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Zeitgenössische indigene Kunst
Vorwort
Manche Dinge brauchen ihre Zeit. Sechs Jahre ist es her, seit Denise Daenzer,
die ehemalige und langjährige Leiterin des NONAM, und ich an einer von der
Kanadischen Botschaft in Berlin initiierten Reise quer durch Kanada teilnahmen.
Ziel dieser «Familiarization Tour» war es, KuratorInnen und DirektorInnen aus
dem deutschsprachigen Raum mit zeitgenössischer indigener Kunst vertraut zu
machen. Die Reise beinhaltete persönliche Begegnungen mit Kunstschaffenden
sowie Besuche von Museen, Galerien, Künstlerkooperativen und Kulturzentren.
Sie war gewissermassen die Initialzündung für den nun erfolgten Ankauf zeitgenössischer
indigener Kunst und die damit verbundenen Ausstellungen Land,
Kunst, Horizonte (05–10/14) und Native Art Now (11/2014– 06/15).
Es ist kein Geheimnis – indigene Gegenwartskunst hat in der europäischen Kunstszene
keinen leichten Stand. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Zwar sind
indigene Kunst- und Filmschaffende mittlerweile regelmässig an internationalen
Grossereignissen wie der Biennale in Venedig, der Art Basel oder der Dokumenta
in Kassel vertreten, und hie und da schimmern sie vereinzelt auch in Kunstausstellungen
auf. Dennoch fallen sie in diesem Bereich vor allem durch Abwesenheit
auf, Internationalität und Globalität hin oder her. KuratorInnen und Institutionen
ohne ethnologischen Hintergrund scheinen um indigene Gegenwartskunst einen
Bogen zu machen. Auch unsere Mitreisenden liessen wenig Zweifel daran, dass
für ihre Arbeit nicht in Frage kam, was sie sahen. Was bemerkenswert erschien,
wurde uns ans Herz gelegt, den Vertreterinnen des Hauses mit dem ethnologischen
Hintergrund. Das «Wäre das nichts für euch?» hallt heute noch in unseren
Ohren nach. In den indigenen Ateliers blieb bisweilen ein Hauch von Überheblichkeit
zurück. Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten und über Kuratoren-Entscheide
wohl ebenso wenig. Dennoch – ob die Haltung ohne das Wissen
um die indigenen Hintergründe dieselbe geblieben wäre?
Für unsere eigene Arbeit waren die Kunst und Kunstschaffenden, denen wir begegneten
mehr als nur interessant. Vieles von dem, was wir sahen, unterschied
sich deutlich von anderen Werken moderner oder zeitgenössischer indigener
Kunst, wie wir sie bis dahin kannten. Auch von solchen, die sich bereits in unserer
eigenen Sammlung befanden. Wir begegneten einer neuen Generation von
Künstlern und uns neuen Formen indigener Kunst. Darunter viele Werke, die auf
den ersten Blick nicht als solche erkennbar waren. Werke, die ohne jedes «Primärmerkmal»
auskamen – ohne Federn, ohne Glasperlen, in welcher Form auch immer.
Und wenn sie sich doch dieser Merkmale bedienten dann zogen sie den Betrachtern
die verbliebenen stereotypen Zähne auf andere Weise – mal mit, mal
ohne Narkose.
Wir waren begeistert. Nicht zuletzt deshalb, weil indigene Gegenwartskunst ein
durchaus dehnbarer Begriff ist und frühere Erfahrungen zuweilen auch für Ernüchterung
gesorgt hatten. Hier aber war das anders. Nicht nur was die zeitge
3
mässen, ästhetischen und qualitativ hochwertigen Werke betraf. Wir begegneten
Kunstschaffenden, die uns eloquent in ihre Konzepte einführten und tragfähige
Brücken von der Vergangenheit in die Gegenwart schlugen. Sie hatten Geschichten
zu erzählen – durchdacht, komplex, witzig, sarkastisch, politisch, poetisch,
überraschend und überzeugend. Als Ethnologinnen genossen wir eine Art Heimvorteil,
denn die zugrundeliegenden Themen waren uns zumindest in Ansätzen
bekannt. Erst durch das Zusammenspiel von Kunst und Kontext, das sich ohne
Hintergrundwissen und die Kenntnis von Geschichte und Kulturen kaum erschliesst,
liessen sich die Werke wirklich erfassen.
Seit den Begegnungen im Herbst 2008 ist einiges passiert. Wir haben zeitgenössische
indigene Kunst in unsere Sonderausstellungen integriert, KünstlerInnen,
die wir während der Reise kennengelernt haben, waren im NONAM zu Gast, wir
haben vereinzelt indigene Gegenwartskunst angekauft und Werke in unsere permanente
Ausstellung integriert. Wir haben weiter recherchiert, Kontakte auf- und
ausgebaut und Pläne geschmiedet und uns das Ziel gesetzt, unsere museumseigene
Sammlung zukunftsorientiert zu erweitern – mit Ausdrucksformen, die
indigene Perspektiven und kritische Auseinandersetzungen der Gegenwart
reflektieren.
Denise Daenzer hat schon vor vielen Jahren damit begonnen, Gegenwartskunst
zum festen Bestandteil der Sammlung NONAM zu machen. Ankäufe im grösseren
Stil waren jedoch nicht möglich. Das 50-Jahr-Jubiläum des Museums bot schliesslich
den geeigneten Anlass, um einen Vorstoss zu wagen und die notwendigen
finanziellen Drittmittel zu beantragen. Im Juni 2013 erhielten wir vom Lotteriefonds
des Kantons Zürich die Zusage für einen namhaften Unterstützungsbetrag.
Unser Ziel rückte in greifbare Nähe.
Die Entscheidung für diese Sammlungserweiterung ist ein logischer Schritt in unserer
Sammlungsgeschichte. Denn die Geschichte der indigenen Kulturen Nordamerikas
hört nicht dort auf, wo die Plains-Kulturen aufgehört haben, im Tipi zu
leben. Die Geschichte ist weitergegangen. Die Kulturen haben sich entwickelt
und verändert. Ebenso wie unsere eigenen Kulturen. Im Grunde ist es einfach, um
nicht zu sagen banal.
Mit ihren zeitgenössischen Werken bringen Künstlerinnen und Künstler aus Kana
da und den USA dezidiert zum Ausdruck, was es heisst, im 21. Jahrhundert indigen
zu sein – vor dem Hintergrund einer kolonialen Vergangenheit, die bis in die
Gegenwart nachhallt, angesichts unzeitgemässer, aber alltäglicher stereotyper
Erwartungen und nicht zuletzt auch vor dem Anspruch, indigene Identitäten zu
bewahren, wiederherzustellen, vor allem aber selbstbestimmt zu definieren. Zeitgenössische
indigene Kunst ist eine Herausforderung – nicht nur für diejenigen,
die hinter dem Begriff «Indianer» die üblichen Wild-West-Fantasien erwarten –
auch für diejenigen, die Vermittlungsarbeit leisten, und auch für uns als Institution,
an die bestimmte Erwartungen herangetragen werden. Bildung und Aufklärung
gehören zu den Kernaufgaben eines Museums, besonders wenn es sich
mit Kulturen befasst, die in der Gegenwart leben und diese zum Gegenstand ihrer
4
Kunst machen. Offenheit, Neugier und die Bereitschaft zum Umdenken, Neudenken
und manchmal auch Querdenken: Mehr braucht es nicht, um den Zugang
zu indigener Gegenwartskunst zu finden. Was ihn erschwert, ist das Festhalten
an stereotypen Bildern und Erwartungen und nicht zuletzt die in Europa ebenso
wie in Kanada und den USA noch immer verbreitete Annahme, Indianer seien
ausgestorben.
15 indigene Künstlerinnen und Künstler setzten sich quicklebendig, engagiert,
witzig, sarkastisch, ernst, intelligent, unabhängig und experimentierfreudig mit
ihren persönlichen und kulturellen Geschichten auseinander. Es ist wohl kein Zufall,
dass viele Kunstschaffende heute explizit auf das traditionelle Geschichtenerzählen
verweisen und sich als moderne Storyteller verstehen. Ihre Werke erzählen
viele Geschichten. Sie handeln von Hingabe und Tod, von arktischen
Ge heimnissen, der Kraft des Humors, historischen Superhelden, den legendären
Geheimcodes der Navajo und vielem mehr. L’art pour l’art ist es nicht, was wir hier
zeigen. Zeitgenössische indigene Kunst ist geprägt von den Menschen hinter
den Werken und von ihren Geschichten, sie holt Traditionen in die Gegenwart
und nimmt sie mit in eine selbstbestimmte Zukunft – mit oder ohne Perlen und
Federn.
Wir danken dem Lotteriefonds des Kantons Zürich für die grosszügige Unterstützung,
die die zukunftsorientierte Erweiterung der Sammlung NONAM erst möglich
gemacht hat.
Die Realisierung eines Sammlungsankaufs dieser Grössenordnung bedarf nicht
nur der finanziellen Absicherung. Projekte wie dieses sind immer auch das Resultat
von Entwicklungen, Diskussionen und Entscheidungsprozessen, in die sowohl
Personen als auch Institutionen involviert sind. Nicht alle können hier genannt
werden. Einige nehmen jedoch eine Schlüsselrolle ein. Wir danken den Kanadischen
Botschaften in Berlin und Bern. Ohne die Familiarization Tour im Jahr 2008
und ohne das Engagement beider Botschaften wären wichtige Prozesse nicht ins
Rollen und wichtige Kontakte nicht zustande gekommen. Dr. Peter Bolz, der
ehemalige Leiter der Amerikaabteilung des Ethnologischen Museums in Berlin
Dahlem, formulierte seine Unterstützung für die geplante Sammlungserweiterung
mit zeitgenössischer indigener Kunst schwarz auf weiss und trug damit
massgeblich zum Erfolg des Projekts bei. Für wertvolle Inputs, Tipps, Hinweise
und Perspektiven, für die Herstellung zahlreicher Kontakte zu Kunstschaffenden
in Santa Fe und Umgebung, für Zeit und Kilometer danken wir Ryan Rice, dem
ehemaligen Leitenden Kurator des Museum of Contemporary Native Art. Und
schliesslich gilt unser Dank den indigenen Künstlerinnen und Künstlern aus Kanada
und den USA für das entgegengebrachte Vertrauen. Es ist uns eine Freude
und eine Ehre, die wunderbaren, vielschichtigen Kunstwerke, die sie dem NONAM
anvertraut haben, zu präsentieren und die Geschichten, die ihnen inne wohnen,
zum Leben zu erwecken.
Heidrun Löb, leitende Kuratorin NONAM
5
Native Art Now 9
Nicholas Galanin 21
Shan Goshorn 28
Jeff Kahm 38
Cannupa Hanska Luger 46
Sonya Kelliher-Combs 56
Gina Adams 66
Ross Chaney 76
Michael Belmore 83
Frank Shebageget 92
Diego Romero 100
David Bradley 109
Chris Pappan 117
Will Wilson 126
Maria Hupfield 136
Jason Garcia 144
Wally Dion 152
7
8
Native Art Now
Ilona Shulman Spaar
Zeitgenössische indigene Kunst ist im Gegensatz zu «traditioneller»
indianischer oder Inuit-Kunst hierzulande wenig bekannt.
Man kennt die geschnitzten Holzmasken der Nordwestküste,
die Perlenstickereien der Plains, die Webteppiche der
Navajo und die Töpferkunst der Pueblos. Aber Töpferschalen
mit Comic-Szenen? Eine in Häkeldecken gehüllte stählerne
Tierskulptur? Oder eigenwillige Hautobjekte, mit Stacheln gespickt
und mit Mustern aus Menschenhaar? Indigene Gegenwartskunst
des 21. Jahrhunderts präsentiert sich auf ungewöhnliche
Art und Weise. Mit grosser Selbstverständlichkeit nimmt
sie sich so viele Freiheiten wie kaum je zuvor. Sie blickt zurück
auf eine Entstehungsgeschichte, die eng mit der Kolonialgeschichte
und der Politik Nordamerikas verbunden ist. Ihre Ursprünge
liegen, je nach Region und Definition, zwischen fünfzig
und fünfhundert Jahre zurück. Heute erreicht indigene Kunst
das bisher vielleicht grösste Mass an künstlerischer Selbstbestimmung
und formaler Unabhängigkeit sowie beachtliche internationale
Anerkennung.
9
Ob modern oder gegenwärtig, indigene Kunst hat ihre eigene Geschichte. Sie
ist das Resultat von Kulturkontakten, Kolonialpolitik, Widerstand und kultureller
Kontinuität. Sie reiht sich ein in jahrtausendealte Traditionen künstlerischer Ausdrucksformen,
von denen sie sich jedoch in wesentlichen Punkten unterscheidet
und manchmal auch bewusst distanziert. Von Anfang an wurde sie für eine Klientel
ausserhalb der indigenen Gemeinschaft geschaffen. Inhalte wurden angepasst,
sodass sie für ein aussenstehendes Publikum und für potenzielle Käufer
verständlich wurden. Die Kunst diente dem Erhalt und der Wiederbelebung der
Kulturen um 1900, als es als unausweichliche Tatsache angesehen wurde, dass
die Indigenen eine «aussterbende Rasse» seien. Viele Traditionen liefen Gefahr,
infolge der von den Regierungen in Kanada und den USA verhängten Ausübungsverbote
in Vergessenheit zu geraten. 1 In Kunstwerken manifestierte sich
der Widerstand gegen die Auflösung der Kulturen im ethnischen Schmelztiegel
Nordamerikas und gegen die fortgesetzte Kolonialpolitik. Bis heute kommuniziert
indigene Kunst den Widerstand der indigenen Bevölkerung gegen die
Diskreditierung und Zerstörung ihrer Kulturen und ihren Überlebenswillen.
Erst der Kulturkontakt, dann die Kunst
Verglichen mit der altehrwürdigen materiellen Kultur der Vergangenheit ist indigene
Kunst gerade erst aus dem Ei geschlüpft. Wer nach ihren Ursprüngen sucht,
findet sich dennoch weit in der Vergangenheit wieder. Ihre Geschichte beginnt
mit Eroberern, Missionaren und Einwanderern aus Europa, die neben Kupferkesseln
und Glasperlen auch Papier und Schreibutensilien ins Land brachten. Missionare
und Nonnen verwendeten Bilder, um religiöse Vorstellungen zu veranschaulichen,
und lehrten in Missionsschulen neben Katechismus, Schreiben und Sticken
auch das Malen und Zeichnen auf Papier. Zu den frühesten erhaltenen Werken
gehören die Bilder der Tuscarora-Brüder Dennis und David Cusick aus den
1820er-Jahren. In «Scene of Indian Life: Keep the Sabbath» sahen euro-kanadische
Betrachter die Erfolge der Zivilisierung der Wilden, während Indigene die
integrierten Identitätsmerkmale im Bild als kulturell bestärkende Botschaften
verstehen konnten. 2
Buchhaltungspapier statt Bisonhaut
Etwa fünfzig Jahre später entstand in den Plains-Reservaten als Ersatz für die
traditionell angefertigten bildlichen Darstellungen auf Tierhäuten die sogenannte
Ledger-Kunst. Ursprünglich hielten Männer historische Ereignisse, Heldentaten
und Visionen auf Bison- und Wapitihäuten fest. Nach der Zwangsumsiedlung in
die Reservate standen Tierhäute nicht weiter zur Verfügung. Stattdessen gab es
Papier aus Kontenbüchern (Ledger Books), das Händler, Missionare und Regierungsbeamte
zur Verfügung stellten. Darauf hielten die ihrer traditionellen Aufgaben
beraubten Krieger und Jäger Szenen des neuen und befremdenden Alltags
1 Janet C. Berlo & Ruth B. Philipps.
Native North American Art. Oxford University Press, 1998.
2 Ibid.
10
ebenso fest wie historische Ereignisse und Traditionen, die bereits der Vergangenheit
angehörten. Missionare, Anthropologen und Touristen waren die Abnehmer
der Ledger-Zeichnungen, die heute nicht nur wertvolle historische und ethnografische
Zeugnisse darstellen, sondern vielen zeitgenössischen Künstlern als
Ursprung der modernen indigenen Kunst gelten. 3
Informanten werden Künstler, Ethnografen Mäzene
Die Assimilationspolitik, die seit 1870 in den USA und später auch in Kanada verfolgt
wurde, hatte die Auslöschung der kulturellen Identitäten und die vollständige
Eingliederung der indigenen Bevölkerung in die dominanten nordamerikanischen
Gesellschaften zum Ziel. Sowohl Kanada als auch die USA setzten hierzu
vor allem auf Internatsschulen zur Umerziehung indigener Kinder sowie auf ein
rigoroses Verbot der Ausübung, Vermittlung und Darstellung kultureller Tra ditionen
und Inhalte. Angesichts der aggressiven Assimilationspolitik galt der
Un tergang der indigenen Kulturen zu Beginn des 20. Jahrhunderts gemeinhin
als unausweichlich. Der drohende Verlust indigener Merkmale wie Traditionen,
Zeremonien, Rituale, aber auch der traditionellen Kleidung und Gegenstände
mobilisierte nicht nur Fotografen wie Edward Curtis. Er veranlasste auch Wissenschaftler
zu dokumentieren, was von den ehemals souveränen Kulturen noch übrig
war, häufig im Auftrag der Regierung. Anthropologen beauftragten indigene
Informanten mit der Herstellung von Bildern, die die Kulturen und Traditionen
möglichst unverfälscht wiedergeben sollten. Jesse W. Fewkes, der für die Smithsonian
Institution arbeitete, gilt als erster in einer Reihe von Mäzenen, die seit
1900 massgeblich zur Entstehung indigener Kunst beitrugen, sie begünstigten
und über Jahrzehnte hinweg förderten. 4 Mit genauen Vorstellungen von den Werken,
die sie erwarteten, bestimmten die Auftraggeber ihre Art und Ausgestaltung
wesentlich mit. Angefertigt im Dienste der Wissenschaft wurden sie zunächst
eher als kulturelle Belegexemplare und ethnografische Artefakte behandelt denn
als Kunst im eigentlichen Sinn. Ihr künstlerischer Wert und das Talent der Informanten
blieben den Wissenschaftlern jedoch nicht verborgen. Indem sie Werke
schufen, die einem aussenstehenden Publikum traditionelle, wenn nicht sogar
geheime Inhalte vermittelten, betraten die Künstler Neuland und begaben sich in
eine Position zwischen der eigenen und der dominanten Kultur. 5 In wirtschaftlich
prekären Zeiten profitierten sie finanziell von ihrer Kunst. Zugleich leisteten sie
einen wichtigen Beitrag zum Erhalt ihrer Kulturen und zur Verbreitung eines
positiven Images der durch Regierungspropaganda jahrzehntelang diskreditierten
und im Ansehen tief gesunkenen indigenen Kulturen. Andererseits folgten sie
den inhaltlichen und stilistischen Vorgaben ihrer Auftraggeber, die möglichst
«authentische» und nicht durch euro-amerikanische Einflüsse verfälschte Darstellungen
verlangten.
3 Ibid.
4 Ibid.
5 Ibid.
11
Kunst zum Überleben
Gut ein halbes Jahrhundert lang stand die Politik der Assimilation im Vordergrund.
Erst die anhaltende Wirtschaftskrise und die ernüchternden Resultate des
von der Regierung in Auftrag gegebenen Meriam Report von 1928 sorgten für ein
Umdenken. 6 Der Bericht legte die Verfehlungen der Assimilationspolitik offen
und zeigte, dass das System der Residential Schools 7 die soziale und ökonomische
Situation der Indigenen erheblich verschlechterte und damit auch die
Abhängigkeit von Regierungsgeldern in keiner Weise minderte. Vor dem Hintergrund
der Great Depression führten die Ergebnisse des Berichts zu einem
grundlegenden Umdenken und einer politischen Kehrtwende, formuliert im Indian
New Deal und gesetzlich verankert im Indian Reorganization Act (IRA).
Erstmals wurde definiert, wer als «Indian» zu betrachten war – mit gravierenden
Folgen für zukünftige Fragen ethnischer Zugehörigkeit und der damit verbundenen
Rechte wie etwa dem Zugang zum indigenen Kunstmarkt. 8
Die Perspektive, dass Kunst der indigenen Bevölkerung ein Einkommen und damit
eine gewisse ökonomische Eigenständigkeit ermöglichen konnte, war mehr
als willkommen. Anstelle der Gesetze, die kulturelle Äusserungen jeder Art verboten,
wurden traditionelle Aspekte indigener Kulturen nun geradezu glorifiziert.
Fortan unterstützte die amerikanische Regierung Initiativen zur Förderung indigener
Kunst im ganzen Land: 1931 fand in New York die «Indian Tribal Art»-Ausstellung
statt. 1932 gründete Dorothy Dunn das «Studio School Art Programm»
für indigene Studenten. 1936 richtete die Regierung das Indian Arts and Crafts
Board (IACB) ein, das die Entwicklung eines Marktes für indigene Kunst vorantreiben
sollte. 1939 wurde indianische Kunst zum Gegenstand der «Golden Gate
International Exhibition» in San Francisco. 9
Traditionen über alles – Dorothy Dunn und das «The Studio School»
1932 initiierte die nicht-indigene Künstlerin Dorothy Dunn mit dem «Studio Art
Program» der Santa Fe Indian School das wichtigste, erfolgreichste und folgenreichste
Kunst programm seiner Zeit. Dunn, selbst Absolventin des School of Art
Institute of Chicago und ausgebildete Kunstlehrerin, war eine der Hauptakteurinnen
der Etablierung der sogenannten traditionellen indianischen Malerei. Sie ging
von der Existenz eines authentisch indigenen Malstils aus und ermutigte ihre
Schüler, diesen Stil durch das Studium traditioneller Textilien oder überlieferter
Designs auf Keramiken und Korbwaren wie der zuentdecken und in ihre Kunst zu
6 Stephen Fadden & Stephen Wall. Invisible Forces of Change:
United States Indian Policy and American Indian Art.
In: Manifestations. New Native Art Criticism, Museum
of Contemporary Native Arts, 2011.
7 Internatsschulen für indigene Kinder, die das Ziel verfolgten,
ihre Kulturen auszulöschen, die Menschen aber in die
dominante Gesellschaft zu assimilieren.
8 Ibid., S. 35.
9 Janet C. Berlo & Ruth B. Philipps. Native North American Art,
S. 279, Oxford University Press, 1998.
12
integrieren. Auf perspektivisches Zeichnen, Kunst theorie oder Kunstgeschichte
verzichtete Dunn bewusst. Sie setzte auf ein kulturelles Erinnerungsvermögen
und die Intuition ihrer Schüler. 10 Die Werke, die im Rahmen der «Studio School»
entstanden, kennzeichnete ein charakteristischer, zweidimensionaler Stil. Sie
zeigten Traditionen, Zeremonien und kulturelle Alltagsszenen. Was zuvor noch
illegal war, wurde nun als Ausdruck indigener Kultur gefördert, zelebriert und
vermarktet.
Kontrollierte Kunst
1941 hielt indigene Kunst Einzug ins Museum of Modern Art (MoMA) in New York
und erlangte damit die höchsten Weihen moderner Kunst. Anstatt einer wirklichen
Erfolgsgeschichte spiegelte der weitere Verlauf jedoch die Geschichte einer
im Interesse der Regierung massiv geförderten und ebenso bevormundeten
Kunst. Das Ziel des IACB, die ökonomische Eigenständigkeit der indigenen Bevölkerung
zu fördern und damit die Staatskassen zu entlasten, entging auch der
Kunstwelt und ihren Kritikern nicht. Der indigene Kunstmarkt wurde von Händlern
kontrolliert, die von der Regierung lizenziert waren. Auf diese Weise sollte
die «Authentizität» der Werke gewährleistet und die Rechte indigener Künstler
geschützt werden. Jedoch bestimmten nicht-indigene Instanzen über Inhalte, Stil
und Formensprache der Werke, definierten, was «traditionell» und «authentisch»
war, und damit auch, was sich für den Kunstmarkt eignete. 11 Möglichst rein, ursprünglich
und ethnografisch korrekt sollte es sein, das Gegenteil der amerikanischen
Gesellschaft. Indigene Kunst hatte in den USA inzwischen eine breite gesellschaftliche
Anerkennung erlangt. Indianische Kulturen wurden vor allem von
Teilen der amerikanischen Bevölkerung, die den Entwicklungen der modernen
Gesellschaft, den Auswüchsen der Industrialisierung und dem wachsenden Konsumstreben
kritisch gegenüberstanden, als Bereicherung einer pluralistischen
Gesellschaft und – romantisch verklärt – als Gegenpole der Moderne betrachtet.
Künstler der New Yorker Avantgarde waren fasziniert von der Ursprünglichkeit
und Reinheit, den ungezähmten Kräften und der Einheit mit der Natur, die sie in
traditionellen indigenen Werken sahen. 12 In überlieferten Ausdrucksformen glaubten
manche sogar die Quelle eines originären amerikanischen Kunststils gefunden
zu haben, der Unabhängigkeit von der dominanten europäischen Moderne
verhiess und der amerikanischen Moderne zur dringend erforderlichen eigenen
Handschrift verhelfen sollte. 13 Künstlerinnen und Künstler, die sich der indigenen
Formen und Symbole bedienten, sich davon inspirieren und sie in ihre Werke einfliessen
liessen, wurden der Moderne zugerechnet. Indigene Kunstschaffende,
mochte ihre Kunst noch so abstrakt und modern sein, kamen für die Moderne
10 Ibid.
11 Ibid.
12 Bill Anthes. Native Moderns. American Indian Painting 1940–1960,
S. 120. Duke University Press, Durham and London, 2006.
13 Ibid.
13
Kunst nicht in Frage. Denn indigen und zugleich modern zu sein, galt als Widerspruch
in sich 14 – als ebenso unmöglich, wie etwas zugleich alt und neu, primitiv
und progressiv sein konnte.
Sackgasse Primitivismus
Der nach dem MoMA erwartete Durchbruch als Moderne Kunst blieb aus. Kunstkritiker
verorteten indigene Kunst neben Folk Art und naiver Kunst in der Primitivismus-Ecke.
15 Die Zuordnung mochte im Zusammenhang mit der sogenannten
Traditionellen Indianischen Malerei (die weitaus weniger traditionell war, als der
Begriff suggerierte) ihre Berechtigung haben. Für Künstler, die sich davon distanzierten
und eigene, unabhängige Stile und Wege suchten, entpuppte sie sich als
Sackgasse. Nur wenigen gelang es, sich in der Modernen Kunst zu positionieren.
Leon Polk Smith und George Morrison hatten Erfolg. Sie vermieden sowohl in
ihrer Kunst als auch in ihrer Selbstdarstellung Bezüge zu ihrer indigenen Kultur,
die ihre Karriere negativ beeinflusst hätten. Die Begriffe «indigen» und «modern»
manifestierten sich in der Kunstwelt als Gegenpole 16 – «indigen» und «Gegenwart»
werden mitunter noch heute als solche betrachtet.
Manifest für künstlerische Freiheit
Wie alle Schüler des Kunstprogramms gestaltete auch der Lakota-Künstler Oscar
Howe seine Bilder nach den Vorgaben der Studio School. Mit seinen Darstellungen
von Lakota-Tänzen und -Traditionen erzielte er beachtliche Erfolge. Er nahm
Teil an den renommierten jährlichen Ausstellungen und Wettbewerben des Philbrook
Museum in Tulsa, Oklahoma und gewann zahlreiche Preise. In den 1950ern
entwickelte Howe einen neuen, unabhängigen Stil. 1958 bewarb er sich erneut in
Philbrook – nun aber wurde sein Werk abgelehnt. «Zu wenig traditionell» lautete
das Urteil der überwiegend indigenen Jury, 17 das Howe nicht auf sich sitzen liess.
Er verfasste den folgenden Brief an die Jurymitglieder:
Whoever said that my paintings are not in the traditional Indian style has poor
knowledge of Indian art indeed. There is much more to Indian Art than pretty,
stylized pictures. There was also power and strength and individualism (emotional
and intellectual insight) in the old Indian paintings. Every bit in my paintings
is a true, studied fact of Indian paintings. Are we to be held back forever with one
phase of Indian painting, with no right for individualism, dictated to as the Indian
has always been, put on reservations and treated like a child, and only the White
Man knows what is best for him? Now, even in Art, “You little child do what we
think is best for you, nothing different.” Well, I am not going to stand for it. Indian
Art can compete with any Art in the world, but not as a suppressed Art … (Oscar
Howe, Letter to Philbrook Indian Art Annuals Jurors) 18
14 Ibid.
15 Ibid.
16 Ibid.
17 Ibid.
18 Ibid.
14
In seinem Schreiben an die Jury gab er seiner Empörung über eine stilistische
Bevormundung und eine Orientierung an statischen Beurteilungskriterien Ausdruck,
die indigenem Kunstschaffen jegliche künstlerische Freiheit nahm. Howes
Manifest zeigte Wirkung. Philbrook revidierte seine Beurteilungskategorien, öffnete
den Wettbewerb für eine grössere Bandbreite an Werken und machte den
Weg frei für die Indianische Moderne der 1960er-Jahre.
Fast zeitgleich schloss die Studio School ihre Pforten. Ihre Errungenschaften
sind unbestritten, ihr eigenwilliges Programm wird jedoch kritisch reflektiert. Es
fügte sich nahtlos in die Geschichte und die Politik seiner Zeit und hinterliess
Generationen von indigenen Kunstschaffenden ein schwieriges Erbe. Das in den
1930ern etablierte Konstrukt von Authentizität und Tradition hält sich ebenso
hartnäckig wie die romantisierten Zerrbilder indigener Kulturen, die in den drei
Jahrzehnten der Studio School massgeblich mitgeprägt wurden. Obwohl sie einer
vernünftigen Grundlage entbehren, werden Authentizität und Traditionsverbundenheit
in indigener Kunst nach wie vor als Wertmassstab und Verkaufsargument
ins Feld geführt.
Institutionelle Selbstbestimmung und kritische Kunst.
Wo einst die Studio School ihre Schüler und Schülerinnen ausbildete, wurde 1962
das Institute of American Indian Art (IAIA) eröffnet, das sich als zentrale Einrichtung
für die Entwicklung moderner indigener Kunst etablierte. Die Ära des Mäzenatentums,
der Bevormundung und der künstlerischen Stilvorgaben durch
nicht-indigene Auftraggeber, Ethnologen, Regierungsbeamte und Lehrpersonen
ging damit offiziell zu Ende. Das IAIA setzte auf indigene Selbstbestimmung, das
Curriculum wurde in Eigenregie entwickelt und integrierte indigene Formen des
Lehrens, renommierte indigene Künstler wie Fritz Scholder und Allan Houser engagierten
sich in der Lehre. Das Institut wurde zur wichtigsten Ausbildungsstätte
für moderne und zeitgenössische Kunst in Nordamerika. Viele erfolgreiche Künstler
aus Kanada und den USA wurden dort ausgebildet und lehrten später selber
dort. 1991 wurde es um das Institute of American Indian Arts Museum erweitert,
das sich heute als Museum of Contemporary Native Arts ausschliesslich zeitgenössischer
indigener Kunst widmet und die einzige Institution dieser Art in Nordamerika
ist.
Die Indianische Moderne nahm Abstand von romantisierenden Darstellungen und
vom Einheitsstil der Studio School. Stattdessen nahm sie Kurs auf die kritische
Konfrontation, die die indigene Kunst der folgenden Jahrzehnte prägte und die
auch unbequeme Wahrheiten indigener Lebenswelten thematisierte. Sie experimentierte
mit Stilen und Medien, platzierte politische Botschaften und jonglierte
virtuos mit Humor, Ironie und sarkastischen Seitenhieben auf stereotype Erwartungen.
Indigene Künstler machten Gebrauch von ihrem Recht auf individuellen
Ausdruck und begannen, ihre Kulturen mit den Waffen der modernen Kunst gegen
Kitsch und Klischee zu verteidigen. Sie nahmen Bezug auf ihre kulturelle Herkunft
oder auf pan-indianische Aspekte.
15
Indigene Kunst und europäische Kriterien
Sammler, Galerien und ethnografische Museen lehnten moderne indigene Werke
zunächst vielfach als unauthentisch ab, und auch Kunstmuseen zeigten wenig
oder kein Interesse. Kritiker sahen in der Indianischen Moderne in erster Linie
zeitverzögerte Kopien der Modernen Kunst, die in Europa Jahrzehnte zuvor für
Schlagzeilen gesorgt hatte. Indigene Kunst wurde nach europäischen Massstäben
beurteilt, ihre Eigenständigkeit wurde kaum anerkannt. Auch Oscar Howe gehörte
zu den fehlinterpretierten Künstlern. Zeitlebens dementierte er die seinen
Werken zugeschriebenen Einflüsse des Kubismus und verwies auf die Kultur der
Lakota als Quelle seines künstlerischen Ausdrucks. Der Eurozentrismus der westlichen
Kunstkritik ist bis heute ein zentrales und häufig moniertes Thema des indigenen
Kunstdiskurses.
Echtheitszertifikat für Künstler
Trotz aller Vorbehalte befand sich indigene Kunst auf dem Vormarsch. Kanada
widmete ihr 1967 anlässlich der Weltausstellung in Montreal einen eigenen Pavillon.
Es war das erste Mal, dass Indigene im Rahmen einer Ausstellung von solch
internationaler Ausstrahlung die Repräsentation ihrer Kulturen selbst bestimmten.
In den 1970er Jahren wurden Kunstschulen und -projekte mit indigenem Fokus
gegründet, indigene Künstler in die Royal Academy of Arts gewählt und mit
dem «Order of Canada», der höchsten kanadischen Auszeichnung, gewürdigt.
Moderne indigene Kunst wurde salonfähig. Es etablierte sich ein eigener Markt,
der lukrative Einkünfte versprach. Auf diesem rang eine stetig wachsende Zahl
indigener Kunstschaffender um eine begrenzte Klientel von Kunstliebhabern und
Sammlern. An die Stelle der Frage nach der Authentizität der Werke trat nun die
Frage nach der «Echtheit» der Künstler. Tatsächlich waren keineswegs alle Künstlerinnen
und Künstler, die sich auf diesem Markt tummelten, Indianer. 1990 wurde
in den USA mit dem Indian Arts and Crafts Act (IACA) das Recht auf Herstellung
und Vermarktung indigener Kunst gesetzlich auf Kunstschaffende mit nachweisbar
indigenen Wurzeln beschränkt. Da jedoch vielen Indigenen die Anerkennung
des Status aus fragwürdigen Gründen verwehrt blieb, wurden fortan auch indigene
Künstler vom Markt ausgeschlossen, die nicht über den offiziellen Status
verfügten. Das Gesetz war und ist umstritten. Nicht zuletzt, weil es eher einen
Käuferschutz darstellt als einen Rechtsschutz für Künstler. Für indigene Künstler
ohne Status bedeutet es ein erhebliches Handicap. Der Indian Arts and Crafts Act
knüpfte an die Definition ethnischer Zugehörigkeit an, die erstmals im Rahmen
des Indian Reorganization Act in den 1930ern von der Regierung formuliert worden
war.
Indigene Kuratoren, Künstler, Kritiker
Zu Beginn der 1990er-Jahre konzipierten indigene Kuratoren und Kunstschaffende
Ausstellungen, die ihre eigene Sicht und Reflexionen zu 500 Jahren Kolumbus
wiedergeben sollten. «Land, Spirit, Power» an der National Gallery Ontario,
«Indigena» am Canadian Museum of Civilization und «The Submuloc Show / Co
16
lumbus Wohs» von Atlatl waren weit davon entfernt, die fragwürdige Entdeckung
Nordamerikas zu feiern, und warteten stattdessen mit kritischer Gegenwartskunst
und postkolonialen indigenen Perspektiven auf. In Kanada ist indigene
Kunst inzwischen regelmässig Gegenstand von Ausstellungen renommierter Galerien
und Museen wie etwa der Art Gallery of Ontario oder der Vancouver Art
Gallery. Viele Ausstellungen entstehen unter der Leitung indigener Kuratoren,
auch Rezensionen und Kunstkritik werden zunehmend aus indigener Sicht verfasst.
Die Entwicklung geht nicht zuletzt zurück auf das im Jahr 2005 gegründete
Aboriginal Curational Collective (ACC), das von indigenen Kunstschaffenden ins
Leben gerufen wurde, um die nicht-indigene Dominanz in den Bereichen Kunst,
Diskurs und Ausstellungen zu durchbrechen und Selbstbestimmung und Professionalisierung
zu fördern.
Indigene Kunst in europäischen Ausstellungen
In Europa hielt indigene Gegenwartskunst 1995 Einzug an der «Biennale» in Venedig
und ist dort seither regelmässig repräsentiert. Auch von der «Documenta» in
Kassel und der «Art Basel» ist sie kaum mehr wegzudenken. Vereinzelt sind indigene
Kunstschaffende auch in Gruppenausstellungen europäischer Kunstmuseen
vertreten. Dennoch sind die Worte von Oscar Howe auch nach fast sechzig Jahren
vor allem diesseits des Atlantiks noch immer aktuell. Auch heute sieht sich indigene
Kunst mit Erwartungen konfrontiert, die sich mehr an der Vergangenheit
als an der Gegenwart orientieren. Und noch immer dient eine falsch ver standene
Authentizität als Massstab für ihre Gültigkeit, Glaubwürdigkeit und Echtheit.
Die Authentizität indigener Gegenwartskunst zu erkennen und anzuerkennen bedeutet
für viele europäische Betrachter eine Herausforderung – vor allem, wenn
weder Form noch Materialien eine Brücke zur Vergangenheit schlagen. Dennoch
sind Traditionen, Zeremonien, Rituale, Geschichte oder Geschichten auch in abstrakten,
experimentellen, hypermodernen, multimedialen und individuellen Werken
gegenwärtig – als integrale Bestandteile zeitgenössischer indigener Kunst.
Ihre Relevanz wird von Kunstschaffenden, Kuratoren und Kritikern gleichermassen
und mit Nachdruck betont. Sie anzuerkennen, auch wenn sie nicht erkennbar
sind, ist ein Schritt hin zu einer offenen und im positiven Sinn neugierigen Begegnung
mit einer Kunst, die von einem eigenen Selbstverständnis und einer eigenen
Vergangenheit geprägt ist und die viel zu erzählen hat. Denn auch unter
der Oberfläche von Leiterplatten, Acrylwolle und Moosgummi, Kupferperlen und
Schichten aus Wachs und Polyurethan sind unzählige Geschichten verborgen, die
es zu entdecken gilt.
17
Literatur
Bill Anthes.
Native Moderns. American Indian Painting 1940–1960.
Duke University Press, Durham and London, 2006.
Janet C. Berlo & Ruth B. Philipps.
Native North American Art.
Oxford University Press, 1998.
Sherry Farrell Racette.
Encoded Knowledge: Memory and Knowledge
in Contemporary Native American Art.
In: Manifestations. New Native Art Criticism,
Museum of Contemporary Native Art (MoCNA), 2013.
Stephen Fall & Stephen Wadden.
Invisible Forces of Change: United States Indian Policy
and American Indian Art.
In: Manifestations. New Native Art Criticism,
Museum of Contemporary Native Art (MoCNA), 2013.
Maria A. Caro.
Owning the Image:
Indigenous Arts since 1990.
In: Manifestations. New Native Art Criticism,
Museum of Contemporary Native Art (MoCNA), 2013.
18
Native
ART NOW
19
20 Filmstill aus: PORTRAIT NICHOLAS GALANIN, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.
Nicholas Galanin
Tlingit, Alëut, Europäisch, * 1979, Alaska, USA
«Through education and creative
risktaking, I hope to progress cultural
awareness both in and out of this
Indigenous world.» 1
1 http://nativeartscollective.com/artist/tlingitaleut/nicholasgalanin
21
22 Filmstills aus: PORTRAIT NICHOLAS GALANIN, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.
Nicholas Galanin ist Künstler, Filmemacher und Musiker. Kreativität
liegt in seiner Familie. Schon sein Urgrossvater fertigte
Skulpturen aus Holz an, sein Vater arbeitet mit Edelmetall und
Stein. Galanin genoss bei seinem Vater und seinem Onkel sowie
bei anderen indigenen Künstlern eine tra ditionelle Ausbildung,
zu der auch das Holzschnitzen ge hörte. Darauf folgten Ausbildungen
an Kunstschulen und Universitäten in Alaska, England
und Neuseeland. Galanin lebt in Sitka, Alaska, einem Ort, dessen
Einzigartigkeit ihn inspiriert.
Das Konzept als A und O
Galanin orientiert sich an Themen seiner indigenen Kultur. Essenziell ist für ihn
der konzeptorientierte Prozess, der im Gegensatz zur traditionellen Kunst Me dien
und Material bestimmt. Das Konzept verschafft ihm künstlerische Freiheit und
Unabhängigkeit gegenüber den Erwartungen von Galeristen und Sammlern. Auf
diese Weise schöpft er seine Kreativität auf grösstmögliche Weise aus. 2
Neben Skulptur und Videokunst engagiert sich Galanin auch in den Bereichen
Fotografie, Multimedia-Installation und Schmuckdesign. Inspiration schöpft er
so wohl aus herkömmlichen 3 Kunstformen als auch aus der zeitgenössischen Konzeptkunst.
Galanin weiss, dass sein Spagat zwischen der traditionellen Kunst der
Tlingit und konzeptueller Kunst ein gewisses Risiko birgt. Während die Einbeziehung
von kulturellen Inhalten, Stilen oder Materialien oft als Ausdruck von Respekt
gegenüber der eigenen Kultur verstanden und sogar eingefordert wird, rufen
zeitgenössische Ausdrucksformen mitunter Skepsis und Ablehnung hervor.
Galanin betrachtet beides als Notwendigkeit. Trotz ihrer markanten Bezüge zur
Tlingit-Kultur versteht Galanin seine Kunst als Kommunikationsmittel, das sich
einer universellen Sprache bedient und Betrachter, gleich welcher Kultur, dazu
auffordert, das eigene kulturelle Bewusstsein weiterzuentwickeln.
2 Artist statement auf http://galan.in/
3 Galanin bevorzugt den Ausdruck «herkömmlich»
gegenüber dem Begriff «traditionell».
23
24
THE GOOD BOOK (VOL. 15), Nicholas Galanin, 2006, Bibel, Menschenhaar. Sammlung NONAM.
Das Gute und das Böse
THE GOOD BOOK VOL. 15 (2006)
«The Good Book (Vol. 15)» gleicht einer traditionellen Rabenmaske, wie man sie
in der Kultur der Tlingit an der pazifischen Nordwestküste findet. Doch die Maske
ist nicht wie sonst üblich aus Zedernholz geschnitzt, sondern setzt sich aus über
tausend Seiten einer Bibel – The Good Book – zusammen. Die Maske hat Galanin
mithilfe von Computer und Lasertechnologie in Form gebracht. Mit wenigen, aussagekräftigen
Gesten bringt der Künstler ein brisantes Thema der kolonialen Vergangenheit
auf den Punkt: die Christianisierung der indigenen Kulturen durch
europäische Missionare. Die Skulptur reflektiert die Absurdität eines aufgezwungenen
Glaubens, der ohne Überzeugung und ohne ein Gefühl der Zugehörigkeit
praktiziert wird.
Die Figur des Raben ist für die Tlingit und andere Kulturen der pazifischen Nordwestküste
von zentraler Bedeutung. Der Rabe ist der Protagonist zahlreicher Mythen
und Legenden. Seine Geschichten sind witzig, humorvoll, provokant, satirisch,
vielschichtig, moralisierend, lehrreich und ernsthaft. Der Rabe schlüpft in
viele Rollen. Mal ist er der Erschaffer der Welt oder der Entdecker der Menschen,
ein andermal erscheint er als selbstsüchtiger, tollpatschiger und hinterlistiger Intrigant.
Rabengeschichten sind so widersprüchlich wie das Leben selbst und wollen
aus westlicher Sicht oft keinen Sinn ergeben. Im Gegensatz zu christlichen
Weltbildern, die die Welt in Gut und Böse teilen, stehen Widersprüche und Gegensätze
in indigenen Mythen oft nah beieinander «Vol. 15» macht in dieser Hinsicht
keine Ausnahme.
25
26
THE GOOD BOOK 2.0, Nicholas Galanin, 2014, Papier, Menschenhaar. Sammlung NONAM.
THE GOOD BOOK 2.0 (2014)
Und auch die nächste Generation ist bereits entwickelt. Sie wartet mit einer bahnbrechenden
Neuerung auf. Diesmal: kein Text. Die weissen Seiten sind dennoch
auf viele Arten lesbar. Und wo nichts geschrieben steht, ist Platz für neue Geschichte(n).
Auch hier materialisiert sich Rabe, der Trickster. Der Bibeltext jedoch
ist verschwunden. Steckt der Rabe dahinter, der, Gott gleich, einst selber die Welt
erschuf? Erfindet er sie nun wieder neu, oder hat er Platz geschaffen für indigene
Generationen, die ihre Geschichte(n) selber schreiben? Und schliesslich erinnern
die leeren Seiten auch an die Tradition der mündlichen Überlieferung, die einst
ganz ohne Schrift alles Wichtige bewahrte.
Die «The Good Book»-Serie begann 2006 als Teil eines Projekts mit dem Titel
«What have we become?» Darin setzte sich der Künstler mit der Frage der kulturellen
Repräsentation der Tlingit und Alëuten aus der Perspektive der modernen
Anthropologie und Ethnologie auseinander, einer Perspektive, die indigenen Kulturen
grundsätzlich fremd ist. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass sich Indigene nur
bedingt der auf ihre Kulturen projizierten Sicht entziehen können. «Wir verarbeiten
sie, und sie wird ein Teil von uns» 4 , erklärt Galanin. Es geht um Fragen nach
Anpassung und Widerstand und um Forderungen nach kultureller Eigenständigkeit
und Selbstbestimmung hinsichtlich der eigenen kulturellen Repräsentation.
Und Galanin geht es um mehr als das: «We are being culturally dishonest if we
reject all that passes through our culture. Economics and cultural objects, curio
and collector, Indians and museum, history and the present.» 5 Wir sind bei der
Betrachtung unserer Kultur nicht ehrlich, wenn wir uns weigern zu sehen, wodurch
unsere Kultur beeinflusst wird. Dazu gehören Ökonomie und kulturelle Objekte,
Kuriositäten und Sammler, Indianer und Museen, Geschichte und Gegenwart.
Galanin begegnet seiner Kultur mit Respekt und Wertschätzung. Ihren Entwicklungen,
Neuerungen und Veränderungen begegnet er mit Offenheit und Neugier,
integriert sie in seine Kunst und nimmt mit seiner vielbeachteten Kunst selbst
Einfluss darauf. Seine Kultur und Individualität wertschätzt er gleichermassen.
Beides zusammen gewährleistet Inspiration und künstlerische Freiheit.
4 http://www.e-junkie.info/2011/04/
interview-with-nicholas-galanin-artist.html
5 http://contemporarynativeartists.tumblr.com/
post/479617639/nicholas-galanin-tlingit-aleut
27
Shan Goshorn
Eastern Band Cherokee, * 1957, Maryland, USA
«Combining historical documents and
photographs with traditional techniques
and patterns, I strive to educate an
audience about unique issues that continue
to impact Indian people.» 6
28
6 http://abbemuseum.org/exhibits/twistedpathIII/ShanGoshorn.html
Filmstill aus: PORTRAIT SHAN GOSHORN, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.
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30 Filmstills aus: PORTRAIT SHAN GOSHORN, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.
Shan Goshorn versteht sich nicht nur als Künstlerin, sondern
auch als Menschenrechtsaktivistin. Ihre Kunst umfasst Korbflechten,
Fotografie, Perlenarbeiten, Malerei und Schmuckdesign.
Goshorns Werke werden in nationalen und internationalen
Museen ausgestellt, u.a. im National Museum of the American
Indian (NMAI) in Washington DC, im Institute of American
Indian Arts (IAIA) und im Museum of Contem porary Native Arts
(MoCNA) in Santa Fe sowie im Minneapolis Institute of Art in
Minnesota. Zu den zahlreichen Auszeichnungen und Würdigungen
ihrer Arbeit gehört auch die Native Arts and Cultures Foundation
Artist Fellowship 2014. Neben ihrer künstlerischen Tätigkeit
engagiert sich Goshorn in beratenden Funktionen für
kulturelle Institutionen. Goshorn ist sich der Wertschätzung der
indigenen Kulturen in Europa, aber auch der verbreiteten Hollywood-Klischees
bewusst. Mit ihrer Kunst hofft sie zur Aufklärung
des Publikums und zur Auflösung stereotyper Wahrnehmungen
und Erwartungen beizutragen. 7 Die Künstlerin lebt und
arbeitet in Tulsa, Oklahoma.
7 Interview mit der Autorin, 2014.
31
32
WHITEWASHED, Shan Goshorn, 2014, Arches Aquarellpapierstreifen, bedruckt mit Archivtinte, Acrylfarbe. Sammlung NONAM.
Die Kunst des Korbflechtens und sozialer Aktivismus
WHITEWASHED (2014)
Zu Goshorns bekanntesten Werken gehören Körbe und Behältnisse, die die
Künstlerin im traditionellen Stil der Cherokee von Hand anfertigt. Die Techniken
des Korbflechtens, zu der die einfache und die komplexere doppelte Flechttechnik
zählen, eignete sich Goshorn autodidaktisch an. Mittlerweile hat die Künstlerin
letztere so perfektioniert, dass das Museum ihres Stammes sie als eine von 14
lebenden Personen der Cherokee anerkennt, die gegenwärtig die schwierige
doppelte Flechttechnik beherrschen. 8 Goshorns Designs orientieren sich an Mustern
der Cherokee oder entspringen ihrer eigenen Fantasie. 9 Für «Whitewashed»
verwendete sie das traditionelle Motiv des Cross on the Hill, dessen raffinierte
Details besonders auf der Innenseite des Korbes zu erkennen sind. 10
Ihre tiefe Verbundenheit mit der Tradition ihrer Vorfahren hindert Goshorn nicht
daran, die traditionelle Technik mit zeitgenössischen Materialien zu kombinieren
wie etwa den Reproduktionen historischer Manuskripte oder Archivfotos. 11 Dabei
flicht sie filigran geschnittene Streifen von Fotos und Schriften so ineinander,
dass sowohl das Bild als auch die Schrift auf dem fertigen Korb nicht nur erkennbar,
sondern lesbar sind. Die eigentliche Flechtarbeit von «Whitewashed» nahm
etwa eine Woche in Anspruch, es ging ihr jedoch ein sehr viel längerer Forschungs
und Vorbereitungsprozess voraus. Im Prozess der Datensammlung und
Materialvorbereitung sieht Goshorn Parallelen zur traditionellen Korbherstellung
ihrer Vorfahren, die das Holz der Weissen Eiche, des River Cane, einer nordamerikanischen
Bambusart, und der Heckenwildkirsche sammelten, lange bevor sie
mit der Webarbeit beginnen konnten. 12
Die Fotos und Texte in Goshorns Arbeiten dokumentieren Themen der indigenen
Geschichte und Gegenwart wie Internatsschulen, Umsiedlung, Vertragsbrüche
oder die kommerzielle Aneignung indigener Kultur durch die Sport und Unterhaltungsindustrie
– Themen, die sich noch heute auf das Leben und den Alltag
der indigenen Bevölkerung auswirken. Die historischen Traumata werden von Generation
zu Generation weitervererbt und sind noch lange nicht überwunden.
Goshorns Ziel sind die Aufklärung eines breiten Publikums und das Anstossen
überfälliger Diskussionen zu mitunter unbequemen Themen.
8 http://abbemuseum.org/exhibits/twistedpathIII/ShanGoshorn.html
9 Zu den traditionellen Mustern gehören unter anderem: Spider’s Web,
Cross on the Hill, Mountains, Lightning, Man in the Coffin, Fishbone,
Peace Pipe, Chief’s Daughter und Chief’s Heart.
10 Interview mit der Autorin, 2014.
11 Zu den herkömmlichen Materialien gehören
Weisse Eiche, River Cane und Honeysuckle.
12 Interview mit der Autorin, 2014.
33
34
WHITEWASHED, Shan Goshorn, 2014, Arches Aquarellpapierstreifen, bedruckt mit Archivtinte, Acrylfarbe. Sammlung NONAM.
Ihre Gefässe haben sich als geradezu ideal erwiesen, um zu vermitteln, was ihr am
Herzen liegt. Ihre Formen und die Tatsache, dass man in sie hineinschauen kann,
wecken die Neugier der Betrachter – angezogen von den ungewöhnlichen Bildwelten
der Aussenseite und der technischen Perfektion des Flechtwerks beugen
sie sich vor, um hineinzuschauen, und möchten schliesslich mehr erfahren. Für
Goshorn sind die Körbe mit ihren Innenwelten wie geschaffen für einen aufrichtigen
Dialog, den sie als wichtigen Teil ihres sozialen Wirkens versteht. 13
Kollektives Trauma
«Whitewashed» klärt die Öffentlichkeit über eines der dunkelsten Kapitel der
euro-amerikanischen Kolonialisierungspolitik des 19. und 20. Jahrhunderts auf:
die Zwangsassimilierung indianischer Kinder und Jugendlicher in christlichen Internatsschulen.
Passend zu seinem Titel zeigt der Korb auf der Aussenseite eine
historische Fotografie, die indigene Mädchen umgeben von Bügelbrettern und
Wäschekörben zeigt. Sie alle besuchten das Sherman-Riverside-Internat in Kalifornien,
wo sie in Haus- und Landwirtschaft unterrichtet wurden. Dass «Whitewashed»
jedoch weit mehr thematisiert als nur den Unterricht in der Wasch küche,
liegt auf der Hand. Die geflochtenen Textstreifen geben 10 000 – 12 000 Namen
und Stammeszugehörigkeiten ehemaliger Schüler und Schülerinnen der Carlisle
Indian Boarding School in Pennsylvania wieder. Carlisles Philosophie lautete: «Kill
the Indian, Save the Man» (Töte den Indianer, rette den Menschen). Jeder der
eingeflochtenen Namen steht für ein indigenes Kind, das in die dominante euro-amerikanische
oder euro-kanadische Gesellschaft assimiliert und dessen kulturelle
Identität ausgelöscht werden sollte. Mit anderen Worten, es sollte weissgewaschen
werden.
13 Teresa Barbaro, Shan Goshorn: Re-Weaving History,
in: American Indian, Summer/Fall 2014, S. 22–35.
35
36
WHITEWASHED, Shan Goshorn, 2014, Arches Aquarellpapierstreifen, bedruckt mit Archivtinte, Acrylfarbe. Sammlung NONAM.
Viele Kinder wurden gegen ihren Willen und gegen den Willen ihrer Familie in
weit entfernten Internaten untergebracht. Ihre Familie sahen manche von ihnen
viele Jahre lang nicht mehr. Die Kinder wurden in westliche Kleidung gesteckt,
ihre Haare wurden abgeschnitten, erlaubt war nur eine Sprache, die sie zunächst
gar nicht verstanden. Kulturelle Äusserungen und Rituale waren strengstens untersagt.
Manche Schulen haben im Nachhinein traurige Berühmtheit erlangt. Körperliche
Züchtigung, psychischer und sexueller Missbrauch, Mangelernährung,
Zwangssterilisation und Mord: Die Liste der Anklagepunkte, die Überlebende der
Internatsschulen zusammengetragen haben, ist lang. Die letzte dieser Schulen
wurde 1996 in der kanadischen Provinz Saskatchewan geschlossen.
Viele in «Whitewashed» verwobene Namen sind verblasst und verschmelzen zunehmend
mit dem Weiss der Aussenseite. Nora, vom Stamm der Creek, ist einer
der Namen, die noch zu entziffern sind. Wie mag Noras Geschichte ausgesehen
haben? Wurde auch sie weissgewaschen wie so viele vor und nach ihr? Vielleicht
gehörte sie aber zu denjenigen, die nach aussen hin weiss und angepasst erschienen,
die sich in ihrem Innern jedoch stets ihre wahre Identität bewahren konnten.
Das kräftige Rot auf der Innenseite des Korbes setzt ihnen allen ein Denkmal. Im
Kern verborgen und geschützt, leuchtet es lebendig und überstrahlt das gebleichte
Weiss der Aussenseite.
37
J e ffK a h m
Anishinaabe (Ojibway), Lakota, Irisch, Litauisch, * 1965, Connecticut, USA
«In essence, I’m exploring a visual language
that has been used by my ancestors for
hundreds of years. I’m celebrating these roots
by claiming a vernacular language rooted in
Indigenous abstraction.» 14
38
14 Interview mit der Autorin, 2014.
Filmstill aus: PORTRAIT JEFF KAHM, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.
39
40 Filmstills aus: PORTRAIT JEFF KAHM, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.
Jeffrey Kahmakoatayo alias Jeff Kahm wurde in Edmonton,
Alberta geboren und wuchs bei seiner Grossmutter im Little
Pine First Nations Reserve auf. Kahm studierte Kunst am Institute
of American Indian Arts (IAIA) in Santa Fe, am Kansas City
Art Institute und an der University of Alberta, Edmonton. Seit
2003 lebt und arbeitet Kahm in Santa Fe, wo er am IAIA Malen
und Zeichnen unterrichtet. Kahms Austausch mit seinen Studenten
stellt eine wichtige Inspirationsquelle für sein eigenes
Kunstschaffen dar. Zu seinen zahlreichen Ausstellungen innerund
ausserhalb der USA gehören die Einzelausstellungen «Paradigm»
in der Urban Shaman Contemporary Aboriginal Art
Gallery in Winnipeg (2013) und «Vernacular» am Museum of
Contemporary Native Arts in Santa Fe (2012). Kahms bevorzugter
Kunststil ist die abstrakte Malerei.
41
42
Wechselspiele abstrakter Kunst
In seiner indigenen Gemeinschaft wurde Kahm schon in jungen Jahren als Künstler
wahrgenommen. Sein Talent war bereits in seiner Kindheit offensichtlich,
und bestärkt von Lehrer und Grossmutter wusste er früh, was er später werden
wollte. Eine seiner ersten Inspirationsquellen waren die Bilder des Cree-Malers
Allen Sapp. Kahm malte zunächst im gegenständlichen Stil. Zu seinen Motiven
gehörten PowWow-Tänzer, Landschaften und Tipi-Szenen. Die Entwicklung hin
zur abstrakten Malerei, für die der Künstler heute bekannt ist, verlief in Etappen.
Kahms Lehrer am Kansas City Art Institute, Ron Slowinski, und die Maler Graham
Peacock und Phil Darrah, denen er an der University of Alberta in Edmonton
begegnete, führten ihn in die abstrakte Malerei ein. Dabei entdeckte er das Color
Field Painting, die geometrische Abstraktion und die New York School der
1940er- und 1950er-Jahre. Zu den Vertretern dieser Kunstrichtungen gehörten
auch Barnett Newman, Adolf Gottlieb und Jackson Pollock, die von der indigenen
Kunst Nordamerikas inspiriert waren. Der indigene Einfluss auf moderne
amerikanische Kunstströmungen wurde lange Zeit ignoriert. Heute wird er weitgehend
anerkannt. 15
Kahm fühlt sich insbesondere von der Unmittelbarkeit der abstrakten Malerei angezogen,
zu der visuelle Grundprinzipien wie Linie, Farbe, Struktur, Repetition
und Harmonie gehören – Prinzipien, die seit je in der indigenen Kunst verankert
sind. Kahm bezeichnet seine Arbeit mit dem abstrakten Formenrepertoire als instinktiven
Prozess. Das Malen in Serie und in Variationen erlaubt es ihm, eine Idee
in ihrer gesamten Tiefe zu erforschen und bewusster zu arbeiten. 16
15 Siehe hierzu als Beispiel: Bill Anthes:
American Indian Painting, 1940–1960,
Durham and London: Duke University
Press, 2006, S. 59–88;
W. Jackson Rushing: Ritual and
Myth: Native American Culture and
Abstract Expressionism, in:
The Spiritual in Art: Abstract Painting,
1890–1985, Los Angeles: Los Angeles
County Museum of Art, S. 273–95, 1986.
16 Interview mit der Autorin, 2014.
43
44
TRANSITION (II – V), Jeff Kahm, 2008, Acryl auf Leinwand. Sammlung NONAM.
Die visuellen Sprache der Ahnen
TRANSITION II–V (2008)
Die Unmittelbarkeit der abstrakten Malerei zieht Kahm an. Seine Bilder sprechen
die universelle Sprache der Geometrie. Streifen, Zickzackmuster, Kreise, Linien
und Rechtecke finden in indigenen Kulturen seit je Verwendung. Dennoch wirken
die Formen überaus zeitgenössisch. Auch Kahms Bildern haftet etwas Zeitloses
an. Seine Formen nehmen Bezug auf die abstrakten Zeichen und Muster seiner
Vorfahren und reflektieren Kontinuität in der kulturellen Entwicklung. Zugleich
sind sie Ausdruck des konstanten Wandels (Transition), den Entwicklungen mit
sich bringen. Die harten, trennscharfen Kanten der geometrisch angeordneten
Linien stehen in der Tradition des amerikanischen Hard Edge Painting. Die glänzenden,
satten Farben können als Metaphern für Technologie und den damit einhergehenden
Wandel betrachtet werden. Als Kahm mit der Hard-Edge-Technik
begann, erforschte er Konzepte des Wandels in indigenen Kulturen, ausgelöst
durch moderne Technologie.
Beeindruckend sind die enorme Stofflichkeit und Verschiedenartigkeit der Struktur.
Bei den kräftigen Farben handelt es sich um Acrylfarbe, die Kahm mithilfe
eines Farbrollers aufträgt. Das zusätzlich aufgetragene Acrylgel verdickt die
Farbe, wodurch der Effekt noch verstärkt wird. Bei «Transition 2» wurde der Farbe
zusätzlich Sand hinzugefügt.
Parflèche-Designs, Perlenobjekte und Quill-Arbeiten der Plains-Kulturen sind
wichtige Inspirationsquellen für Kahm, ebenso wie Stoffe aus Peru und Textilien
aus dem amerikanischen Südwesten. Kahm nimmt in seinen Werken jedoch nie
Bezug auf bestimmte Designs. Vielmehr versteht er geometrische Muster mit indigenem
Ursprung als inspirierende Wegbegleiter auf einer kreativen Reise.
45
Cannupa Hanska Luger
Mandan, Hidatsa, Arikara, Lakota, Norwegisch, Österreichisch,
* 1979, North Dakota, USA
«My creative process is a song
stuck in my head and the only way
to get it out is to sing it.» 17
46
17 http://cannupahanska.com/bio.php
Filmstill aus: PORTRAIT CANNUPA HANSKA LUGER, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.
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48 Filmstills aus: PORTRAIT CANNUPA HANSKA LUGER, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.
Cannupa Hanska Luger wurde in der Standing Rock Reservation
in Fort Yates, North Dakota, geboren. Zusammen mit seinen
sechs Geschwistern wuchs er bei seiner Mutter, einer Künstlerin,
auf. Die Höhen und Tiefen des Künstlerlebens lernte Luger
früh kennen. Die Entscheidung, selbst Künstler zu werden, fiel
ihm dennoch leicht. Von seinem Vater, auf dessen Farm in North
Dakota er als Kind die Sommer verbrachte, lernte er die Vorzüge
körperlicher Arbeit kennen. Luger beschreibt sich selbst
als Kind des Universums, das von einem Ort des «Nichtwissens»
stammt und Elemente von Sonne und Mond in sich trägt. 18 Der
Künstler studierte am Institute of American Indian Arts (IAIA)
in Santa Fe mit Fokus auf Keramik. Seine Werke sind in vielen
wichtigen Sammlungen vertreten. Luger lebt mit seiner Frau
und seinen beide Söhnen in Santa Fe, New Mexico.
18 http://www.blueraingallery.com/artists/cannupa_hanska_luger
49
50
I LOVE YOU TO DEATH, Cannupa Hanska Luger, 2012, Keramik, Filz, Moosgummi, Metall, Häkeldecken. Sammlung NONAM.
Geben und Nehmen
I LOVE YOU TO DEATH (2011)
& EAT PREY, LOVE I (2011)
Grazil, doch bereits gebeugt vom Gewicht seines Widersachers, steht der Rehbock
in «I love you to death» auf seinen filigranen Beinen, wohl ahnend, dass er
schon bald sein Leben lassen wird. Der Angreifer: ein Puma, der sich so geschmeidig
und lautlos angeschlichen hat, wie es nur Wildkatzen können. Erstaunt dreht
das Reh ihm den Kopf entgegen. Der Puma ist im Begriff, seine Beute durch einen
Genickbiss zu töten. Für Irritation sorgen die gespitzten roten Lippen der beiden
Mischwesen. Es scheint, als verharrten sie in Erwartung eines Kusses zwischen
Liebenden.
Die dargestellte Szene weckt viele Assoziationen – von der Beziehung zwischen
Raubtier und Beute ebenso wie von Liebe, Erotik und Gewalt. Die Skulptur reflektiert
die Grazilität des Rehs und die gespannte Kraft des Pumas. Mit ihren androgynen
Menschengesichtern erscheinen sie zudem wie merkwürdige Chimären
aus einer anderen Welt. Indem Luger ihnen ein menschliches Antlitz verleiht, verweist
er sowohl auf menschliche Aspekte im Tier als auch auf die animalische
Seite im Menschen. Er spricht von «umgekehrter Personifikation» (Reverse Personification).
Seine Wesen erinnern an Shapeshifter, die sich von Menschen in Tiere
und von Tieren in Menschen verwandeln können.
In «I Love you to Death» wird der Puma seine Beute erlegen, das Reh wird das
Opfer sein. In der gängigen Wahrnehmung unserer Gesellschaft gewinnt der
Stärkere, der Schwächere verliert. Vorstellungen vom Verhältnis zwischen Raubtier
und Beute, Mächtigen und Bemächtigten, Tätern und Opfern sind in unserem
Bewusstsein tief verankert. Mit «I Love you to Death» stellt Luger scheinbar eindeutige
Machtbeziehungen in Frage: «I want to show the desperation in the predator,
the fragility of the lifestyle. That they have as much to lose as they have to
gain. I wish to empower the prey, to change the idea that it is not a life taken, it is
a life given. That sacrifice is heroic.» 19
Luger weist darauf hin, wie Gegensatzpaare wie Schönheit und Brutalität, Liebe
und Gewalt oft nah beieinander bestehen können. Ebenso wie Liebe tödlich sein
kann, kann auch der Akt des Tötens als Akt der Liebe betrachtet werden, in dem
sich Jäger und Beute in einem einzigartigen Moment vereinen. Was für uns heute
befremdend klingen mag, war einst ein wichtiger Aspekt der Spiritualität und der
19 Ich möchte die Verzweiflung des Raubtiers zeigen, die Fragilität
seiner Lebensweise. Dass es so viel zu verlieren wie zu gewinnen hat.
Ich möchte die Beute ermächtigen zu denken, dass nicht ein Leben
genommen, sondern eines gegeben wird. Dieses Opfer ist heroisch.
51
52
EAT PREY, LOVE I, Cannupa Hanska Luger, 2014, Keramik, ungesponnene Wolle. Sammlung NONAM.
Philosophie indigener Jäger. Jagdglück hing nicht nur vom Geschick des Jägers
ab. In manchen Kulturen war es ausschlaggebend, ob ein Jäger das Mitleid eines
Tiers erregen konnte, damit es sich für ihn und seine Familie opferte.
Um die Beziehung zwischen Raubtier und Beute geht es auch in «Eat Prey, Love
I». Eine Eule verzehrt die Eingeweide ihrer Beute, eines Wiesels. «Schrecklich
schön» präsentiert sich der Kreislauf von Leben und Tod, wie er sich seit je wiederholt.
Der Titel, «Eat Prey, Love» (Iss die Beute, liebe) verweist einmal mehr auf
die Beziehung zwischen Liebe und Tod, Geben und Nehmen. Zugleich darf er als
ironischer Kommentar auf «Eat, Pray, Love» verstanden werden, einen Hollywoodstreifen
zum Thema Selbstfindung und Spiritualität, in dem die weibliche Hauptperson
ihr seelisches Gleichgewicht dank italienischer Pasta, Meditation und einer
neuen Liebe wiedererlangt.
Die Kraft des kreativen Akts
Der kreative Akt ist für Luger von zentraler Bedeutung. 20 Im Lauf dieses Prozesses
entwickelt er eine besondere Beziehung zum Material und ist bestrebt, dessen
Eigenschaften mit seiner gestalterischen Idee in Einklang zu bringen. Das
Resultat manifestiert sich in der Form. Dieser Prozess kommt einer Kommunikation
zwischen Künstler und Material gleich, die sich zuweilen als Herausforderung
entpuppt. Dabei ist es ihm ein Anliegen, eine ehrliche und aufrichtige Interpretation
des Hier und Jetzt zu entwerfen.
Bezeichnend für Lugers Skulpturen ist die Kombination verschiedenster Materialien
und ihre handwerkliche Verarbeitung. Ihre zum Teil schrillen Farben und ihre
Stofflichkeit ziehen den Betrachter in ihren Bann. Für «I Love you to Death» hat
der Künstler nebst Ton gehäkelte Decken aus dem Secondhandladen und diverse
im Hobbymarkt gekaufte Materialien verwendet. Die Skulptur wirkt deshalb nah
am Alltag und dennoch einer Fabelwelt entsprungen. Lugers Interesse gilt den
Wechselbeziehungen zwischen einfachen und anspruchsvollen Materialien wie
etwa Wolle und Stahl oder Moosgummi und Keramik. Die Arbeit mit alltäglichen
Materialien reflektiert auch die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Wertvorstellungen.
Ihre Verwendung im Alltag macht sie zu Projektionsflächen für
vorgefasste Meinungen. Indem Luger über die herkömmliche Verwendung hinausgeht,
fordert er gängige Vorstellungen heraus.
Im Mittelpunkt seines Schaffens steht die Arbeit mit Ton, einem Material, das die
Menschheit seit je begleitet. Luger fasziniert insbesondere der Kreislauf von Ton
und Keramik: Ein Tonblock wird zerstört, eine Skulptur wird erschaffen. Extreme
Hitze verwandelt Ton in Keramik, die eines Tages zerfallen und wieder Teil der Erde
werden wird – ein immer wiederkehrender, harmonischer Prozess von Schöpfung
und Zerstörung.
20 Interview mit der Autorin, 2014.
53
54
SOUNDBELLS, Cannupa Hanska Luger, 2013, Audio-Installation, Keramik. Sammlung NONAM.
Eine Antwort auf Stereotypen
SOUNDBELLS (2013)
Luger setzt sich mit Stereotypen auseinander. Neben zahlreichen anderen Akteuren
ist es heute vor allem die Unterhaltungs- und Popindustrie, die stereotype
Bilder indigener Kulturen transportiert, weiterentwickelt und verstärkt. Dass Stereotypen
mitunter zu Ikonen mutieren, die von nachfolgenden Generationen als
«echt» missverstanden werden, dürfte nicht nur Luger beunruhigen.
2013 entwarf der Künstler eine Reihe von Keramikskulpturen, die von der «Indian
Princess» bis hin zum «Curtis» je einem klassischen indigenen Stereotyp entsprachen.
Träger dieser Stereotypen waren Ghettoblaster aus Keramik, ausgestattet
mit typischen Merkmalen wie Federschmuck, Traumfänger und dergleichen. Die
Ausstellung im Museum of Contemporary Native Arts in Santa Fe schloss mit einer
Performance, in der Luger die «Stereotypes» vor Publikum und laufender
Kamera zerstörte. Einzig der mit einer Baseballkappe behütete «Luger» blieb
unangetastet.
«Soundbells» markiert den Gegenpol zu «Stereotypes». Die Serie umfasst vier
organisch geformte Keramikskulpturen: Herbst, Winter, Frühling und Sommer in
den Farben des verarbeiteten Tons: Rot, Weiss, Schwarz und Gelb. Die Farben
verweisen auf die vier Himmelsrichtungen und zeigen den Menschen an, wo sie
stehen. Darüber hinaus repräsentieren die «Soundbells» auch die Elemente Erde,
Feuer, Wind und Wasser, die jedes Lebewesen in sich trägt. Die Soundbells sind
überzogen von Unregelmässigkeiten und Rissen – Hinweise darauf, dass nichts frei
von Fehlern ist. Fehler zu haben bedeutet lebendig zu sein. Denn, so der Künstler,
perfekt ist nur der Moment der Schöpfung. Was darauf folgt, ist Unordnung.
Aus den «Soundbells» ertönen sphärische Klänge. Sie widerspiegeln das Empfinden
von Lebewesen, besonders aber von Menschen indigener Herkunft. Nicht die
äussere Erscheinung will wahrgenommen werden, die oft auf der Grundlage von
stereotypen Erwartungen beurteilt wird, sondern die verborgenen Klangwelten
im Innern, die nicht ohne Weiteres erkennbar sind, die den Menschen aber ausmachen.
«Soundbells» setzt sich mit dem auseinander, was Indigen-Sein heute
ausmacht. Jede der «Soundbells» ist äusserlich fehlerhaft. Ihre Musik lenkt die
Aufmerksamkeit jedoch auf den emotionalen Kern, der wahrhaftig und aufrichtig
ist. Die «Soundbells» tönen an, dass die Hinwendung zu Äusserlichkeiten von der
inneren Wahrheit wegführt. 21
21 Interview mit der Autorin, 2014.
55
Sonya Kelliher-Combs
Inupiaq, Athabaskisch, Deutsch, Irisch, * 1969, Alaska, USA
«Issues of personal, family, and cultural identity
continue to be at the heart of my work. I use
traditional symbols and patterns, and nontraditional
mediums to illustrate these ideas.» 22
56
22 http://museums.alaska.gov/TemporaryExhibits/Sonya/Sonya_Interview.htm
Filmstill aus: PORTRAIT SONYA KELLIHER-COMBS, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.
57
58 Filmstills aus: PORTRAIT SONYA KELLIHER-COMBS, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.
Sonya Kelliher-Combs wuchs in Nome, einer kleinen Ortschaft
in Alaska, auf. Ihren Bachelor in Fine Arts machte sie an der University
of Alaska in Fairbanks, ihren Master an der Arizona State
University. Obwohl sie schon als Kind zeichnete, sah sie sich nie
als werdende Künstlerin. Eher habe die Kunst sie ausgesucht
als sie die Kunst. 23 Ihre Werke sind in vieler Hinsicht eng mit ihrer
Heimat verbunden und reflektieren Themen wie Identität,
Selbstbestimmung, Verlust der Gemeinschaft und gravierende
soziale Probleme. Die Künstlerin ist regelmässig in nationalen
und internationalen Ausstellungen vertreten, unter anderem in
«Hide. Skin as Material and Metaphor» am National Museum of
the American Indian (NMAI). Kelliher-Combs’ Arbeit wurde mit
zahlreichen renommierten Auszeichnungen und Stipendien gewürdigt.
Als Fürsprecherin der Kunst und der Kultur Alaskas ist
sie Mitglied diverser Kunstgremien in der Arktis. Sonya Kelliher-Combs
lebt und arbeitet in Anchorage.
Kelliher-Combs ist in verschiedenen Kunstgattungen zu Hause:
crossmediale Malerei, Skulptur, Collage, Zeichnung und Installation.
In ihren Werken bringt sie synthetische und organische,
traditionelle und moderne Materialien zum Einsatz. Trotz der
unterschiedlichen künstlerischen Kategorien und Materialien
sprechen ihre Werke eine gemeinsame und unverkennbare
Sprache.
23 http://indiancountrytodaymedianetwork.com/
2011/03/11/sonya-kelliher-combs-art-lines-and-shadows-22296
59
GUARDED SECRETS, Sonya Kelliher-Combs, 2014, Foto: Chris Arend.
Karibu- und Schafrohhaut, Stacheln des nordamerikanischen
Baumstachlers, Nylonfaden, Archivklebstoff. Sammlung NONAM.
SMALL SECRETS, Sonya Kelliher-Combs, 2014,
Karibu-Rohhaut, Nylonfaden, Menschenhaar, Glasperlen. Sammlung NONAM.
60
Enthüllte Geheimnisse
GUARDED SECRETS (2014)
& SMALL SECRETS (2014)
Für ihre dreidimensionalen Werke verarbeitet Kelliher-Combs häufig Tierhaut zu
Objekten, die sie mit anderen organischen oder synthetischen Materialien wie
menschlichem Haar, Nylonfäden, Glasperlen und Fellen kombiniert. In «Guarded
Secrets» spickt sie Karibu- und Schafshaut mit den Stacheln des nordamerikanischen
Baumstachlers. Die auf diese Weise wehrhaft gemachten, zellenartigen
Hautbeutel wirken anziehend und abstossend zugleich: anziehend, weil die ungewöhnlichen
Objekte unsere Neugier wecken und wir sie genauer unter die Lupe
nehmen möchten. Abstossend, weil die Stacheln uns eine Annäherung an das
Innere der eigenwilligen Hüllen nahezu verunmöglichen.
Mit nur wenigen Materialien und einfachen Formen gelingt es der Künstlerin, auf
das komplexe Thema gehüteter Geheimnisse – «Guarded Secrets» – hinzuweisen.
Die Geheimnisse sind nach aussen hin sorgfältig abgeschirmt und von innen gestärkt.
Sie bergen Gegensätze: sich verschliessen oder sich öffnen, verbergen
oder enthüllen, schweigen oder zur Sprache bringen, sich schützen oder Verletzlichkeit
offenlegen. Die elliptisch geformte Membran erinnert nicht zufällig an
Geschlechtsorgane.
Auch «Small Secrets» handelt von verborgenen Geheimnissen. In den durchscheinenden
und dennoch undurchsichtigen Behältnissen lassen sich Dinge so verwahren,
dass sie nie ans Licht kommen. Geheimnisse und Tabus wie körperlicher
und psychischer Missbrauch, Gewalt oder Selbstmord werden zuweilen über Generationen
hinweg unter Verschluss gehalten. Indem sie das Schweigen bricht
und dem oft Unaussprechlichen eine Stimme verleiht, enttabuisiert Kelliher-Combs
tragische Ereignisse. Ihr künstlerisches Engagement und ihre Bemühungen,
Licht ins Dunkel zu bringen, werden in der indigenen Gemeinschaft nicht
immer begrüsst. 24
24 Ringlero, Aleta, Sonya Kelliher-Combs: Secret Skin, in: Hide. Skin as
Material and Metaphor, Washington / New York: National Museum of the
American Indian Smithsonian Institution, 2010, S. 46.
61
62
GUARDED SECRETS, Sonya Kelliher-Combs, 2014,
Karibu- und Schafrohhaut, Stacheln des
nordamerikanischen Baumstachlers, Nylonfaden,
Archiv klebstoff. Sammlung NONAM.
SMALL SECRETS, Sonya Kelliher-Combs, 2014,
Karibu-Rohhaut, Nylonfaden, Menschenhaar,
Glasperlen. Sammlung NONAM.
Kelliher-Combs’ Werke beziehen sich sowohl auf das eigene Umfeld als auch auf
dysfunktionale Aspekte der Gesellschaft im Ganzen wie soziale Ausgrenzung
oder persönliche und kulturelle Traumata. Kelliher-Combs versteht die Auseinandersetzung
mit diesen Themen als Chance: «Creating work that addresses difficult
issues like suicide, abuse, and marginalization of populations is not always
easy. The essential part, to me, is to make work that is true and honest. Sometimes
creating this work is cathartic. Sometimes it feels like cutting out a piece of cancer,
but most often it is quiet and a time to contemplate. Often people have told
me how my work has affected them. I can only hope that this work shows people
that they are not alone and that these painful issues must be voiced in order to
transform and promote healing.» 25 Arbeiten hervorzubringen, die schwierige Themen
aufgreifen wie Selbstmord, Missbrauch und Marginalisierung von Menschen,
ist nicht immer einfach. Mir ist wichtig, Arbeiten zu gestalten, die wahrhaftig und
ehrlich sind. Manchmal wirkt die Herstellung einer solchen Arbeit befreiend.
Manchmal fühlt es sich an, als ob man ein Stück Krebs herausschneiden würde,
aber meist ist es eine ruhige Angelegenheit und eine Zeit der Selbstversenkung.
Leute haben mir oft gesagt, wie sie meine Arbeit berührt hat. Ich kann nur hoffen,
dass meine Arbeit den Leuten zeigt, dass sie nicht allein sind und dass diese
schmerzhaften Themen zur Sprache gebracht werden müssen, wenn sie ein Stück
weit transformiert und geheilt werden sollen.
25 http://contemporarynativeartists.tumblr.com/post/19262685549/
sonya-kelliher-combs-inupiaq-athabascan
63
64
UNRAVELED WALRUS FAMILY PORTRAITS, Sonya KelliherCombs, 2014, Acrylpolymer,
Polyurethan, Walrossmagen, Archivtinte, Nylonfaden. Sammlung NONAM.
Haut als Symbol
UNRAVELED WALRUS
FAMILY PORTRAITS (2014)
Kelliher-Combs verwendet neben synthetischen Materialien vor allem Tierhäute
und -därme in ihrer Kunst, die sie als Nebenprodukt der saisonalen Jagd von
Freunden erhält. In der Tradition der arktischen Kulturen erfüllten Tierhäute wichtige
Funktionen. Kelliher-Combs weiss um die hervorragenden Eigenschaften des
Materials. Sie verwendet die Häute nicht nur zur Herstellung von Objekten, sondern
in gedehnter, gefalteter oder geschichteter Form auch als Grundlage für
ihre Bilder. Aus Acrylpolymer stellt sie synthetische Häute selber her. In der Gegenüberstellung
von synthetischen und organischen Materialien erforscht sie die
Wechselwirkung der westlichen und der indigenen Kultur. In Arbeiten wie «Unraveled
Walrus Family Portraits» wird Kelliher-Combs’ Gespür für die Ästhetik der
Transparenz der Haut sichtbar. Kombiniert mit Acrylfarben und Tinte werden die
Häute zu Trägern mysteriöser, metamorpher Formen, wie sie sowohl in der Natur
als auch im Menschen vorkommen.
Kelliher-Combs versteht Haut als eine Oberfläche, über die ein Individuum seine
soziokulturelle Herkunft kommuniziert, als Symbol für individuelle und kulturelle
Identität. In Verbindung mit den verwendeten Mustern, Symbolen und Techniken
besitzen ihre Werke sowohl historische als auch persönliche Bedeutung und reflektieren
die Auseinandersetzung der Künstlerin mit ihrer eigenen hybriden
Identität. Anhand der seriellen Werke setzt sie ihre Auseinandersetzung fort und
definiert ihren Platz innerhalb von Familie, Gemeinschaft und nicht zuletzt in der
Welt immer wieder neu. 26
26 Interview mit der Autorin, 2014.
65
Gina Adams
Anishinaabe (Ojibway), Lakota, Irisch, Litauisch, * 1965, Connecticut, USA
«In storytelling I am moved by a sense of discovery
and connection, and much of it is also deeply
connected and rooted in place and land. My life’s
journey is about where the land, peoples, and
stories come together. It is my wish that the viewer
will bring their own experience when viewing my
work. Thank you for taking the time for your own
discovery as it brings meaning to the day.
Miigwetch / Thank you.» 27
66
27 http://www.ginaadamsartist.com/bio.html
Filmstill aus: PORTRAIT GINA ADAMS, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.
67
68 Filmstills aus: PORTRAIT GINA ADAMS, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.
Gina Adams verbrachte ihre frühe Kindheit in San Francisco
Bay und ihre Jugendjahre in Maine. Sie studierte Kunst an der
University of Kansas, wo sie mit einem Master of Fine Arts abschloss.
Adams’ crossmediale, hybride Kunst umfasst Skulptur,
Keramik, Malerei, Druck und Zeichnung. Ihre Arbeiten sind Gegenstand
zahlreicher Ausstellungen in den USA, ihre Werke
sind in öffentlichen und privaten Sammlungen vertreten. Zu
ihren jüngeren Ausstellungen gehören «Stands With A Fist» am
Museum of Contemporary Native Art in Santa Fe und «Survival
/ Zhaabwiiwin» am Bemis Center for Contemporary Arts in
Omaha, Nebraska sowie am Institute of Contemporary Art in
Portland, Maine. Adams ist als Kuratorin tätig, unterrichtet an
Universitäten und nimmt an Artist-in-Residence-Programmen
teil. Für ihre Arbeit erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen. Die
Künstlerin lebt und arbeitet in Lawrence, Kansas. 28
Hybride Welten
Gina Adams erschafft ihre Welten nicht auf dem Rücken einer Schildkröte, wie es
dem Schöpfungsmythos ihrer indigenen Kultur entsprechen würde. Sie erschafft
Welten auf dem Rücken eines Basketballs. Das Recht auf Land mag vielerorts
Geschichte sein, das Recht auf eigene Welten und Wirklichkeiten ist für Gina
Adams Gegenwart und Zukunft. Adams’ Werke reflektieren ihre multikulturelle
Herkunft und Identität sowie die Welt, in der sie heute lebt. Was sie beschäftigt
und bewegt, fliesst in ihre Arbeit ein. Alles findet seinen Platz – von der litauischen
Spitze ihrer Grossmutter über die Midewiwin-Lehren ihres Grossvaters bis
hin zu postkolonialen Theorien. Die Künstlerin forscht und gestaltet, nimmt auseinander
und setzt neu wieder zusammen. Sie mischt Medien, Themen und Kulturen
und erschafft kunstvolle Hybride, die tief in indigener Erde wurzeln.
28 http://www.ginaadamsartist.com/bio.html
69
70
HONORING MODERN, Gina Adams, 2010, Keramik, Enkaustik. Sammlung NONAM.
Adams’ «Weltkugeln» bestehen aus gebranntem Ton. Als Teil
des Landes symbolisiert die Tonerde das Überleben indigener
Kulturen seit alters her. Die Wulsttechnik des Aufbaus steht für
Kulturverlust – für indigenes Wissen, das nicht auf traditionellem
Weg an die Künstlerin weitergegeben wurde. Die keramische
Ober fläche ist in der griechisch-römischen Technik der
Enkaustik mit in Wachs gebrannten Motiven überzogen. Das
Einbrennen sollte schon in der Antike die Gedanken der Künstler
unvergänglich machen.
HONORING MODERN (2010)
Auch im 21. Jahrhundert sind die Folgen der erzwungenen Integration der indigenen
Bevölkerung in die nordamerikanische Gesellschaft noch weithin spürbar. Für
Adams und viele andere sind Assimilation und Identitätsverlust Teil der Familiengeschichte.
Identität stiften heute aber längst nicht mehr nur überlieferte Kulturen
und Traditionen. Längst gibt es auch andere Möglichkeiten und gänzlich neue
Identitäten, zum Beispiel im Sport.
Für «Honoring Modern» stand ein Basketball Pate. Auf der keramischen Oberfläche
ist der Schriftzug des amerikanischen Sportartikelherstellers Wilson erkennbar.
Basketball ist eine der Sportarten, die indigenen Heranwachsenden Perspektiven
bieten: Stipendien für Studierende, Ruhm, Ehre und ein gesichertes
Einkommen für professionelle Athleten, vor allem aber Identität. Und wer Glück
hat, sichert sich sogar einen Platz in der American Indian Athletic Hall of Fame. 29
Ein Spiel als Überlebenschance.
«Honoring Modern» entstand im Kontext von Adams’ Auseinandersetzung mit
der kulturellen Assimilation ihrer Vorfahren. Ihr Grossvater war Opfer der Assimilierungspolitik
der USA, er wurde gezwungen, eine der vielen Internatsschulen zu
besuchen. «Honoring Modern» könnte als kritischer Kommentar verstanden werden,
denn auch die Internatsschulen setzten auf Basketball und andere Sportarten,
um die Assimilation voranzutreiben.
Doch Spiele, Sport und Wettkampf sind in indigenen Traditionen fest verankert.
Grosse Krieger, erfolgreiche Jäger und ruhmreiche Wettkämpfer genossen grosses
Ansehen. Das Gleiche gilt für Sportidole und Basketballhelden. So kann auch
ein Basketball neue Welten erschliessen und die Grundlage für eine neue Identität
liefern. Grund genug, auch das Moderne zu ehren.
29 http://www.ginaadamsartist.com/honoring_modern.html
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72
HONORING MODERN UNIDENTIFIED, Gina Adams, 2013, Keramik, Enkaustik. Sammlung NONAM.
Menschen ohne Namen und Geschichte
HONORING MODERN UNIDENTIFIED (2013)
Auch «Honoring Modern Unidentified» wurde auf einem Basketball erschaffen.
Das Werk basiert auf der Recherche von Fotografien nicht identifizierter indigener
Personen, die im Museumskontext zu Illustrationszwecken für Artefakte verwendet
wurden. Die Zuordnungen waren willkürlich und reflektierten keine tatsächlichen
Verbindungen zwischen Bild und Objekt. Durch die konstruierten
Zusammenhänge und die Instrumentalisierung der Anschauungsobjekte wird der
Verlust von Identität, Kultur und Land verstärkt. Motive aus der Kultur der Anishinaabe
erinnern an die Herkunft der Künstlerin. Die Zeichen und Symbole
stammen von traditionellen Birkenrindenmustern und stellen den Bezug zur Midewiwin
her, der grossen Medizingesellschaft der Anishinaabe, der auch Adams’
grossväterliche Linie angehörte und deren Lehren und Heilwissen sich auch die
Künstlerin widmet. Gina Adams erschafft Welten und Identitäten – für Menschen,
an die sich niemand mehr erinnert, für Athleten, für die ein Spiel die Welt bedeutet,
und nicht zuletzt auch für sich selbst. 30
30 http://www.ginaadamsartist.com/
honoring_modern_unidentified.html
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74
SCRIBE, Gina Adams, 2010, Enkaustik. Sammlung NONAM.
SCRIBE (2010)
Ihre Rückkehr zum Land und zu ihren Ältesten inspirierte Gina Adams zu «Scribe».
Die Serie ist eine Hommage an die Medizingesellschaft der Anishinaabe mit ihren
überlieferten Lehren und Prophezeiungen, mit ihrem Heil- und Heilpflanzenwissen.
«Scribe» würdigt die Heilkraft des Landes und das Land als Heiler.
Die Lehren der Midewiwin wurden auf Birkenrindenrollen geritzt. Die Anishinaabe
hielten in Zeichen und Symbolen rituelle, spirituelle und kosmologische Inhalte
fest und verorteten den Platz der Menschen in der Welt. Wer wie Gina Adams
zwischen verschiedenen Kulturen aufgewachsen ist, tut sich mitunter schwer, seinen
Platz zu finden. Die Künstlerin erschafft eigene Landschaften und eine eigene
Zeichensprache. In diese übersetzt sie die Spitzenarbeiten ihrer irischen und litauischen
Grossmütter, die Perlenarbeiten ihrer Anishinaabe- und Lakota-Grossväter
und die Muster traditioneller Birkenrindenrollen. In Landschaften aus Wachs
markieren ihre Zeichen Meilensteine einer Suche nach Herkunft, Identität und
Zugehörigkeit.
75
Ross Chaney
Osage, Cherokee, * 1972, Oklahoma, USA
«My art is a reflection
of my personal experience
as I can move and flow
in several cultures and
languages. I am a free
agent and not tied down
to one system of
demands.» 31
76
31 Interview mit der Autorin, 2014.
Filmstill aus: PORTRAIT ROSS CHANEY, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.
77
78 Filmstills aus: PORTRAIT ROSS CHANEY, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.
Ross Chaney ist Mitglied des Osage-Stammes und der Cherokee
Nation und wuchs in Oklahoma auf. Als Legastheniker machte
er schon früh seine Erfahrungen mit Verlust und dem Gefühl,
nicht dazuzugehören. Während seine Mutter seine Bildung im
Auge behielt, suchte er selber Zuflucht in der Kunst. Inzwischen
haben beide Wege zu Zielen geführt. Als erster Student der
University of Oklahoma erhielt Chaney ein Stipendium in Japan.
In Kyoto erwarb er einen Mastertitel in International Relations,
in einem zweiten Studium widmete er sich der japanischen
Kunst, Sprache und Kultur. Im Alter von fünfundzwanzig Jahren
hielt er bereits seinen zweiten Masterabschluss in Händen. Japan
liess ihn nicht wieder los.
Hauptberuflich arbeitet Chaney als Direktor für ökonomische
Ent wicklung für die Stadt Santa Fe in New Mexico, nebenberuflich
ist er Multimedia-Künstler. In seiner Freizeit engagiert er
sich in einem Zentrum für Kinder, die Traumata und Trauer verarbeiten.
Er arbeitet in Medien wie Malerei, Zeichnung, Video,
Film und Installation. Als Künstler bezeichnet er sich als autodidaktischen
Aussenseiter.
79
80
VERMONT TO SANTA FE, WATER AND SNOW, Ross Chaney, 2012/2013, Sumi-Tusche auf Archivpapier. Sammlung NONAM.
Kulturübergreifende Meditationen
VERMONT TO SANTA FE,
WATER AND SNOW (2012–2013)
Feine Linien fügen sich zu lebhaften Mustern zusammen. Chaneys abstrakte
Werke erinnern an Bilder in der Natur: Abdrücke im Schnee, schmelzendes Wasser,
Ritzen in Steinen, knorrige Äste, Spinnennetze. «Vermont to Santa Fe, Water
and Snow» reflektiert Chaneys kulturübergreifende Meditationen zu Mensch, Umwelt
und heutigem Leben. Die Verbundenheit des Künstlers mit der japanischen
Kultur ist unverkennbar und äussert sich nicht zuletzt im Gebrauch der Sumi-Tinte,
die auch in der Zen-Malerei verwendet wird. Die Entstehung der vierteiligen Serie
ist mit der Erinnerung an eine intensive, tranceähnliche Erfahrung in Vermont
verbunden. Die Serie wurde in Vermont begonnen und in Santa Fe beendet. 32
Intuition statt Perfektion
Intuitives Schaffen spielt für Chaney eine wichtige Rolle. In seiner künstlerischen
Arbeit vermeidet er bewusst jedes Streben nach Perfektion. Sein Kunstschaffen
gleicht einer Entdeckungsreise, die geprägt ist von Erinnerungen, Worten und
Farben sowie von traditionellen und zeitgenössischen Symbolen. Der Künstler
schöpft gerne aus dem Unbewussten. Seine Arbeiten sind von der japanischen
Kultur und von seiner eigenen indigenen Herkunft inspiriert. Seine abstrakte Malerei
reflektiert zuweilen die Musik der alljährlichen In-Lon-Schka-Tänze in Pawhuska,
Oklahoma.
Chaney ist überzeugt von der heilenden und verändernden Kraft der Kunst. Werke
lösen Assoziationen, Gedankengänge und Emotionen aus, stossen Handlungen
an und setzen Erkenntnisse frei. Kurz: Sie entwickeln ein Eigenleben. Chaney
stellt seine Kunst in den Kontext der Komplexitätstheorie, der zufolge die Elemente
eines grösseren Ganzen stets in Bewegung sind, agieren, reagieren und
sich verändern und somit Einfluss nehmen auf das System, dessen Bestandteil sie
sind und das sie schliesslich ebenfalls verändern.
32 Interview mit der Autorin, 2014.
81
82 Michael Belmore beim Arbeiten an «Roiling in Silence», Zürich, 2014. Foto: Julia Tabakhova.
Michael Belmore
Anishinaabe (Ojibway), * 1971, Ontario, Kanada
«A lot of my work is in essence conceptual. But it’s
very much grounded in the traditions of where my
grandparents came from, where I come from. It’s
about being connected to the land.» 33
33 https://www.youtube.com/watch?v=xSjnO74Kp70
83
84 Michael Belmore beim Arbeiten an «Roiling in Silence», Zürich, 2014. Fotos: Julia Tabakhova.
Michael Belmore ist Mitglied der Royal Canadian Academy of
Arts. Sein Diplom in Bildhauerei und Installation erhielt er vom
Ontario College of Art and Design in Toronto. Geboren und
aufgewachsen ist Belmore nördlich von Thunder Bay, Lake
Superior.
Belmore arbeitet mit Kunststoff, Metall, Stein und Holz. Bekannt
ist er für seine grossformatigen Werke in Stein und Metall.
Material spielt in seiner Arbeit eine wichtige Rolle, seine
Geschichte, seine Herkunft und seine Eigenschaften eröffnen
den Zugang zum Verständnis der Skulpturen und Installationen.
Dabei dienen die verwendeten Rohstoffe immer der mahnenden
Erinnerung – an den Preis der Ware und an die imaginären
Werte, die Menschen der Natur zuweisen.
Belmores Arbeit wurde mit zahlreichen Auszeichnungen gewürdigt,
unter anderem vom Ontario Arts Council, vom Canada
Council und von der Canadian Native Arts Foundation.
85
86
ROILING IN SILENCE, Michael Belmore, 2014, Behauene Flusskiesel, Kupferfolie. Sammlung NONAM.
Die Kraft von Wasser, Stein und Zeit
ROILING IN SILENCE (2014)
Nichts prägte Nordamerika so sehr wie die gestalterische Kraft des Wassers.
Michael Belmores Arbeit ist inspiriert von der Landschaft des Nordens. Steine,
Wasser und Zeit faszinieren ihn. Ebenso das Land und wie es geformt wurde.
Seine Arbeit befasst sich mit Orten, wo Wasser und Land aufeinandertreffen.
Das Nordufer des Lake Superior lieferte die Inspiration für Installationen mit Stein
wie «Roiling in Silence». Das Clink-clink-clink geschliffener, in den Wellen rollender
Kiesel löste bei Belmore die Frage nach ihrem Ursprung und den Kräften aus,
die die Steine einst formten und ans Ufer brachten.
Der Bildhauer bearbeitet sorgfältig ausgewählte Steine und arbeitet sich in ihr
Inneres vor. Wo die Natur konkave Rundungen hinterlassen hat, antwortet er mit
konvexen Formen. So fügt er Stein um Stein aneinander und lässt Skulpturen
wachsen.Aus verborgenen Ritzen leuchtet Kupfer. Es erinnert an die indigen genutzten
Kupfervorkommen des Lake Superior und an Schätze, die Steine in ihrem
Innern verbergen. Ausserdem ist es ein Signal, das an menschliche Begehrlichkeiten
erinnert, die das Land zur Ware machen.
Für das NONAM übersetzte Michael Belmore seine Kunst in die Sprache der Steine
und des Wassers in der Schweiz.
87
88
BASIN, Michael Belmore, 2012, Kupfer. Sammlung NONAM.
BASIN (2012)
Wie aus der Vogelperspektive schaut man hinab auf Belmores «Basin», eine
Landschaft aus Kupfer, in deren Mitte der flächenmässig grösste Süsswassersee
der Welt, der Lake Superior, zu erkennen ist. Durch seine fein gehämmerte Oberflächenstruktur
hebt sich das Becken des Sees klar von der gewellten Kupferplatte
ab. Der Lake Superior enthält zehn Prozent des weltweiten Süsswasservorkommens
und wird von über dreihundert Zuflüssen gespeist. Mit seinen 10000
Jahren ist er der jüngste See seiner Art. Regelmässig kehrt Belmore zum Ufer des
Lake Superior zurück, der für ihn ein Stück Heimat ist. Das Land bestimmt Belmores
Kreativität entscheidend mit. Es liefert ihm Inspiration für seine Arbeit und
das Material für seine Kunst – und es prägt es seine Identität.
Die Landschaft rund um den See ist das Resultat eines gewaltigen Naturakts, in
der das Wasser die Hauptrolle spielt. Daneben prägte jedoch nichts die Landschaft
so sehr wie der Mensch, der Flüsse korrigiert, Bäche umleitet, Feuchtgebiete
reguliert und, nicht nur im übertragenen Sinn, Berge versetzt. «Basin»
widerspiegelt den menschlichen Einfluss auf die Umwelt und den Menschen als
eigenmächtigen Gestalter der Landschaft. Die Struktur des gehämmerten Kupfers
erinnert an vernarbte Haut und weist darauf hin, dass der Mensch irreversible
Spuren hinterlässt. Belmore übersetzt den Eingriff des Menschen in die Natur in
den Arbeitsprozess, den er auf das Kupfer anwendet. Die Formbarkeit des Metalls
setzt er gleich mit der Formbarkeit der Landschaft. Jeder Hammerschlag hinterlässt
seine Spuren. Das endgültige Muster entsteht aus dem Zusammenspiel
kunstvoll gesetzter, gelungener Schläge und solcher, die fehlgeschlagen sind.
Die Entdeckung der Langsamkeit
Beeindruckend und geradezu unzeitgemäss ist Belmores Umgang mit der Zeit,
der in seinen Arbeitsprozessen zum Ausdruck kommt. In einer Zeit, in der Geschwindigkeit
und Schnelllebigkeit den Alltag bestimmen, zeigt sich Belmore von
solchen Einflüssen unbeeindruckt. Zeit und Aufwand schrecken ihn nicht – beides
gesteht er seinen Werken zu. Er nimmt sich Zeit, um sein Material kennenzulernen,
und widmet sich seinen Werken mit Geduld, Hingabe und Ausdauer. Seine
Arbeiten sind kunstvolle Meditationen, die in langwierigen, gleichförmigen Prozessen
entstehen – wie geschaffen, um nicht nur in den Körper, sondern auch zur
Seele des Materials vorzudringen.
89
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EFFUSE, Michael Belmore, 2014, Kupferdraht, Kupfer- und Aluminiumperlen. Sammlung NONAM.
EFFUSE (2014)
«Effuse» verbindet die traditionelle Perlenarbeit der Anishinaabe mit der digitalen
Computersprache, dem ASCII-System des Binärcodes. Die Algonkin-Kulturen
des östlichen Waldlandes verwendeten Meeresschnecken und Muscheln zur Herstellung
von Perlen in zwei Farben (Weiss und Violett), die sie in Gürteln und
Bändern verarbeiteten. Die sogenannten Wampum Belts bildeten die Grundlage
von Verträgen. Ihre Zeichen und Symbole dokumentierten die Übereinkünfte der
Vertragspartner. Das binäre System des ASCII verwendet für seine Codes zwei
Zeichen, etwa 0 und 1. Belmore bedient sich des Binärcodes in einer Abfolge aus
Kupfer- und Aluminiumperlen. Wer den Code entschlüsselt, erhält die Aussage
«spread out flat without definite form» (flach ausgebreitet ohne endgültige
Form). Er erinnert an vergessene Codes, die die Grundlage heutiger Wirklichkeiten
sind – seien es die Verträge der Wampum Belts oder die Codes hinter der
Technologie, die wir täglich verwenden.
91
Frank Shebageget
Anishinaabe (Ojibway), * 1972, Ontario, Kanada
«My focus on historical and contemporary intercultural
history was an attempt to locate positive
connections that have been established between
native and nonnative cultures, without falling into
tropes of stereotypical issues about native culture.» 34
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34 Jennifer Gibson: Frank Shebageget, Winnipeg: Gallery 1C03
und Anthropology Museum of the University of Winnipeg, 2013, S.4.
Foto: Frank Shebageget, 2004.
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94 Fotos: Frank Shebageget, 2008.
Frank Shebageget ist bekannt für seine grossformatigen Installationen,
in denen er persönliche, kulturelle, historische und
zeitgenössische Elemente zu eindrücklichen und vielschichtigen
Werken verbindet. Viele seiner Arbeiten bestehen aus unzähligen
von Hand gefertigten Einzelobjekten, die zu einem
wahrhaft grossen Ganzen verschmelzen. Der Künstler arbeitet
vor allem mit Holz, Metall und Zement. Shebageget wuchs im
kanadischen Upsala, im Norden des Lake Superior auf. Geschichte
und Geografie seiner Heimat liefern ihm viele Impulse
für sein Kunstschaffen. Shebageget studierte am Ontario College
of Art, Toronto, und absolvierte seinen Master in Kunst an
der Universität in Victoria, British Columbia. Seine Werke sind
in wichtigen kanadischen Sammlungen vertreten, u.a. in der
Ottawa Art Gallery und der Canada Council Art Bank.
95
96
LODGE, Frank Shebageget, 2008, Lindenholz, Stahl. Sammlung NONAM.
Fliegende Biber erschliessen das Land
LODGE (2008)
1692 kleine Flugzeuge liegen kreuz und quer über- und untereinander auf einem
grossen Haufen. Es sind ebensoviele handgefertigte Modelle des legendären
Wasserflugzeugs Beaver, wie seit 1947 in Kanada gebaut wurden. Beaver gelten
als Ikonen kanadischen Ingenieurwesens und Designs. Die akribische Handarbeit
des Künstlers kontrastiert die industrielle Produktion der Originale und erinnert
zugleich auch an die überaus arbeitsamen Nager, nach denen die Flugzeuge benannt
sind. Biber sind hervorragende Baumeister, die unentwegt ihre Arbeit verrichten
und mit ihren Bauten und Dämmen massgeblich ihre Umwelt verändern.
So gesehen erinnert der Biberdamm auch an Staudammprojekte, die indigenes
Land unter Wasser setzten und Teile der indigenen Bevölkerung ihrer Lebensgrundlage
beraubten. Die zentrale Rolle des Bibers im Pelzhandel und in der Entstehung
des Landes machten ihn zu einem der Wahrzeichen Kanadas.
Neben ihrer Robustheit und Zuverlässigkeit waren die Beaver vor allem wegen
ihrer Flexibilität gefragt. Dank Schwimmern und Ski waren sie auch in unwegsamem
Gelände einsetzbar. Beaver erreichten entlegene indigene Dörfer, verbanden
Orte miteinander, gewährleisteten den Zugang zu externen Gütern, brachten den
Fortschritt und steigerten die Lebensqualität. Jedoch weckten sie – das ist die
Kehrseite der Medaille – auch kommerzielle Interessen am Land der Ureinwohner
und förderten die Ressourcenspekulation der westlichen Industriegesellschaft.
Die Erschliessung Kanadas mithilfe der Beaver rief auch Wasserkraftprojekte auf
den Plan, in deren Windschatten historische Vertragsrechte missachtet wurden,
Zwangsumsiedlungen erfolgten und sensible Ökosysteme zerstört wurden.
Wer mit den kuppelförmigen Behausungen der Anishinaabe vertraut ist, fühlt
sich durch Form und Titel der Installation auch an die traditionelle indigene Behausung,
den Wigwam, erinnert, der ebenfalls oft schlicht als Lodge bezeichnet
wird. Und schliesslich ist die aus Beaver-Modellen bestehende «Lodge» auch ein
Biberbau. Sowohl Beaver (Flugzeug) als auch Biber (Pelztier) prägten die Erschliessung
Kanadas massgeblich mit. Beide trugen dazu bei, dass die Europäer
immer weiter ins Land vordrangen – das Flugzeug durch seine Geländegängigkeit,
das Pelztier, weil sein kostbares Fell europäische Jäger und Händler immer
weiter ins Landesinnere lockte. Shebagegets Werke sind komplex und, im Fall
von «Lodge», im wörtlichen Sinn vielschichtig. Sie reflektieren Welten und Zusammenhänge
nicht in Schwarz und Weiss, sondern in vielen verschiedenen
Schattierungen.
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CASTOR‘S CASTOREUM, Frank Shebageget, 2006, Giessharz, Acryl, Biberpelz. Sammlung NONAM.
CASTOR’S CASTOREUM (2013)
Hübsch leuchten sorgfältig arrangierte Flakons, die man eher in einer Parfümerie
als in einer Ausstellung erwarten würde. Ihr Design ist organisch, ihre Farbgebung
bunt und doch geheimnisvoll. Tatsächlich ist das eigenwillige Design gar
kein Design, sondern es handelt sich um Abgussformen der Drüsensäcke des Bibers.
In den Drüsen oder Geilsäcken produziert der Biber das einst begehrte und
teuer gehandelte Bibergeil oder Castor Castoreum, das in der Herstellung hochwertiger
Parfums unentbehrlich war.
«Castor’s Castoreum», das sind schick aufgemachte Produkte, die die Aufmerksamkeit
auf sich ziehen, um unvermittelt auf eine andere Fährte zu lenken. Shebageget
betrachtet das Produkt im Kontext seiner Geschichte und touchiert auf
subtile Weise ein Thema, das ethische Fragen aufwirft.
Sein Drüsensekret und der wertvolle Pelz machten den Biber zu einer begehrten
Beute im nordamerikanischen Pelzhandel. Indigene Jäger tauschten die Pelze an
den Handelsstationen gegen europäische Güter und rotteten den Biber unter
dem Druck der Nachfrage in Europa in vielen Regionen nahezu aus. Auch für Shebagegets
Familie stellte der Handel mit Biberfell und dem Castoreum eine Einnahmequelle
dar. Der Künstler erinnert sich, wie er als Kind seiner Mutter dabei
zusah, wie sie Felle dehnte, trocknete und den erlegten Tieren die Drüsen herausschnitt.
Diese verkaufte sie für einen Stückpreis von 10 bis 15 kanadische Dollar
an die Hudson’s Bay Company. «One time, when I was about 5 years old, I was
playing in the basement and my mother came in carrying a couple of beaver
castors. She proceeded to string them up on the support beam and I asked her:
‹Why did you do that?›. She told me ‹They make perfume out of them!›»
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Diego Romero
Cochiti Pueblo, Euro-Amerikanisch, * 1964, Kalifornien, USA
«I think that I have developed a narrative and
a voice. I like these little cartoony, political comments
on bowls, and I like the fact that I can comment
on the history of the pueblo people.» 35
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35 http://www.robertnicholsgallery.com/Robert_Nichols_Gallery/Artists/Pages/DIEGO_ROMERO_1_files/diegostatement_1.jpg
Filmstill aus: PORTRAIT DIEGO ROMERO Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.
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102 Filmstills aus: PORTRAIT DIEGO ROMERO Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.
Diego Romero stammt aus einer ausgesprochen kreativen Familie.
Er und sein Bruder Matéo sind bereits in dritter Generation
professionelle Künstler. Als Sohn eines Vaters mit Wurzeln
bei den Cochiti Pueblo und einer euro-amerikanischen Mutter
wuchs Romero in Berkeley, Kalifornien, auf. Er selbst bezeichnet
sich als Mischung aus Stadtkind und Cochiti-Indianer. Schon
als Kind faszinierten ihn Ruinen und antike Keramik. Die Ausbildung
am Institute of American Indian Arts (IAIA) in Santa Fe
war nicht mehr als ein logischer Schritt. Er besuchte ausserdem
die Otis-Parsons School of Design und die University of California
(UCLA) in Los Angeles. Romeros Keramiken sind in Museumssammlungen
auf der ganzen Welt vertreten, unter anderem
im Denver Art Museum, im British Museum in London sowie in
der Fondation Cartier in Paris.
Zu seinen Inspirationsquellen zählt Romero die Gutenachtgeschichten
seines Vaters, griechische Mythologie, die vorkolumbianische
Mimbres-Keramik aus New Mexico, Legenden
der Cochiti Pueblo, Marvel-Comics und CNN. Romero gehört
einer Generation von Keramikkünstlern an, die antike und präkolumbische
Motive mit provokativen Inhalten zu einer explosiven
Mischung vermengen, die sie mit zeitgenössischen grafischen
Elementen zum Ausdruck bringen.
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GAMBLER & DEALER, Diego Romero, 2013, Keramik. Sammlung NONAM.
Comics in Ton
GAMBLER & DEALER (2013)
Romeros Arbeiten sind selten unverfänglich. Oft sind sie gekennzeichnet von bissiger
Satire, schonungslosen Szenen der Kolonialgeschichte und unverschleierten
Darstellungen des indigenen urbanen Lebens oder des Alltags im Reservat.
Die Keramikschalen «Gambler» und «Dealer» zeigen zwei von Romero erfundene
Figuren, die Chongo-Brüder. Sie tauchen in unterschiedlichen Rollen in
seinen Werken auf, als Superhelden, Säufer oder Spieler. 36 Chongo bezeichnet
einen indigenen Mann aus dem Südwesten, der sein Haar in Form eines traditionellen
Haarknotens trägt. Ein weiteres Merkmal der Brüder sind ihre markanten
Bierbäuche.
Die Casinoszene in «Gambler» erinnert an einen Comic. Der Spieler ist ins Roulettespiel
versunken und wirkt reichlich mitgenommen. Im Hintergrund leuchtet
hell das Lämpchen eines Spielautomaten, fast meint man, das Gedudel des Apparats
zu hören. Spielsucht ist in indigenen Kreisen ein grosses Thema. Von den einen
als Chance für Selbstbestimmung und ökonomisches Wachstum betrachtet,
sehen andere das Geschäft als Gefahr für die indigene Bevölkerung und verweisen
auf die Ungleichheit des Reichtums von Stämmen mit und ohne Casinos. 37
Der «Dealer» zeigt die Casinoszene von der andern Seite. Er trägt eine Fliege um
den Hals, und seine Ähnlichkeit mit Coyote, dem Trickster, ist unverkennbar. Er
giert nach dem Geld des Spielers. Haartracht und Bierbauch deuten darauf hin,
dass sich dahinter wohl ebenfalls ein Chongo-Bruder verbirgt. Auch er ist mit
starrem Blick und offenem Mund ins Spiel vertieft. Im Hintergrund auch hier das
Lämpchen – es lässt Coyotes Kassen klingeln.
36 In der Literatur werden die «Chongo Brothers» manchmal als Repräsentationen
von Diego Romero und seinem Bruder Matéo bezeichnet. Der
Künstler verneint jedoch diesen Zusammenhang.
37 Seit dem Inkrafttreten des «Indian Gaming Regulatory Act» (IGRA) im
Jahr 1988 ist es den indigenen Stämmen in den Vereinigten Staaten per
Gesetz erlaubt, Casinos auf Reservatsland zum Zweck der wirtschaftlichen
Entwicklung zu betreiben.
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GAMBLER & DEALER, Diego Romero, 2013, Keramik. Sammlung NONAM.
Romeros Ton gewordene Comics sind keine Geschichten in Schwarz und Weiss,
von Tätern und Opfern. Zwar können die Chongo-Brüder durchaus als Metapher
für den entrechteten, am Rande der Gesellschaft lebenden Indianer verstanden
werden. Doch treten sie an anderer Stelle auch als Geschäftsleute oder engagierte
Aktivisten auf. Die Chongo-Brüder spiegeln Charakterzüge, die Romero in
allen Bereichen der indigenen Gesellschaft des Konsumzeitalters wahrnimmt. 38
Faszination Keramik
Romeros Begeisterung für Keramik hat nicht zuletzt mit der Lebensdauer des
Materials zu tun. Der Gedanke, dass sich Menschen auch in tausend Jahren noch
seine Keramiken ansehen können, fasziniert. Wie viele der Cochiti-Keramiker verwendet
Romero Ton aus traditionellen Quellen. Er bedient sich bei der Herstellung
der Schalen der überlieferten Cochiti-Coiling-Technik 39 und erweitert diese
mit innovativer Grafik und einer komplexen Farbbehandlung. Nachdem die Schalen
von Hand aus weissem Ton geformt und die Oberfläche mit einem Stein geglättet
worden ist, wendet sich Romero der grafischen Gestaltung zu. Seine Motive
überträgt er mithilfe von Schablonen und Bleistift auf den Ton und malt sie
dann mit einer Mischung aus natürlichem rotem Cochiti-Ton und industrieller
schwarzer Unterglasur nach. Schliesslich werden die Gefässe in einem elektrischen
Ofen gebrannt, der bis zu 927 Grad heiss wird. Nach der Signierung werden
sie nochmals gebrannt, diesmal bei tieferer Temperatur. Alle Schritte sind
präzise aufeinander abgestimmt. Die Herstellung einer Schale nimmt mehrere
Wochen in Anspruch.
38 http://www.britesites.com/native_artist_interviews/dromero.htm
39 Bei der Coiling-Technik werden die Gefässe ohne Töpferscheibe
von Hand angefertigt. Die Gefässe werden mit schlangenförmigen
Rollen aus Ton geformt.
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David Bradley
Minnesota Chippewa, Europäer,* 1954, Minnesota, USA
«To be an artist from the Indian world carries with it
certain responsibilities. We have an opportunity to
promote Indian truths and at the same time help
dispel the myths and stereotypes that are projected
upon us. I consider myself an at-large representative
and advocate of the Chippewa people and American
Indians in general. It is a responsibility which I do
not take lightly.» 40
40 http://plainsart.org/collections/david-p-bradley/
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110 Foto: David Bradley, 2013.
David Bradley wuchs in Minnesota auf und ist Mitglied des Minnesota
Chippewa Tribe. Er ist ein international anerkannter Maler,
Grafiker, Bildhauer, Schmuckdesigner und Keramiker. Bradley
studierte am College of Santa Fe und am Institute of
American Indian Arts (IAIA) in Santa Fe, wo er auch als Gastprofessor
und Artist in Residence tätig war. Bradleys Kunst
wurde mit zahlreichen Auszeichnungen und Stipendien geehrt.
Sie ist Gegenstand von nationalen und internationalen Ausstellungen
und in Sammlungen auf der ganzen Welt vertreten.
Bradley versteht sich jedoch nicht nur als Künstler, sondern
auch als Aktivist für indigene Angelegenheiten. Bradley war Vize-Präsident
und Mitbegründer der Native American Artists
Association (NAAA) und Mitglied des Planungsteams für das
Smithsonian National Museum of the American Indian (NMAI)
in Washington, DC. Der Künstler lebt und arbeitet in Santa Fe,
New Mexico.
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LAND O‘FAKES, David Bradley, 2009, Acryl auf Leinwand. Sammlung NONAM.
Von der Butterschachtel zum politischen Statement
LAND O’FAKES (2007)
Bradleys Werk ist bekannt für seinen erzählerischen Stil, der in Allegorien spricht
und auf Parodie und Persiflage zurückgreift. Der Künstler schöpft aus dem formalen
Repertoire der Folk Art und der amerikanischen Pop Art. Als Inspirationsquellen
bezeichnet er die Kunst von Allan Houser (Apache), Fritz Scholder (Luiseño),
Fernando Botero, Diego Romero und Henri Rousseau. Bradleys Werke stecken
voller Humor, Satire und Sarkasmus. Seine Kunst ist untrennbar mit seiner politischen
Aktivität verbunden. Seine künstlerischen Reflexionen sollen die indigene
Bevölkerung dazu aufrufen, ihre Identität für sich zu beanspruchen und ihre Kultur
zu bewahren.
Das Zusammenspiel von Persiflage und politischem Statement tritt in «Land
O’Fakes» deutlich zu Tage. Der Schriftzug «Land O’Fakes» und die indianisch anmutende
Frau persiflieren die Butterverpackung der amerikanischen Marke Land
O’Lakes. Die Firma aus Minnesota, der Heimat des Künstlers, wirbt für ihr Produkt
mit einem der meistverbreiteten Stereotype: der indianischen Prinzessin. Obendrein
könnte die vermeintliche Indianerin auch eine Fälschung sein, eine Weisse
im Indianerkostüm. Ihr Flaggenkleid deutet darauf hin, dass sie geradezu die Personifikation
des Land O’Fakes, des Landes der Fälschungen – Amerikas –, ist.
Vor dem Gesicht hält sie eine austauschbare Maske, in der Hand eine Waage.
Diese wiegt einen Dollarschein gegen eine Feder auf. Auf die Kommodifizierung
und Kommerzialisierung indigener Kultur spielen auch die Schriftzüge «Museum
Currency» (Museumswährung) und «1990 Indian Arts and Crafts Act» an. Letzterer
verweist auf das 1990 in den USA in Kraft getretene Gesetz, das den Missbrauch
der Bezeichnung «indianische Kunst» durch nicht-indianische Künstler
unter Strafe stellt. 41 Als Mitglied der Native American Artists Association (NAAA)
gehörte Bradley zu den treibenden Kräften hinter dem Gesetz. Vor und nach der
Implementierung gab es zahlreiche heftige Kontroversen darüber, wer das Recht
hatte, sich als indianischen Künstler zu bezeichnen, und was als indianische Kunst
gelten sollte. Bradleys eigenen Aussagen zufolge hatte sein Engagement für das
Gesetz gravierende persönliche und berufliche Konsequenzen. 42 Der erhängte
Künstler in «Land O’Fakes» dürfte vor diesem Hintergrund nicht nur seine Allegorie
entlarvter Künstler sein, sondern auch ein Abbild dessen, was Bradley selbst
als Rufmord bezeichnete. Das Werk weist nachdrücklich auf den bitteren Nachgeschmack
kultureller, historischer und künstlerischer Aneignung hin.
41 Mehr zum Indian Arts and Crafts Act
auf Seite 16 dieses Katalogs.
42 Restless Native. The Art of David Bradley,
Restless Native Publishing, 2013.
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POCAHONTAS. OVER THE HILLS AND FAR AWAY, David Bradley, 2011, Acryl auf Leinwand. Sammlung NONAM.
POCAHONTAS.
OVER THE HILLS AND FAR AWAY (2012)
Es gibt wohl kaum eine Legende, die die Vorstellung der Indianerin stärker zementierte
als die erfundene Geschichte der Indianerprinzessin Pocahontas. Der
Mythos, dessen Wurzeln im 17. Jahrhundert liegen, wurde vor allem durch den
Disneyfilm weltbekannt. Über die Details der wahren Begebenheiten sind sich
Forscher bis heute uneinig. Sicher ist aber, dass sie nicht halb so romantisch verliefen
wie von Disney dargestellt. Man geht davon aus, dass Amonute, wie
Pocahontas wirklich hiess, von den Kolonialisten zunächst als Gefangene auf einem
englischen Schiff gehalten wurde. Unter dem Namen Rebecca heiratete sie
den Engländer John Rolfe, mit dem sie nach England ging, wo sie auch den gemeinsamen
Sohn zur Welt brachte. Vermutlich wurde sie vom britischen Königshaus
als «Indianerprinzessin» und Botschafterin ihres Vaters, des Häuptlings
Powhatan, empfangen. Im Alter von zweiundzwanzig Jahren starb sie infolge einer
Krankheit in England.
Bradleys Werk nimmt Bezug auf einen Kupferstich von Simon van de Passe aus
dem Jahr 1616, auf dem Pocahontas in englischer Hoftracht dargestellt ist. Im Stil
der gebildeten englischen Adelsschicht mit einem Monokel ausgestattet, steht
sie vor Stonehenge. Einer der monumentalen Steine trägt den Schriftzug des Beatles-Songs
«All you need is love». Mit einem Fragezeichen versehen, weckt er
Zweifel an der romantischen Liebe Pocahontas’. Der zweite Teil des Titels, «Over
the Hills and Far Away», bezieht sich auf ein Album von Led Zeppelin und/oder
auf das gleichnamige englische Volkslied aus dem 17. Jahrhundert. Pocahontas’
Heimat jedenfalls lag jenseits der Berge und sehr weit entfernt.
Das englische Kostüm ist ein Zeichen einer zumindest äusserlichen Anpassung.
Den Hut schmückt eine einzelne Feder, in der Hand hält Pocahontas eine Stielbrille
mit einem weissen und einem roten Glas – zweifellos hatte sie Einblick in
beide Welten. Das Herz, das sie um den Hals trägt, ist jedoch leuchtend rot.
Und schliesslich kann das Bild auch als Akt umgekehrter kultureller Aneignung
gedeutet werden: Bradley inszeniert Pocahontas als Touristin vor dem Stonehenge-Monument
und stellt ihr Worte und Lieder zur Seite, die vom englischen Königshaus
geadelte Musiker berühmt gemacht haben. Bradley bedient sich des
kulturellen Erbes der ehemaligen Kolonialmacht, so wie sich Unterhaltungsindustrie,
Marketing- und Modebranche, Tourismus, Künstler, Autoren und unzählige
andere Nichtindigene seit je des Erbes der indigenen Kulturen bedienen und daraus
Profit schlagen. Bradley fragt nicht, er nimmt sie sich, die kulturellen Aushängeschilder
– und platziert darauf seine kritischen Botschaften. Und als wäre
das nicht schon genug, verdient er damit, wenn schon keinen Adelstitel, so doch
Ruhm und Ehre und seinen Lebensunterhalt.
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116 Filmstill aus: PORTRAIT JEFF KAHM, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.
Chris Pappan
Osage, Kaw, Cheyenne, River Sioux, Europäisch,* 1971, Colorado, USA
«Native Americans have a unique history
that people can learn from in order to
create a brighter, more peaceful future.» 43
43 Interview mit der Autorin, 2014.
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118 Filmstills aus: PORTRAIT JEFF KAHM, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.
Chris Pappan ist bekannt für seine Bilder im Stil der Ledger
Art 44 des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sowie als Vertreter
der indigenen Lowbrow 45 -Kunstbewegung, der Graffiti- und
Pinup-Künstler angehören, die schrille und provozierende Motive
in tadelloser technischer Präzision herstellen. Pappan ist
Absolvent des Art Institute of Chicago, Illinois, und des Institute
of American Indian Arts (IAIA) in Santa Fe. Als einer von drei
Gewinnern des 2013-Landmarks-Fellowship-Projekts des renommierten
Tamarind Institute in Albuquerque bot sich Pappan
die einzigartige Gelegenheit, mit Aborigines-Künstlern in
Australien zusammenzuarbeiten. Der kreative Austausch «down
under» hinterliess bleibende Eindrücke. Dass seine Kunst neu
auch Teil der Sammlung NONAM ist, empfindet Pappan als
Ehre. Er hofft, dass seine Werke zu einem neuen Verständnis
der indigenen Menschen und Völker Nordamerikas beitragen. 46
Der Künstler lebt mit seiner Frau und seiner Tochter in Chicago,
Illinois.
44 Als Ledger Art wird eine grafische Kunstrichtung der Prärie-Kulturen
bezeichnet, die aus den sogenannten Ledger Drawings des 19. Jahrhunderts
hervorgegangen ist. Der Name leitet sich ab von der englischen
Bezeichnung für Kontobücher, Ledger Books. In Ermangelung von
Bison- und anderen Tierhäuten in den neu eingerichteten Reservaten
begannen die Männer traditionelle piktorale Darstellungen auf Buchhaltungspapier
zu zeichnen – das einzige Papier, das ihnen in den Reservaten
zur Verfügung stand.
45 Der Lowbrow-Stil wird auch als Pop-Surrealismus bezeichnet.
46 Interview mit der Autorin, 2014.
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GOLD, SILVER, HEALTH, PLEASURE, Chris Pappan, 2012, Acryl und Blattgold auf Holz. Sammlung NONAM.
PRINCESS WHITE DEER REMEMBERS, Chris Pappan, 2012, LedgerZeichnung. Sammlung NONAM.
Das Dilemma der Selbstdarstellung
GOLD SILVER HEALTH PLEASURE &
PRINCESS WHITE DEER REMEMBERS (2012)
Mit leerem Blick und zusammengekniffenem Mund, den Kopf auf die Hand gestützt,
schaut Princess White Deer aus dem Bild heraus an uns vorbei. Sie erweckt
den Eindruck, als posiere sie teilnahmslos und erschöpft für ein Publikum,
für das sie nicht sonderlich viel übrig hat. Ihr glamouröses Outfit, die leuchtenden
Farben und die Verheissungen von Gold, Silber, Gesundheit und Vergnügen wollen
mit dem körperlichen und emotionalen Ausdruck der Porträtierten so gar
nicht zusammenpassen. Das Bild basiert auf einer historischen Werbetafel und
einem Foto der Mohawk-Tänzerin und -Sängerin Esther Deer (1891–1992), die unter
dem Namen Princess White Deer Berühmtheit erlangte. Die Enkeltochter von
Chief Running Deer, ebenfalls Tänzer und Schauspieler, trat zunächst mit ihrer
Familie in Wild-West-Shows auf und gastierte später solo in Amerika, England,
Russland und Südafrika. Den Wünschen des vornehmlich weissen Publikums
entsprechend, mimte sie Indianerinnen verschiedenster Stammesherkunft und
prägte nicht nur die Vorstellung der erotischen indianischen Prinzessin, sondern
auch das panindianische Stereotyp. Zugleich war Esther Deer aber auch bekannt
für ihren unermüdlichen Einsatz für die Rechte der Indianer und die Bewahrung
ihrer Kultur. In «Princess White Deer Remembers» weist Chris Pappan mit einer
Spiegelung auf ihr Doppelleben hin – Esther Deer verkörperte weit mehr als nur
eine Person.
Mit «Princess White Deer» thematisiert Pappan das Zurschaustellen von panindianischen,
stereotypen Merkmalen, um als indigen erkannt und anerkannt zu werden
und nicht selten auch, um dem beruflichen Erfolg auf die Sprünge zu helfen.
Was von Aussenstehenden als indigen und authentisch wahrgenommen und gewürdigt,
wenn nicht sogar verehrt wird, erweist sich bei näherem Hinsehen als
eine eigentümliche Mischung aus Verkleidung, Selbstschutz, Eigennutz und kulturellem
Pflichtbewusstsein. Für Pappan symbolisiert niemand das Dilemma der
indianischen Selbstdarstellung besser als Esther Deer. Die ihr gewidmeten Werke
möchte der Künstler als Würdigung verstanden wissen – von Esther Deer und all
denjenigen, die einen Teil ihrer selbst aufgeben, um anderen zu helfen.
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FREE TO ALL, Chris Pappan, 2013, Acryl und Blattgold auf Holz. Sammlung NONAM.
FREE TO ALL (2010)
«Free to All» basiert auf einem historischen Foto. Stolz wirkt der indigene Krieger
und bereit, sein Land zu verteidigen. Er verkörpert die im Zuge der Kolonialisierung
vertriebenen Indianer. Die malerische Landschaft im Hintergrund stammt
von einem historischen Werbeplakat, das, ganz der imperialistischen Vorstellung
der Euro-Amerikaner entsprechend, den nordamerikanischen Kontinent als unbewohntes,
wildes und dennoch attraktives Land darstellt, das nur darauf wartet,
erobert zu werden. Pappan stellt das kolonialistische Bild des unberührten, jungfräulichen
Landes der brutalen Realität der Zerstörung und Vertreibung der indigenen
Kulturen gegenüber.
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TRAILER DELEGATION, Chris Pappan, 2014, Collage aus LedgerZeichnungen. Sammlung NONAM.
TRAILER DELEGATION (2013)
In «Trailer Delegation» verbindet Pappan Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
generationenübergreifend. Zu sehen ist eine Delegation von Indianern der südlichen
Plains, die im späten 19. Jahrhundert nach Washington DC zogen, um mit
der Regierung über die Rechte und die Zukunft der Indianer zu verhandeln. Die
Wohnwagen nehmen Bezug auf die Kindheit und Jugend des Künstlers, der in
einem Trailer in Arizona aufwuchs. Das Mädchen in der Mitte, ganz versunken in
ihr Mobiltelefon, ist Pappans Tochter. Drei Generationen, die dasselbe Bestreben
miteinander verbindet: kommenden Generationen eine Zukunft zu bieten. «With
‹Trailer Delegation› I am saying to the viewer, that we all belong to the human
family, that we share much of the same experiences, and that we all want to create
a better future for our children.» 47 Mit «Trailer Delegation» sage ich dem Betrachter,
dass wir alle zur Familie der Menschen gehören, dass wir ähnliche Erfahrungen
teilen und dass wir alle für eine bessere Zukunft unserer Kinder arbeiten.
47 Interview mit der Autorin, 2014.
125
Will Wilson
Navajo, * 1969, Kalifornien, USA
«I hope it [my work shown in Europe]
transforms people’s understanding
of contemporary indigenous art and
touches them with its beauty.» 48
126
48 Interview mit der Autorin, 2014.
Filmstill aus: PORTRAIT WILL WILSON, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.
127
128 Filmstills aus: PORTRAIT WILL WILSON, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.
Will Wilsons künstlerisches Werk und seine Leidenschaft gelten
der Fotografie. Ihn schlicht als Fotografen zu bezeichnen, wäre
jedoch ein Understatement. Der für seine postapokalyptischen
Bilder und historischen Fototechniken bekannte Künstler widmet
sich weit mehr als nur seiner eigenen Kunst. Ob als Professor,
Koordinator oder Projektleiter: Wilson ist gefragt und vielseitig
engagiert – seine zahlreichen Auszeichnungen sind Ausdruck
davon. Wilson studierte Kunst und Kunstgeschichte am
Oberlin College (BA) und Fotografie an der University of New
Mexico (PhD). 2007 erhielt er das renommierte Native American
Fine Art Fellowship des Eiteljorg-Museums, 2010 ein Stipendium
der Joan Mitchell Foundation. Er leitete das National
Vision Project und koordinierte das Kunstprogramm «Temporary
Installations Made for the Environment» (TIME) in Navajo
Nation. Wilson ist Mitglied des Scientists/Artists Research Collaborations
(SARC) und Initiator des Critical-Indigenous-Photographic-Exchange-Projekts
(CIPX) am New Mexico Museum
of Art in Santa Fe, einer Plattform für den kritischen Dialog über
Geschichte, Form und Repräsentation indigener Kultur. Neben
seinem Engagement in zahlreichen renommierten Projekten
hat er ein Auge darauf, dass auch seine Kunst und seine Visionen
nicht zu kurz kommen. Wilson wurde in San Francisco geboren
und wuchs in Navajo Nation auf. Mit seiner Familie lebt er
in Santa Fe, New Mexico.
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EYEDAZZLER «NONAM-CODEX», Will Wilson, 2014, Glasperlen, Stahl, Polyethylen. Sammlung NONAM.
Verweben von Tradition und Gegenwart
EYE DAZZLER (2014)
«Eye Dazzler» (Augenverwirrer) werden traditionelle Navajo-Webteppiche genannt,
deren anspruchsvolle und komplexe Muster das Auge so verwirren, dass
der Eindruck entsteht, als sei das Muster in Bewegung.
Wilsons Grossmutter webte traditionelle Eye-Dazzler-Teppiche, die der Künstler
heute als Vorlage und Inspiration für ambitionierte Übersetzungen verwendet.
Wilson übersetzt Kettfäden in Stahldrähte und Wolle in Glasperlen, und als wäre
das allein noch nicht genug, webt er noch QR-Codes in das Muster mit ein. Die
abstrakten, schwarz-weissen Formen der Codes unterbrechen das traditionelle
Design und fügen sich dennoch überraschend harmonisch in die Gestaltung ein.
Liest man die Codes mit dem Smartphone ein, gelangt man auf eine Website, die
ein Video zur Entstehung des Teppichs zeigt. Zu sehen sind Porträts des Künstlers
und der Weberinnen, zweier Schwestern, die in der Navajo-Region für ihre
Textilien bekannt sind, sowie einer Community-Mitarbeiterin und Freundin von
Wilson. Im Hintergrund vernimmt man Stimmen, die sich in der Sprache der Diné
über die zweiseitige Webtechnik unterhalten, eine Technik, die inzwischen verloren
gegangen ist. Es sind Wilsons Mutter und seine Tante, die sich unterhalten. 49
Wilson beschreibt sein Werk als «trans-customary collaborative expression», ein
Begriff des Maori-Künstlers Robert Jahnke. 50 Als traditionelle oder gebräuchliche
(customary) Aspekte des Teppichs bezeichnet Wilson das Weben, das Design
und das Geschichtenerzählen. Trans deutet auf neue Technologien und Inhalte
hin, die in die Arbeit einfliessen: Glasperlen, Stahldrähte, QR-Codes und Video.
Wilson wählte den Begriff, weil trans-customary nicht nur die dualistische Gegenüberstellung
von traditionell versus modern bezeichnet, sondern auf die sehr viel
komplexere und essenzielle Beziehung zwischen traditionellen und zeitgenössischen
Aspekten hinweist.
49 Interview mit der Autorin, 2014.
50 http://www.stemarts.com/isea2012/curriculum/william-wilson
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EYEDAZZLER «NONAM-CODEX», Will Wilson, 2014, Glasperlen, Stahl, Polyethylen. Sammlung NONAM.
Wilsons Glasgewebe ist in der Tat weit mehr als eine Gegenüberstellung von traditionell
und modern. Es reflektiert auf eindrückliche Weise, wie Tradition und
Gegenwart im Wortsinn miteinander verwoben sind. Wilson betont, dass auch die
traditionelle Webtechnik einst zeitgenössisch, wenn nicht bahnbrechend war,
und dass vieles, was heute neu erscheint, irgendwann als traditionell wahrgenommen
werden wird.
Das Nebeneinander von überlieferten und neuen Aspekten wird auch im sogenannten
Spirit Hole im Teppich deutlich. Das Spirit Hole, so Wilson, ist ein bewusst
eingewobener Fehler, der sicherstellt, dass die Seele der Weberin nicht im Teppich
gefangen bleibt, sondern sich durch das Loch frei hinein- und hinausbewegen
kann. Auch Wilsons Teppich hat ein Spirit Hole – wo, wird nicht verraten. 51
Wilson wuchs in einer Familie von Webern auf. Seine Grossmutter und seine Tante
waren Textilkünstlerinnen. Als Kind wurde er mit den Webprozessen, zu denen
auch das Hüten der Schafe und das Sammeln, Waschen, Spinnen und Färben der
Wolle gehörte, vertraut gemacht. Später entwickelte er eine Software, die es
mehreren Webern ermöglichte, zusammen an einem einzigen Objekt zu arbeiten.
Seine Erinnerungen und die Software lieferten schliesslich den Impuls für die
Glasteppiche. 52
51 Interview mit der Autorin, 2014.
52 http://www.stemarts.com/isea2012/curriculum/william-wilson
133
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NAVAJO CODE, Will Wilson, 2012, Pigmentdruck auf Leinwand, Baumwollfäden. Sammlung NONAM.
NAVAJO CODE (2012)
Auch der «Navajo Code Talker Code» basiert auf einem von Wilsons Grossmutter
hergestellten Navajo-Webteppich, den der Künstler in Glasperlen gewebt und
schliesslich auf Papier kopiert hat. Das Papier weist ein Lochmuster auf, es wirkt
perforiert. In das Webmuster aus Perlen sind in unregelmässigen Abständen Löcher
gestanzt, die Zeile für Zeile über den Teppich geistern. Es handelt sich um
das Abbild eines Codes der legendären Navajo Code Talker, die im Zweiten Weltkrieg
mit ihrem Geheimcode in der Sprache der Navajo zu Berühmtheit gelangten.
Auf amerikanischer Seite zogen indigene Soldaten aus 34 Stämmen in den
Krieg, darunter etwa 500 Navajo. Zwar wurden auch andere indigene Sprachen
zur Verschlüsselung von Codes verwendet. Doch die Navajo waren die einzigen,
deren Sprache bis zum damaligen Zeitpunkt nicht von Linguisten erforscht worden
war. Damit war die Sprache, die nicht nur keiner europäischen oder asiatischen
Sprache glich, sondern auch für andere Indigene Nordamerikas praktisch
unverständlich war, wie geschaffen für einen Geheimcode. 29 Navajo entwickelten
einen Code, der im Wesentlichen aus ihrer Muttersprache bestand und zusätzlich
mit diversen Finessen gesichert war. Es gelang Japan bis zum Ende des
Krieges nicht, den Code zu entschlüsseln. Die Navajo-Codetalker wurden zu
Kriegshelden, die jedoch erst Jahrzehnte nach Kriegsende und in vielen Fällen
postum von der Regierung geehrt wurden.
Dass sie mithilfe ihrer traditionellen Sprache dazu beitrugen, dass Amerika auf
der Siegerseite des Krieges stand, erfüllt die Navajo noch heute mit Stolz, handelt
es sich doch um eine der Sprachen, die die amerikanische Regierung mit grossem
Aufwand auszurotten versuchte. Obwohl Navajo mit mehr als 150 000 Sprechern
die grösste Anzahl indigener Muttersprachler verzeichnet, gilt auch diese Sprache
heute als gefährdet – die Zahl der Kinder, die ausschliesslich Englisch sprechen,
wächst stetig.
135
Maria Hupfield
Anishinaabe (Ojibway), * 1975, Ontario, Kanada
«[...] I am really entrusted to taking objects
and those things and making it to a bigger
holistic conversation. That includes the body,
that includes performance, that includes
stories, that includes ways of being and sharing
where I come from, what I know as a person
in the world [...]» 53
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53 http://www.youtube.com/watch?v=HWtT9lydj0w&feature=youtu.be
Filmstill aus: PORTRAIT MARIA HUPFIELD, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.
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138 Filmstills aus: PORTRAIT MARIA HUPFIELD, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.
Der eigene Körper und seine Beziehung zu Objekten und Or ten
stehen im Mittelpunkt von Maria Hupfields künstlerischem Schaffen.
Unterschiedliche Perspektiven und Denkansätze geben ihr
Impulse für ihre interdisziplinären Arbeiten. Dazu gehören Performance,
Installationen, Fotografie und Zeichnung. Anhand von
körperzentrierten Aktionen erforscht die Künstlerin Schnittpunkte
zwischen nordamerikanischer und indigener visueller
Repräsentation und Philosophie. Hupfields Kunst zeichnet sich
durch Humor, Experimentierfreude und Innovation aus. Die
Künstlerin studierte Kunst an der York University in Toronto sowie
Kunst und Kunstgeschichte an der University of Toronto
und am Sheridan College in Toronto. Hupfield ist Mitglied der
Wasauksing First Nation und wuchs im ländlichen Ontario, Kanada,
auf. Sie lebt und arbeitet in Brooklyn, New York.
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SURVIVAL AND OTHER ACTS OF DEFIANCE, Maria Hupfield, 2012, VideoInstallation. Sammlung NONAM.
Sich laut Gehör verschaffen – und lachen
SURVIVAL AND OTHER ACTS
OF DEFIANCE & JINGLE BOOTS (2012)
Die Videoinstallation «Survival and Other Acts of Defiance» zeigt eine indigene
Frau, die minutenlang auf der Stelle auf und ab hüpft und trotz der offensichtlichen
körperlichen Anstrengung lächelt. Es ist die Künstlerin selbst, die hier in
Bewegung ist. Sie trägt Jingle Boots, eine Art Mokassinstiefel mit konisch geformten
Metallhülsen. Die von Hupfield entworfenen und hergestellten Stiefel
bestehen aus Filz, Blech und Kunststoff. Sie begleiten jeden Sprung mit dem
charakteristischen Klang, den sonst die Jingle-Kleider indigener Frauen bei Pow
Wow-Tänzen von sich geben. Das Video läuft als Endlosschlaufe, die Performancekünstlerin
ist ohne Unterlass aktiv. Unmittelbar vor der Videoinstallation ist ein
grosses X auf dem Boden angebracht – eine Aufforderung zum Mitmachen.
«Survival and Other Acts of Defiance» (Überleben und andere Trotzhandlungen)
erzählt viele Geschichten und lässt viele Lesearten zu. In jedem Fall handelt die
Performance aber von Widerstand und Rebellion, von Ausdauer und Durchhaltewillen.
Für die indigene Bevölkerung sei es nur schon eine kühne Handlung, nach
eigenen Regeln zu leben, sagt Hupfield. 54 Hupfields Performance kann als symbolischer
Akt gedeutet werden, sich als indigene Person weder von negativen Aspekten
der Vergangenheit noch von den Anforderungen der Gegenwart unterkriegen
zu lassen. Die Musik, der Rhythmus und die unablässige Wiederholung
der Bewegung im Video sowie die Aktivierung des Handlungsortes unterstreichen
und verstärken ihre Haltung.
Das kontinuierliche Auf- und Abspringen kann überdies sowohl als Statement der
Selbstermächtigung der Künstlerin selbst oder aber von indigenen Frauen generell
verstanden werden. Der Akt erfolgt laut und unmittelbar, nicht heimlich, still
und leise. In einer Zeit, in der indigene Frauen noch immer Opfer von männlicher
Gewalt werden und die Täter ungestraft davonkommen, 55 ist es notwendig, sich
trotzig, ausdauernd und laut Gehör zu verschaffen – und Widerstand zu leisten.
54 Interview mit der Autorin, 2014.
55 Interview mit der Autorin, 2014.
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JINGLE BOOTS, Maria Hupfield, 2012, Industriefilz, Blechhülsen. Sammlung NONAM.
Die Videoperformance enthält aber noch eine ganz andere Botschaft. Sie handelt
von Freude, Humor und von der Stärke, über das Leben lachen zu können. Maria
Hupfield lächelt trotz oder gerade wegen der enormen körperlichen Anstrengung
in die Kamera. Es ist die Freude, die aus der Bewegung kommt, die Freude, die
einsetzt, wenn das Immergleiche eine meditative Komponente annimmt, und die
Freude, die beim Gefühl aufkommt, stark zu sein, durchzuhalten und Strapazen
mit einem Lächeln zu begegnen. Lachen und Humor sind Hupfield wichtig, nicht
nur in ihrer Kunst, auch im Alltag. Humor gilt in indigenen Kreisen nicht ohne
Grund als Überlebensstrategie.
Und schliesslich: Mitmachen! Die Botschaft richtet sich auch an die Besucher. Wer
stellt sich auf das Kreuz, wer lacht und wer leidet mit? Gemeinsam ist Überleben ein
bisschen leichter, und etwas Sportsgeist und Solidarität haben selten geschadet.
Ihr ungezwungener Umgang mit dem Körper und die kreative Auseinandersetzung
mit Objekten verdankt Hupfield nicht zuletzt ihren Eltern, die beide Künstler
sind und ihre Tochter zu Einfallsreichtum und Kreativität in der Erforschung ihrer
Umgebung ermutigten. Für Hupfield bildet die Arbeit mit ihrem Körper den persönlichsten
und unmittelbarsten Weg, um Wissen und Engagement zu vermitteln.
Hupfield lässt sich von Hip-Hop und Urban Culture ebenso inspirieren wie von der
Kultur der Anishinaabe. Traditionelles Geschichtenerzählen ist ein zentraler Aspekt,
und nichts eignet sich für sie besser als die Kunst der Performance und der
Einsatz des Körpers. Performance ist für Hupfield die Kunst, direkt aus dem Feuer
des Lebens zu schöpfen. 56 Ihr Schauplatz ist die Welt um sie herum.
«I am a woman of my times! One of these days all my work will be terribly old
fashioned and when I am an old lady my grandkids will say I did a bunch of crazy
stuff and lived in Brooklyn, New York.» Ich bin eine Frau meiner Zeit! Eines Tages
wird meine Arbeit fürchterlich altmodisch wirken, und wenn ich eine alte Dame
bin, werden meine Enkel sagen, ich hätte eine Menge verrückter Dinge getan und
lebe in Brooklyn, New York.
56 Interview mit der Autorin, 2014. Hupfield bezieht sich
in dieser Beschreibung auf ein Zitat der Künstlerin Esther Neff.
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Jason Garcia
Santa Clara Pueblo, * 1973, New Mexico, USA
«My clay work documents the cultural
traditions and values of Santa Clara
Pueblo focusing on Pueblo daily life
scenes, ceremonial dances, historical
events, the constant change of the
Santa Clara Pueblo landscape, and
religious icons.» 57
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57 https://sarweb.org/?artist_jason_garciap:artist_dubin_fellowship_recipients
Filmstill aus: PORTRAIT JASON GARCIA, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.
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146 Filmstills aus: PORTRAIT JASON GARCIA, Dylan McLaughlin, Video, 2014. Sammlung NONAM.
Jason Garcia (alias Okuu Pín) stammt aus dem Santa Clara
Pueblo. Er lotet Grenzen aus, experimentiert und stellt kulturelle
Normen auf die Probe. Der Künstler ist bekannt für seine
grafischen Tontafeln im traditionellen Stil der Pueblo. Das Talent
fürs Töpfern liegt bei den Garcias in der Familie. Die Techniken
der Keramikkunst lernte Jason Garcia schon als Kind
kennen. Den Ton sammelt er selbst, er verwendet natürliche
Farbpigmente und brennt seine Keramik auf traditionelle Weise
in einem Brennofen im Freien. Seinen Bachelor of Fine Arts
erlangte er an der University of New Mexico, den Mastertitel an
der University of Wisconsin. Zusammen mit anderen indigenen
Künstlern, die indigene Kultur und westliche Popkultur frei
kombinieren, beteiligte er sich an Ausstellungen wie «Comic
Art Indigene» und «Native Pop!». Garcia lebt im Santa Clara
Pueblo in New Mexico.
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TEWA TALES OF SUSPENSE #5, #7, #17, Jason Garcia, ab 2008,
Ton, traditionelle Schlickermalerei mit mineralischen Pigmenten, traditionelle Brenntechniken. Sammlung NONAM.
Superheld organisiert Aufstand
TEWA TALES OF SUSPENSE
& CORN MAIDEN #1 / #7 / #26 (seit 2008)
#5 / #7 / #17
Die Quellen für seine Motive sind vielfältig und reichen von historischen Begebenheiten
und religiösen Erzählungen der Pueblo bis hin zu Comic und Popkultur.
Alltägliche Beobachtungen verwandelt er ebenso in Kunst wie kulturell adaptierte
Comichelden und Legofiguren. Garcia lässt Pueblo-Kinder von Pokémon
und «Pizza Hut» träumen und Tänzerinnen in traditionellem Gewand für ein Selfie
mit iPhone posieren.
Comics sind aus Garcias Leben nicht wegzudenken. Die reduzierte Sprache des
Comics sowie die Darstellung von Bewegung und Action von Superhelden wie
Conan dem Barbaren, The Avengers, Thor oder Superman faszinieren ihn seit
seiner Kindheit. Indigene Figuren kamen früher jedoch selten darin vor und wenn,
dann überlebten sie nicht bis zum Ende.
Garcia wollte es anders und ersann seinen eigenen Comic. In «Tewa Tales of
Suspense» ist der Superheld die historische Figur Po’Pay (alias Popé), Schamane
und Anführer des Pueblo-Aufstandes von 1680 gegen die Spanier. In «Tewa Tales
of Suspense no. 5» wird Po’Pay riesenhaft dargestellt. Sein muskelbepackter Körper
erinnert an Hulk und scheint mit übernatürlichen Kräften aufgeladen. Wie in
Superheldenkreisen üblich, trägt Po’Pay einen Umhang, darunter den traditionellen
Lendenschurz der Pueblo. In der Hand hält er einen Strick mit Knoten. Im
Vorfeld des historischen Aufstandes organisierte Po’Pay ein Netzwerk von Informanten
aus Pueblo-Dörfern, die anhand der Knoten die Tage bis zum Aufstand
zählten. Garcias Keramik spricht eine deutliche Sprache: Po’Pay siegt! Weder für
die fliehenden Soldaten noch für den flehenden Missionar gibt es ein Entrinnen.
Santa Fe steht in Flammen, die Aufständischen haben gesiegt. Auch «Tewa Tales
no. 7» und «Tewa Tales no. 17» thematisieren den entschlossenen Kampf der Tewa-Pueblos
für ihre Kultur.
Beim Pueblo Aufstand gegen die Spanier am 11. August 1680 sollen 2500 Pueblo-Krieger
die Stadt Santa Fe zunächst eingekreist und dann in Brand gesetzt
haben. Hunderte Spanier starben, viele wurden vertrieben. Auch zuvor hatte es
Revolten der Indigenen gegeben, nie jedoch in solchem Ausmass. Das Recht auf
ihre eigene Spiritualität war ein zentraler Faktor der Pueblo-Revolte. Denn die
Spanier hatten mit ungeheuerlicher Brutalität versucht, indigene Priester und
Schamanen, darunter auch Po’Pay, an der Ausübung ihrer religiösen Praktiken zu
hindern. 1692 eroberten die Spanier die Region zurück, aber die Revolte blieb
dennoch ein Erfolg – die Missionierung wurde später weitaus weniger vehement
vorangetrieben.
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CORN MAIDEN SERIES #1 / #7 / #26, Jason Garcia, ab 2008,
Ton, traditionelle Schlickermalerei mit mineralischen Pigmenten, traditionelle Brenntechniken. Sammlung NONAM.
Mit «Tewa Tales» setzt Garcia auch einen Kontrapunkt zur gängigen Geschichtsschreibung,
die die spanischen Eroberer gerne als Helden porträtiert, die Taten
der Pueblos dagegen totschweigt. «Tewa Tales» stellt Pueblo-Helden in den Mittelpunkt
und bedient sich der Sprache des Comicgenres, um vor allem der nachfolgenden
Generation die eigene Geschichte näherzubringen. Garcia erntet viel
positives Feedback für seine Kunst, auch aus den eigenen Reihen. Sein Sinn für
den Zeitgeist und die Art und Weise, wie er das Andenken der Vorfahren ehrt,
finden Anklang. 58
Tradition und Fortschritt
In seiner «Corn Maiden»-Serie geben sich Tradition und die Technologie der Gegenwart
ein Stelldichein. Ob lässig an einen Lamborghini gelehnt, ins iPhone versunken
oder umgeben von Satellitenschüsseln: Die Maismädchen wirken vertraut
mit alldem. Selbstbewusst und mit grosser Selbstverständlichkeit integrieren sie
westliche Statussymbole in ihr Leben und lassen keinen Zweifel daran, dass Traditionsbewusstsein
und die Gadgets der Gegenwart durchaus miteinander vereinbar
sind.
«Corn Maiden no. 26» zeigt eine junge Frau im Gewand der Corn Maidens mit
dazugehöriger Tablita auf dem Kopf. Der heilige Maistanz, eine Erntedankzeremonie,
findet einmal im Jahr statt. Die Tänze und Lieder heissen den Regen willkommen,
die stilisierte Regenwolke im Bild deutet es an. Mit ihrem «iCorn»-Mobiltelefon
schiesst das Maismädchen ein Selfie. Im Hintergrund ist eine Kiva 59 mit
Leiter zu sehen, auch Satellitenschüsseln sind zu erkennen. Damit erweist Garcia
der heiligen Clara, Schutzheilige des Santa Clara Pueblo, ehrerbietig die Reverenz
– schliesslich ist Santa Clara auch die Schutzheilige des Fernsehens. Garcia
will das Mobiltelefon als Empfänger und Transmitter auch als Symbol für das
Empfangen von Gesundheit, Glück und spiritueller Kraft verstanden wissen, von
allem, worum auch in den traditionellen Zeremonien gebeten wird. 60 Garcia demonstriert
auf erfrischende Weise, dass Neues sehr wohl neben Traditionen bestehen
kann.
58 Aufzeichnung des Künstlergesprächs vom 16. November 2008
am Museum of Indian Arts & Culture, Santa Fe, New Mexico,
http://www.mixcloud.com/MIAC/jason-garcia/
59 Die Kiva ist ein Zeremonien- und Versammlungsraum
der Pueblo-Kulturen. Der Eingang zum Innenraum
einer Kiva ist über eine Leiter zu erreichen.
60 Aufzeichnung des Künstlergesprächs vom 16. November 2008
am Museum of Indian Arts & Culture, Santa Fe, New Mexico,
http://www.mixcloud.com/MIAC/jason-garcia/
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Wally Dion
Yellow Quill First Nation (Salteaux),*1976, Saskatchewan, Kanada
152 Wally Dion beim Aufbau von «Pursuit of Happiness», NONAM, 2014.
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154 Wally Dion beim Aufbau von «Pursuit of Happiness», NONAM, 2014.
Wally Dion studierte Kunst an der University of Saskatchewan,
Kanada, sowie an der Rhode Island School of Design in New
England, USA. Viele Jahre arbeitete er als Kunstlehrer mit jugendlichen
Straftätern, Pflegekindern und geistig behinderten
Kindern. Seine erste grosse Soloausstellung eröffnete er 2008
an der Mackenzie Gallery in Regina. In Kanada wurde Dion mit
grossformatigen Portraits zeitgenössischer indigener Arbeiter
im Stil des sozialistischen Realismus bekannt, die die Klassenkonflikte
der indigenen Bevölkerung in der kanadischen Gesellschaft
thematisierten. Derzeit widmet er sich kinetischen Kunstinstallationen,
mit denen er die Geschichte und Philosophie
der Menschheit thematisiert.
Neben zahlreichen Preisen und Auszeichnungen erhielt Dion
Stipendien des Saskatchewan Arts Board und des Canada
Council for the Arts. Seine Werke sind vertreten in den Sammlungen
renommierter Institutionen, u.a. im Canadian Museum
of Civilization, im Saskatchewan Arts Board und in der Canada
Council for the Arts Bank. Er lebt in Binghamton, New York,
USA.
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PURSUIT OF HAPPINESS, Wally Dion, 2013, Computerplatinen, Draht, Stahlkabel, Holz, Beschläge. Sammlung NONAM.
PURSUIT OF HAPPINESS.
EVERYTHING THAT SHINES AIN’T
ALWAYS GOING TO BE GOLD (2013)
2013 suchte Wally Dion sein Glück in einem kinetischen Experiment. Er stellte die
Frage nach dem Verhältnis zwischen unbiegsamen Einzelteilen und einem flexiblen
Ganzen. Das Experiment wuchs, und als alle Teile zusammengefügt waren,
nannte er sein Werk «Pursuit of Happiness», Streben nach Glück.
Dion denkt gerne gross. «Pursuit of Happiness» wirkt wie das überdimensionierte
Abbild einer Satellitenaufnahme. Es erinnert an die kanadischen Plains,
die Heimat des Künstlers. Leuchtende Getreidefelder, Silos, Industrieanlagen,
selbst die Ölsandfelder Albertas scheinen verewigt – und das nicht ohne Grund.
Kanada ist ein Land mit vielen Bodenschätzen: Gold, Uran, Kupfer, Eisenerz, Ölsande
und Seltene Erden. Das Thema ist PoH auf die Platinen geschrieben, denn
so manches davon ist darin enthalten. Bodenschätze bedeuten Reichtum und
Gewinn. Doch im Schatten der irreparablen Schäden, die ihr Abbau mit sich
bringt, erlischt der Glanz des Gewinns vor allem für diejenigen schnell, die unmittelbar
von den Folgen betroffen sind. Das Grundrecht des Pursuit of Happiness,
das in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung verankert ist, ist ein
zweifelhaftes, wenn das wirtschaftliche Glück der einen den Ruin der anderen
bedeutet. Kleine, entlegene indigene Gemeinden sind oft die ersten, die die massiven
Folgen der Eingriffe zu spüren bekommen: verschmutztes Trinkwasser,
vergiftete Umwelt, Dezimierung der Wildbestände und ein ganzes Spektrum an
Krankheiten, die es vorher nicht gab.
Für die meisten von uns sind die Minen und Förderstätten weit genug weg, um sie
auszublenden. Betroffen sind wir aber trotzdem. Nicht nur, weil viele Ressourcen
endlich sind, auch weil die Auswirkungen des Raubbaus zunehmend global spürbar
sind.
PoH birgt viele Geschichten, alte und neue, gute und schlechte, bekannte und
unbekannte – über das Land, die Menschen und die Suche nach dem Glück. PoH
kann als umweltpolitisches Statement verstanden werden. Wally Dion liegt es
jedoch fern, mit dem Finger auf Schuldige zu zeigen. Zumal wir mit unseren ständig
wachsenden Ansprüchen unmittelbar beteiligt sind. PoH ist vielmehr ein
Denkanstoss, mit dem Dion seine persönliche Sicht des Verhältnisses von Mensch,
Natur und Umwelt zum Ausdruck bringt: «My work tries to suggest we are a people
who still need to understand themselves and their relation to the world.»
Heute vermutlich mehr denn je.
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Herausgeberin: Stadt Zürich
Nordamerika Native Museum
Indianer & Inuit Kulturen
Seefeldstrasse 317
8008 Zürich
Texte: Ilona Shulman Spaar, Heidrun Löb
Dr. phil. Ilona Shulman Spaar ist Kunsthistorikerin, Autorin,
Kulturvermittlerin und Kuratorin. Sie studierte Kunstgeschichte
an der Universität Zürich und an der University of British
Columbia (UBC) Vancouver, Kanada. Danach promovierte sie
an der Universität Basel über zeitgenössische indigene Kunst
aus Vancouver. Die Schweiz-Kanadierin lebte viele Jahre in
Vancouver. Im Auftrag des Schweizerischen Generalkonsulats
Vancouver war Shulman Spaar als Kuratorin, Autorin und
Drehbuchautorin für verschiedene kulturelle Projekte tätig.
Derzeit lebt Shulman Spaar zusammen mit ihrem Sohn und
ihrem Mann in der Schweiz. Sie arbeitet u.a. als Kunstvermittlerin
an der Fondation Beyeler, Riehen bei Basel, und als freischaffende
Kulturvermittlerin am Nordamerika Native Museum
(NONAM), Zürich.
Lektorat: Peter Schneider
Korrektorat: Alexandra Bernoulli
Fotografie & Gestaltung: Markus Roost
Druck & Bindung: Buchmanufaktur, Winterthur
Auflage: 500 Exemplare
Diese Publikation begleitet die Ausstellung
Native Art Now, Zeitgenössische Indigene Kunst.
8. November 2014 – 7. Juni 2015
Wir danken dem Lotteriefonds des Kantons Zürich für die
grosszügige Unterstützung, welche die zukunftsorientierte
Erweiterung der Sammlung NONAM ermöglicht hat.
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