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VERZWEIFELTE<br />

FRAUEN, HILFLOSE<br />

MÄNNER<br />

MAREIKE FALLWICKL hat ein Buch über Wut geschrieben.<br />

In einer DRAMATISIERTEN Fassung wird »DIE WUT,<br />

DIE BLEIBT« als Uraufführung bei den SALZBURGER FEST-<br />

SPIELEN zu sehen sein. Ein Gespräch über das Unbehagen der<br />

Gewalt und die Logik der Aufopferung.<br />

≈ Viele Geschichten beginnen oder enden<br />

damit, dass sich ein Mann die Pistole<br />

an den Kopf hält. In Deinem Buch<br />

steht Helene, Mutter von drei Kindern,<br />

beim Abendessen auf, geht zum Balkon<br />

und stürzt sich ohne ein Wort in<br />

den Tod. Hat Dich dieses vermeintliche<br />

Tabu, dass sich eine Frau, eine<br />

Mutter umbringt, gereizt?<br />

In der Rückschau wirkt das ironisch,<br />

aber ich wollte eigentlich etwas Nettes<br />

schreiben. Das Buch war so gut wie fertig,<br />

und dann waren wir wieder im Lockdown.<br />

Es war unklar, wie es weitergeht,<br />

und ich habe fast täglich Nachrichten<br />

von befreundeten Müttern erhalten, in<br />

denen stand: »Ich will nicht mehr. Ich<br />

kann nicht mehr. Ich spring jetzt vom<br />

Balkon.« Im Idealfall ein hypothetischer<br />

Satz, mit dem man Verzweiflung ausdrückt.<br />

Ich war wie elektrisiert und dachte:<br />

Was, wenn das wirklich eine Mutter<br />

macht? Was für eine Geschichte kann<br />

dann entstehen? Also hab´ ich mich im<br />

größten Homeschooling-Wahnsinn mit<br />

dem Laptop an den Küchentisch gesetzt<br />

und die erste Seite geschrieben. Dann<br />

war sofort klar, dass das viel besser wird<br />

als das geplante nette Buch.<br />

≈ Das Buch entstand also aus einer<br />

Blitzidee?<br />

Ja, und aus den Umständen heraus. Dass<br />

es ein Tabu ist, ist mir bewusst. Wir verknüpfen<br />

Mutterschaft und Weiblichkeit so<br />

eng miteinander, dass wir alle das Gefühl<br />

haben: Männer sind gar nicht in der Lage<br />

dazu, Sorgearbeit zu machen. Wir nehmen<br />

das den Männern komplett weg, sind<br />

nachsichtig, wenn ein Mann nicht belastbar<br />

ist. Wenn sich aber Mütter entziehen,<br />

ist das ein Tabu, weil wir erwarten, dass sie<br />

sich weit über die Grenzen aufopfern.<br />

≈ Die Rolle der Mutter übernimmt<br />

nach Helenes Tod erst mal ihre beste<br />

Freundin Sarah. Johannes, der Vater,<br />

entzieht sich seiner Verantwortung.<br />

Es gibt die Szene, in der Johannes auf<br />

die Uhr schaut, während<br />

ein Kinder aufs Gesicht fällt<br />

und sich das andere ankotzt.<br />

Sarah, die sich noch<br />

nie um Kinder gekümmert<br />

hat, bleibt mit den Kindern<br />

allein in der Wohnung, er<br />

geht arbeiten. Man denkt:<br />

Die wird das schon hinkriegen,<br />

weil sie eine Frau ist.<br />

Und er? Er nimmt auch eine<br />

Verantwortung wahr, aber<br />

die schaut halt anders aus.<br />

Er kann nicht gleichzeitig<br />

Erwerbsarbeit und Care-<br />

Arbeit machen. Er wähnt<br />

seine Kinder in guten Händen, weil zwei<br />

Frauen da sind. Es geht darum, welche<br />

Rollen wir den Geschlechtern zuschreiben.<br />

Männer sind nicht die Bösewichte,<br />

sie sind nicht schuld. Sie sind gefangen<br />

im System und in ihrer Hilflosigkeit.<br />

≈ Die Wut löst im Buch eine Gewaltspirale<br />

aus. Auch als Leser wird man wütend<br />

und ertappt sich dabei, Gewalt<br />

gutzuheißen. Wo führt die Wut hin?<br />

Wo endet sie?<br />

Sarah hat nicht verstanden, dass sie<br />

wütend sein darf, weibliche Wut wird<br />

seit Jahrhunderten dämonisiert und<br />

pathologisiert. Helenes Tochter Lola<br />

hingegen ist in Sachen Wut auf Anschlag.<br />

In dem Punkt unterscheiden sie<br />

sich. Wir sind gewöhnt, dass Gewalt von<br />

Männern Richtung Frauen geht. Wenn<br />

es in die andere Richtung läuft, löst das<br />

ein großes Unbehagen aus. Die Fragen,<br />

die das Buch stellt, sind: Ist es logisch,<br />

dass Gewalt Gegengewalt auslöst? Wo<br />

sind die Grenzen? Und ist Wut zwangsweise<br />

destruktiv oder gäbe es auch einen<br />

anderen Weg?<br />

≈ Lola und Sarah unterscheiden sich in<br />

ihrem Umgang mit der Wut. Aber sie<br />

haben auch vieles gemeinsam, oder?<br />

Gut, dass du das sagst, weil ich oft darauf<br />

angesprochen werde, dass das zwei<br />

TEXT MARKUS DEISENBERGER<br />

FOTOS MAREIKE FALLWICKL<br />

Mareike Fallwickl (*1983 in Hallein),<br />

ist eine österreichische Autorin. Nach<br />

dem Studium der Sprachwissenschaft<br />

arbeitete sie als Korrektorin und Texterin,<br />

bevor sie 2012 ihren ersten Roman<br />

veröffentlichte. In ihren Büchern möchte<br />

sie einen entlarvenden Blick auf unsere<br />

Gesellschaft werfen.<br />

»Die Wut, die bleibt« ist ihr vierter<br />

Roman. Sie lebt mit ihrem Mann und<br />

ihren beiden Kindern in Hof bei Salzburg.<br />

so unterschiedliche Generationen sind,<br />

die da aufeinanderprallen. Mag sein,<br />

aber es geht auch viel um Annäherung,<br />

Schwesterlichkeit und Verbundenheit.<br />

Dass die beiden irgendwann einsehen,<br />

dass sie sich viel zu sagen haben und<br />

voneinander lernen können.<br />

≈ Das Buch sorgt, obwohl es schon ein<br />

Jahr alt ist, immer noch für Diskussionen.<br />

Ja, und das freut mich sehr. Es hat bewirkt,<br />

dass Frauen ehrlich zueinandersind<br />

und sich bewusst werden, welche<br />

Last auf ihren Schultern liegt. Dass Räume<br />

aufgehen, Frauen miteinander reden,<br />

sich vernetzen, und die Schuld nicht<br />

mehr bei sich selbst suchen.<br />

Es braucht viel Kapazität, um die eigene<br />

Situation zu analysieren. Wenn du Diskriminierung<br />

erst einmal siehst, kannst du<br />

sie nie wieder nicht sehen.<br />

Vielen Dank für das Gespräch.<br />

30 interview_festspiele

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