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Nr. 88 - Herbst 2023

Okzitanien, Nîmes, Ballon d'Alsace, Louis de Funès, Corrèze, Chanson française, Rezept und viel mehr!

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mine in der Nacht aus der Takelage gefallen<br />

war, einige Meilen vor der amerikanischen<br />

Küste. Ein Unfall, den er sich nicht verzeihe.<br />

Beileidsbekundungen. Eine Lobeshymne<br />

auf die Fähigkeiten meiner Schwester. Der<br />

Verein hat sich um alles gekümmert, von der<br />

Überführung bis zur Einäscherung. Ich habe<br />

gar nichts gemacht. Ich fühlte mich verloren,<br />

war wieder das kleine, im Stich gelassene<br />

Mädchen, diesmal jedoch war ich ganz alleine.<br />

Kurz nach der Zeremonie erhielt ich<br />

ein Paket aus Washington DC mit den persönlichen<br />

Gegenständen von Hermine: Kleidungsstücke,<br />

ihr Reisetagebuch, ein Foto von<br />

uns mit unseren Eltern und diesen indischen<br />

Ring, denselben wie den, den ich niemals<br />

trug.<br />

Zu meinen Arbeitskollegen sagte ich kein<br />

Wort, ich tat so, als sei nichts, niemand hat<br />

auch nur das Geringste bemerkt: Man nahm<br />

mich genauso wenig wahr, wie sonst. Ich<br />

stand morgens auf, fütterte Biscuit und fragte<br />

mich gleichzeitig, was Hermine gerade tat.<br />

Dann ging ich arbeiten und versuchte, die<br />

Stimme in mir, die jeden Tag lauter wurde,<br />

zum Schweigen zu bringen: Warum haben<br />

sie mir so wenig Details mitgeteilt? Was ist<br />

wirklich passiert? Ist Hermine gefallen? Oder<br />

hat man sie gestoßen? Warum beantworten<br />

sie meine Nachrichten nicht? Ich hatte an die<br />

ganze Mannschaft geschrieben, man sagte<br />

mir, ich solle mich an den Kapitän wenden,<br />

der mir immer denselben Bericht schickte.<br />

Ich habe alle Seeleute auf Instagram und Facebook<br />

gestalkt. Bis einer von ihnen, Simon<br />

Faucheux, schließlich antwortete. Er schlug<br />

mir vor, uns während der Armada zu treffen:<br />

Die Fregatte würde nach der Reise in die<br />

USA an dem großen Treffen alter Schiffe in<br />

Rouen teilnehmen. Am Tag nach der Ankunft<br />

und nach dem großen Fest am Abend<br />

würden alle schlafen. Da könne man sich in<br />

Ruhe unterhalten.<br />

« Also, von der Saling da oben, von dort<br />

ist sie gefallen », sagte Simon am Fuße des<br />

Großmastes. Ich blickte mich auf der Brücke<br />

um: Nichts deutete darauf hin, dass jemand<br />

hier gestorben ist. Alles war sauber, frisch<br />

gereinigt, die Brücke geschrubbt, das Zinn<br />

glänzte.<br />

« Wie ist es passiert? »<br />

« Deine Schwester liebte es, nachts auf die<br />

Brücke zu gehen. Es ist toll, mitten auf dem<br />

Meer in der Takelage hochzusteigen und den<br />

Himmel zu bewundern … Manchmal begegneten<br />

wir uns, sie war auf der Saling des<br />

Großmastes, ich auf der des Fockmastes. » Ich<br />

bemerkte, dass Simon mich duzte, und das<br />

erschien mir natürlich, offensichtlich. « In jener<br />

Nacht, es muss wohl gegen zwei oder drei<br />

Uhr gewesen sein, bin ich leise aufgestanden,<br />

um ein bisschen alleine zu sein. Ich hörte einen<br />

Schrei und sah deine Schwester auf der<br />

Brücke. Mit bloßen Füßen rannte ich hin und<br />

rutschte aus. Ich fiel mit dem Kopf auf einen<br />

Belegnagel », sagte er und zeigte auf die Narbe<br />

auf seiner Wange direkt unter dem linken<br />

Auge. « Einen Zentimeter darüber und ich<br />

hätte das Auge verloren … Sie starb in meinen<br />

Armen, sie hat nicht gelitten. Innerhalb<br />

weniger Sekunden war sie tot. »<br />

Seine Stimme schwankte und er biss sich<br />

auf die Lippe. Es musste schrecklich gewesen<br />

sein, den Sturz zu sehen und nichts tun zu<br />

können. Am liebsten hätte ich ihn in meine<br />

Arme genommen. Ihn getröstet, wie ich es<br />

mir gewünscht hätte, dass man mich tröstet.<br />

Aber ich fing mich schnell wieder: Dafür war<br />

ich nicht da!<br />

« Warum antwortet mir niemand? Warum<br />

bringt sie das in Verlegenheit? Was verbergen<br />

sie? »<br />

« Sie verbergen nichts … Hermine hätte<br />

nur niemals alleine hinaufsteigen dürfen,<br />

das ist verboten. Man muss immer zu zweit<br />

und gut gesichert sein. Deine Schwester war<br />

… ein wenig draufgängerisch. Alle wussten,<br />

dass sie alleine hochkletterte, und man ließ<br />

sie machen. Selbst der Kapitän nannte sie ‹die<br />

Seilakrobatin›. »<br />

Ich blickte hinauf zur Saling. « Ich will hinaufsteigen<br />

», sagte ich in einem bestimmten<br />

Ton, den ich so von mir nicht kannte.<br />

« Was? Aber das ist gefährlich. Bist du wenigstens<br />

schon einmal geklettert? »<br />

« Ja, natürlich.» Um meine Lüge glaubhafter<br />

zu machen, fügte ich hinzu: « Mit meiner<br />

Schwester. »<br />

« Ach ja, stimmt, sie hat mir gesagt, dass<br />

sie klettert », gab Simon zu. « Gut, versprich<br />

mir, mit niemandem darüber zu reden. Um<br />

diese Uhrzeit dürfte man uns nicht sehen. Ich<br />

warne dich: Beim ersten Mal bekommt man<br />

wirklich Angst. Ich selbst dachte, ich müsse<br />

mich übergeben. Aber mit deiner Klettererfahrung<br />

sollte es gehen. Da oben schwankt<br />

es nämlich. Je höher man ist, desto mehr<br />

schwankt es! »<br />

Simon reichte mir Gurte, und es gelang<br />

mir beim ersten Versuch, sie anzulegen. Als<br />

kenne ich mich damit aus.<br />

« Das ist das Sicherungsseil, wo du dich

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