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Das StadtSalzburgMagazin Ausgabe 2023_2
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Ausgabe 2023_2
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VERZWEIFELTE<br />
FRAUEN, HILFLOSE<br />
MÄNNER<br />
MAREIKE FALLWICKL hat ein Buch über Wut geschrieben.<br />
In einer DRAMATISIERTEN Fassung wird »DIE WUT,<br />
DIE BLEIBT« als Uraufführung bei den SALZBURGER FEST-<br />
SPIELEN zu sehen sein. Ein Gespräch über das Unbehagen der<br />
Gewalt und die Logik der Aufopferung.<br />
≈ Viele Geschichten beginnen oder enden<br />
damit, dass sich ein Mann die Pistole<br />
an den Kopf hält. In Deinem Buch<br />
steht Helene, Mutter von drei Kindern,<br />
beim Abendessen auf, geht zum Balkon<br />
und stürzt sich ohne ein Wort in<br />
den Tod. Hat Dich dieses vermeintliche<br />
Tabu, dass sich eine Frau, eine<br />
Mutter umbringt, gereizt?<br />
In der Rückschau wirkt das ironisch,<br />
aber ich wollte eigentlich etwas Nettes<br />
schreiben. Das Buch war so gut wie fertig,<br />
und dann waren wir wieder im Lockdown.<br />
Es war unklar, wie es weitergeht,<br />
und ich habe fast täglich Nachrichten<br />
von befreundeten Müttern erhalten, in<br />
denen stand: »Ich will nicht mehr. Ich<br />
kann nicht mehr. Ich spring jetzt vom<br />
Balkon.« Im Idealfall ein hypothetischer<br />
Satz, mit dem man Verzweiflung ausdrückt.<br />
Ich war wie elektrisiert und dachte:<br />
Was, wenn das wirklich eine Mutter<br />
macht? Was für eine Geschichte kann<br />
dann entstehen? Also hab´ ich mich im<br />
größten Homeschooling-Wahnsinn mit<br />
dem Laptop an den Küchentisch gesetzt<br />
und die erste Seite geschrieben. Dann<br />
war sofort klar, dass das viel besser wird<br />
als das geplante nette Buch.<br />
≈ Das Buch entstand also aus einer<br />
Blitzidee?<br />
Ja, und aus den Umständen heraus. Dass<br />
es ein Tabu ist, ist mir bewusst. Wir verknüpfen<br />
Mutterschaft und Weiblichkeit so<br />
eng miteinander, dass wir alle das Gefühl<br />
haben: Männer sind gar nicht in der Lage<br />
dazu, Sorgearbeit zu machen. Wir nehmen<br />
das den Männern komplett weg, sind<br />
nachsichtig, wenn ein Mann nicht belastbar<br />
ist. Wenn sich aber Mütter entziehen,<br />
ist das ein Tabu, weil wir erwarten, dass sie<br />
sich weit über die Grenzen aufopfern.<br />
≈ Die Rolle der Mutter übernimmt<br />
nach Helenes Tod erst mal ihre beste<br />
Freundin Sarah. Johannes, der Vater,<br />
entzieht sich seiner Verantwortung.<br />
Es gibt die Szene, in der Johannes auf<br />
die Uhr schaut, während<br />
ein Kinder aufs Gesicht fällt<br />
und sich das andere ankotzt.<br />
Sarah, die sich noch<br />
nie um Kinder gekümmert<br />
hat, bleibt mit den Kindern<br />
allein in der Wohnung, er<br />
geht arbeiten. Man denkt:<br />
Die wird das schon hinkriegen,<br />
weil sie eine Frau ist.<br />
Und er? Er nimmt auch eine<br />
Verantwortung wahr, aber<br />
die schaut halt anders aus.<br />
Er kann nicht gleichzeitig<br />
Erwerbsarbeit und Care-<br />
Arbeit machen. Er wähnt<br />
seine Kinder in guten Händen, weil zwei<br />
Frauen da sind. Es geht darum, welche<br />
Rollen wir den Geschlechtern zuschreiben.<br />
Männer sind nicht die Bösewichte,<br />
sie sind nicht schuld. Sie sind gefangen<br />
im System und in ihrer Hilflosigkeit.<br />
≈ Die Wut löst im Buch eine Gewaltspirale<br />
aus. Auch als Leser wird man wütend<br />
und ertappt sich dabei, Gewalt<br />
gutzuheißen. Wo führt die Wut hin?<br />
Wo endet sie?<br />
Sarah hat nicht verstanden, dass sie<br />
wütend sein darf, weibliche Wut wird<br />
seit Jahrhunderten dämonisiert und<br />
pathologisiert. Helenes Tochter Lola<br />
hingegen ist in Sachen Wut auf Anschlag.<br />
In dem Punkt unterscheiden sie<br />
sich. Wir sind gewöhnt, dass Gewalt von<br />
Männern Richtung Frauen geht. Wenn<br />
es in die andere Richtung läuft, löst das<br />
ein großes Unbehagen aus. Die Fragen,<br />
die das Buch stellt, sind: Ist es logisch,<br />
dass Gewalt Gegengewalt auslöst? Wo<br />
sind die Grenzen? Und ist Wut zwangsweise<br />
destruktiv oder gäbe es auch einen<br />
anderen Weg?<br />
≈ Lola und Sarah unterscheiden sich in<br />
ihrem Umgang mit der Wut. Aber sie<br />
haben auch vieles gemeinsam, oder?<br />
Gut, dass du das sagst, weil ich oft darauf<br />
angesprochen werde, dass das zwei<br />
TEXT MARKUS DEISENBERGER<br />
FOTOS MAREIKE FALLWICKL<br />
Mareike Fallwickl (*1983 in Hallein),<br />
ist eine österreichische Autorin. Nach<br />
dem Studium der Sprachwissenschaft<br />
arbeitete sie als Korrektorin und Texterin,<br />
bevor sie 2012 ihren ersten Roman<br />
veröffentlichte. In ihren Büchern möchte<br />
sie einen entlarvenden Blick auf unsere<br />
Gesellschaft werfen.<br />
»Die Wut, die bleibt« ist ihr vierter<br />
Roman. Sie lebt mit ihrem Mann und<br />
ihren beiden Kindern in Hof bei Salzburg.<br />
so unterschiedliche Generationen sind,<br />
die da aufeinanderprallen. Mag sein,<br />
aber es geht auch viel um Annäherung,<br />
Schwesterlichkeit und Verbundenheit.<br />
Dass die beiden irgendwann einsehen,<br />
dass sie sich viel zu sagen haben und<br />
voneinander lernen können.<br />
≈ Das Buch sorgt, obwohl es schon ein<br />
Jahr alt ist, immer noch für Diskussionen.<br />
Ja, und das freut mich sehr. Es hat bewirkt,<br />
dass Frauen ehrlich zueinandersind<br />
und sich bewusst werden, welche<br />
Last auf ihren Schultern liegt. Dass Räume<br />
aufgehen, Frauen miteinander reden,<br />
sich vernetzen, und die Schuld nicht<br />
mehr bei sich selbst suchen.<br />
Es braucht viel Kapazität, um die eigene<br />
Situation zu analysieren. Wenn du Diskriminierung<br />
erst einmal siehst, kannst du<br />
sie nie wieder nicht sehen.<br />
Vielen Dank für das Gespräch.<br />
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