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Nr. 88 - Herbst 2023

Okzitanien, Nîmes, Ballon d'Alsace, Louis de Funès, Corrèze, Chanson française, Rezept und viel mehr!

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FRANKREICH HEUTE Interview<br />

sangsstücke eine<br />

gewisse « Romantik »<br />

verleiht, die außerhalb<br />

Frankreichs<br />

besonders geschätzt<br />

wird. Diesen Punkt<br />

kann man selbstverständlich<br />

nur schwer<br />

wissenschaftlich<br />

analysieren, aber es ist<br />

nicht von der Hand zu<br />

weisen, dass es weitgehend<br />

so empfunden wird.<br />

Aus ausländischer Sicht können sich<br />

die Franzosen glücklich schätzen, eine<br />

Sprache zu besitzen, die ihren Liedern eine so<br />

große Reichweite verleiht.<br />

Aber betrachtet man dabei die Beziehung der Franzosen zu ihren<br />

Chansons nicht auf eine etwas « idealisierte » Weise, ähnlich<br />

wie im Film « Die fabelhafte Welt der Amélie »?<br />

In der Tat. Nichtfranzosen bewundern oft unser Verhältnis<br />

zum Chanson, sind manchmal neidisch. Dabei<br />

erkennen sie aber nicht – oder vergessen es<br />

–, dass dieses Genre für uns mit einem<br />

wahrhaftigen Kampfsport vergleichbar<br />

ist: Es verbindet die<br />

Franzosen, kann sie aber<br />

auch regelrecht spalten.<br />

Genauso wie Fußball,<br />

die französische Küche<br />

oder andere Leidenschaften<br />

kann es<br />

die Gemüter erhitzen<br />

und die Menschen<br />

entzweien. Eines der<br />

bekanntesten Lieder<br />

des Landes, die Marseillaise,<br />

die französische<br />

Nationalhymne,<br />

ist dafür im Übrigen eines<br />

der besten Beispiele.<br />

Diesbezüglich schreiben Sie:<br />

« Ausnahmsweise ist der so französische<br />

Stolz, ein Land zu sein, das in nichts mit<br />

anderen vergleichbar ist, fundiert. » Können Sie uns<br />

erklären, warum?<br />

Weil die Franzosen, mit diesem Lied ein Mittel gefunden<br />

haben, ihre Nationalhymne universell zu machen!<br />

Das ist doch nicht schlecht, oder? Stellen Sie sich vor, dass<br />

die Marseillaise mit ihrem mitreißenden und eingängigen<br />

Rhythmus bereits aufgegriffen und parodiert wurde,<br />

noch bevor sie offiziell zur französische Nationalhymne<br />

wurde (Anm. d. Red.: Sie wurde erstmals durch den<br />

Nationalkonvent – 14. Juli 1795 bis 1804 –, dann 1879<br />

unter der III. Republik zur Nationalhymne erklärt). Ab<br />

1792 ging eine besondere Marseillaise durch die Presse,<br />

welche die Freuden von Wein und Trunkenheit rühmte<br />

und sich über den Originaltext lustig machte: Allons enfants<br />

de la folie / Le jour de boire est arrivé … (Auf, Kinder<br />

des Wahnsinns / Der Tag des Trinkens ist gekommen<br />

…). Abgesehen davon sang das Volk überall in Frankreich<br />

mit Inbrunst und im Zeichen einer gelebten<br />

Meinungsfreiheit noch andere Parodien.<br />

1793 entstand sogar eine « royalistische<br />

Marseillaise », welche kurz<br />

nach der Exekution Ludwigs<br />

XVI., am 21. Januar,<br />

mit folgenden Worten<br />

antirevolutionäre<br />

Überzeugungen zum<br />

Ausdruck brachte: Le<br />

jour de deuil pour ma<br />

patrie / Le jour de honte<br />

est arrivé … (Der Tag<br />

der Trauer um mein<br />

Vaterland / Der Tag<br />

der Schande ist gekommen<br />

…). Und im<br />

ganzen Verlauf des 19.<br />

Jahrhunderts ließ diese<br />

Besessenheit, immer neue<br />

Varianten der Marseillaise<br />

zu erfinden, niemals nach. Alle<br />

Kämpfe, alle Auseinandersetzungen<br />

bemächtigten sich dieses Liedes. So konnte<br />

man 1848 mit der Marseillaise des cotillons, der<br />

« Marseillaise der Unterröcke », eine eindeutig<br />

feministische Version davon hören: Tremblez tyrans<br />

portant culotte / Femmes, notre jour est venu… (Zittert, Tyrannen<br />

in Unterhosen / Frauen, unser Tag ist gekommen<br />

…). Und sogar auf anderen Kontinenten begeisterte man<br />

sich für dieses Gesangsstück. 1867, direkt nach dem<br />

Sezessionskrieg, der den Sklaven die Freiheit<br />

schenkte, schrieb der Kreole Camille<br />

Naudin eine Marseillaise noire, die in<br />

den französischen Kolonien auf<br />

den Antillen gesungen wurde:<br />

Fils d’Africains, tristes<br />

victimes / […] Debout!<br />

L’heure est venue / A<br />

chaque travailleur / Le<br />

pain, le pain qu’il a<br />

gagné / Qu’importe sa<br />

couleur. (Kinder der<br />

Afrikaner, traurige<br />

Opfer / […] Aufgestanden!<br />

Die Stunde<br />

ist gekommen / Jedem<br />

Arbeiter / Das Brot,<br />

das Brot, das er verdient<br />

<strong>88</strong> · Frankreich erleben · <strong>Herbst</strong> <strong>2023</strong>

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