Nr. 88 - Herbst 2023

FRANKREICH HEUTE Interview
Die erwähnten Musikstücke
Wenn Sie die von Bertrand Dicale erwähnten
Chansons anhören möchten, dann geben Sie
entweder den Link in Ihren Webbrowser ein oder
scannen Sie den entsprechenden QR-Code.
• La Marseillaise, von Claude-
Joseph Rouget de Lisle,
A-cappella-Interpretation
der lettischen Künstlerin
Katrīna Gupalo. https://
www.youtube.com/
watch?v=Elkq-zBBkYI
• Aux Armes et cætera,
von Serge Gainsbourg.
https://www.youtube.
com/watch?v=Ea4TKq_
nurc
• Champs Elysées, von
Joe Dassin. https://
www.youtube.com/
watch?v=1JhYYUWOBBs
• Viens Poupoule, von
Félix Mayol. https://
www.youtube.com/
watch?v=Epkt9SmqSqo
• In Paris rings umher, die
deutsche Version davon,
ebenfalls von Joe Dassin.
https://www.youtube.com/
watch?v=odx96YsVsrk
• Waterloo Road, von Mike
Wilsh und Mike Deighan.
https://www.youtube.com/
watch?v=aKYUrxWRLHk,
die Vorlage für
• Komm, Karlineken, komm,
von Adolf Spahn. https://
www.youtube.com/
watch?v=Rx7h8FSWuio die
Vorlage für
• La complainte de l’heure
de pointe, von Joe Dassin.
https://www.youtube.com/
watch?v=27RX3bkCXAQ
halten hat, dasselbe Chanson später einträchtig zu singen: Nach
den Attentaten im Jahr 2015 versammelten sich die Franzosen
auf der Straße, um angesichts der Umstände gemeinsam und solidarisch
die Gainsbourg-Version der Marseillaise zu singen, die
von Hoffnung und Leben erfüllt ist.
Sind sich die Franzosen selbst darüber bewusst, wie stark die Beziehung
ist, die sie zu ihren Chansons haben?
Ich glaube nicht, das ist ja das Paradoxe. Das französische
Chanson ist ein Exportschlager, man kennt und interpretiert es
auf der ganzen Welt, es wird oft benutzt, um lobenswerte Angelegenheiten
zu unterstützen, und in Frankreich ist es omnipräsent
(Anm. d. Red.: was nicht zuletzt an den hohen, gesetzlich vorgeschriebenen
Quoten für französischsprachige Musik im Radio liegt).
Dennoch hat man den Eindruck, dass die Franzosen nicht besonders
stolz darauf sind. Ich glaube, ihr Verhältnis zum Chanson
ist komplex, oft zwiespältig: Im Prinzip sagen sie, sie würden es
lieben. Sollen sie dann aber konkret zuhören, haben sie schnell
genug davon und wenden sich anderen Dingen zu. Das ist für
ein Volk, dem oft eine gewisse Arroganz zugeschrieben wird,
eigentlich erstaunlich. Obwohl französische Chansons in ihrer
Gesamtheit qualitativ sehr gut sind, erkennen die Menschen tendenziell
nicht deren wahren Wert, ignorieren oder kritisieren sie.
Ich zitiere immer den Satz eines Kollegen der Zeitung Le Figaro,
der sich vor vielen Jahren über Charles Aznavour, eine der Größen
in diesem Bereich, wie folgt äußerte: « Mit einer Kehle wie
eine Pfeffermühle ist das kein Sänger … » Vor Kurzem verkündete
Spotify, eine der führenden Musikstreaming-Plattformen, dass die
Hälfte der Einnahmen französischer Musikproduktionen aus dem
Exportgeschäft stammt! Offenbar ist man im Ausland eher in der
Lage, den wahren Wert des französischen Chansons zu erkennen.
Vielleicht weil das Ausland teilweise zu dessen Erfolg beiträgt?
Genau, und das scheinen die Franzosen gerne zu vergessen!
Generell glaube ich, dass sie sehr gut darin sind, sich Dinge aus
dem Ausland zu eigen zu machen. Natürlich betrachten sie das
als gut gehütetes Geheimnis. Dafür mangelt es im Bereich der
Musik nicht an Beispielen. In den Zwanzigerjahren bestimmte
der Polka-Rhythmus das Pariser Chanson, und dieser Rhythmus
90 · Frankreich erleben · Herbst 2023