Nr. 88 - Herbst 2023

FRANKREICH HEUTE Preis
festmachst. Es geht bis zur ersten Saling
dort. Halt dich am Seil in der Mitte fest,
wie an einem kleinen Stamm. Los gehts »,
sage er und sprang in die Seile.
Ich hakte den Karabiner meines Gurts
in das Sicherungsseil ein und ergriff das
mittlere Seil, wie er mir gesagt hatte. Es
war so rau wie eine Käsereibe und roch
nach Teer. Hermine hatte mir von ihrer
Kletterausbildung erzählt: « Es reicht aus,
nicht nach unten zu blicken. Und übrigens
auch nicht nach oben, sonst glaubt
man, es niemals zu schaffen. Man muss
das ansehen, was in Reichweite ist. Das ist
alles. Einen Griff nach dem anderen. Sich
auf die nächste Bewegung konzentrieren,
nicht auf die vorhergegangenen, nicht
auf die folgenden. Also ganz einfach! Im
Grunde ist es wie das Leben! » Dabei war
sie in Lachen ausgebrochen.
Ich stellte den Fuß auf das erste Seil.
Ich schaute, wo ich mich festhalten konnte.
Atmete tief ein. Ein Impuls nach dem
anderen. Eine Bewegung nach der anderen.
Weder nach oben noch nach unten
blicken. Simon blickte zu mir herunter
und nickte mit dem Kopf. Dann hisste
er sich auf die andere Seite der Takelage,
beinahe mir gegenüber.
« Das neigt sich doch in diese Richtung!
Wie machst du das? »
« Keine Bange, ich bin es gewöhnt »,
sagte er lächelnd. « Du machst das gut,
weiter so! »
Ich duzte ihn ebenfalls, das erschien
mir natürlich.
« Gehts? Nicht zu viel Angst? »
« Nein, es geht. Wenn meine Schwester
es konnte, kann ich es auch, oder? »
Sein Gesicht auf der anderen Seite
war nur wenige Zentimeter entfernt, wir
kletterten gleichmäßig, die Seile spannten
und entspannten sich unter unseren Bewegungen.
Mit schnellen Blicken vergewisserte
er sich, dass ich dem Rhythmus
folgte. Oder vielleicht, um Unterschiede
zwischen Hermine und mir zu suchen;
wahrscheinlich musterte er meine Beine,
meine Figur, mein Gesicht. Sogar unseren
Freunden gelang es nicht, uns zu
unterscheiden. Dabei fallen meine Augen
außen etwas mehr ab, als die meiner
Schwester, meine Grübchen sind weniger
tief und meine Brust etwas kleiner. Nahezu
unsichtbare Unterschiede, außer für
mich.
Ich zog mich auf die erste Saling, auf
halber Höhe des Mastes. Der Wind blies
und man spürte die Bewegungen des
Flusses, genauso wie Simon gesagt hatte.
Ich erinnerte mich daran, wie Hermine
und ich als Kinder im Park unseres Viertels
spielten. Das war, bevor unsere Eltern
tödlich verunglückten. Es gab eine Art
riesige Spinne aus Seilen und Metallrohren.
Wir liebten dieses Spiel. Wir beeilten
uns, sprangen von Seil zu Seil. Als Erste
oben!
Simon und ich hingen uns Auge in
Auge gegenüber, jeder auf seiner Seite
der Takelage. War er in meine Schwester
verschossen? Sie hatte immer ganze
Heerscharen von Liebhabern hinter sich
zurückgelassen. Ich konnte es mir nicht
verkneifen, die Narbe unter seinem Auge
anzusehen, die er sich zugezogen hatte,
als er beim Versuch, Hermine zu retten,
ausrutschte. Er hatte nicht übertrieben,
der Aufprall hätte ihn das Auge kosten
können. Beim Gedanken, dass dies bei
so schönen Augen schade gewesen wäre,
wurde ich rot. Im Zentrum der Verletzung
war eine Art geometrische Form zu
erkennen, nur wenige Millimeter groß.
Einen Moment fragte ich mich, warum
der Bursche ein Hakenkreuz auf dem Backenknochen
hat. War das eine teilweise
ausgelöschte Tätowierung? War Simon
ein Skinhead gewesen? Das ist kein
Hakenkreuz! Das ist der Abdruck einer
Swastika! Eine Swastika, die durch einen
harten Stoß einen Abdruck im Fleisch
hinterlassen hat. Innerhalb des Bruchteils
einer Sekunde wurde sein Blick hart. Mit
einer gezielten Bewegung hakte er meinen
Karabiner aus dem Sicherungsseil
aus. Dann griff er nach meinen Hals. Und
drückte zu. Mit aller Kraft klammerte ich
mich mit einer Hand an die Seile. Mit der
anderen Hand packte ich seinen kleinen
Finger und, bevor er reagieren konnte,
bog ich ihn mit einer schnellen Bewegung
nach hinten. Es gab ein kleines, kaum
hörbares Knacken, er stieß einen spitzen
Schrei aus. Außer sich vor Wut presste er
seine Hand auf mein Gesicht und schob.
Seine Finger drangen in meine Augen,
und ich spürte, dass ich begann loszulassen.
Der Kommandant stand in seiner
Uniform aus dem 18. Jahrhundert ker-
80 · Frankreich erleben · Herbst 2023