Nr. 88 - Herbst 2023

zengerade auf dem erhöhten Achterdeck und grüßte mit
seinem Dreispitz die Menge unten auf dem Quai.
« Ich muss sagen, dass es keine gute Idee war, in der
Morgendämmerung alleine herzukommen, Mademoiselle.
» Er drehte sich zu uns um und wollte im selben
vorwurfsvollen Ton weiterreden. « Entschuldigen Sie »,
seufzte er und senkte den Kopf, « Sie sehen ihr derart ähnlich
… »
Er nahm einen der Klappstühle und setzte sich zwischen
den Chef de tiers und mich. « Wenn Fabio nicht da
gewesen wäre … », fügte er hinzu. « Ich wage mir nicht
vorzustellen, was dann passiert wäre! Nun, ich glaube,
dieser Charakter liegt in der Familie … »
Wenn der Chef de tiers nicht plötzlich von der oberen
Saling heruntergesprungen wäre und mich gegen die Takelage
gedrückt hätte, als ich nach hinten kippte, wäre
ich in der Tat tot. Wie meine Schwester. Einige Stunden
zuvor wäre ich beinahe gestorben. Die Polizei hatte Simon
verhaftet, ich war befragt worden, Fabio ebenfalls. Und
trotz allem, was seit heute Morgen passiert war, konnte ich
an nichts anderes als an diese unglaubliche Szene denken:
Der Kommandant in seiner Uniform als Fregattenkapitän,
mit Spitzenhemd und goldenen Gallonen, Fabio Ferran,
der Chef de tiers, der mir gegenüber saß …
« Natürlich wusste ich, dass Simon Faucheux Chef de
tiers werden wollte und dass er über die Ernennung Ihrer
Schwester verärgert war. Aber deswegen gleich an Mord
zu denken … Nun, vorhin hat er alles gestanden: den
Angriff in den Segeln, den vorgetäuschten Sturz, um die
Verletzung am Auge zu erklären. »
Der Kapitän brach ab. Was gab es noch zu sagen?
Ich kannte endlich die ganze Wahrheit. Ich würde mich
nicht mehr beim Aufwachen fragen, was Hermine gerade
macht. Ich würde nicht mehr vergessen, dass meine
Schwester tot ist.
« Ich habe Sie beobachtet, als Sie die Takelage hochkletterten,
Marjolaine. Ich darf Sie doch Marjolaine nennen?
», fragte der Chef de tiers.
« Ja, natürlich. »
Er schaute mir in die Augen. « Sie kletterten ebenso
gewandt wie Ihre Schwester. Sie könnten als Bootsjunge
zu uns kommen. In einigen Tagen stechen wir in Richtung
Ärmelkanal in See. Wenn Sie schnell sind, sind Sie
herzlich willkommen. »
Der Kapitän nickte zustimmend.
Die Nacht brach herein. Für Rouen und die Armada
begann ein weiterer Festabend. Ich blickte nach oben und
stellte mir Hermine in der Takelage vor, wie sie alleine
oben auf dem Großmast stand, mitten in einem unendlichen
See. Sie streckte mir die Hand entgegen und forderte
mich auf, zu ihr zu kommen. Die abendliche Brise ließ die
Segelschiffe sanft auf dem Wasser wiegen. Ich betrachtete
sie noch einen Augenblick, bis ihre Gestalt im Dämmerlicht
verschwand. In der Seine spiegelten sich die Lichter
der Stadt. Die wie Soldaten aufgereihten beflaggten Masten
machten mir keine Angst mehr.
Lassen Sie sich von
uns überraschen!
Sparen Sie
10 %!
Liebe Leserinnen und Leser,
gehen auch Sie abseits der ausgetretenen Pfade auf
eine Entdeckungsreise durch Frankreich und abonnieren
Sie jetzt das erste und einzige Magazin, das seit
2005 ganz von Menschen kreiert wird, die in Frankreich
leben, für nur
24,90 €
pro Jahr für 4 Ausgaben (Deutschland)
Immer alle Ausgaben dabei: Laden Sie unsere
neue App « Frankreich erleben » bei Google Play
oder im App Store herunter und lesen Sie auch
vergriffene Ausgaben!
Jetzt bestellen: 030 / 42 80 40 40
Frankreich erleben · Herbst 2023 · 81
www.frankreicherleben.de