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Nr. 88 - Herbst 2023

Okzitanien, Nîmes, Ballon d'Alsace, Louis de Funès, Corrèze, Chanson française, Rezept und viel mehr!

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FRANKREICH HEUTE Preis<br />

Tod eines Menschen zu überwinden, bedeutet, nicht mehr<br />

zu vergessen, dass die Person tot ist.<br />

« Sie sind Simon Faucheux? », setzte ich das Gespräch<br />

fort, « derjenige, der mir geschrieben hat? »<br />

« Ja, wie ich in meiner Mail sagte, ziehe ich es vor, mich<br />

persönlich mit Ihnen zu unterhalten. Auf dem Schiff », sagte<br />

er und zeigte auf ein Segelschiff in etwa hundert Meter<br />

Entfernung, « ist es viel einfacher, Ihnen den Unfall zu erklären,<br />

den Unfall Ihrer … Nun, Sie wissen, was ich sagen<br />

will », setzte er mit sanfter Stimme fort.<br />

« Ist es dasjenige, das dort geparkt ist, das blau-gelbe? »<br />

« Ja genau, dasjenige, das dort vertäut ist », sagte er lächelnd.<br />

Es war das erste Mal, dass ich das Schiff leibhaftig sah:<br />

eine Fregatte aus dem 18. Jahrhundert, die einige Liebhaber<br />

rekonstruiert hatten. Während wir uns ihr auf dem Quai<br />

näherten, konnte man sie immer besser erkennen. Zwischen<br />

den großen Schulschiffen mit ihren Stahlrümpfen erschien<br />

sie klein und zierlich. Ganz oben am Mast stand auf einer<br />

Plattform ein etwa dreißigjähriger Mann mit einem Backenbart<br />

wie Corto Maltese und wartete auf den Sonnenaufgang.<br />

Mit dem geschwungenen Rumpf, der leuchtenden<br />

blau-goldenen Farbe und dem Seemann hoch oben schien<br />

die Fregatte geradewegs einem Comic von Walt Disney<br />

entsprungen zu sein.<br />

« Wer ist das? », fragte ich und zeigte mit dem Finger auf<br />

die Spitze des Mastes.<br />

« Fabio einer der Chefs des tiers. Der Typ ist nicht sehr<br />

umgänglich, aber er versteht sein Geschäft. »<br />

« Äh … Chef de tiers? Was ist das? »<br />

« Eine Art von Offizier, wenn man so will, ein Chef der<br />

Matrosen. Ich bin selbst einer der drei Chefs de tiers. »<br />

Verstohlen betrachtete ich Simon. Eine kreisförmige<br />

Narbe unter dem Auge verlieh ihm das Aussehen eines alten<br />

Haudegens. Im Gegensatz zu den meisten Seeleuten der<br />

Armada von Rouen, die geschniegelt in ihren Uniformen in<br />

die Stadt gingen, trug er einfache Zivilkleidung.<br />

Wir waren an der Gangway angelangt. Aus der Nähe<br />

hatte das Schiff nichts Zierliches. Beim Anblick der imposanten<br />

Masse, der Tausenden Seile, des Holzrumpfes, der<br />

dicker als die Wände meines Studios war, fühlte ich mich<br />

nun ganz klein!<br />

Wie verrückt muss es gewesen sein, ein derartiges<br />

Projekt umzusetzen? Ein vor langer Zeit verschollenes<br />

Segelschiff von A bis Z zu rekonstruieren! Werkzeuge herzustellen,<br />

Spenden zu sammeln und vor allem, trotz aller<br />

Rückschläge, niemals aufzugeben. Als diese Spinner dann<br />

beim Stapellauf Freiwillige anheuerten, die bereit waren,<br />

alles hinzuschmeißen, um Segeln zu lernen, war es nicht<br />

erstaunlich, dass meine Schwester sich umgehend bewarb.<br />

Es waren keinerlei Kenntnisse notwendig, Enthusiasmus<br />

und Abenteuerlust reichten. Davon hatte Hermine<br />

genug, sie wurde sofort genommen. Zwei Wochen später<br />

vertraute sie mir Biscuit an und war mit ihren Siebensachen<br />

verschwunden. Ich spürte, wie Simon mich ansah. Natürlich,<br />

um Hermine und mich zu vergleichen. Sie: heiter,<br />

unerschrocken, abenteuerlustig. Ich: immer zwei Schritte<br />

hinter ihr. Seit unserer Geburt.<br />

Hallo kleine Schwester,<br />

es ist vier Uhr morgens, ich liege in meiner Hängematte und<br />

schreibe dir, um dir zu sagen, dass ich Cheffe de tiers werde: Der<br />

Kapitän hat es mir heute Abend angeboten! In der Nacht bin ich<br />

aufgestanden, ganz alleine, und auf die Spitze des Mastes geklettert.<br />

Das Meer war schön, der Mond spiegelte sich im Wasser<br />

und es sah aus, als ob Millionen von Sternen darin funkelten. Es<br />

war, als befände man sich inmitten eines unendlichen Sees. Es<br />

wäre schön gewesen, wenn du da gewesen wärst. Das ist alles.<br />

Ich wollte dir das einfach erzählen.<br />

Alles Liebe<br />

Hermine<br />

Das war vor sechs Monaten, Mitte Dezember. Ich hatte<br />

Mühe damit, richtig wach zu werden. Wie jeden Morgen<br />

schmerzten meine Augen vom Licht der Glühbirne an der<br />

Decke. Ich überflog die Nachrichten auf meinem Smartphone,<br />

darunter war diese Mail von Hermine. Dann waren<br />

da noch der Wetterbericht, der Regen ankündigte, und eine<br />

SMS meines Arbeitgebers, der wollte, dass ich früher komme.<br />

Wie jeden Tag stand Biscuit vor seiner Schüssel und<br />

miaute, als würde er den Hungertod sterben. Die Mail von<br />

Hermine hatte ich beim Anziehen geistesabwesend gelesen.<br />

Ich hatte gedacht, es handele sich um einen Posten in der<br />

Küche, so etwas wie ein Chef de Partie im Restaurant. Kurz,<br />

ich habe nicht darauf geachtet. Und anschließend habe ich<br />

überhaupt nicht mehr daran gedacht: Im Geschäft waren<br />

wir voll damit beschäftigt, die Waren für Weihnachten aufzufüllen,<br />

ich hatte sehr viel zu tun. Vor allem aber: Hatte<br />

ich wirklich Lust, ihr Leben mit meinem zu vergleichen?<br />

Ihre Tage mit meinen? Ihre Nächte mit meinen?<br />

Jedes Mal, wenn sie anlegten, schickte sie mir ein kleines<br />

Päckchen mit einigen Souvenirs. Manchmal waren es<br />

seltsame Dinge, einmal beispielsweise ein Sari und ein nur<br />

ein paar Zentimeter großer, aus Stein gehauener Elefant,<br />

zusammen mit einem großen Ring, auf dem … ein Hakenkreuz<br />

zu sehen war!<br />

« Du schickst mir Nazi-Sachen », hatte ich am Telefon<br />

gewettert. « Findest du das lustig? »<br />

« Mein Gott, bist du blöd, Schwesterherz! Das ist kein<br />

Hakenkreuz, das ist eine Swastika, ein hinduistisches Symbol.<br />

Es steht für großen Reichtum. Ich habe zwei Ringe<br />

gekauft, einen für dich und einen für mich. Die sollen uns<br />

Glück bringen. Das Leben ist schön, weißt du! »<br />

Ich hasste es, wenn sie mich so von oben herab behandelte.<br />

Als ob meine Art zu leben schlechter sei als ihre. Als<br />

ob sie die Ältere sei und mir Ratschläge geben könnte. Den<br />

verfänglichen Ring habe ich niemals getragen.<br />

Eine Woche nach ihrer Mail erhielt ich mitten in meiner<br />

Mittagspause einen unverständlichen Anruf von einer<br />

unbekannten Nummer. Am anderen Ende waren nur ein<br />

Rauschen und einige abgehackte Sätze zu hören. Wie ein<br />

von Geknatter unterbrochenes Telegramm. Ihre Schwester<br />

… Unfall … mitten in der Nacht … nicht gelitten. Dann<br />

erhielt ich eine Mail des Kapitäns, in der stand, dass Her-<br />

78 · Frankreich erleben · <strong>Herbst</strong> <strong>2023</strong>

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