Nr. 88 - Herbst 2023

UNTERWEGS IN FRANKREICH Nouvelle-Aquitaine / Corrèze
ten zu treffen, dann betrachtete man diesen als « besonderen
Menschen », als « Weisen », als « Beschützer », der oft
guten Rat wusste und – so hieß es – manchmal sogar in
der Lage war, Wunder zu bewirken. Genau das widerfuhr
dem braven Étienne. Kaum hatten sich seine Wege mit
denen einiger Bauern und Dorfbewohner der Gegend gekreuzt,
begannen die Menschen, ihn zu schätzen. Immer
mehr kamen zu ihm, aus Hochschätzung wurde Verehrung.
Schriften halten fest, dass Étienne, « der Einsame »,
sich kaum einmal zehn Jahre nach seiner Ankunft ganz
unwillentlich in Gesellschaft von knapp 300 Menschen
befand. Eine regelrechte kleine Gemeinschaft! Die Tatsache,
dass der Priester also de facto weniger einsam war, als
erwartet, animierte ihn dazu, seine Pläne zu ändern und
Höheres anzustreben, nämlich die Frauen und Männer
in seinem Umfeld davon zu überzeugen, sich fern von der
Welt und ihren Verlockungen ganz der Arbeit und dem
Gebet zu widmen. Es lag nahe, dass er selbst die Leitung
der Gemeinschaft übernahm und damit begann, sie zu
organisieren. Zunächst ganz bescheiden, dann aber
immer ambitionierter.
Ein doppeltes Kloster
Dem Pragmatiker Étienne war bewusst, dass er keinen
religiösen Orden im eigentlichen Sinne gründen konnte,
sondern sich einem bestehenden anschließen musste. Er
begann daher eine Rundreise, um die wichtigsten Ordensgemeinschaften
der Region zu besuchen. Ohne Erfolg,
überall wurde er mit seinem Vorschlag abgewiesen.
Der Grund dafür ist schnell erklärt
und beruht auf den Moralvorstellungen
der damaligen Zeit:
Étiennes Gemeinschaft bestand
aus Männern und
Frauen. Es war schlicht
und ergreifend unvorstellbar,
diese in
ein und demselben
Kloster leben
zu lassen.
40 · Frankreich erleben · Herbst 2023