Nr. 88 - Herbst 2023

hat / Egal, welche Hautfarbe er hat.) Im Grunde dient die
Marseillaise überall und jedem. Sie wurde sowohl 1973
in Chile angestimmt, als die Demokratie Allendes dem
Niedergang geweiht war, als auch 1989 während des chinesischen
Aufstands auf dem Tiananmen-Platz.
Diese « Allgemeingültigkeit » der Marseillaise lässt fast
vergessen, dass es sich dabei ursprünglich um ein Kriegslied
handelt …
Das stimmt. Das « Kriegslied für die Rheinarmee », das
der 31-jährige Hauptmann Claude-Joseph Rouget de Lisle
in einer Aprilnacht im Jahr 1792 in Straßburg schrieb, als
Frankreich bereits seit fünf Tagen Krieg gegen Österreich
führte. Das Ziel war, die Soldaten mit Worten zu motivieren,
die dem Ernst der derzeitigen Lage entsprachen und
weit von engelsgleichen Worten entfernt waren: Allons
enfants de la patrie / Le jour de gloire est arrivé / Contre nous
de la tyrannie / L’étendard sanglant est levé / Entendez-vous
dans les campagnes / Mugir ces féroces soldats … (Auf, Kinder
des Vaterlandes / Der Tag des Ruhmes ist gekommen /
Gegen uns wurde der Tyrannei / Blutiges Banner erhoben
/ Hört ihr im Land / Das Brüllen der grausamen Soldaten
…) Vor allem aber der Refrain schockiert uns heute!
Aux armes citoyens / Formez vos bataillons / Marchons, marchons
/ Qu’un sang impur / abreuve nos sillons … (Zu den
Waffen, Bürger / Formiert eure Truppen / Marschieren
wir, marschieren wir / Bis unreines Blut / unserer Äcker
Furchen tränkt …) Allerdings ist es wichtig, die Dinge
in ihren Kontext zu stellen: Mit diesem « unreinen Blut »
war zur damaligen Zeit das Blut des französischen Volkes
gemeint, mit dem dieses im Krieg gegen die Verteidiger
der alten Ordnung – vor allem gegen den ausgewanderten
Adel mit seinem angeblich « reinem » Blut – stolz den
Boden tränkte. Wenn man heute diese Stelle so interpretiert,
als handele es sich dabei nur um den Hass auf die
ausländischen Angreifer, die gekommen sind, um Frankreich
zu beschmutzen, so ist das vom damaligen Kontext
abgekoppelt. Man kann die Marseillaise nicht mehr auf
ein Kriegslied reduzieren, sie geht weit darüber hinaus.
Heute beschäftigt man sich in französischen Schulen sogar mit
einer Reggae-Version der Marseillaise, die Serge Gainsbourg
1979 kreierte …
Ja. Das Album von Gainsbourg, auf dem sich Aux
armes et cætera befindet, war sein dreizehntes und sein
erster kommerzieller Erfolg. Man muss wissen, dass diese
Reggae-Marseillaise eine riesige Polemik auslöste. Einige
Menschen waren erbost, andere lachten und spendeten
Beifall. Das zeigt die ganze Zwiespältigkeit, aber auch
das Interesse des französischen Chansons: Es ist oft doppeldeutig.
Auf jeden Fall lässt es nicht gleichgültig. Mit
der Reggae-Version der Nationalhymne spaltete ein Lied,
das auf allen Radiosendern zu hören war, das ganze Land.
Aber am Ende summte es jeder mit. Das ist so unglaublich
französisch! Und denken Sie nicht, dass die damals teilweise
heftige Unstimmigkeit die Franzosen davon abge-
Im Dictionnaire
amoureux de la
chanson française
von Bertrand Dicale
kann man viele
Juwelen entdecken.
Hier ein kleiner Auszug
daraus: eines
der Beispiele mit
dem Buchstaben A
… wie Allemagne.
Viens Poupoule ist ein
Musterbeispiel des fran zösischen
Chan sons. Es zählt
zu den Chansons, die den
Durchschnitts fran zo sen
am besten kari kieren. Ja,
ein ty pisch französisches
Chan son, ge schrieben
für Franzosen, mit einem
melodischen und har monisch
en Gerüst, wie es für das französische Chan son typisch
ist und mit einem Text, der von den kultu rellen Eigenheiten
der Franzosen nur so strotzt.
Und doch ist es ein deutscher Schlager. Viens Poupoule ist
nämlich die Adaptation von Komm, Karlineken, komm, für die
der Sänger Félix Mayol und seine Mitstreiter, Henri Christiné
und Alexandre Trébitsch, 1902 einen sehr pariserischen Text
schreiben: Le sam’di soir après l’turbin / L’ouvrier parisien / Dit
à sa femme: Comme dessert / J’te paie l’café-concert / On va
filer bras dessus bras dessous / Aux galeries à vingt sous. (Am
Samstagabend nach der Arbeit / Sagt der Pariser Arbeiter
/ Zu seiner Frau: Als Dessert / Lade ich dich ins Varieté ein /
Arm in Arm werden wir / in den Tingeltangel flitzen.)
Mayol entdeckt Komm, Karlineken, komm nicht mit dem
deutschen Text des Texters und Komponisten Adolf Spahn,
sondern in einer Instrumentalversion im Scala, einem der
größten Varietétheater in Paris […] Heute noch ist Viens
Poupoule das Symbol für eine begnadete Zeit, für ein
glückliches Frankreich, das sich in die Galeries à vingt sous,
die Varietétheater, drängt, bevor das Gemetzel des Ersten
Weltkriegs losgeht […]
1972 […] verwandelt Joe Dassin den in der deutschen
Hitparade erfolgreichen Schlager eines gewissen Jeremias
mit dem Titel La Di Li, La Di Lo in Complainte de l’heure
de pointe. Der Schlager wird im Übrigen nicht an einen
x-beliebigen Ort transferiert, sondern nach Paris. Er feiert
sowohl die legendäre Geografie der Hauptstadt als auch die
freche Pfiffigkeit mit der Pariser Jungs durch die Stadt flitzen:
Dans Paris à vélo on dépasse les autos/ A vélo dans Paris on
dépasse les taxis. (In Paris mit dem Fahrrad überholt man die
Autos / Mit dem Fahrrad in Paris überholt man die Taxis.) Der
Erfolg ist so groß, dass Joe Dassin eine weitere Adaptation
für den deutschen Markt aufnimmt: In Paris rings umher.
Einer der seltenen Fälle einer deutschen Adaptation der
französischen Adaptation eines deutschen Schlagers …
Dictionnaire amoureux de la chanson française, Alain
Dicale, Plon, 830 Seiten, Juni 2023, 14 €, ISBN 978-
2259316347.
Frankreich erleben · Herbst 2023 · 89