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MIXOLOGY ISSUE #116 - DIE KIRSCHE, BITTE!

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NEUE BARS<br />

AUF <strong>DIE</strong><br />

ZUSAMMENARBEIT<br />

Chloé Merz hat ihr erstes Barprojekt realisiert:<br />

Ende Juni startete das Soft Opening<br />

der »Collab Bar« in Hamburg. Gemeinsam<br />

mit André Lembcke hat Merz eine anspruchsvolle<br />

Neighborhood Bar im ruhigeren<br />

Teil von St. Pauli eröffnet. Im Zentrum<br />

der Aufmerksamkeit stehen unter anderem<br />

Drinks mit wenig oder ohne Alkohol. Und<br />

auch der Name der Bar ist Programm.<br />

Die Bar im »Collab« wurde entworfen vom<br />

Designbüro »Hidden Fortress«<br />

Fotos: Georges Pauly<br />

16


Text Nils Wrage<br />

»Ich nenne mich jetzt nach den ersten Tagen<br />

einfach mal ›Barback‹ des Jahres«, schmunzelt<br />

André Lembcke. In der Tat hat sich der<br />

45-Jährige auf neues berufliches Terrain begeben.<br />

Und als Barback steigt man eben meistens<br />

ein in den Bar-Beruf. Wobei die Nähe<br />

freilich schon lange gegeben ist: Seit 2019 ist<br />

er Mitgeschäftsführer des neu belebten Hamburger<br />

Import- und Vertriebshauses »Charles<br />

Hosie« und kann auch sonst auf eine sozusagen<br />

»spirituelle« Vergangenheit zurückblicken.<br />

In über 20 Jahren Berufsleben ist Lembcke zu<br />

einem großen Teil in der Spirituosenbranche<br />

heimisch gewesen – vornehmlich in den Bereichen<br />

Sales und Marketing. Aber: Wirklich in<br />

der Gastronomie hat er nie gearbeitet. Seit Juni<br />

2023 hat er eine eigene Bar.<br />

»Ich kann aktuell gar nicht einschätzen, ob ich<br />

künftig noch mal aktiv als Bartenderin arbeiten<br />

werde.« Diesen Satz sagte Chloé Merz in<br />

einem Gespräch vor rund zweieinhalb Jahren.<br />

Vornehmlich die Entwicklungen rund um die<br />

Pandemie hatten zur Neu-Orientierung beigetragen.<br />

Dabei war die Schweizerin mit amerikanischen<br />

Wurzeln in den Jahren zuvor einer<br />

der Shooting Stars der deutschsprachigen Szene<br />

gewesen: Sie gewann 2017 als erste Frau und<br />

erste:r Schweizer Teilnehmer:in überhaupt die<br />

Made in GSA Competition, im gleichen Jahr<br />

folgte der Mixology Bar Award als »Newcomerin<br />

des Jahres«. Fortan war Merz allgegenwärtig<br />

in der Szene, prägte als Bartenderin<br />

unter anderem die Wege der beiden damals<br />

noch jungen und heute höchst einflussreichen<br />

Bars Angels’ Share (Basel) und One Trick<br />

Pony (Freiburg) mit. Letztes Jahr war sie gar<br />

als Rednerin bei den Tales Of The Cocktail in<br />

New Orleans zu Gast. Doch die Einwirkungen<br />

von Corona-Lockdowns in Paarung mit einem<br />

Umzug nach Hamburg trieben Merz dazu, die<br />

beruflichen Grenzen neu auszuloten. Sie ist<br />

Mitentwicklerin und Mitbesitzerin des alkoholfreien<br />

Produkts »kiukiu«, überdies gründete<br />

sie zusammen mit Anne Linden die Plattform<br />

»ice&tasty«. Die Wege führten also eher<br />

in andere Bereiche, ins Kreative, zu Design,<br />

Fotografie, Entwicklung und auch Beratung.<br />

Seit Juni 2023 hat sie eine eigene Bar.<br />

Eine Bar, zwei Personen,<br />

eine Zusammenarbeit<br />

Diese beiden eigenen Bars sind natürlich in<br />

Wirklichkeit ein und dieselbe Bar. Doch man<br />

muss mit den unterschiedlichen Werdegängen<br />

von Merz und Lembcke anfangen, wenn man<br />

diese Bar beschreiben will. Allein schon, weil<br />

dann der erste Aspekt des Namens besser verständlich<br />

ist – Collab Bar. Denn hier kommen<br />

zwei Menschen mit einem Projekt um die<br />

Ecke, die ganz unterschiedliche Herkünfte und<br />

Erfahrungen mitbringen, um ihr jeweils erstes<br />

eigenes gastronomisches Projekt zu realisieren.<br />

»Es begann aber tatsächlich als klassische<br />

Schnapsidee«, blickt Chloé Merz heute zurück,<br />

während sie vor dem kleinen, hellen Tresen<br />

im Souterrain der Collab Bar steht. »Irgendwann<br />

sagte André zu mir: ›Sag mal, wir sollten<br />

eigentlich zusammen eine Bar aufmachen.‹«<br />

Analog zum hemingwayschen Diktum, dass<br />

man das betrunken Geschriebene am Folgetag<br />

nüchtern auf seine Qualität überprüfen müsse,<br />

kamen mit der Zeit Leben und Ernsthaftigkeit<br />

in die Idee, wie Lembcke erzählt: »Irgendwann<br />

hat sich abgezeichnet, dass wir darauf wirklich<br />

Lust haben. Ich habe dann mehr oder weniger<br />

›klassisch‹ angefangen, nach Locations zu<br />

suchen, wie man das heute so macht: also per<br />

Kleinanzeigen.«<br />

Collab statt Craft Beer<br />

Fündig wurden beide schließlich in der Hein-<br />

Hoyer-Straße auf St. Pauli. »Das war dann<br />

auch ein Glücksfall. Hier war vorher eine<br />

Craft-Beer-Kneipe, also so eine richtige Craft-<br />

Beer-Bar mit acht Zapfhähnen und super aufwendiger<br />

Kühltechnik«, berichtet Lembcke.<br />

»Der Familie der damaligen Betreiberin gehört<br />

das Haus auch. So ist unsere Vorbetreiberin<br />

nun unsere Vermieterin, und sogar eine ganz<br />

tolle und hilfreiche.« Mit dem Objekt und der<br />

Lage dürfen Merz und Lembcke hochzufrieden<br />

sein. Die Größe bietet gute Voraussetzungen<br />

für eine Bar mit Anspruch, ist aber mit rund<br />

40 Sitzplätzen nicht zu klein. Und die Lage im<br />

nordwestlichen Teil von St. Pauli bietet exakt<br />

jene nötige Distanz, um nicht mittendrin im<br />

Reeperbahn-Gebretter zu sein, aber dennoch in<br />

Laufweite des berühmten nächtlichen Surrens<br />

dieses Stadtteils. Und auch barkulturell befindet<br />

man sich in bester lokaler Gesellschaft: Mit<br />

dem Pelican, dem The Standard, der Walrus<br />

Bar und der Institution The Rabbithole<br />

liegt gleich ein ganzes Bündel weiterer guter<br />

Trinkstätten jeweils nur ein paar Minuten<br />

Fußweg entfernt. Ein anständiger Pub Crawl<br />

im Viertel wird also immer vielfältiger.<br />

Die Räume wurden komplett entkernt – »nur<br />

der Fußboden ist geblieben«, wie Lembcke<br />

anmerkt – und neu gestaltet. Angesichts von<br />

Formensprache und Farbkonzept lässt sich<br />

eine klare Chloé-Merz-Handschrift erkennen:<br />

Es dominieren helle, pastellige Noten sowie<br />

schlichte, minimalistische Holzelemente und<br />

sehr prägnante, klare Linien und Farbflächen,<br />

beinahe könnte man von grafischer Einrichtung<br />

sprechen – optische Verweise und Ähnlichkeiten<br />

zur Stilistik von Merz’ erwähntem<br />

Projekt ice&tasty inklusive. Der ebenso helle,<br />

kleine Tresen wiederum ist das Werk alter<br />

Bekannter: Das hoch funktionale Element<br />

stammt aus der Berliner Interior-Schmiede<br />

Hidden Fortress, die sich durch die Gestaltung<br />

anderer progressiver Bars – wie etwa das<br />

Berliner Buck & Breck, das Kink oder das<br />

The Tiny Cup in Frankfurt – längst einen Namen<br />

gemacht hat.<br />

Noch eine Heimkehrerin<br />

Hinter dem Tresen steht außerdem direkt seit<br />

dem ersten Tag eine zweite prominente Hamburger<br />

Bar-Heimkehrerin: Frederike »Fredi«<br />

Behrens, bis vor Kurzem noch Teil der Crew<br />

im jüngst geschlossenen Münchner Ménage,<br />

hat es nach vier Jahren an der Isar zurück in<br />

ihre norddeutsche Heimat gezogen. Gemeinsam<br />

mit Merz hat Behrens die Eröffnungskarte<br />

entwickelt und trägt auch die hauptsächliche<br />

Verantwortung fürs Tagesgeschäft. Das Menü,<br />

das Behrens und Merz entworfen haben, legt<br />

einen klaren Fokus auf einen bewussten Alko-<br />

17


AUF EIN GLAS MIT …<br />

»RISIKO?<br />

NEIN!«<br />

20


Indika Silva betreibt mit<br />

seinem »Toddy Tapper«<br />

eine der eigenständigsten,<br />

profilschärfsten Bars in<br />

Deutschland. Im Zentrum<br />

seiner Arbeit steht Arrak,<br />

die Spirituose seiner Heimat.<br />

Doch in seiner Bar<br />

geht es nicht um Folklore,<br />

sondern um eine gleichsam<br />

ernsthafte und spielerische<br />

Auseinandersetzung mit<br />

Aromen. Ein Tischgespräch<br />

über Schnaps und Zukunft.<br />

Interview Philipp Gaux<br />

Fotos Paul Pelzer<br />

Es ist Dienstag und ich bin in Köln, der Cocktailmetropole<br />

am Rhein. Verabredet mit Indika<br />

Silva, den ich aus meiner Zeit in dieser Stadt<br />

noch gut kenne. Vielfach ausgezeichnet, seit<br />

knapp 20 Jahren mit festem Fuß in der Branche<br />

und über die Grenzen Deutschlands hinaus<br />

bekannt, ist Silva Wegbegründer und einer der<br />

ganz Großen der Szene. Ich freue mich auf unser<br />

Gespräch.<br />

Mixology: Lieber Indika, seit Jahren arbeitest<br />

du mit großem Erfolg in der Kölner Barszene.<br />

Gebürtig kommst du aus Sri Lanka. Was hat<br />

dich damals nach Deutschland verschlagen<br />

und wie ist es dir zu Anfang ergangen?<br />

Indika Silva: Als ich 1998 nach Deutschland<br />

kam, erlebte ich zunächst einen wahren Kulturschock.<br />

»Eine ganz andere Welt«, dachte<br />

ich damals. Sprache, Essen, Wetter, Mentalität.<br />

Eigentlich arbeitete ich in Sri Lanka als Trainer<br />

und Wasserskilehrer und wurde von einem<br />

Tourismus-Unternehmen für Schulungs zwecke<br />

nach Deutschland geschickt. Nach einem Monat<br />

hab’ ich meine Sachen gepackt und bin<br />

wieder abgereist. Zu kalt, das Essen war furchtbar,<br />

kein Lächeln in den Gesichtern der Leute.<br />

Später kam ich der Liebe wegen zurück. Mein<br />

Freundeskreis in Deutschland hat mir später<br />

bei der Integration sehr geholfen. Bis zum<br />

elften Monat konnte ich kein Deutsch, hatte<br />

keinen richtigen Zugang zur Gesellschaft. Ich<br />

habe mich fremd gefühlt.<br />

Wie ging es denn dann nach deiner Ankunft in<br />

Deutschland für dich beruflich weiter?<br />

Wasserski war kein Thema mehr. Mein Schwiegervater<br />

stellte fest, dass ich gut mit Menschen<br />

könne und brachte mich so ein wenig auf die<br />

Idee, in der Gastro zu arbeiten. Damals kannte<br />

ich nur Arrak und hatte von der großen Welt<br />

der Spirituosen nur begrenzte Vorstellungen.<br />

Ich war gerade 30 und habe eine Ausbildung<br />

im Savoy Hotel begonnen. »Sie sind ein wenig<br />

alt für eine Ausbildung«, meinten sie dort damals<br />

nach Eingang meiner Bewerbung (lacht).<br />

Der Job hat mir viel Spaß bereitet und das kam<br />

scheinbar auch schnell rüber. Das Savoy würde<br />

ich rückblickend als meine ersten Schritte<br />

und eine Chance bezeichnen. Hier habe ich<br />

die Basics gelernt. Ich habe die Zeit dort sehr<br />

genossen. Ich muss mich bei Gisela Ragge (die<br />

Inhaberin; Anm. d. Redaktion) bedanken.<br />

Und trotzdem gingst du kurze Zeit später<br />

bereits ins »Spirits« …<br />

Das hing damit zusammen, dass ich mich weiterentwickeln<br />

wollte. Das war so die Zeit, wo<br />

wir in der Bar mit Cuisine Style angefangen<br />

haben, also wieder frische Zutaten wie Minze,<br />

Himbeeren und andere Kräuter zu nutzen. Im<br />

Spirits hatte ich die Freiheiten, die mir im Savoy<br />

ein wenig fehlten. Eine richtige, klassische<br />

Bar, in der ich mich verwirklichen konnte. In<br />

einer Hotelbar wahrt man ja eher die nötige<br />

Distanz zum Gast. Zu dem Zeitpunkt habe ich<br />

auch an vielen Wettbewerben teilgenommen<br />

und zwei Jahre lang Vollgas gegeben.<br />

Warum nur zwei Jahre?<br />

Krankheitsbedingt ging es leider nicht mehr<br />

weiter. Ich habe mir damals eine Schulterverletzung<br />

zugezogen, bekam pro Woche eine<br />

Spritze verabreicht. Ich konnte nicht mal mehr<br />

ein Glas heben. Mein Arzt sagte mir damals:<br />

»Sie können den Beruf so nicht weitermachen.«<br />

Entweder ein halbes Jahr pausieren<br />

oder Operation mit Risiko einer erneuten Entzündung.<br />

Ich musste mir was Neues suchen.<br />

Nach Stationen im »Nada« und im »Shepheard«<br />

dann schlussendlich die eigene Bar.<br />

Warum?<br />

Ich hatte mir im Nada meine eigene Handschrift<br />

entwickelt, habe eng mit den dortigen<br />

Köchen zusammengearbeitet. Ich wollte all<br />

das, was ich während der verschiedenen Stationen<br />

erlernt hatte, komprimiert in meiner<br />

eigenen Bar umsetzen. Ich habe mir dann bestimmt<br />

50 Läden angeschaut und die Wahl fiel<br />

aufs Agnesviertel. Das Publikum kannte mich<br />

bereits, das war ein Vorteil. Bis 2022 hatte ich<br />

nicht einmal Werbung an der Außenfassade.<br />

Die Gäste sahen das Toddy Tapper von Anfang<br />

an als ihr Wohnzimmer an.<br />

Neben dem Toddy Tapper betreibst du seit 2019<br />

die »Toddy Tapper Cocktail Company« und<br />

seit 2022 die »Cocktail Boutique«, in der du<br />

selbst hergestellte Bottled Cocktails verkaufst.<br />

Wie ist diese Idee entstanden?<br />

Die Idee kam mir damals während des Havana-<br />

Club-Global-Finals auf Kuba. Der Drink war<br />

damals für kubanische Feldarbeiter, die sogenannten<br />

Macheteros, gedacht. Damit sie die<br />

während der Arbeit nötige Energie, Vitamine<br />

und Mineralien bekommen konnten. Sie sollten<br />

immer ihre eigene fertig »gemixte« Flasche<br />

dabeihaben. So was wollte ich auch unseren<br />

Gästen anbieten. Wir produzieren in unserem<br />

Ladengeschäft bestimmte Drinks von der<br />

Karte, aber auch spezielle Abfüllungen, die es<br />

nicht in der Bar gibt. Ich war mir lange Zeit<br />

sicher, dass die Leute vielleicht noch nicht<br />

ganz bereit für Bottled Cocktails seien, und<br />

dann kam plötzlich Corona. Unsere nur ein<br />

Jahr zuvor entstandene Idee war das Glück im<br />

Unglück. Wir hatten lange Schlangen für den<br />

Verkauf von Bottled Cocktails, das war eine<br />

willkommene Einnahmequelle. Wir verkaufen<br />

mittlerweile auch an andere Gastronomen. Da<br />

sehe ich ein großes Potenzial. Über das Geschäft<br />

haben wir eine zusätzliche Sichtbarkeit,<br />

die mehr Kunden anlockt.<br />

Worin siehst du genau das Potenzial?<br />

Es gibt in Deutschland viele Gastronomen und<br />

große Franchisenehmer. Die müssen mit der<br />

Zeit gehen und das anbieten, was es andernorts<br />

auch gibt, um konkurrenzfähig zu bleiben.<br />

Oftmals hat aber gerade die derartige Systemgastronomie<br />

einen extremen Durchlauf an Personal,<br />

große Probleme mit Fachkräftemangel.<br />

Da ist nicht die Zeit für Ausbildung, da werden<br />

keine Bartender geboren. Mit unseren Bottled<br />

Cocktails haben wir eine zukunftsfähige Nische<br />

gefunden, eben diesem Geschäftszweig<br />

auch ein qualitativ-hochwertiges Produkt anzubieten,<br />

das er ohne große zusätzliche Kosten<br />

seinerseits gewinnbringend vermarkten kann.<br />

Wir sind im Grunde Problemlöser.<br />

21


STADTGESCHICHTEN<br />

IM<br />

WESTEN<br />

Die »Blaue<br />

Brigitte«<br />

mag es auch<br />

golden<br />

32


WAS<br />

NEUES<br />

Text Stefan Adrian<br />

Foto: Hotel Weisses Kreuz<br />

In der touristischen Hochburg<br />

Innsbruck gibt es traditionell eine<br />

hohe Dichte an Gastronomie. Was<br />

bedeutet das für die Barkultur?<br />

Ganz einfach: In der Tiroler<br />

Landeshauptstadt trinkt man<br />

mittlerweile auf Weltklasseniveau.<br />

Man muss nur wissen, wo.<br />

33


42<br />

SPIRITUOSE


Text Roland Graf<br />

Illustrationen: Editienne<br />

Rum und<br />

Kehre<br />

Kann eine<br />

Spirituose auch zu<br />

seriös werden?<br />

Seit Rum im Tumbler und<br />

mit Jahrgangsangaben<br />

auftritt, hat der ungelagerte<br />

Zuckerrohr-Brand<br />

Sendepause. Dafür<br />

schminkt man ihn mit Zucker,<br />

Aromaten und Fasshölzern.<br />

Wir bitten zur<br />

Demaskierung!<br />

Transparenz und Rum verhalten sich zueinander<br />

ungefähr so wertschätzend wie die spanische<br />

Marine und Korsaren des 17. Jahrhunderts.<br />

Den typischen Beleg dafür kennt jeder,<br />

der beratend am Tresen tätig ist: Nein, ein noch<br />

so fetter »20er« auf einer Buddel voll Rum<br />

stellt nicht die Altersangabe dar. Der Hinweis<br />

»Solera« wiederum, oft in Schriftgrößen knapp<br />

oberhalb der menschlichen Wahrnehmungsschwelle<br />

gedruckt, muss vom Gast erst verstanden<br />

werden. Nicht einmal von Herkunftsländern<br />

liest man bei so manchem »Rum-Blend«<br />

etwas. Doch der Rum, karibisch und sinnenfroh<br />

wie nur was, kommt damit durch. Auch,<br />

wenn man sich in Zeiten ultralokaler Einkaufsgewohnheiten<br />

der Konsumenten und Zero-Kilometer-Sourcing<br />

in der Gastronomie schon<br />

einmal wundert über diese Haltung.<br />

Dass eine Vielzahl der nicht selbst destillierenden<br />

Produzenten ihre Blends in Amsterdam<br />

vom Spezialisten E&A Scheer bezieht, ist dabei<br />

nicht das Problem: »We can create any bespoke<br />

Rum blend according to our customers’<br />

specifications«, versprechen die Niederländer,<br />

die Millionen Liter Rum aus 25 Nationen auf<br />

Lager haben. Doch sie verpflichten ihre Kunden<br />

nicht zum Schweigen über die Herkunft.<br />

Trotzdem bleiben viele Hersteller wortkarg,<br />

woher ihr Superior Spirit Drink based on Rum<br />

stammt. Diese Bezeichnung hielt mit der Novelle<br />

der EU-Spirituosenverordnung vor zwei<br />

Jahren Einzug. Und sie steht für eine verpasste<br />

Chance. Denn die Begrenzung des Zuckergehalts<br />

für Rum auf 20 Gramm pro Liter war<br />

ein Paradebeispiel für »gut gemeint«. Statt wie<br />

davor Äpfel mit Birnen zu vergleichen, hat<br />

man noch Lychees dazu gepackt. Denn seit<br />

Mai 2021 heißen maximal trockene Destillate<br />

des britischen Stils ebenso »Rum« wie solche<br />

mit 19 Gramm zugesetztem Zucker. Darüber<br />

beginnt die Welt der gesüßten Rums – und<br />

von 21 bis 99 Gramm ist auch hier ein breites<br />

Zuckerrohrfeld zu bestellen. Denn von der Angabe<br />

der »Dosage« am Etikett sieht man von<br />

Ausnahmen wie z. B. Plantation abgesehen in<br />

der Regel ab.<br />

43


WER<br />

»Die Zukunft des Wermuts hat gerade erst<br />

COCKTAIL<br />

Die Recherche zu dieser Reportage<br />

hat eines klar ans Licht<br />

gebracht: Die Basiskenntnisse<br />

zu dieser so optionspromisken<br />

Spirituosenkategorie<br />

sind noch eher jungfräulich<br />

aufseiten der Gäste und Konsumenten.<br />

Hier für mehr Lust<br />

auf Neues und Unbekanntes<br />

zu sorgen, ist die Herausforderung<br />

für Produzenten, Bartender<br />

und den spezialisierten<br />

Fachhandel. Vielleicht erleben<br />

wir sie doch noch: die Wermutexplosion.<br />

Vor der Kernfusion.<br />

WMEHR<br />

MUT<br />

begonnen«, ruft Theo Ligthart, Betreiber<br />

der kreativen Qualitätsspirituosenschmiede<br />

Freimeisterkollektiv aus. Aha, der ewige<br />

Scheinriese Wermut (engl./franz.: Vermouth),<br />

das nächste, aber mit Sicherheit dieses Jahr<br />

kommende große Ding am Spirituosenmarkt,<br />

startet endlich durch. Es ist ein wenig wie bei<br />

der Kernfusion. So wünschenswert ein Durchbruch<br />

hier wäre, es existiert ein Bonmot: Seit<br />

30 Jahren wird jedes Jahr prophezeit, dass in<br />

30 Jahren die Menschheit technische Sonnen<br />

bauen kann und alle Energiesorgen passé seien.<br />

Aber Halt. Wer hat eigentlich das Axiom<br />

in die Welt gesetzt, dass eine erfolgreiche Entwicklung<br />

immer eruptiv, gar in Gestalt eines<br />

Hypes zu erfolgen habe. Wenn es so eintritt<br />

– in Ordnung. Aber auch eine sukzessive, sich<br />

gegenseitig in stetem Wettbewerb in neue Höhen<br />

schraubende Entwicklung, die zu Qualität<br />

auf einer neuen, höheren Ebene führt, ist eher<br />

die Norm und auch wünschenswert, da sie Disruptionen<br />

vermeidet und bei der Vermittlung<br />

des Endproduktes den Konsumenten und Verbraucher<br />

mitnimmt.<br />

Besonders auf dem GSA-Markt tut sich Erstaunliches.<br />

Waren es vor einigen Jahren noch<br />

wenige Produzenten, die gegen die Dominanz<br />

aus Italien und Frankreich zu Felde zogen,<br />

hat sich die Zahl der Produzenten inzwischen<br />

vervielfacht. Regionalität, Weinfokus, Kräuter-<br />

und Aromenspiel, Zuckerreduktion sind<br />

die Stichwörter. Am Horizont reckt die noch<br />

kleine Szene der Naturwein-Afficionados in<br />

diesem Segment ihr Haupt. Manchmal verschwimmen<br />

die Kriterien, da man teilweise<br />

sein Heil sucht, indem man Wermut wegen seines<br />

Ärmelschoner-Images unter die hippe Aperitivkultur<br />

durch breit gestreutes Marketing<br />

subsumiert. Dabei ist Wermut nicht nur ein<br />

attraktiver Bestandteil der rasant wachsenden<br />

Low-ABV-Bewegung, die einem Kulturwandel<br />

der Generation Z folgt, sondern auch immer<br />

wieder in historischen Rezeptsammlungen zu<br />

finden. Nicht umsonst gibt es sogar die Unterscheidung<br />

in klassische, ältere Rezepturen und<br />

Old Fashioneds, die ihrerseits den Wermut als<br />

Additiv in Cocktails noch nicht kannten. Außerdem<br />

gehört die Produktion und Reifung<br />

von Wermut sicherlich zu den Königsdisziplinen<br />

in der Spirituosenherstellung. Sie ist äußerst<br />

komplex und erfordert viel Erfahrung.<br />

Mehr Mut!<br />

56


MUT<br />

Text Markus Orschiedt<br />

Fotos Jule Felice Frommelt<br />

Drink-Design Dominique M. Krauss<br />

MILANO-TORINO<br />

nach Andi Till, München<br />

4,5 cl Campari<br />

2,5 cl Cocchi Vermouth di Torino<br />

2 cl Del Professore Rosso<br />

GLAS: Nick & Nora<br />

GARNITUR: Zitronenzeste<br />

Alle Zutaten in ein Rührglas geben, mit Eiswürfeln<br />

auffüllen und gründlich kaltrühren. Ins<br />

vorgekühlte Glas abseihen und mit der Zitronenzeste<br />

aromatisieren.<br />

57


ALCHEMIST<br />

IMMER NOCH LUSTIG<br />

64


Die Verwendung von<br />

Säure an der Bar durchläuft<br />

seit über 20 Jahren<br />

eine nie endende Evolution<br />

und Transformation.<br />

Unser Autor geht den<br />

aktuellen Entwicklungen<br />

auf den Grund, gibt<br />

einen Überblick über<br />

die Charakteristika der<br />

wichtigsten Säuren und<br />

lässt mehrere Experten<br />

zu Worte kommen – auch<br />

mit mahnenden Worten.<br />

Text Reinhard Pohorec<br />

Fotos Tim Klöcker<br />

Die Arbeit mit Säurepulvern<br />

sollte immer in geeignetem Umfeld<br />

geschehen<br />

Säure ist wie der kleine Schalk im Glas, der dem<br />

Drinkerlebnis das gewisse Extra verleiht. Sie ist<br />

der kitzelnde Tanzpartner der Süße und der<br />

unverzichtbare Verbündete des Geschmacks.<br />

Wie bei einem knusprig gebackenen Wiener<br />

Schnitzel, verleiht erst die lebendige Frische<br />

von ein paar Spritzern Zitronensaft den letzten<br />

Schliff eines wohlfeilen Cocktails. Ob Limette<br />

oder Zitrone, Pink Grapefruit oder Blutorange,<br />

die feine Säure küsst die Sinne wach, und hebt<br />

jede Kreation auf ein neues Level.<br />

In der Welt der Bar findet sich eine ganze<br />

Bandbreite von Säuren. Dabei reicht die Klaviatur<br />

heute weit über klassische Zitrusfrüchte<br />

und deren Saft hinaus. Verjus, Essig, trockene<br />

Weine oder pulverisierte Säuren gilt es gekonnt<br />

zu kombinieren, um neue Geschmacksexplosionen<br />

zu schaffen. Selbst Ingredienzien wie<br />

Passionsfrucht, Rhabarber oder Sauerampfer<br />

sind in diesem Kontext zu nennen. Jede Säure<br />

hat dabei ihre eigene Persönlichkeit, ihre individuelle<br />

Handschrift, die sie in ein Gericht<br />

oder einen Cocktail einbringt. Sie kann subtile<br />

Nuancen hervorbringen oder einen kräftigen<br />

Kick liefern, je nach Dosierung und Kombination<br />

mit anderen Zutaten.<br />

Bevor man jedoch in einen sauren Rausch<br />

verfällt, gilt es über die Kunst der Balance zu<br />

sprechen. Säure und Süße sind wie Yin und<br />

Yang, wie Bonnie und Clyde, wie Laurel und<br />

Hardy. Sie sind das Traumpaar, das galant im<br />

Gleichschritt umeinander tanzt und perfekt<br />

harmoniert. Ist ein Drink zu saurer, verzieht<br />

es den Verkostern schnell die Gesichtsfalten,<br />

während eine zu süße Kreation plump und klebrig<br />

am Gaumen bleibt. Die Ausgewogenheit<br />

zwischen Säure und Süße sowie den anderen<br />

Geschmäckern bitter, salzig und umami ist der<br />

Schlüssel zu einem köstlichen Genussmoment.<br />

Sauer neu erfunden?<br />

So weit, so bekannt. Nicht umsonst gehören<br />

Limette und Zitrone zum Standardrepertoire<br />

(fast) jeder ernst zu nehmenden Bar. Zumindest<br />

hielt sich dieser Glaubenssatz eisern, seit<br />

im Zuge der Renaissance der Barkultur frische<br />

Zutaten ihren Weg zurück an den Tresen gefunden<br />

hatten. Durch den ständigen Innovationsdrang<br />

der Szene und den Druck des sich<br />

stetig neu Erfindens wurde selbst dieses Dogma<br />

irgendwann überworfen. Mittels säuerlichen<br />

Pulvers aus dem Laborschrank kam die<br />

Frische in den Drink, ohne Heerscharen von<br />

Zitrusfrüchten entsaften zu müssen. Statt verderblicher<br />

Säfte mit schwankender Qualität,<br />

Ausbeute und teils fragwürdiger CO2-Bilanz<br />

fanden Ascorbin-, Wein- oder Phosphorsäure<br />

ihren Weg in geklärte Daiquiris und dekonstruierte<br />

Sours. Mixologen rund um den Globus<br />

spielen seither mit Säure wie Künstler auf einer<br />

Leinwand. Sie kombinieren verschiedene Pulver<br />

zu »falschen« Zitrussäften und Premixes<br />

für in Flaschen abgefüllte Cocktails oder zur<br />

leichteren Handhabe großer Getränkemengen<br />

bei Veranstaltungen. Selbst traditionelle Säfte,<br />

aus frischen Früchten gewonnen, werden im<br />

pH-Wert justiert, um beispielsweise trostlosem<br />

Orangensaft neues Leben einzuhauchen und<br />

gleichzeitig konsistente Ergebnisse im Glas sicherzustellen.<br />

Während innovative Techniken und neue Zutaten<br />

schnell in internationalen Barkreisen<br />

gehypt werden, schaffen es nur wenige dieser<br />

Kuriositäten, sich langfristig im Werkzeugkasten<br />

der Professionisten durchzusetzen oder<br />

gar moderne Klassiker zu begründen.<br />

Für Johannes Möhring haben Säurepulver<br />

ihren rechtmäßigen Platz am Tresen gefunden.<br />

Der für das Drink-Programm in der neuen<br />

Bar Valentin verantwortliche Münchner<br />

mahnt, Vernunft und Vorsicht walten zu lassen,<br />

was den Einsatz und die Dosierung dieser<br />

vermeintlichen Wundermittel anbelangt: »Es<br />

handelt sich hierbei um hochreaktive Pulver,<br />

die in entsprechender Menge durchaus schädlich<br />

für die Schleimhäute sein können. Außerdem<br />

plädiere ich dafür, genau zu überlegen, ob<br />

und warum diese Granulatsäuren eingesetzt<br />

werden sollen. Für mich heißt das: stumpf<br />

den pH-Wert einer Flüssigkeit zu justieren<br />

und einen Drink in ein säuerlicheres Milieu<br />

zu verschieben, ohne explizit zitrische Aromen<br />

beizumengen. Ansonsten würde ich immer auf<br />

das reine Naturprodukt zurückgreifen.« Von<br />

blanken Wässerchen mit spitzer Säure hält<br />

Möhring wenig. Bewährt hätte sich hingegen<br />

der Einsatz eines Trägermaterials, beispielsweise<br />

eines aromatischen Aufgusses, in dem<br />

sich die Pulver charmant einbinden lassen. Als<br />

gewichtige Pluspunkte für den Einsatz solcher<br />

Lösungen nennt der Bar-Unternehmer die längere<br />

Haltbarkeit und den Faktor Wareneinsatz.<br />

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