Pop-Surrealismus bezeichnet.

46 Interview mit der Autorin, 2014.

119


120

GOLD, SILVER, HEALTH, PLEASURE, Chris Pappan, 2012, Acryl und Blattgold auf Holz. Sammlung NONAM.

PRINCESS WHITE DEER REMEMBERS, Chris Pappan, 2012, Ledger­Zeichnung. Sammlung NONAM.


Das Dilemma der Selbstdarstellung

GOLD SILVER HEALTH PLEASURE &

PRINCESS WHITE DEER REMEMBERS (2012)

Mit leerem Blick und zusammengekniffenem Mund, den Kopf auf die Hand gestützt,

schaut Princess White Deer aus dem Bild heraus an uns vorbei. Sie erweckt

den Eindruck, als posiere sie teilnahmslos und erschöpft für ein Publikum,

für das sie nicht sonderlich viel übrig hat. Ihr glamouröses Outfit, die leuchtenden

Farben und die Verheissungen von Gold, Silber, Gesundheit und Vergnügen wollen

mit dem körperlichen und emotionalen Ausdruck der Porträtierten so gar

nicht zusammenpassen. Das Bild basiert auf einer historischen Werbetafel und

einem Foto der Mohawk-Tänzerin und -Sängerin Esther Deer (1891–1992), die unter

dem Namen Princess White Deer Berühmtheit erlangte. Die Enkeltochter von

Chief Running Deer, ebenfalls Tänzer und Schauspieler, trat zunächst mit ihrer

Familie in Wild-West-Shows auf und gastierte später solo in Amerika, England,

Russland und Südafrika. Den Wünschen des vornehmlich weissen Publikums

entsprechend, mimte sie Indianerinnen verschiedenster Stammesherkunft und

prägte nicht nur die Vorstellung der erotischen indianischen Prinzessin, sondern

auch das panindianische Stereotyp. Zugleich war Esther Deer aber auch bekannt

für ihren unermüdlichen Einsatz für die Rechte der Indianer und die Bewahrung

ihrer Kultur. In «Princess White Deer Remembers» weist Chris Pappan mit einer

Spiegelung auf ihr Doppelleben hin – Esther Deer verkörperte weit mehr als nur

eine Person.

Mit «Princess White Deer» thematisiert Pappan das Zurschaustellen von panindianischen,

stereotypen Merkmalen, um als indigen erkannt und anerkannt zu werden

und nicht selten auch, um dem beruflichen Erfolg auf die Sprünge zu helfen.

Was von Aussenstehenden als indigen und authentisch wahrgenommen und gewürdigt,

wenn nicht sogar verehrt wird, erweist sich bei näherem Hinsehen als

eine eigentümliche Mischung aus Verkleidung, Selbstschutz, Eigennutz und kulturellem

Pflichtbewusstsein. Für Pappan symbolisiert niemand das Dilemma der

indianischen Selbstdarstellung besser als Esther Deer. Die ihr gewidmeten Werke

möchte der Künstler als Würdigung verstanden wissen – von Esther Deer und all

denjenigen, die einen Teil ihrer selbst aufgeben, um anderen zu helfen.

121


122

FREE TO ALL, Chris Pappan, 2013, Acryl und Blattgold auf Holz. Sammlung NONAM.


FREE TO ALL (2010)

«Free to All» basiert auf einem historischen Foto. Stolz wirkt der indigene Krieger

und bereit, sein Land zu verteidigen. Er verkörpert die im Zuge der Kolonialisierung

vertriebenen Indianer. Die malerische Landschaft im Hintergrund stammt

von einem historischen Werbeplakat, das, ganz der imperialistischen Vorstellung

der Euro-Amerikaner entsprechend, den nordamerikanischen Kontinent als unbewohntes,

wildes und dennoch attraktives Land darstellt, das nur darauf wartet,

erobert zu werden. Pappan stellt das kolonialistische Bild des unberührten, jungfräulichen

Landes der brutalen Realität der Zerstörung und Vertreibung der indigenen

Kulturen gegenüber.

123


124

TRAILER DELEGATION, Chris Pappan, 2014, Collage aus Ledger­Zeichnungen. Sammlung NONAM.


TRAILER DELEGATION (2013)

In «Trailer Delegation» verbindet Pappan Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

generationenübergreifend. Zu sehen ist eine Delegation von Indianern der südlichen

Plains, die im späten 19. Jahrhundert nach Washington DC zogen, um mit

der Regierung über die Rechte und die Zukunft der Indianer zu verhandeln. Die

Wohnwagen nehmen Bezug auf die Kindheit und Jugend des Künstlers, der in

einem Trailer in Arizona aufwuchs. Das Mädchen in der Mitte, ganz versunken in

ihr Mobiltelefon, ist Pappans Tochter. Drei Generationen, die dasselbe Bestreben

miteinander verbindet: kommenden Generationen eine Zukunft zu bieten. «With

‹Trailer Delegation› I am saying to the viewer, that we all belong to the human

family, that we share much of the same experiences, and that we all want to create

a better future for our children.» 47 Mit «Trailer Delegation» sage ich dem Betrachter,

dass wir alle zur Familie der Menschen gehören, dass wir ähnliche Erfahrungen

teilen und dass wir alle für eine bessere Zukunft unserer Kinder arbeiten.

47 Interview mit der Autorin, 2014.

125


Will Wilson

Navajo, * 1969, Kalifornien, USA

«I hope it [my work shown in Europe]

transforms people’s understanding

of contemporary indigenous art and

touches them with its beauty.» 48

126

48 Interview mit der Autorin, 2014.


Filmstill aus: PORTRAIT WILL WILSON, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.

127


128 Filmstills aus: PORTRAIT WILL WILSON, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.


Will Wilsons künstlerisches Werk und seine Leidenschaft gelten

der Fotografie. Ihn schlicht als Fotografen zu bezeichnen, wäre

jedoch ein Understatement. Der für seine postapokalyptischen

Bilder und historischen Fototechniken bekannte Künstler widmet

sich weit mehr als nur seiner eigenen Kunst. Ob als Professor,

Koordinator oder Projektleiter: Wilson ist gefragt und vielseitig

engagiert – seine zahlreichen Auszeichnungen sind Ausdruck

davon. Wilson studierte Kunst und Kunstgeschichte am

Oberlin College (BA) und Fotografie an der University of New

Mexico (PhD). 2007 erhielt er das renommierte Native American

Fine Art Fellowship des Eiteljorg-Museums, 2010 ein Stipendium

der Joan Mitchell Foundation. Er leitete das National

Vision Project und koordinierte das Kunstprogramm «Temporary

Installations Made for the Environment» (TIME) in Navajo

Nation. Wilson ist Mitglied des Scientists/Artists Research Collaborations

(SARC) und Initiator des Critical-Indigenous-Photographic-Exchange-Projekts

(CIPX) am New Mexico Museum

of Art in Santa Fe, einer Plattform für den kritischen Dialog über

Geschichte, Form und Repräsentation indigener Kultur. Neben

seinem Engagement in zahlreichen renommierten Projekten

hat er ein Auge darauf, dass auch seine Kunst und seine Visionen

nicht zu kurz kommen. Wilson wurde in San Francisco geboren

und wuchs in Navajo Nation auf. Mit seiner Familie lebt er

in Santa Fe, New Mexico.

129


130

EYEDAZZLER «NONAM-CODEX», Will Wilson, 2014, Glasperlen, Stahl, Polyethylen. Sammlung NONAM.


Verweben von Tradition und Gegenwart

EYE DAZZLER (2014)

«Eye Dazzler» (Augenverwirrer) werden traditionelle Navajo-Webteppiche genannt,

deren anspruchsvolle und komplexe Muster das Auge so verwirren, dass

der Eindruck entsteht, als sei das Muster in Bewegung.

Wilsons Grossmutter webte traditionelle Eye-Dazzler-Teppiche, die der Künstler

heute als Vorlage und Inspiration für ambitionierte Übersetzungen verwendet.

Wilson übersetzt Kettfäden in Stahldrähte und Wolle in Glasperlen, und als wäre

das allein noch nicht genug, webt er noch QR-Codes in das Muster mit ein. Die

abstrakten, schwarz-weissen Formen der Codes unterbrechen das traditionelle

Design und fügen sich dennoch überraschend harmonisch in die Gestaltung ein.

Liest man die Codes mit dem Smartphone ein, gelangt man auf eine Website, die

ein Video zur Entstehung des Teppichs zeigt. Zu sehen sind Porträts des Künstlers

und der Weberinnen, zweier Schwestern, die in der Navajo-Region für ihre

Textilien bekannt sind, sowie einer Community-Mitarbeiterin und Freundin von

Wilson. Im Hintergrund vernimmt man Stimmen, die sich in der Sprache der Diné

über die zweiseitige Webtechnik unterhalten, eine Technik, die inzwischen verloren

gegangen ist. Es sind Wilsons Mutter und seine Tante, die sich unterhalten. 49

Wilson beschreibt sein Werk als «trans-customary collaborative expression», ein

Begriff des Maori-Künstlers Robert Jahnke. 50 Als traditionelle oder gebräuchliche

(customary) Aspekte des Teppichs bezeichnet Wilson das Weben, das Design

und das Geschichtenerzählen. Trans deutet auf neue Technologien und Inhalte

hin, die in die Arbeit einfliessen: Glasperlen, Stahldrähte, QR-Codes und Video.

Wilson wählte den Begriff, weil trans-customary nicht nur die dualistische Gegenüberstellung

von traditionell versus modern bezeichnet, sondern auf die sehr viel

komplexere und essenzielle Beziehung zwischen traditionellen und zeitgenössischen

Aspekten hinweist.

49 Interview mit der Autorin, 2014.

50 http://www.stemarts.com/isea2012/curriculum/william-wilson

131


132

EYEDAZZLER «NONAM-CODEX», Will Wilson, 2014, Glasperlen, Stahl, Polyethylen. Sammlung NONAM.


Wilsons Glasgewebe ist in der Tat weit mehr als eine Gegenüberstellung von traditionell

und modern. Es reflektiert auf eindrückliche Weise, wie Tradition und

Gegenwart im Wortsinn miteinander verwoben sind. Wilson betont, dass auch die

traditionelle Webtechnik einst zeitgenössisch, wenn nicht bahnbrechend war,

und dass vieles, was heute neu erscheint, irgendwann als traditionell wahrgenommen

werden wird.

Das Nebeneinander von überlieferten und neuen Aspekten wird auch im sogenannten

Spirit Hole im Teppich deutlich. Das Spirit Hole, so Wilson, ist ein bewusst

eingewobener Fehler, der sicherstellt, dass die Seele der Weberin nicht im Teppich

gefangen bleibt, sondern sich durch das Loch frei hinein- und hinausbewegen

kann. Auch Wilsons Teppich hat ein Spirit Hole – wo, wird nicht verraten. 51

Wilson wuchs in einer Familie von Webern auf. Seine Grossmutter und seine Tante

waren Textilkünstlerinnen. Als Kind wurde er mit den Webprozessen, zu denen

auch das Hüten der Schafe und das Sammeln, Waschen, Spinnen und Färben der

Wolle gehörte, vertraut gemacht. Später entwickelte er eine Software, die es

mehreren Webern ermöglichte, zusammen an einem einzigen Objekt zu arbeiten.

Seine Erinnerungen und die Software lieferten schliesslich den Impuls für die

Glasteppiche. 52

51 Interview mit der Autorin, 2014.

52 http://www.stemarts.com/isea2012/curriculum/william-wilson

133


134

NAVAJO CODE, Will Wilson, 2012, Pigmentdruck auf Leinwand, Baumwollfäden. Sammlung NONAM.


NAVAJO CODE (2012)

Auch der «Navajo Code Talker Code» basiert auf einem von Wilsons Grossmutter

hergestellten Navajo-Webteppich, den der Künstler in Glasperlen gewebt und

schliesslich auf Papier kopiert hat. Das Papier weist ein Lochmuster auf, es wirkt

perforiert. In das Webmuster aus Perlen sind in unregelmässigen Abständen Löcher

gestanzt, die Zeile für Zeile über den Teppich geistern. Es handelt sich um

das Abbild eines Codes der legendären Navajo Code Talker, die im Zweiten Weltkrieg

mit ihrem Geheimcode in der Sprache der Navajo zu Berühmtheit gelangten.

Auf amerikanischer Seite zogen indigene Soldaten aus 34 Stämmen in den

Krieg, darunter etwa 500 Navajo. Zwar wurden auch andere indigene Sprachen

zur Verschlüsselung von Codes verwendet. Doch die Navajo waren die einzigen,

deren Sprache bis zum damaligen Zeitpunkt nicht von Linguisten erforscht worden

war. Damit war die Sprache, die nicht nur keiner europäischen oder asiatischen

Sprache glich, sondern auch für andere Indigene Nordamerikas praktisch

unverständlich war, wie geschaffen für einen Geheimcode. 29 Navajo entwickelten

einen Code, der im Wesentlichen aus ihrer Muttersprache bestand und zusätzlich

mit diversen Finessen gesichert war. Es gelang Japan bis zum Ende des

Krieges nicht, den Code zu entschlüsseln. Die Navajo-Codetalker wurden zu

Kriegshelden, die jedoch erst Jahrzehnte nach Kriegsende und in vielen Fällen

postum von der Regierung geehrt wurden.

Dass sie mithilfe ihrer traditionellen Sprache dazu beitrugen, dass Amerika auf

der Siegerseite des Krieges stand, erfüllt die Navajo noch heute mit Stolz, handelt

es sich doch um eine der Sprachen, die die amerikanische Regierung mit grossem

Aufwand auszurotten versuchte. Obwohl Navajo mit mehr als 150 000 Sprechern

die grösste Anzahl indigener Muttersprachler verzeichnet, gilt auch diese Sprache

heute als gefährdet – die Zahl der Kinder, die ausschliesslich Englisch sprechen,

wächst stetig.

135


Maria Hupfield

Anishinaabe (Ojibway), * 1975, Ontario, Kanada

«[...] I am really entrusted to taking objects

and those things and making it to a bigger

holistic conversation. That includes the body,

that includes performance, that includes

stories, that includes ways of being and sharing

where I come from, what I know as a person

in the world [...]» 53

136

53 http://www.youtube.com/watch?v=HWtT9lydj0w&feature=youtu.be


Filmstill aus: PORTRAIT MARIA HUPFIELD, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.

137


138 Filmstills aus: PORTRAIT MARIA HUPFIELD, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.


Der eigene Körper und seine Beziehung zu Objekten und Or ten

stehen im Mittelpunkt von Maria Hupfields künstlerischem Schaffen.

Unterschiedliche Perspektiven und Denkansätze geben ihr

Impulse für ihre interdisziplinären Arbeiten. Dazu gehören Performance,

Installationen, Fotografie und Zeichnung. Anhand von

körperzentrierten Aktionen erforscht die Künstlerin Schnittpunkte

zwischen nordamerikanischer und indigener visueller

Repräsentation und Philosophie. Hupfields Kunst zeichnet sich

durch Humor, Experimentierfreude und Innovation aus. Die

Künstlerin studierte Kunst an der York University in Toronto sowie

Kunst und Kunstgeschichte an der University of Toronto

und am Sheridan College in Toronto. Hupfield ist Mitglied der

Wasauksing First Nation und wuchs im ländlichen Ontario, Kanada,

auf. Sie lebt und arbeitet in Brooklyn, New York.

139


140

SURVIVAL AND OTHER ACTS OF DEFIANCE, Maria Hupfield, 2012, Video­Installation. Sammlung NONAM.


Sich laut Gehör verschaffen – und lachen

SURVIVAL AND OTHER ACTS

OF DEFIANCE & JINGLE BOOTS (2012)

Die Videoinstallation «Survival and Other Acts of Defiance» zeigt eine indigene

Frau, die minutenlang auf der Stelle auf und ab hüpft und trotz der offensichtlichen

körperlichen Anstrengung lächelt. Es ist die Künstlerin selbst, die hier in

Bewegung ist. Sie trägt Jingle Boots, eine Art Mokassinstiefel mit konisch geformten

Metallhülsen. Die von Hupfield entworfenen und hergestellten Stiefel

bestehen aus Filz, Blech und Kunststoff. Sie begleiten jeden Sprung mit dem

charakteristischen Klang, den sonst die Jingle-Kleider indigener Frauen bei Pow­

Wow-Tänzen von sich geben. Das Video läuft als Endlosschlaufe, die Performancekünstlerin

ist ohne Unterlass aktiv. Unmittelbar vor der Videoinstallation ist ein

grosses X auf dem Boden angebracht – eine Aufforderung zum Mitmachen.

«Survival and Other Acts of Defiance» (Überleben und andere Trotzhandlungen)

erzählt viele Geschichten und lässt viele Lesearten zu. In jedem Fall handelt die

Performance aber von Widerstand und Rebellion, von Ausdauer und Durchhaltewillen.

Für die indigene Bevölkerung sei es nur schon eine kühne Handlung, nach

eigenen Regeln zu leben, sagt Hupfield. 54 Hupfields Performance kann als symbolischer

Akt gedeutet werden, sich als indigene Person weder von negativen Aspekten

der Vergangenheit noch von den Anforderungen der Gegenwart unterkriegen

zu lassen. Die Musik, der Rhythmus und die unablässige Wiederholung

der Bewegung im Video sowie die Aktivierung des Handlungsortes unterstreichen

und verstärken ihre Haltung.

Das kontinuierliche Auf- und Abspringen kann überdies sowohl als Statement der

Selbstermächtigung der Künstlerin selbst oder aber von indigenen Frauen generell

verstanden werden. Der Akt erfolgt laut und unmittelbar, nicht heimlich, still

und leise. In einer Zeit, in der indigene Frauen noch immer Opfer von männlicher

Gewalt werden und die Täter ungestraft davonkommen, 55 ist es notwendig, sich

trotzig, ausdauernd und laut Gehör zu verschaffen – und Widerstand zu leisten.

54 Interview mit der Autorin, 2014.

55 Interview mit der Autorin, 2014.

141


142

JINGLE BOOTS, Maria Hupfield, 2012, Industriefilz, Blechhülsen. Sammlung NONAM.


Die Videoperformance enthält aber noch eine ganz andere Botschaft. Sie handelt

von Freude, Humor und von der Stärke, über das Leben lachen zu können. Maria

Hupfield lächelt trotz oder gerade wegen der enormen körperlichen Anstrengung

in die Kamera. Es ist die Freude, die aus der Bewegung kommt, die Freude, die

einsetzt, wenn das Immergleiche eine meditative Komponente annimmt, und die

Freude, die beim Gefühl aufkommt, stark zu sein, durchzuhalten und Strapazen

mit einem Lächeln zu begegnen. Lachen und Humor sind Hupfield wichtig, nicht

nur in ihrer Kunst, auch im Alltag. Humor gilt in indigenen Kreisen nicht ohne

Grund als Überlebensstrategie.

Und schliesslich: Mitmachen! Die Botschaft richtet sich auch an die Besucher. Wer

stellt sich auf das Kreuz, wer lacht und wer leidet mit? Gemeinsam ist Überleben ein

bisschen leichter, und etwas Sportsgeist und Solidarität haben selten geschadet.

Ihr ungezwungener Umgang mit dem Körper und die kreative Auseinandersetzung

mit Objekten verdankt Hupfield nicht zuletzt ihren Eltern, die beide Künstler

sind und ihre Tochter zu Einfallsreichtum und Kreativität in der Erforschung ihrer

Umgebung ermutigten. Für Hupfield bildet die Arbeit mit ihrem Körper den persönlichsten

und unmittelbarsten Weg, um Wissen und Engagement zu vermitteln.

Hupfield lässt sich von Hip-Hop und Urban Culture ebenso inspirieren wie von der

Kultur der Anishinaabe. Traditionelles Geschichtenerzählen ist ein zentraler Aspekt,

und nichts eignet sich für sie besser als die Kunst der Performance und der

Einsatz des Körpers. Performance ist für Hupfield die Kunst, direkt aus dem Feuer

des Lebens zu schöpfen. 56 Ihr Schauplatz ist die Welt um sie herum.

«I am a woman of my times! One of these days all my work will be terribly old

fashioned and when I am an old lady my grandkids will say I did a bunch of crazy

stuff and lived in Brooklyn, New York.» Ich bin eine Frau meiner Zeit! Eines Tages

wird meine Arbeit fürchterlich altmodisch wirken, und wenn ich eine alte Dame

bin, werden meine Enkel sagen, ich hätte eine Menge verrückter Dinge getan und

lebe in Brooklyn, New York.

56 Interview mit der Autorin, 2014. Hupfield bezieht sich

in dieser Beschreibung auf ein Zitat der Künstlerin Esther Neff.

143


Jason Garcia

Santa Clara Pueblo, * 1973, New Mexico, USA

«My clay work documents the cultural

traditions and values of Santa Clara

Pueblo focusing on Pueblo daily life

scenes, ceremonial dances, historical

events, the constant change of the

Santa Clara Pueblo landscape, and

religious icons.» 57

144

57 https://sarweb.org/?artist_jason_garcia­p:artist_dubin_fellowship_recipients


Filmstill aus: PORTRAIT JASON GARCIA, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.

145


146 Filmstills aus: PORTRAIT JASON GARCIA, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.


Jason Garcia (alias Okuu Pín) stammt aus dem Santa Clara

Pueblo. Er lotet Grenzen aus, experimentiert und stellt kulturelle

Normen auf die Probe. Der Künstler ist bekannt für seine

grafischen Tontafeln im traditionellen Stil der Pueblo. Das Talent

fürs Töpfern liegt bei den Garcias in der Familie. Die Techniken

der Keramikkunst lernte Jason Garcia schon als Kind

kennen. Den Ton sammelt er selbst, er verwendet natürliche

Farbpigmente und brennt seine Keramik auf traditionelle Weise

in einem Brennofen im Freien. Seinen Bachelor of Fine Arts

erlangte er an der University of New Mexico, den Mastertitel an

der University of Wisconsin. Zusammen mit anderen indigenen

Künstlern, die indigene Kultur und westliche Popkultur frei

kombinieren, beteiligte er sich an Ausstellungen wie «Comic

Art Indigene» und «Native Pop!». Garcia lebt im Santa Clara

Pueblo in New Mexico.

147


148

TEWA TALES OF SUSPENSE #5, #7, #17, Jason Garcia, ab 2008,

Ton, traditionelle Schlickermalerei mit mineralischen Pigmenten, traditionelle Brenntechniken. Sammlung NONAM.


Superheld organisiert Aufstand

TEWA TALES OF SUSPENSE

& CORN MAIDEN #1 / #7 / #26 (seit 2008)

#5 / #7 / #17

Die Quellen für seine Motive sind vielfältig und reichen von historischen Begebenheiten

und religiösen Erzählungen der Pueblo bis hin zu Comic und Popkultur.

Alltägliche Beobachtungen verwandelt er ebenso in Kunst wie kulturell adaptierte

Comichelden und Legofiguren. Garcia lässt Pueblo-Kinder von Pokémon

und «Pizza Hut» träumen und Tänzerinnen in traditionellem Gewand für ein Selfie

mit iPhone posieren.

Comics sind aus Garcias Leben nicht wegzudenken. Die reduzierte Sprache des

Comics sowie die Darstellung von Bewegung und Action von Superhelden wie

Conan dem Barbaren, The Avengers, Thor oder Superman faszinieren ihn seit

seiner Kindheit. Indigene Figuren kamen früher jedoch selten darin vor und wenn,

dann überlebten sie nicht bis zum Ende.

Garcia wollte es anders und ersann seinen eigenen Comic. In «Tewa Tales of

Suspense» ist der Superheld die historische Figur Po’Pay (alias Popé), Schamane

und Anführer des Pueblo-Aufstandes von 1680 gegen die Spanier. In «Tewa Tales

of Suspense no. 5» wird Po’Pay riesenhaft dargestellt. Sein muskelbepackter Körper

erinnert an Hulk und scheint mit übernatürlichen Kräften aufgeladen. Wie in

Superheldenkreisen üblich, trägt Po’Pay einen Umhang, darunter den traditionellen

Lendenschurz der Pueblo. In der Hand hält er einen Strick mit Knoten. Im

Vorfeld des historischen Aufstandes organisierte Po’Pay ein Netzwerk von Informanten

aus Pueblo-Dörfern, die anhand der Knoten die Tage bis zum Aufstand

zählten. Garcias Keramik spricht eine deutliche Sprache: Po’Pay siegt! Weder für

die fliehenden Soldaten noch für den flehenden Missionar gibt es ein Entrinnen.

Santa Fe steht in Flammen, die Aufständischen haben gesiegt. Auch «Tewa Tales

no. 7» und «Tewa Tales no. 17» thematisieren den entschlossenen Kampf der Tewa-Pueblos

für ihre Kultur.

Beim Pueblo Aufstand gegen die Spanier am 11. August 1680 sollen 2500 Pueblo-Krieger

die Stadt Santa Fe zunächst eingekreist und dann in Brand gesetzt

haben. Hunderte Spanier starben, viele wurden vertrieben. Auch zuvor hatte es

Revolten der Indigenen gegeben, nie jedoch in solchem Ausmass. Das Recht auf

ihre eigene Spiritualität war ein zentraler Faktor der Pueblo-Revolte. Denn die

Spanier hatten mit ungeheuerlicher Brutalität versucht, indigene Priester und

Schamanen, darunter auch Po’Pay, an der Ausübung ihrer religiösen Praktiken zu

hindern. 1692 eroberten die Spanier die Region zurück, aber die Revolte blieb

dennoch ein Erfolg – die Missionierung wurde später weitaus weniger vehement

vorangetrieben.

149


150

CORN MAIDEN SERIES #1 / #7 / #26, Jason Garcia, ab 2008,

Ton, traditionelle Schlickermalerei mit mineralischen Pigmenten, traditionelle Brenntechniken. Sammlung NONAM.


Mit «Tewa Tales» setzt Garcia auch einen Kontrapunkt zur gängigen Geschichtsschreibung,

die die spanischen Eroberer gerne als Helden porträtiert, die Taten

der Pueblos dagegen totschweigt. «Tewa Tales» stellt Pueblo-Helden in den Mittelpunkt

und bedient sich der Sprache des Comicgenres, um vor allem der nachfolgenden

Generation die eigene Geschichte näherzubringen. Garcia erntet viel

positives Feedback für seine Kunst, auch aus den eigenen Reihen. Sein Sinn für

den Zeitgeist und die Art und Weise, wie er das Andenken der Vorfahren ehrt,

finden Anklang. 58

Tradition und Fortschritt

In seiner «Corn Maiden»-Serie geben sich Tradition und die Technologie der Gegenwart

ein Stelldichein. Ob lässig an einen Lamborghini gelehnt, ins iPhone versunken

oder umgeben von Satellitenschüsseln: Die Maismädchen wirken vertraut

mit alldem. Selbstbewusst und mit grosser Selbstverständlichkeit integrieren sie

westliche Statussymbole in ihr Leben und lassen keinen Zweifel daran, dass Traditionsbewusstsein

und die Gadgets der Gegenwart durchaus miteinander vereinbar

sind.

«Corn Maiden no. 26» zeigt eine junge Frau im Gewand der Corn Maidens mit

dazugehöriger Tablita auf dem Kopf. Der heilige Maistanz, eine Erntedankzeremonie,

findet einmal im Jahr statt. Die Tänze und Lieder heissen den Regen willkommen,

die stilisierte Regenwolke im Bild deutet es an. Mit ihrem «iCorn»-Mobiltelefon

schiesst das Maismädchen ein Selfie. Im Hintergrund ist eine Kiva 59 mit

Leiter zu sehen, auch Satellitenschüsseln sind zu erkennen. Damit erweist Garcia

der heiligen Clara, Schutzheilige des Santa Clara Pueblo, ehrerbietig die Reverenz

– schliesslich ist Santa Clara auch die Schutzheilige des Fernsehens. Garcia

will das Mobiltelefon als Empfänger und Transmitter auch als Symbol für das

Empfangen von Gesundheit, Glück und spiritueller Kraft verstanden wissen, von

allem, worum auch in den traditionellen Zeremonien gebeten wird. 60 Garcia demonstriert

auf erfrischende Weise, dass Neues sehr wohl neben Traditionen bestehen

kann.

58 Aufzeichnung des Künstlergesprächs vom 16. November 2008

am Museum of Indian Arts & Culture, Santa Fe, New Mexico,

http://www.mixcloud.com/MIAC/jason-garcia/

59 Die Kiva ist ein Zeremonien- und Versammlungsraum

der Pueblo-Kulturen. Der Eingang zum Innenraum

einer Kiva ist über eine Leiter zu erreichen.

60 Aufzeichnung des Künstlergesprächs vom 16. November 2008

am Museum of Indian Arts & Culture, Santa Fe, New Mexico,

http://www.mixcloud.com/MIAC/jason-garcia/

151


Wally Dion

Yellow Quill First Nation (Salteaux),*1976, Saskatchewan, Kanada

152 Wally Dion beim Aufbau von «Pursuit of Happiness», NONAM, 2014.


153


154 Wally Dion beim Aufbau von «Pursuit of Happiness», NONAM, 2014.


Wally Dion studierte Kunst an der University of Saskatchewan,

Kanada, sowie an der Rhode Island School of Design in New

England, USA. Viele Jahre arbeitete er als Kunstlehrer mit jugendlichen

Straftätern, Pflegekindern und geistig behinderten

Kindern. Seine erste grosse Soloausstellung eröffnete er 2008

an der Mackenzie Gallery in Regina. In Kanada wurde Dion mit

grossformatigen Portraits zeitgenössischer indigener Arbeiter

im Stil des sozialistischen Realismus bekannt, die die Klassenkonflikte

der indigenen Bevölkerung in der kanadischen Gesellschaft

thematisierten. Derzeit widmet er sich kinetischen Kunstinstallationen,

mit denen er die Geschichte und Philosophie

der Menschheit thematisiert.

Neben zahlreichen Preisen und Auszeichnungen erhielt Dion

Stipendien des Saskatchewan Arts Board und des Canada

Council for the Arts. Seine Werke sind vertreten in den Sammlungen

renommierter Institutionen, u.a. im Canadian Museum

of Civilization, im Saskatchewan Arts Board und in der Canada

Council for the Arts Bank. Er lebt in Binghamton, New York,

USA.

155


156

PURSUIT OF HAPPINESS, Wally Dion, 2013, Computerplatinen, Draht, Stahlkabel, Holz, Beschläge. Sammlung NONAM.


PURSUIT OF HAPPINESS.

EVERYTHING THAT SHINES AIN’T

ALWAYS GOING TO BE GOLD (2013)

2013 suchte Wally Dion sein Glück in einem kinetischen Experiment. Er stellte die

Frage nach dem Verhältnis zwischen unbiegsamen Einzelteilen und einem flexiblen

Ganzen. Das Experiment wuchs, und als alle Teile zusammengefügt waren,

nannte er sein Werk «Pursuit of Happiness», Streben nach Glück.

Dion denkt gerne gross. «Pursuit of Happiness» wirkt wie das überdimensionierte

Abbild einer Satellitenaufnahme. Es erinnert an die kanadischen Plains,

die Heimat des Künstlers. Leuchtende Getreidefelder, Silos, Industrieanlagen,

selbst die Ölsandfelder Albertas scheinen verewigt – und das nicht ohne Grund.

Kanada ist ein Land mit vielen Bodenschätzen: Gold, Uran, Kupfer, Eisenerz, Ölsande

und Seltene Erden. Das Thema ist PoH auf die Platinen geschrieben, denn

so manches davon ist darin enthalten. Bodenschätze bedeuten Reichtum und

Gewinn. Doch im Schatten der irreparablen Schäden, die ihr Abbau mit sich

bringt, erlischt der Glanz des Gewinns vor allem für diejenigen schnell, die unmittelbar

von den Folgen betroffen sind. Das Grundrecht des Pursuit of Happiness,

das in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung verankert ist, ist ein

zweifelhaftes, wenn das wirtschaftliche Glück der einen den Ruin der anderen

bedeutet. Kleine, entlegene indigene Gemeinden sind oft die ersten, die die massiven

Folgen der Eingriffe zu spüren bekommen: verschmutztes Trinkwasser,

vergiftete Umwelt, Dezimierung der Wildbestände und ein ganzes Spektrum an

Krankheiten, die es vorher nicht gab.

Für die meisten von uns sind die Minen und Förderstätten weit genug weg, um sie

auszublenden. Betroffen sind wir aber trotzdem. Nicht nur, weil viele Ressourcen

endlich sind, auch weil die Auswirkungen des Raubbaus zunehmend global spürbar

sind.

PoH birgt viele Geschichten, alte und neue, gute und schlechte, bekannte und

unbekannte – über das Land, die Menschen und die Suche nach dem Glück. PoH

kann als umweltpolitisches Statement verstanden werden. Wally Dion liegt es

jedoch fern, mit dem Finger auf Schuldige zu zeigen. Zumal wir mit unseren ständig

wachsenden Ansprüchen unmittelbar beteiligt sind. PoH ist vielmehr ein

Denkanstoss, mit dem Dion seine persönliche Sicht des Verhältnisses von Mensch,

Natur und Umwelt zum Ausdruck bringt: «My work tries to suggest we are a people

who still need to understand themselves and their relation to the world.»

Heute vermutlich mehr denn je.

157


Herausgeberin: Stadt Zürich

Nordamerika Native Museum

Indianer & Inuit Kulturen

Seefeldstrasse 317

8008 Zürich

Texte: Ilona Shulman Spaar, Heidrun Löb

Dr. phil. Ilona Shulman Spaar ist Kunsthistorikerin, Autorin,

Kulturvermittlerin und Kuratorin. Sie studierte Kunstgeschichte

an der Universität Zürich und an der University of British

Columbia (UBC) Vancouver, Kanada. Danach promovierte sie

an der Universität Basel über zeitgenössische indigene Kunst

aus Vancouver. Die Schweiz-Kanadierin lebte viele Jahre in

Vancouver. Im Auftrag des Schweizerischen Generalkonsulats

Vancouver war Shulman Spaar als Kuratorin, Autorin und

Drehbuchautorin für verschiedene kulturelle Projekte tätig.

Derzeit lebt Shulman Spaar zusammen mit ihrem Sohn und

ihrem Mann in der Schweiz. Sie arbeitet u.a. als Kunstvermittlerin

an der Fondation Beyeler, Riehen bei Basel, und als freischaffende

Kulturvermittlerin am Nordamerika Native Museum

(NONAM), Zürich.

Lektorat: Peter Schneider

Korrektorat: Alexandra Bernoulli

Fotografie & Gestaltung: Markus Roost

Druck & Bindung: Buchmanufaktur, Winterthur

Auflage: 500 Exemplare

Diese Publikation begleitet die Ausstellung

Native Art Now, Zeitgenössische Indigene Kunst.

8. November 2014 – 7. Juni 2015

Wir danken dem Lotteriefonds des Kantons Zürich für die

grosszügige Unterstützung, welche die zukunftsorientierte

Erweiterung der Sammlung NONAM ermöglicht hat.

158




Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!