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SWE Magazin Ausgabe 02_2023 Sommer

Das Magazin der Stadtwerke Erfurt für Kunden und Erfurter mit vielen Geschichten aus und über Erfurt, Informationen zu den Produkten und Dienstleistungen der Stadtwerke, Porträts, Erfurttipps

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Von Michael Nitschke (Text)<br />

und EVAG (Fotos), Ute Martens (Illustration)<br />

V<br />

or 141 Jahren, in der Mitte des Jahres 1882,<br />

schrieb der Magistrat der Stadt Erfurt die Konzession<br />

für eine Pferdebahn öffentlich aus. Grund<br />

war nicht, wie oft geschrieben, eine Verbesserung<br />

der verkehrlichen Situation in der Stadt, sondern<br />

der Umstand, dass die meisten Pferde- und Dampfbahnen jener<br />

Zeit Gewinne abwarfen, die zu entsprechenden Gewerbesteuereinnahmen<br />

führten. Ohnehin konnten sich zu der Zeit die<br />

meisten Arbeiter eine tägliche Fahrt mit solchen Verkehrsmitteln<br />

nicht leisten, sie blieben der besser betuchten bürgerlichen<br />

Klientel vorbehalten. Allenfalls Ausflugsziele führten an den<br />

Wochenenden und Feiertagen zu breiterer Nutzung. Dies findet<br />

sich auch in den zunächst realisierten Erfurter Linien wieder:<br />

Ilversgehofen (Johannesfeld – die Verlängerung zum Nordbahnhof<br />

erfolgte später) – Anger – Flora, Hirschgarten - Schützenhaus<br />

und Bahnhof – Andreastor.<br />

Arnstädter Straße um 1890 mit<br />

Doppelbespannung<br />

Noch ein zweiter Aspekt spielte eine Rolle. Jede aufstrebende<br />

Stadt wollte eine Infrastruktur vorweisen, die Modernität ausstrahlte<br />

und werbend auf Industrieansiedlung und Zuzug von<br />

Einwohnern wirkte. Hat nicht immer funktioniert, aber in Erfurt<br />

schon.<br />

Der Gewinner der Ausschreibung war die Berliner Eisenbahnund<br />

Straßenbaufirma Marcks & Balke, die am 29.11.1882 mit<br />

der Stadt den Vertrag über den Bau und den Betrieb der Pferdebahn<br />

abschloss und unverzüglich mit den Vermessungs- und<br />

Bauarbeiten begann. Man stelle sich das heute vor: Baurecht<br />

schaffen, Bauunterlagen genehmigen lassen, Anwohner einbinden,<br />

Gerichtsentscheide abwarten, Baumaterial ordern –<br />

dauert Jahre ... Zugleich erfolgte eine Pflasterung der betreffenden<br />

Straßen, soweit dies noch nicht erfolgt war.<br />

Drei Dinge waren parallel zu den Arbeiten zu klären. Zum<br />

einen musste die damals selbstständige Gemeinde Ilversgehofen<br />

in die Verträge eingebunden werden, auch hinsichtlich<br />

der Kostenbeteiligungen. Der damalige Oberbürgermeister<br />

Richard Breslau verhandelte geschickt, und als Gegenleistung<br />

für die Beteiligung Ilversgehofens wurde die notwendige Remise<br />

für die Wagen und Stallungen für die Pferde an der Johanneschaussee<br />

– der heutigen Magdeburger Allee – erbaut<br />

und damit auch ein potenzieller Arbeitsort für die Einwohner<br />

der nördlichen Gemeinde. Zum Zweiten musste eine Genehmigung<br />

der Königlichen Eisenbahndirektion Erfurt eingeholt<br />

werden, deren Gleise in der Löberstraße und auf der Steigerchaussee<br />

(heute Schillerstraße) im Zuge der vorhandenen<br />

Bahnübergänge zu kreuzen waren. Erst die Höherlegung der<br />

Bahnanlagen ab 1893 machten die Bahnübergänge obsolet.<br />

Und dann brauchte man drittens natürlich auch noch die Pferde,<br />

Wagen und Anzustellenden.<br />

Nach entsprechenden Probefahrten wurden rund sechs Monate<br />

später (!), am 13.05.1883, die Ilversgehofener Linie und<br />

die Schützenhauslinie in Betrieb genommen. Die Wagen waren<br />

mit einer roten bzw. grünen Scheibe gekennzeichnet, denn<br />

lesen konnte trotz inzwischen eingeführter Schulpflicht noch<br />

lange nicht jeder. Als Wagenfolge waren 20 Minuten vereinbart,<br />

bei entsprechender Notwendigkeit war der Takt zu verkürzen,<br />

was in erster Linie den Ausflugsverkehr betraf. Dieser<br />

Verdichtung waren allerdings durch die eingleisigen Strecken<br />

Grenzen gesetzt.<br />

Die Inbetriebnahme der dritten – gelben – Linie untersagte<br />

die Polizeibehörde übrigens, weil das Gleis in der Schlösserstraße<br />

und in der Bahnhofstraße zu nahe am Bürgersteig lag. Nach<br />

der Korrektur konnte auch diese Linie im Herbst in Betrieb gehen,<br />

allerdings liegt das genaue Datum im Dunkeln. Nun ja –<br />

139 Jahre später ... Zeitzeugen können sich ja melden. Jedenfalls<br />

dauerte die Korrektur so verhältnismäßig lange, weil die<br />

Firma ihre Berliner Facharbeiter bereits zur nächsten Baustelle<br />

geschickt hatte.<br />

Wann genau alle Wagen und Pferde verfügbar waren, ist<br />

nicht bekannt, der Geschäftsbericht des ersten Jahres weist jedenfalls<br />

19 Wagen, 50 Pferde und 51 Beschäftigte aus.<br />

Fahrzeuge und Betrieb<br />

Die 19 Wagen lieferte die Firma Scandia aus Randers/Dänemark.<br />

Dort hatte ein britisches Konsortium um 1870 eine Waggonfabrik<br />

gegründet, um für die jütländische Eisenbahn Fahrzeuge<br />

zu liefern. Das Unternehmen leitete ein irischer Ingenieur<br />

namens Rowan, der eine spezielle Bauart eines Dampftriebwagens<br />

entwickelt hatte. Lizenznehmer in Deutschland war die<br />

Firma Borsig in Berlin, die sowohl mehrere Straßenbahn- wie<br />

auch Eisenbahnbetriebe im Berliner Großraum mit diesen Fahrzeugen<br />

belieferte. Damit weilten Rowan bzw. dessen Sohn öfter<br />

in Berlin und so ergaben sich auch Kontakte zur Berliner Firma<br />

Marcks & Balke.<br />

Ungewöhnlicherweise wurden zwei Typen Pferdebahnwagen<br />

beschafft, ein vier- und ein fünffenstriger Wagen mit eigentlich<br />

annähernd gleichen Abmessungen und Gewichten. Grund<br />

dürfte sein, dass Scandia Fahrzeuge auf Vorrat gebaut hatte,<br />

die wegen der knappen Bauzeit mitgeliefert wurden. Mit zwölf<br />

Steh- und zehn bzw. zwölf Sitzplätzen war das Fassungsvermögen<br />

der Wagen nach heutigen Maßstäben eher bescheiden.<br />

Mit dem eingangs erwähnten 20-Minuten-Takt ließen sich<br />

also stündlich pro Richtung ca. 70 Personen befördern, so viele<br />

Fahrgäste passten später in einen zweiachsigen Gothawagen.<br />

Während die rote und gelbe Linie einspännig gefahren werden<br />

konnten, benötigte die grüne Linie zum Schützenhaus wegen<br />

der Steigungen in der Arnstädter Straße zwei Pferde. Übrigens<br />

verblieben die Pferde nur drei bis vier Stunden vor den<br />

Wagen, legten in dieser Zeit 20 bis 25 Kilometer zurück und<br />

mussten dann ausgewechselt werden, eine Aufgabe für Pferdeburschen,<br />

die von der jeweiligen Ausspannstelle mit den Pferden<br />

zum Betriebshof pendelten. Kinderarbeit als Teil des Familienunterhalts,<br />

heute bei uns unvorstellbar.<br />

Nachdem sich die Ertragslage wie erwartet entwickelte, dies<br />

gilt für die grüne Linie allerdings nur mit Abstrichen, lieferte<br />

Scandia 1885 neben zwei baugleichen Wagen noch zwei<br />

<strong>Sommer</strong>wagen, die halbhohe Seitenwände und keine Fenster<br />

hatten, sondern an den Seiten offen waren. Ungewöhnlicherweise<br />

waren die Seitenwände aus Korbgeflecht. Die Wagen besaßen<br />

nur zwölf Sitzplätze, Stehplätze waren nicht zugelassen.<br />

Sie waren vermutlich zur Aufwertung der Schützenhaus-Linie<br />

bestimmt, allerdings zeigt das einzige bekannte Foto einen der<br />

Wagen in der Johannesstraße. Interessant ist noch, dass alle<br />

Wagen mit umhängbaren Plattformgittern geliefert wurden,<br />

die hier zunächst aber nicht verwendet wurden, so dass das Publikum<br />

an den Haltestellen links und rechts aussteigen konnte.<br />

Bei der Pferdebahngeschwindigkeit bürgerte sich sehr schnell<br />

das Auf- und Abspringen während der Fahrt ein, entsprechende<br />

Unfallhäufungen und der Ärger mit der Polizeibehörde ließen<br />

nicht lange auf sich warten. Ab 1884 war dann ausdrücklich<br />

nur noch rechtsseitiges Ein- und Aussteigen erlaubt.<br />

1888 und 1891 kamen noch je drei weitere Wagen in Betrieb,<br />

sodass zum Ende der Pferdebahnzeit 31 Fahrzeuge zur Verfügung<br />

standen, gezogen von 100 Pferden. Inzwischen war die<br />

Stadt auf über 70.000 Einwohner angewachsen und die Pferdebahn<br />

war den Anforderungen nur noch mit Mühe gewachsen,<br />

abgesehen davon, dass die aufkommenden elektrischen<br />

Straßenbahnen in Sachen Modernität neue Maßstäbe setzten<br />

und dabei eine größere Wirtschaftlichkeit versprachen. Dazu<br />

wurde die bereits 1884 in eine Aktiengesellschaft umgewandelte<br />

Gesellschaft – das Kapital benötigte die Gründerfirma für<br />

weitere Bauvorhaben außerhalb Erfurts – 1893 an die Unabhängige<br />

Elektrizitätsgesellschaft (UEG), eine Tochter der Thomson-HoustonElectric<br />

Company in Boston, USA, verkauft. Die<br />

begann unmittelbar mit der Elektrifizierung des Netzes, einschließlich<br />

des Baus eines eigenen Kraftwerkes in der heutigen<br />

Breitscheidstraße.<br />

Bis auf die zwei <strong>Sommer</strong>wagen, die verkauft wurden, konnten<br />

die restlichen 29 Wagen für den elektrischen Betrieb adaptiert<br />

werden. 14 fünffenstrige Wagenkästen erhielten neue<br />

Triebwagenuntergestelle und die restlichen 15 Wagen wurden<br />

zu Beiwagen.<br />

Einer der beiden <strong>Sommer</strong>wagen<br />

in der Johannesstraße, im<br />

Hintergrund das Tivoli<br />

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