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Anna Stern »blau der wind, schwarz die nacht.« LESEPROBE

Die Gewinnerin des Schweizer Buchpreises 2020 mit ihrem neuen Buch. Was soll die Ärztin Hannah mit den vier Wochen Zwangsferien anstellen? Zwischen Job und Kindern aufgerieben, weiß sie nun nichts mit sich anzufangen. Währenddessen folgt Rosette einer mysteriösen Einladung und erlebt ein aufregendes Abenteuer in einem Luxusresort. Hannahs Ex-Mann Lukas verliert sich dagegen nach einem misslungenen Kinderausflug zunehmend im Livestream eines alaskischen Nationalparks. Dann löst Hannahs Begegnung mit der Patientin Alva eine Folge von Ereignissen aus, die die beiden jungen Frauen zu einem Ausloten der Grenzen zwischen Ich und Du, zwischen Wahn und Wirklichkeit verleiten: Grenzen, die immer mehr zu verwischen drohen. Mit einem scharfen Blick für die Brüche und Grenzüberschreitungen in zwischenmenschlichen Beziehungen verdichtet Anna Stern in den vorliegenden Texten ihr Werk nochmals stark. In dieser mehrdimensionalen Identitätssuche stehen die Kapitel für sich, doch die Figuren, die Fäden, die in den Seiten von Alvas Notizbuch gespannt werden, hängen zusammen und schaffen – thematisch, sprachlich und atmosphärisch – ein großes Ganzes. »blau der wind, schwarz die nacht.« ist einmal mehr ein meisterliches Werk von subtiler literarischer Wucht.

Die Gewinnerin des Schweizer Buchpreises 2020 mit ihrem neuen Buch.

Was soll die Ärztin Hannah mit den vier Wochen Zwangsferien anstellen? Zwischen Job und Kindern aufgerieben, weiß sie nun nichts mit sich anzufangen. Währenddessen folgt Rosette einer mysteriösen Einladung und erlebt ein aufregendes Abenteuer in einem Luxusresort. Hannahs Ex-Mann Lukas verliert sich dagegen nach einem misslungenen Kinderausflug zunehmend im Livestream eines alaskischen Nationalparks.

Dann löst Hannahs Begegnung mit der Patientin Alva eine Folge von Ereignissen aus, die die beiden jungen Frauen zu einem Ausloten der Grenzen zwischen Ich und Du, zwischen Wahn und Wirklichkeit verleiten: Grenzen, die immer mehr zu verwischen drohen.

Mit einem scharfen Blick für die Brüche und Grenzüberschreitungen in zwischenmenschlichen Beziehungen verdichtet Anna Stern in den vorliegenden Texten ihr Werk nochmals stark. In dieser mehrdimensionalen Identitätssuche stehen die Kapitel für sich, doch die Figuren, die Fäden, die in den Seiten von Alvas Notizbuch gespannt werden, hängen zusammen und schaffen – thematisch, sprachlich und atmosphärisch – ein großes Ganzes.

»blau der wind, schwarz die nacht.« ist einmal mehr ein meisterliches Werk von subtiler literarischer Wucht.

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1


<strong>Anna</strong> <strong>Stern</strong><br />

blau <strong>der</strong> <strong>wind</strong>,<br />

<strong>schwarz</strong> <strong>die</strong> <strong>nacht</strong>.


Verlag und Autorin danken dem Kanton St. Gallen, dem Kanton Zürich<br />

und <strong>der</strong> Stadt Zürich für <strong>die</strong> Unterstützung des vorliegenden Buches.<br />

<strong>Anna</strong> <strong>Stern</strong><br />

blau <strong>der</strong> <strong>wind</strong>, <strong>schwarz</strong> <strong>die</strong> <strong>nacht</strong>.<br />

lectorbooks GmbH, Zürich<br />

info@lectorbooks.com<br />

www.lectorbooks.com<br />

Umschlagbild: Tolga Ahmetler, unsplash.com<br />

Buchgestaltung: Samara Keller, Christian Knöpfel<br />

Satz: Peter Löffelholz<br />

Lektorat: Patrick Schär<br />

Korrektorat: Verena Simon<br />

Gesamtherstellung: CPI Books GmbH, Leck<br />

1. Auflage 2023<br />

© 2023, lectorbooks GmbH<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

ISBN 978-3-906913-38-4<br />

Printed in Germany


osette.<br />

nicht schon wie<strong>der</strong>, sagt valemon, das kommt sehr<br />

ungünstig. das letzte mal ist drei monate her, denkt<br />

rosette, sagt dann stattdessen jedoch, ich weiß, es tut<br />

mir auch leid. sie hustet einmal richtig schön laut, ich<br />

muss mich bei alex angesteckt haben, sie war doch<br />

letzte woche krank. jedenfalls habe ich fieber und<br />

kopfschmerzen und dann eben <strong>die</strong>ser husten. sie hustet<br />

noch einmal in den telefonhörer. so, ja, dann also,<br />

schau, dass du nächste woche wie<strong>der</strong> gesund bist, wir<br />

haben viel zu tun, sagt valemon und beendet den anruf.<br />

blödmann, sagt rosette zum hörer, arschloch. sie legt<br />

das telefon auf <strong>die</strong> station zurück, zieht mantel und<br />

stiefel und stirnband aus, geht in sophies altes zimmer,<br />

das ihr und eno jetzt als ankleidezimmer <strong>die</strong>nt, und<br />

beginnt zu packen. <strong>die</strong> nachricht kam, als sie zur arbeit<br />

gehen wollte: ein qr-code, eine uhrzeit, eine gleisnummer,<br />

dazu 2h 24min und smart casual. nur das, doch<br />

mehr braucht rosette auch gar nicht, um zu wissen,<br />

was zu tun ist; und dass es eilt. sie fischt <strong>die</strong> kleine<br />

reisetasche aus le<strong>der</strong> vom obersten schrankfach, legt<br />

unterwäsche für drei tage hinein, ein <strong>nacht</strong>hemd, <strong>die</strong><br />

dunkelblaue wollhose und <strong>die</strong> bluse aus reiner seide,<br />

<strong>die</strong> culotte-hose in <strong>schwarz</strong> und den merinorollkragenpulli.<br />

sie packt im bad, was sie braucht, und holt


das buch von ihrem <strong>nacht</strong>tisch. sie schlüpft wie<strong>der</strong> in<br />

den ziegelroten mantel und ihre stiefel, macht das<br />

licht im eingang aus und geht. als rosette am bahnhof<br />

zum gleis hinaufsteigt, vermeidet sie den blick auf <strong>die</strong><br />

abfahrtstafel, und als <strong>der</strong> lautsprecher <strong>die</strong> zugeinfahrt<br />

ansagt, hält sie sich <strong>die</strong> ohren zu, so gut es geht, wo<br />

wäre sonst <strong>der</strong> witz. <strong>der</strong> mann, <strong>der</strong> neben ihr wartet,<br />

wirft ihr seltsame blicke zu und entfernt sich einige<br />

schritte von ihr. soll er doch, denkt rosette und streckt<br />

ihm in einem anfall von übermut <strong>die</strong> zunge raus, wenn<br />

<strong>der</strong> wüsste. <strong>der</strong> zug fährt an einem fluss entlang, durch<br />

täler und zwischen bergen hindurch. rosette schaut<br />

aus dem fenster und hält sich während <strong>der</strong> ansage <strong>der</strong><br />

bahnhöfe wie<strong>der</strong> <strong>die</strong> ohren zu. als sie dem kontrolleur<br />

ihr telefon mit dem qr-code hinhält, sagt er, es hätte<br />

ein günstigeres ticket gegeben, und will ihr zeigen, wie<br />

sie in <strong>der</strong> app <strong>die</strong> billigsten angebote findet. ich habe<br />

keine app, sagt rosette und fügt, um dummen fragen<br />

zuvorzukommen, an, mein mann hat mir das ticket gekauft.<br />

ach so, sagt <strong>der</strong> kontrolleur, na dann, ich wünsche<br />

eine gute reise. als sie nach zwei stunden und<br />

vierundzwanzig minuten aufsteht und aussteigt, ist sie<br />

<strong>die</strong> einzige, <strong>die</strong> den zug verlässt. sie erkennt den ort,<br />

den see, <strong>der</strong> sich hinter dem bahnhof nach norden erstreckt.<br />

sie sieht sich um, wun<strong>der</strong>t sich kurz, was jetzt,<br />

wohin, wie weiter. sie stellt <strong>die</strong> tasche ab und blickt<br />

auf das wasser hinaus, was soll ich hier, denkt sie, du<br />

weißt doch genau. <strong>die</strong> luft ist eisig kalt und klar und<br />

<strong>der</strong> see ist schmal: das an<strong>der</strong>e ufer scheint greifbar,<br />

nur einen sprung, einen schritt entfernt. <strong>die</strong> villen


versteckt in den gärten, <strong>der</strong> wald darum herum, und<br />

das sanatorium, das sich leuchtend weiß gegen das<br />

dunkle grün des hangs abhebt. sie kann <strong>die</strong> fenster<br />

zählen, <strong>schwarz</strong> auf weiß, das dritte von links im zweiten<br />

stock. julius. all <strong>die</strong> jahre. du weißt doch genau.<br />

doch dann ist da auch schon eine stimme hinter ihr,<br />

<strong>die</strong> wissen will, ob sie rosette martin sei: ich bin gekommen,<br />

um sie abzuholen. rosette folgt dem mann<br />

zum wagen – ein zweiundfünfziger bentley r-type continental,<br />

wie <strong>der</strong> chauffeur in <strong>schwarz</strong>em anzug und<br />

weißem hemd, schlips und handschuhe und schirmmütze<br />

tragend, sie ungefragt aufklärt – und lässt sich<br />

ins weiche le<strong>der</strong> <strong>der</strong> rückbank sinken, <strong>die</strong> reisetasche<br />

neben sich. <strong>der</strong> weg führt den hügel hinauf, kurve um<br />

kurve erheben sie sich über den kleinen ort, über das<br />

von weißen wellenkämmen gezierte stahlblau des sees<br />

dem kalten winterblau des himmels entgegen. bald<br />

wird <strong>die</strong> fahrbahn schmaler und links und rechts stehen<br />

mächtige bäume, noch laublose eichen und linden<br />

und kastanien und nadelbäume, <strong>die</strong> rosette im vorbeifahren<br />

nicht näher bestimmen kann. dann werden sie<br />

vor einem großen tor langsamer. rosette setzt sich auf,<br />

während flügel sich öffnen, und unter ihnen geht <strong>der</strong><br />

asphalt in kies über. <strong>die</strong> bäume bleiben mächtig, bleiben<br />

laublos, doch zwischen ihnen rollt nun ein teppich<br />

aus sattem grün über <strong>die</strong> sanften hügel, nicht mehr<br />

waldiges unterholz. nach drei weiteren kurven durch<br />

<strong>die</strong> englische parkanlage hält <strong>der</strong> chauffeur auf einem<br />

weiten, von buchskugeln gesäumten kiesplatz an und<br />

steigt aus. er öffnet rosette <strong>die</strong> tür mit einer galanten


verbeugung und sagt, da wären wir: ich wünsche einen<br />

freudvollen aufenthalt. rosette stellt <strong>die</strong> tasche ab und<br />

blickt mit offenem mund an dem gebäude empor, das<br />

sich schneeweiß vor ihr erhebt, sich in alle richtungen<br />

zu erstrecken scheint. grün <strong>wind</strong>en sich efeuranken an<br />

<strong>der</strong> fassade hinauf bis zu den treppengiebeln, bis zu<br />

den fenstern des turms, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> mitte <strong>der</strong> asymmetrischen<br />

schlossflügel trohnt. dass es so einen ort hier<br />

geben kann, denkt sie, dass ich davon nichts gewusst<br />

habe. herzlich willkommen, frau martin, begrüßt <strong>die</strong><br />

junge frau an <strong>der</strong> rezeption sie, ich hoffe, <strong>die</strong> reise verlief<br />

angenehm. rosette nickt bloß und sieht sich um,<br />

<strong>die</strong> weißen wände, <strong>der</strong> <strong>schwarz</strong>e schieferboden, das<br />

holz, <strong>die</strong> ruhe, das licht. warum, fragt sie sich, womit<br />

habe ich das. sie haben zimmer dreihun<strong>der</strong>tvierzehn,<br />

sagt <strong>die</strong> frau, <strong>die</strong> vero heißt, wie rosette jetzt auf dem<br />

namensschild an ihrer brust liest, kommen sie, ich<br />

zeige ihnen den weg. rosette folgt ihr durch das foyer<br />

und an einer mächtigen steintreppe vorbei, <strong>der</strong> handlauf<br />

aus geschnitztem holz wie gold. sie haben ein<br />

zimmer mit blick auf den park und im gourmetarrangement,<br />

sagt vero, während rosette stehen bleibt und<br />

fasziniert über das gelän<strong>der</strong> streicht, so warm und<br />

weich scheint es ihr, alles so gar nicht wirklich. sie<br />

gehen weiter und zweigen dann in einen <strong>schwarz</strong>-weiß<br />

gefliesten korridor ab. so, da wären wir, sagt vero und<br />

schließt <strong>die</strong> schwere holztür am ende des gangs für<br />

rosette auf, einzelheiten zu den mahlzeiten und den<br />

gebuchten extras finden sie in ihrer persönlichen aufenthaltsbroschüre<br />

auf dem <strong>nacht</strong>tisch. bei fragen o<strong>der</strong>


falls sie ein feuer im kamin wünschen, dürfen sie sich<br />

je<strong>der</strong>zeit melden. ich wünsche einen angenehmen aufenthalt,<br />

sagt vero und lässt rosette allein. sie stellt ihre<br />

tasche auf dem dunklen versaillesparkett ab, schlüpft<br />

aus stiefeln und mantel und wirft sich auf das weiche,<br />

weiße doppelbett. ein kamin. in einem hotelzimmer.<br />

gourmetarrangement, gebuchte extras und englischer<br />

park. sie grinst, sie drückt ihr gesicht ins kissen, sie<br />

fragt wie<strong>der</strong>, womit habe ich das, womit habe ich das<br />

bloß ver<strong>die</strong>nt. sie setzt sich auf und will gerade einen<br />

blick in ihre persönliche aufenthaltsbroschüre werfen,<br />

als es an <strong>der</strong> tür klopft. frau martin, sagt jemand, zimmerservice.<br />

rosette wun<strong>der</strong>t sich schon gar nicht<br />

mehr, sie öffnet <strong>die</strong> tür und nimmt das in weißes seidenpapier<br />

eingeschlagene paket entgegen, das ein angestellter<br />

des hotels ihr reicht, zusammen mit <strong>der</strong><br />

nachricht nur für den fall. nur für den fall, sagt rosette,<br />

während <strong>der</strong> mann schon wie<strong>der</strong> verschwunden ist,<br />

ach so, ich verstehe, nur für den fall. zurück auf dem<br />

bett schwankt sie für einen augenblick – paket o<strong>der</strong><br />

broschüre, broschüre o<strong>der</strong> paket –, macht sich dann<br />

jedoch daran, das dunkelgrüne seidenband von letzterem<br />

zu lösen. sie schlägt das papier zurück, findet<br />

ein einfaches <strong>schwarz</strong>es t-shirt, eine trainingshose,<br />

wie sie sie auch zu hause hat, und ein fein geripptes<br />

<strong>schwarz</strong>es badekleid in ihrem schoß. sachen gibts,<br />

sagt sie, legt <strong>die</strong> klei<strong>der</strong> neben sich aufs bett und<br />

nimmt <strong>die</strong> aufenthaltsbroschüre zur hand. herzlich<br />

willkommen im historisch-mo<strong>der</strong>nen romantikzimmer<br />

mit parkblick, steht da. das zimmer verfügt über


direkten zugang zum türkisen bad, das zusammen mit<br />

<strong>der</strong> sauna zwischen 18 und 24 uhr ihnen allein gehört.<br />

das gourmetarrangement beinhaltet ein saisonales<br />

fünf-gang-gourmet-dinner bei kerzenschein und ein<br />

privates frühstücksbuffet im turmzimmer. das gebuchte<br />

aufenthaltspaket gewährt ihnen nach wunsch und ohne<br />

aufpreis zugang zu den führungen durch schloss und<br />

parkanlage sowie zu den yoga-lektionen mit blick auf<br />

den kräutergarten und <strong>die</strong> verschiedenen massagen im<br />

angebot unserer ärztlich diplomierten masseurin. wir<br />

wünschen einen erholsamen aufenthalt und hoffen,<br />

dass sie sich bei uns wohlfühlen. ach so, sagt rosette<br />

mit blick auf das seidenpapierpaket und lacht, für den<br />

fall, du bist mir einer, du. sie klettert vom bett und<br />

verlässt nach einem blick durch <strong>die</strong> verbindungstür ins<br />

türkise bad ihr romantikzimmer auf <strong>der</strong> suche nach <strong>der</strong><br />

bar, wo ihr, laut broschüre, ein willkommensapéro zusteht,<br />

mit bio-prosecco aus dem hauseigenen rebberg<br />

und häppchen mit schafs- und ziegenkäse von nebenan.<br />

anschließend kehrt sie auf ihr zimmer zurück und<br />

legt sich hin. sie hat nichts gemacht den ganzen tag<br />

und doch ist sie müde, und nun liegt sie hier in <strong>die</strong>sem<br />

schloss und alles ist wie ein traum. das mittagessen mit<br />

julius fällt ihr ein. wahrscheinlich kommt <strong>die</strong> erschöpfung<br />

daher. von <strong>der</strong> anspannung, <strong>die</strong> jedes treffen mit<br />

ihm mit sich bringt. und <strong>die</strong> erleichterung im anschluss,<br />

wenn alles gut gegangen ist, trifft immer zusammen<br />

mit <strong>die</strong>ser müdigkeit ein. rosette schiebt den<br />

gedanken an julius weg und denkt stattdessen daran,<br />

wie sie eno von <strong>die</strong>sem traum hier erzählen wird. dann


fällt ihr ein, dass sie das nicht kann, und bevor sie einschläft,<br />

denkt sie einmal mehr, dass <strong>die</strong>s das einzig<br />

störende ist an <strong>die</strong>sem arrangement. als sie erwacht,<br />

ist es bereits zeit fürs abendessen. sie zieht jeans und<br />

bluse aus und <strong>die</strong> <strong>schwarz</strong>e hose und den rollkragenpullover<br />

an. bevor sie das zimmer verlässt, steckt sie<br />

sich den fingerring mit dem nephrit an und legt sich<br />

vor dem spiegel <strong>die</strong> lange perlenkette zweimal um den<br />

hals. <strong>der</strong> kellner begleitet sie zu einem tisch im hinteren<br />

bereich des speisesaals, <strong>der</strong> blick aus dem fenster<br />

führt in <strong>die</strong> dunkle winter<strong>nacht</strong>. sie setzt sich, bestellt<br />

wasser und ein glas wein und nimmt <strong>die</strong> menukarte zur<br />

hand. rosette befürchtet zuerst, fünf gänge könnten<br />

viel zu viel sein, doch <strong>die</strong> portionen sind klein und <strong>die</strong><br />

speisen leicht. es ist fast unheimlich still im saal, <strong>der</strong><br />

nur vom licht <strong>der</strong> kerzen auf den tischen erhellt wird.<br />

sie ist nicht allein, doch <strong>die</strong> tische stehen weit auseinan<strong>der</strong>,<br />

viele gäste sitzen ebenfalls allein o<strong>der</strong> nur zu<br />

zweit, und <strong>die</strong> unterhaltungen werden gedämpft geführt.<br />

aus <strong>der</strong> bar ist leise klaviermusik zu hören, jazz,<br />

erkennt sie, doch eno würde es sicher genauer wissen.<br />

während des essens achtet rosette nicht son<strong>der</strong>lich<br />

auf <strong>die</strong> an<strong>der</strong>en gäste. ein mann, <strong>der</strong> schräg gegenüber<br />

von ihr auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en seite des saals sitzt, fällt ihr<br />

auf. er tut nichts, um ihre aufmerksamkeit zu erregen,<br />

verhält sich still und liest zwischen den gängen in<br />

einem buch, das neben seinem teller auf dem tisch<br />

liegt. was rosette ins auge sticht, ist sein dunkler lockenkopf,<br />

ist mehr vielleicht noch seine kleidung, sind<br />

seine <strong>schwarz</strong>en hosen, <strong>der</strong> <strong>schwarz</strong>e rollkragenpull-


over und <strong>die</strong> perlweiß-grün geringelten socken in den<br />

ausgetretenen <strong>schwarz</strong>en le<strong>der</strong>schuhen. <strong>der</strong> kellner<br />

bringt den hauptgang und eine frische flasche wasser.<br />

rosette sieht erst jetzt, von welcher quelle das wasser<br />

ist, und ihr wird schlecht, wenn sie daran denkt, dass<br />

sie davon getrunken hat. das weiße etikett mit dem<br />

grau-blauen aquasana-schriftzug und dem stilisierten<br />

klinikgebäude darauf: sie trinkt <strong>die</strong>ses wasser nicht,<br />

nicht mehr. <strong>der</strong> gedankengang dahinter mag für an<strong>der</strong>e<br />

trivial erscheinen, nicht aber für sie.<br />

<strong>der</strong> gedankengang dahinter mag für an<strong>der</strong>e trivial erscheinen,<br />

sagt eno, nicht aber für ihn. es ist pfingsten,<br />

und rosette und er sitzen im garten des sanatoriums<br />

und warten auf julius. wir warten seit über zwei stunden,<br />

sagt rosette, er soll sich nicht so anstellen. sie<br />

steht auf und beginnt, im schatten <strong>der</strong> großen eiche<br />

ungeduldig hin- und herzugehen. sie sind früh von zu<br />

hause losgefahren, um wie vereinbart um neun im ort<br />

anzukommen. nach einem kurzen gespräch mit den behandelnden<br />

ärzten, bei dem <strong>die</strong> bedingungen für den<br />

heutigen ausgang besprochen wurden, sagte julius,<br />

er müsse noch einmal auf sein zimmer, um etwas zu<br />

holen. er verschwand <strong>die</strong> treppe hinauf, und seither<br />

warten rosette und eno. julius sei immer noch auf seinem<br />

zimmer, ließ <strong>die</strong> für ihn zuständige betreuerin sie<br />

wissen, als sie ihnen eben zwei kleine flaschen mit wasser<br />

brachte, aquasana steht auf <strong>der</strong> ban<strong>der</strong>ole: aus <strong>der</strong><br />

hauseigenen quelle, wie sie betonte. was kann es denn<br />

sein, sagt rosette und verwirft <strong>die</strong> arme, was kann ihn


daran hin<strong>der</strong>n, jetzt einfach rauszukommen. ich weiß<br />

es nicht, sagt eno. er legt seine hände auf rosettes<br />

schultern, beruhig dich, sagt er, es kommt schon gut.<br />

er nimmt sie in den arm und küsst sie auf den kopf.<br />

nichts kommt gut, sagt rosette gegen seine brust, er<br />

riecht nach harz und rauch und frischer minze, nichts<br />

kommt je wie<strong>der</strong> gut. schhhh, sagt eno, sei nicht so<br />

hart zu ihm, sei nicht so hart zu dir selbst.<br />

<strong>der</strong> kellner sagt, natürlich, wie sie wünschen, frau<br />

martin, und bringt ihr eine karaffe mit leitungswasser.<br />

rosette bedankt sich und tupft sich mit <strong>der</strong> serviette<br />

den mund ab. <strong>der</strong> große mit winterranden gefüllte raviolo<br />

mit mohn-limetten-butter hat wie <strong>die</strong> an<strong>der</strong>en<br />

gänge hervorragend geschmeckt, und eigentlich ist<br />

sie jetzt satt. sie bittet den kellner, mit dem <strong>nacht</strong>isch<br />

noch etwas zu warten, und denkt dann an eno, <strong>der</strong><br />

immer sagt, beim dessert gehe es nicht um satt o<strong>der</strong><br />

nicht satt, son<strong>der</strong>n einzig und allein um gelüste, um<br />

lust auch, und er müsse, falls nötig, halt einfach in <strong>der</strong><br />

speiseröhre warten, bis im vollen magen wie<strong>der</strong> genug<br />

platz sei. sie schaut aus dem fenster auf den dunklen<br />

park hinaus. große laternen flackern zwischen den büschen<br />

und bäumen und grob geschnitzten skulpturen<br />

aus holz. am frühen abend hätte es eine führung zu<br />

den skulpturen gegeben, eine künstlerin aus <strong>der</strong> region<br />

hat sie aus bäumen geschnitzt, <strong>die</strong> im schlosspark alters-<br />

o<strong>der</strong> krankheitshalber gefällt werden mussten.<br />

doch zwischen bio-prosecco und einschlafen und<br />

aufwachen und abendessen ging <strong>die</strong>ser programm-


punkt vergessen, und rosette denkt, dass sie sie sich<br />

ja immer noch morgen ansehen kann o<strong>der</strong> übermorgen.<br />

darf ich mich zu ihnen setzen. rosette dreht sich um,<br />

vom fenster weg dem mann zu, <strong>der</strong> mit <strong>die</strong>ser frage an<br />

ihren tisch getreten ist. es ist <strong>der</strong> mann in <strong>schwarz</strong> mit<br />

dem lockenkopf und den ringelsocken, <strong>der</strong> da steht,<br />

sein weinglas und sein buch in <strong>der</strong> hand, und rosette<br />

sagt ohne zögern, ja, bitte, nehmen sie nur platz. kaum<br />

hat er sich rosette gegenüber hingesetzt, bringt <strong>der</strong><br />

kellner auch schon eine neue flasche wein. ich war<br />

so frei, sagt <strong>der</strong> mann und lacht rosette an, lacht sie<br />

nur mit den dunklen augen an. er hält dabei den kopf<br />

gesenkt, leicht zur seite geneigt, rosette weiß nicht<br />

recht, ob verlegen o<strong>der</strong> spitzbübisch o<strong>der</strong> frech seinen<br />

gesichtsausdruck am besten beschreibt. wie hat<br />

ihnen das menu geschmeckt, fragt er. hervorragend,<br />

sagt rosette, ich habe schon lange nicht mehr so gut<br />

gegessen. mir geht es ähnlich, sagt er, man gönnt sich<br />

selbst viel zu selten etwas. <strong>die</strong> lauchsuppe hat mir beson<strong>der</strong>s<br />

geschmeckt, sagt rosette. eindeutig ein gaumenschmaus,<br />

sagt er, ich muss unbedingt den koch um<br />

das rezept bitten, sodass ich <strong>die</strong> suppe für meine frau<br />

nachkochen kann. für ihre frau, sagt rosette in fragendem<br />

ton. ihr ist aufgefallen, dass er üblicherweise<br />

einen ring trägt, <strong>die</strong>sen aber kürzlich ausgezogen hat:<br />

ein feines band käsig weißer haut <strong>wind</strong>et sich an seiner<br />

statt um seinen ringfinger. sie mag lauchsuppe normalerweise<br />

nicht, antwortet er, doch ich wette, <strong>die</strong>sem<br />

rezept würde sogar sie verfallen. mit mir müssen sie<br />

nicht wetten, sagt rosette und ist erstaunt über <strong>die</strong>


gesch<strong>wind</strong>igkeit, mit <strong>der</strong> <strong>die</strong>ses gespräch fahrt aufgenommen<br />

hat, ich bin ja nicht ihre frau. ein jammer,<br />

sagt er, was wäre das für eine schöne welt. rosette<br />

schmunzelt und schüttelt den kopf. eindeutig nicht<br />

verlegen, eindeutig spitzbübisch und frech: was für<br />

ein schauspieler, was für ein charmeur. was lesen sie,<br />

fragt sie und nickt mit dem kinn zu dem buch, das mit<br />

dem titel nach unten neben ihm auf dem tisch liegt.<br />

das debut einer jungen autorin, sagt er, ohne den namen<br />

zu nennen, man muss wissen, was <strong>der</strong> nachwuchs<br />

so treibt und schreibt. nachwuchs, fragt sie, das ist<br />

nicht etwa das buch ihrer tochter. nein, sagt er und<br />

schüttelt den kopf, was <strong>die</strong> locken zum tanzen bringt,<br />

ich schreibe selber, deshalb nachwuchs, sie wissen<br />

schon. er trinkt sein glas aus, schenkt nach einem<br />

fragenden blick zuerst ihr, dann sich selber nach.<br />

wenn sie mir sagen, wie sie heißen, sagt sie, kann ich<br />

ein buch von ihnen lesen: man muss auch wissen, was<br />

<strong>die</strong> reifere generation so treibt und schreibt. er lacht<br />

und sagt, wie ich heiße, o<strong>der</strong> wie ich mich nenne, das<br />

ist ein kleiner, aber feiner unterschied. ich hoffe, sagt<br />

sie, in ihren texten gehen sie sparsamer um mit solch<br />

leeren phrasen: klein, aber fein, gaumenschmaus, sich<br />

etwas gönnen. warum, mögen sie das nicht. nein, sie<br />

saugen einem text alles leben aus. phrasen als blutegel,<br />

was für ein schönes bild. sie können es ja in ihrem<br />

nächsten buch verwenden. und ihnen <strong>die</strong>ses widmen.<br />

warum nicht, es gibt schlimmeres, als einen text gewidmet<br />

zu bekommen. das klingt, als sprächen sie<br />

aus erfahrung. das wüssten sie jetzt gern, doch eine


frau muss ihre geheimnisse wahren. da werde ich ja<br />

beinahe eifersüchtig. worauf, auf meine geheimnisse,<br />

auf den mir möglicherweise gewidmeten text o<strong>der</strong> gar<br />

auf den unbekannten urheber, <strong>die</strong> urheberin hinter<br />

dem mir möglicherweise gewidmeten text. ich sehe,<br />

sie wollen sich nichts entlocken lassen, so wird das<br />

ganz schön kompliziert. was kompliziert und warum,<br />

um mir einen text zu widmen, müssen sie nicht über<br />

meine frühere widmungserfahrung bescheid wissen.<br />

ich muss dafür aber ihren namen kennen. sie müssen<br />

dafür vor allem zuerst den text schreiben. frau, ich<br />

gebe mich geschlagen, sagt er, verwirft <strong>die</strong> arme und<br />

stößt dabei <strong>die</strong> noch halb volle karaffe mit wasser um.<br />

kurz nach <strong>die</strong>sem zwischenfall ziehen sie in <strong>die</strong> bar<br />

um, wo sie <strong>die</strong> einzigen gäste sind. rosette, sagt sie,<br />

ich heiße rosette. <strong>die</strong> le<strong>der</strong>sessel sind weich, auch hier<br />

gibt es nur kerzenlicht, und <strong>der</strong> pianist spielt weiter<br />

leise jazz. <strong>der</strong> kellner nähert sich, stellt zwei espressi<br />

und einen teller mit einem großen stück des schokolade-pinienkern-kuchens,<br />

den es zum <strong>nacht</strong>isch gab,<br />

auf den loungetisch zwischen ihnen. natürlich, sagt er,<br />

und mein name ist martin. wie einfallslos, denkt sie,<br />

alles an<strong>der</strong>e ist so sorgsam ausgedacht und dann das:<br />

martin. <strong>die</strong> enttäuschung muss in ihrem gesicht lesbar<br />

gewesen sein, denn martin sagt, was, gefällt ihnen <strong>der</strong><br />

name nicht. das ist es nicht, nur. nur was, fragt er, sie<br />

können mich auch albert nennen, o<strong>der</strong> ludwig, wenn<br />

ihnen das lieber ist. nein, sie schüttelt den kopf, nicht<br />

ludwig, nicht albert, keinesfalls.


es geht auf mittag zu, als frau doktor albertin, <strong>die</strong> für<br />

julius zuständige ärztin, zu rosette und eno in den garten<br />

des sanatoriums tritt. es ist so, sagt sie, julius geht<br />

es gut, er braucht nur noch etwas zeit, ich habe eben<br />

mit ihm gesprochen, und wir haben vereinbart, dass<br />

er spätestens in einer halben stunde aus seinem zimmer<br />

kommt. eine halbe stunde, wie<strong>der</strong>holt sie und fügt<br />

an, das sind dreißig minuten, dreißig minuten genau.<br />

ist das alles, was sie ausrichten können, sagt rosette,<br />

wir wissen, wie viele minuten eine halbe stunde hat,<br />

besten dank. herr doktor ludwig hat gesagt, beginnt<br />

<strong>die</strong> junge ärztin verunsichert, spricht jedoch nicht<br />

zu ende. eno hat rosette eine hand auf den arm gelegt,<br />

entschuldigen sie, sagt er zur ärztin, wir warten<br />

natürlich, danke für ihre bemühungen. bemühungen,<br />

bemühungen, sagt rosette, als <strong>die</strong> junge frau wie<strong>der</strong><br />

im klinikgebäude verschwunden ist, ihre ganzen bemühungen<br />

helfen auch nicht viel weiter. in einer halben<br />

stunde ist es schon fast mittag, wir müssen im<br />

restaurant anrufen und <strong>die</strong> reservation absagen. das<br />

machen wir, sagt eno, und dann essen wir an<strong>der</strong>swo,<br />

es gibt auch noch an<strong>der</strong>e restaurants als das oben auf<br />

dem berg.<br />

martin ist gut, sagt sie, martin ist bestens. dann duzen<br />

wir uns nun, bietet er an. ich finde das sie eigentlich<br />

ganz apart, sagt sie, wenn es sie nicht stört. nein,<br />

keineswegs, sagt er und geht nahtlos über zu, wissen<br />

sie, was mich fasziniert, mich faszinieren namen, <strong>die</strong><br />

es im an<strong>der</strong>en geschlecht nicht gibt. warum gibt es


martin und martina, albert und alberta, ja fabian und<br />

fabienne, aber nicht rosette und rosetto. o<strong>der</strong> hannah<br />

und hannoh. es gibt gabriel und gabriela, julius und<br />

julia, doch was ist das männliche pendant zu zita, <strong>die</strong><br />

weibliche entsprechung von ludwig, warum gibt es sie<br />

nicht. lassen sie uns das thema wechseln, sagt rosette,<br />

bitte. warum, langweile ich sie, fragt martin, nimmt <strong>die</strong><br />

einzelne gabel zur hand, <strong>die</strong> <strong>der</strong> kellner ihnen gebracht<br />

hat, sticht ein stück kuchen ab und isst. ich wun<strong>der</strong>e<br />

mich ja bloß, sagt er mit vollem mund, nehmen sie zum<br />

beispiel zita, es gibt keinen zito. zita, sagt sie, woher<br />

kommt ihre fixation auf zita. kaiserin zita von österreich,<br />

sagt er, sticht erneut vom kuchen ab und hält ihr<br />

<strong>die</strong> gabel über den tisch hinweg hin, das schloss hat<br />

einmal louise von bourbon-parma gehört, ihr ist <strong>der</strong><br />

englische park zu verdanken, und zita war ihre enkelin<br />

und hat nach dem ende <strong>der</strong> österreichisch-ungarischen<br />

monarchie einige monate hier mit ihren kin<strong>der</strong>n<br />

im exil gelebt. was sie nicht alles wissen, sagt sie und<br />

öffnet den mund. <strong>der</strong> kuchen schmilzt auf ihrer zunge,<br />

ohne dass sie zu beißen braucht, selbst <strong>die</strong> pinienkerne<br />

zerfallen beim feinsten druck gegen den gaumen.<br />

das steht in <strong>der</strong> berühmten aufenthaltsbroschüre, sagt<br />

er und zuckt mit den schultern, man muss sie bloß lesen.<br />

ach, sagt sie, war ihnen ihr buch nicht spannend<br />

genug. von wegen, sagt er, das leben bietet momentan<br />

alle spannung, <strong>die</strong> ich mir wünschen kann.<br />

es ist, sagt rosette nach einem weiteren blick auf <strong>die</strong><br />

uhr zu eno, als seien wir kin<strong>der</strong> und warteten auf das


christkind, auf den osterhasen: ich glaube, damals<br />

war ich zuletzt so angespannt, so angewiesen auf<br />

spannung im leben. und wahrscheinlich, fügt sie matt<br />

hinzu, ist <strong>die</strong> hoffnung, dass julius in vier minuten tatsächlich<br />

auftaucht, ebenso bloßes wunschdenken,<br />

wie es damals <strong>die</strong> sichtung von christkind und osterhase<br />

war. doch als julius aus dem klinikgebäude in den<br />

garten tritt, zeigt ein verstohlener kontrollblick: eine<br />

halbe stunde sind dreißig minuten sind: julius ist da.<br />

eno steht auf und reicht julius <strong>die</strong> hand: <strong>der</strong> sohn will<br />

nicht umarmt werden. schön, dich zu sehen, sagt eno.<br />

auch rosette streckt <strong>die</strong> hand aus. sie fragt, was machen<br />

wir jetzt, für eine wan<strong>der</strong>ung auf den berg ist es<br />

zu spät und ich will nicht hier, das sanatorium wi<strong>der</strong>t<br />

mich an, entschuldigt, ich muss hier raus. sie gehen<br />

los, ohne sich entschieden zu haben. das sanatorium<br />

liegt mitten in dem kleinen ort, oberhalb des bahnhofs<br />

und mit blick auf den see. es ist kurz vor mittag<br />

und <strong>die</strong> straßen, über denen <strong>die</strong> frühe sommerluft<br />

heiß flirrt, sind leer. aus den großen gärten, in denen<br />

<strong>die</strong> villen zurückversetzt und hinter sträuchern und<br />

bäumen versteckt nicht sichtbar sind, ist kaum ein<br />

geräusch zu hören. nicht einmal vögel, denkt rosette,<br />

als sie einige schritte hinter eno und julius hergeht,<br />

nicht einmal vögel gibt es hier, alles ist tot. nur bewässerungsanlagen<br />

versprühen still feuchtigkeit, und<br />

ein schwacher luftzug bewegt ein <strong>wind</strong>spiel irgendwo.<br />

ihr fallen <strong>die</strong> vielen nadelbäume auf, <strong>die</strong> zwischen<br />

abscheulichen, lila und süß rot blühenden rho do dendren<br />

in den gärten stehen. <strong>die</strong> bäume sind riesig, und


es sind nicht einfache tannen o<strong>der</strong> fichten, <strong>die</strong> würde<br />

sie sofort erkennen. sie fragt sich, woher <strong>die</strong>se örtliche<br />

häufung an nadelbäumen kommt, ob es eine zeit<br />

gab, in <strong>der</strong> es bei leuten <strong>die</strong>ser gehaltsklasse hip war,<br />

seltsame nadelbäume im garten zu haben: eine neue<br />

form <strong>der</strong> pteridomanie, wie zu zeiten königin victorias.<br />

ob nun statussymbol o<strong>der</strong> nicht, vor allem sind<br />

<strong>die</strong> gärten hässlich: akkurat gestutzter, steriler englischer<br />

rasen zwischen den allgegenwärtigen rhododendren;<br />

kleine teiche mit gelben seerosen und orangen<br />

goldfischen und fröschen und enten aus glasiertem ton<br />

am ufer; steinwüsten, in denen das einzige anzeichen<br />

von leben formgeschnittene buchs- und eibenbäume<br />

sind. <strong>die</strong> einsicht, dass ein übermaß an geld scheinbar<br />

nicht mit dem vorhandensein von gutem geschmack<br />

korreliert, bringt rosette an <strong>die</strong>sem samstagmorgen<br />

einiges an befriedigung. und wahrscheinlich sehen <strong>die</strong><br />

riesigen häuser innen genauso stillos aus, sind genauso<br />

tot. nicht einmal vögel, denkt sie wie<strong>der</strong>, nur das<br />

wasser <strong>der</strong> springbrunnen in den teichen plätschert<br />

und <strong>die</strong> rasenmäherroboter robotern weiter, als gäbe<br />

es nichts, als gäbe es nie.<br />

als rosette am samstagmorgen aufwacht, ist sie allein.<br />

sie streckt <strong>die</strong> hand unter <strong>der</strong> decke aus, das bett<br />

ist auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en seite noch warm, das kopfkissen<br />

riecht nach salbei und harz und rauch und muskat. und<br />

fremdem schweiß. sie bleibt noch einen augenblick liegen,<br />

ausgeschlafen, müde, zufrieden, irgendwie leicht<br />

und schwer zugleich. <strong>der</strong> blick aus dem fenster geht


auf einen klaren, kalten winterhimmel. <strong>der</strong> <strong>wind</strong> treibt<br />

<strong>die</strong> weißen wolken zügig über das blau, und das flache<br />

sonnenlicht verfängt sich in den laublosen kronen<br />

<strong>der</strong> mächtigen bäume. dass es so etwas gibt. sie<br />

schlägt <strong>die</strong> decke zurück und geht ins bad. auf dem<br />

boden liegen noch <strong>die</strong> feuchten handtücher von gestern:<br />

das zimmer verfügt über direkten zugang zum<br />

türkisen bad, das zusammen mit <strong>der</strong> sauna zwischen<br />

18 und 24 uhr ihnen allein gehört. rosette lässt sie<br />

für den zimmerservice liegen und steigt in <strong>die</strong><br />

dusche.<br />

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