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Nr. 88 - Herbst 2023

Okzitanien, Nîmes, Ballon d'Alsace, Louis de Funès, Corrèze, Chanson française, Rezept und viel mehr!

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Novellen-Preis der<br />

Armada de Rouen<br />

Im Rahmen des weltweit bedeutendsten Treffens großer Segelschiffe, der Armada de<br />

Rouen, schrieben die Veranstalter in diesem Jahr erstmals einen Novellen-Wettbewerb<br />

aus. Als Paten konnten sie mit Michel Bussi einen der bekanntesten französischen<br />

Schriftsteller unserer Zeit gewinnen. Dieser hatte die ersten Zeilen einer Novelle verfasst,<br />

die Teilnehmer waren aufgefordert, sich eine Fortsetzung auszudenken. Unter den 200<br />

Texten, die in der Kategorie Libre – offen für alle Menschen ab 18 Jahren – eingereicht<br />

wurden, ging die Novelle von Jérôme Pin-Simonet mit dem Titel Je meurs de ma petite<br />

sœur (Ich sterbe vor Sehnsucht nach meiner kleinen Schwester) als Sieger hervor. Laut<br />

Michel Bussi handelt es sich dabei um einen « Krimi, bei dem sich Action und Emotionen<br />

schön abwechseln » und der die Jury beeindruckte. Wie wir Ihnen in unserem Artikel in<br />

der letzten Ausgabe (Armada de Rouen <strong>2023</strong>: Treffpunkt der größten Segelschiffe der Welt,<br />

Frankreich erleben <strong>Nr</strong>. 87) versprochen haben, präsentieren wir Ihnen die ungekürzte<br />

Gewinner-Novelle in der deutschen Übersetzung von Sabine Schmitt.<br />

Der von Michel Bussi verfasste Anfang<br />

der Geschichte:<br />

Ich hatte beschlossen, früh zu kommen, so früh wie möglich.<br />

In Rouen war noch alles ruhig. Nach dem Fest gestern<br />

Abend war es in der Stadt stiller als gewöhnlich: Es<br />

war der erste Tag der Armada gewesen! Als ich die Quais<br />

erreichte, waren gerade die ersten Sonnenstrahlen zu sehen.<br />

Der morgendliche Wind ließ die Segelschiffe sanft auf dem<br />

Wasser wiegen, die Seine glitzerte, die wie Soldaten aufgereihten<br />

beflaggten Masten schüchterten mich ein. Aber ich<br />

musste weiter. Schließlich hatte ich eine Verabredung. Eine<br />

Verabredung, die vielleicht mein Leben verändern würde.<br />

Ich war etwa 50 Meter weit auf dem verlassenen Quai in<br />

Richtung der Pont Flaubert gelaufen, als ich hinter mir eine<br />

menschliche Präsenz spürte.<br />

« Guten Tag … »<br />

Und die von Jérôme Pin-Simonet<br />

ausgedachte Fortsetzung:<br />

Ich drehte mich um. Erschrocken machte der Mann einen<br />

Schritt zurück, als habe er ein Phantom gesehen.<br />

« Entschuldigen Sie », stammelte er. « Ich war nicht darauf<br />

gefasst, dass Sie ihr so ähnlich sehen. Unglaublich! Als<br />

ich Sie gesehen habe, dachte ich, sie sei es. Pardon. »<br />

« Kein Problem, das bin ich gewöhnt. Nebenbei bemerkt,<br />

woher wissen Sie, ob ich nicht sie bin? », antwortete<br />

ich mit etwas zu schriller Stimme. Ich biss mir auf die Lippe<br />

und stieß dann das kleine Glucksen aus, wie üblich nach<br />

diesen kleinen Späßchen. Jahrelang hatte ich immer dann,<br />

wenn man mich mit meiner Zwillingsschwester verwechselte,<br />

diese Antwort parat gehabt. Doch nun musste ich sie<br />

vergessen. Ich musste sie tief in mir vergraben, zusammen<br />

mit allen Erinnerungen an meine verstorbene Schwester.<br />

Oft vergesse ich, dass Hermine tot ist. Jeden Morgen<br />

wache ich auf, füttere Biscuit, den Kater, den sie zurückgelassen<br />

hat, und während ich meinen Kaffee zubereite, frage<br />

ich mich, wo sie momentan ist. Ich beobachte die Wassertropfen,<br />

die nacheinander in die Kaffeekanne tropfen:<br />

Was macht sie jetzt, zu diesem Zeitpunkt? Über welches<br />

Meer segelt sie gerade? Schrubbt sie auf den Antillen in der<br />

Mittagssonne die Brücke des Segelschiffes? Oder schläft<br />

sie inmitten aller anderen Schiffsjungen, während das<br />

Licht des Vollmonds den Pazifischen Ozean zum Glitzern<br />

bringt? Und dann fällt mir alles wieder ein: der Unfall, der<br />

unverständliche Anruf von einem Satellitentelefon aus, der<br />

seltsame Bericht des Kapitäns. Seither durchfährt es mich<br />

jeden Morgen blitzartig: Meine Schwester ist tot. Für immer.<br />

Wenn alles aufgeklärt ist, wenn ich weiß, was passiert<br />

ist, werde ich mich nicht mehr beim Aufwachen fragen,<br />

was meine Zwillingsschwester gerade tut. Ich glaube, den<br />

Frankreich erleben · <strong>Herbst</strong> <strong>2023</strong> · 77

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