Nr. 88 - Herbst 2023

ON LIT EN FRANCE
Unsere Auswahl an Büchern, über die man
zurzeit in Frankreich spricht
ROMAN
Psychopompe
ROMAN
Hors saison
Basile Mulciba, Gallimard, 2023, 200 Seiten,
19,50 €, ISBN 978-2073005878
Frankreich in unserer Zeit. Es ist Winter und Yann, ein junger
Mann um die zwanzig, beschließt, sein Leben zu ändern.
Obwohl sein Medizinstudium dem Anschein nach gut läuft,
bricht er es im vierten Jahr urplötzlich ab, verlässt Familie und
Freunde. Er, der keinerlei Erfahrung in den Bergen hat, will nun
als Saisonarbeiter in einem kleinen Wintersportort arbeiten.
Vor Ort stellt sich heraus, dass der Schnee auf sich warten
lässt, obwohl alle ihn herbeisehnen. Vor allem Hans, der ihn
eingestellt hat, da er ein in die Jahre gekommenes Hotel leitet,
das er von seinem Vater geerbt hat. Alle leiden unter den
Folgen des Schneemangels, doch nach und nach schwindet
die Hoffnung, dass es noch zu schneien beginnt. Immer mehr
Menschen verlassen den Ort, Hans und Yann beschließen
zu bleiben. Der Autor, der in Guadeloupe aufwuchs und
heute in Paris lebt, präsentiert uns mit diesem Roman ein
gelungenes Erstlingswerk. Dank des flüssigen und poetischen
Stils nimmt der Leser an Yanns Leben teil und wird immer
neugieriger. Im Laufe der Lektüre fühlt man sich immer mehr
vom Protagonisten, seinem Bedürfnis
nach Veränderung, seinen Fragen
über den Sinn des Lebens, seiner
Beziehung zur Natur um ihn herum
in diesem seltsamen Skigebiet, der
Klimaveränderung angesprochen.
Man lernt jemanden kennen, der
ein Freund sein könnte, der uns
nachdenklich stimmt. Vielen Dank
Basile Mulciba!
Amélie Nothomb, Albin
Michel, 2023, 162 Seiten,
18,90 €, ISBN 978-
2226485618
Die offizielle
Zusammenfassung ist kurz,
sogar sehr kurz, denn es ist
nur ein Satz: « Schreiben,
heißt stehlen. » Erneut
präsentiert uns Amélie Nothomb – die, getaktet wie ein
Metronom, wie jedes Jahr zu Beginn der Literatursaison
ein Buch herausbringt – ein Werk, über dem der Schleier
eines Geheimnisses liegt. Es ist ihr 31. Roman. Und wie
so oft, müssen wir beim Lesen des Titels erst einmal zu
einem Wörterbuch greifen: psychopompe. Psychopompos
oder, eingedeutscht, Psychopomp. « Der die Seelen der
Toten begleitet » gibt das französische Wörterbuch Le
Robert Auskunft. Ein Adjektiv, das in Frankreich im 19.
Jahrhundert aufkam, um einen Gott oder eine Heldenfigur
zu charakterisieren, der oder die « die Seelen der Toten in
die Hölle begleitet oder von dort zurückholt », präzisiert
das Wörterbuch der Académie française, und führt Hermès
psychopompe als Beispiel an. Wir wollen nicht zu viel
vom Inhalt dieses kurzen Romans verraten, der in einem
Universum spielt, das so typisch für unsere bevorzugte
Schriftstellerin aus Belgien ist. Nur so viel: Es geht um das
Schreiben und die Fähigkeit zur Beobachtung, vor allem
von Vögeln, eine große Leidenschaft von Amélie Nothomb.
Ein Buch, das alle treuen Leser der Autorin sofort fesseln,
und alle, die sie gerade entdecken, mit Sicherheit irritieren
wird. Aber ist das nicht bei jedem ihrer
Bücher so? Auf jeden Fall ist es eines der
wichtigen Bücher des diesjährigen
Auftakts der Literatursaison.
Themen: Jugend, Freundschaft,
Veränderung, Lernen,
Zweifel, Berge, Natur
Themen: Autobiografie, Kindheit,
Bedauern, Vögel, Spiritismus
14 · Frankreich erleben · Herbst 2023