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Zukunft Forschung 01/2023

Das Forschungsmagazin der Universität Innsbruck

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NEUBERUFUNG<br />

FUNDGRUBE VERGANGENHEIT<br />

EIN LEBEN FÜR DIE PFLANZEN<br />

Die umgangssprachliche „Stressachse“<br />

im menschlichen Körper<br />

bezeichnet die Wechselwirkung<br />

zwischen drei Organen und ist Hauptteil<br />

des Hormonsystems, das unsere<br />

Reaktion auf Stress reguliert. Wissenschaftlich<br />

heißt die Stressachse HPA-<br />

Achse, nach den (englischen) Namen<br />

der drei betroffenen Organe: Hypothalamus,<br />

Hypophyse und Nebennierenrinde.<br />

Wissenschaftler:innen der McGill<br />

University in Kanada haben vor mehreren<br />

Jahren im Versuch mit Ratten nachweisen<br />

können, dass Körperkontakt im<br />

Babyalter unmittelbar Auswirkungen<br />

auf Rezeptoren in der HPA-Achse hat:<br />

Ratten, die viel Körperkontakt hatten,<br />

waren als erwachsene Ratten deutlich<br />

stressresistenter und auch sozial motivierter<br />

als andere.<br />

„Dieses Ergebnis fand ich sehr spannend<br />

– in den Ratten konnten sogar epigenetische<br />

Veränderungen nachgewiesen<br />

werden, durch Körperkontakt im<br />

Babyalter“, sagt Annett Schirmer vom<br />

Institut für Psychologie. Sie forscht zu<br />

zwischenmenschlicher Berührung und<br />

der Auswirkung von Berührungen auf<br />

Emotionen und Sozialverhalten. „Nun<br />

stellt sich natürlich die Frage, ob das<br />

auch bei Menschen nachgewiesen werden<br />

kann, und falls ja, ob die Beobachtung<br />

nur bei Babys zutrifft oder ob auch<br />

Erwachsene profitieren könnten.“ Dazu<br />

hat Schirmer mit ihrem Team Mütter<br />

mit ihren drei- bis fünfjährigen Kleinkindern<br />

eingeladen und auf Video aufgenommen.<br />

„Wir haben gezählt, wie oft<br />

die Mutter ihr Kind berührt, und uns<br />

danach angesehen, wie ausgeprägt das<br />

Sozialverhalten der Kinder ist und wie<br />

der Entwicklungsstand von Strukturen<br />

im Gehirn ist, die Emotionen und das<br />

Sozialverhalten unterstützen.“ Das Ergebnis<br />

deckte sich mit dem Tierversuch<br />

aus Kanada: Kinder, die viele Berührungen<br />

erfahren haben, konnten Emotionen<br />

besser erkennen, haben sich eher nach<br />

sozialen Stimuli in ihrer Umgebung<br />

orientiert und hatten mehr Aktivität<br />

und eine höhere Vernetzung in Gehirnstrukturen,<br />

die mit der Verarbeitung<br />

von emotionalen und sozialen Reizen<br />

zusammenhängen.<br />

ANNETT SCHIRMER studierte an<br />

der Universität Leipzig Psychologie und<br />

promovierte am dortigen Max-Planck-Institut<br />

für Kognitions- und Neurowissenschaften.<br />

2004 zog sie in die USA und<br />

trat an der University of Georgia ihre<br />

erste Professur an. 2006 wechselte sie an<br />

die National University of Singapore und<br />

2<strong>01</strong>7 an die Chinese University of Hong<br />

Kong. Seit September 2022 leitet sie die<br />

Abteilung für Allgemeine Psychologie II:<br />

Emotion und Motivation am Institut für<br />

Psychologie der Universität Inns bruck.<br />

SOZIALER DURCH BERÜHRUNG<br />

Die Psychologin und Neurowissenschaftlerin Annett Schirmer<br />

erforscht, wie zwischenmenschliche Berührungen Emotionen und Sozialverhalten formen.<br />

In einem künftigen Projekt will Annett<br />

Schirmer nun Erwachsene über längere<br />

Zeiträume näher untersuchen und erheben,<br />

ob der Einfluss von Berührungen<br />

auf die Funktionsweise des Gehirns auch<br />

im Erwachsenenalter noch vorhanden ist.<br />

„Es wäre großartig, wenn diese Plastizität<br />

im Gehirn bleibt und man, sehr einfach<br />

formuliert, Menschen durch Berührung<br />

sozialer machen oder sie bei der<br />

Stressregulation unterstützen könnte.“<br />

Schirmers Ziel ist, Methoden über Sensoren<br />

auf der Haut oder mittels 3D-Videotechnik<br />

zu entwickeln, die es erlauben,<br />

zwischenmenschliche Berührung im Alltag<br />

zu messen und diese mit Hirnscans<br />

zu vergleichen: „Wir arbeiten gerade an<br />

entsprechenden Anträgen und an der<br />

technischen Umsetzung.“ Kurzfristige<br />

Effekte bei Erwachsenen konnte Schirmer<br />

bereits nachweisen: Menschen sind empfänglicher<br />

für Emotionen von anderen,<br />

nachdem sie sanft berührt oder gestreichelt<br />

wurden. „Diesen kurzfristigen Effekt<br />

sehen wir im EEG. Nun interessiert<br />

mich aber, ob es auch langfristige Effekte<br />

gibt“, erklärt die Forscherin. sh<br />

Vor 160 Jahren erschien in Inns bruck Das Pflanzenleben der Donauländer, das Hauptwerk des<br />

Botanikers Anton Kerner, dem Begründer der modernen kausalanalytischen Pflanzengeografie.<br />

Schon als Jugendlicher begeisterte<br />

sich Anton Kerner für Botanik, mit<br />

seinem Bruder Josef durchstreifte er<br />

die Natur rund ums heimatliche Mautern.<br />

Als Studienfach jedoch wählte er – auf<br />

Drängen seines Vaters – die Medizin, zumindest<br />

unter Einschluss der Botanik,<br />

der er sich zudem in der 1851 in Wien gegründeten<br />

zoologisch-botanischen Gesellschaft<br />

widmete. Nach Abschluss des Studiums<br />

1854 beschäftigte sich Kerner mit<br />

medizinischer Pflanzenkunde, orientierte<br />

sich neu und wurde Lehrer für Naturgeschichte<br />

an der Oberrealschule in Ofen,<br />

1858 dann Professor am dortigen Josefs-<br />

Polytechnikum, der heutigen Technischen<br />

und Wirtschaftswissenschaftlichen Universität<br />

Budapest. In dieser Zeit befasste<br />

sich Kerner intensiv mit der pannonischen<br />

Flora und unternahm Expeditionen<br />

in die Gebirge Siebenbürgens. Doch die<br />

politischen Spannungen in Ungarn, die<br />

Anfeindungen der Deutschen belasteten<br />

den Forscher, die zu besetzende Professur<br />

für Naturgeschichte an der Universität<br />

Inns bruck eröffnete ihm einen Ausweg.<br />

Die Jahre in Tirol waren für Kerner<br />

die wissenschaftlich fruchtbarste Zeit,<br />

er konnte sich zur Gänze auf botanische<br />

<strong>Forschung</strong>en konzentrieren. Er durchwanderte<br />

die Tiroler Bergwelt und begann,<br />

morphologische Differenzierung<br />

mit Areal und Standort zu verbinden. Am<br />

Blaser – ein Berg bei Trins im Gschnitztal<br />

– legte er auf 2. 200 Meter einen alpinen<br />

Versuchsgarten an, um den Einfluss der<br />

Seehöhe auf Pflanzen zu untersuchen.<br />

Mit der Professur verbunden war auch<br />

die Leitung des Botanischen Gartens,<br />

damals im Bereich der heutigen Angerzellgasse<br />

gelegen. Kerner gestaltete den<br />

Garten neu und ordnete ihn aufgrund<br />

seiner Beobachtungen im Gelände nach<br />

pflanzengeografischen Kriterien – Beete<br />

in acht Gruppen entsprachen en miniature<br />

den Hauptmassiven der Tiroler Bergwelt.<br />

Kerner ließ dafür Gesteine der einzelnen<br />

Gebirgszüge heranschaffen und gruppierte<br />

darauf Alpenpflanzen. Dieses Alpinum<br />

fand internationale Beachtung, diente der<br />

<strong>Forschung</strong> und vermittelte der Bevölkerung<br />

Wissen über die heimische Pflanzenwelt.<br />

International beachtet<br />

1863 erschien mit Das Pflanzenleben der<br />

Donauländer sein wissenschaftliches<br />

Hauptwerk, ein Jahr darauf Die Cultur<br />

der Alpenpflanzen. Mit seinen <strong>Forschung</strong>en<br />

machte sich Kerner zu einem der<br />

Begründer der Pflanzensoziologie. Seine<br />

Arbeit Die Schutzmittel der Blüthen gegen<br />

unberufene Gäste (1876), in der Kerner die<br />

„Selektionsvorteile“ bietenden Eigentümlichkeiten<br />

im Bau der Blüten untersuchte,<br />

stieß auf internationales Interesse, kein<br />

geringerer als Charles Darwin gratulierte<br />

ihm zu diesen <strong>Forschung</strong>en.<br />

Im Laufe der Inns brucker Jahre lehnte<br />

Anton Kerner (ab 1877 von Marilaun) einige<br />

Berufungen an andere Universitäten<br />

ab, jene 1878 an die Universität Wien – in<br />

Kombination mit der Direktion des dortigen<br />

Botanischen Gartens – nahm er aber<br />

an. In den 1880er-Jahren wurde ihm<br />

schließlich eine besondere Ehre zuteil.<br />

Das Bibliographische Institut, ein Verlag<br />

in Leipzig, suchte für seinen Bestseller<br />

„Brehms Tierleben“ eine floristische Ergänzung<br />

und wurde dabei auf die anschaulichen<br />

Beschreibungen in Das Pflanzenleben<br />

der Donauländer aufmerksam.<br />

Kerner erhielt den Auftrag. Zu seinem 60.<br />

Geburtstag erschien das zweibändige<br />

Pflanzenleben, das den Autor im deutschsprachigen<br />

Raum nun auch einem breiten<br />

Publikum bekannt machte. ah<br />

ANTON KERNER (1831 – 1898) studierte<br />

Medizin in Wien und promovierte 1854.<br />

1860 wurde er als Professor für Naturgeschichte<br />

an die Universität Inns bruck berufen.<br />

Anfangs umfasste der Lehrstuhl die<br />

gesamte belebte und unbelebte Natur. Mit<br />

Camil Heller (1863, Zoologie) und Adolf<br />

Pichler (1867, Mineralogie und Geognosie)<br />

kam es zur Dreiteilung des Faches, Kerner<br />

konnte sich auf die Botanik konzentrieren.<br />

1878 wurde er als Ordinarius und Direktor<br />

des Botanischen Gartens an die Universität<br />

Wien berufen. Ein Jahr zuvor war<br />

Kerner in den Adelsstand erhoben worden<br />

(„von Marilaun“). Sein selbst gestaltetes<br />

Wappen schmückte die Uraurikel Primula<br />

pubescens. Kerner erkannte als erster, dass<br />

es sich bei dieser seit Langem bekannten<br />

Garten-Primel, die er im Tiroler Gschnitztal<br />

(wieder)fand, um eine Naturhybride aus<br />

der Aurikel (Primula auricula) und der<br />

Behaarten Primel (Primula hirsuta) handelt.<br />

Unter anderem darauf gründete sich der<br />

evolutionstheoretische Ansatz Kerners,<br />

dass Artbastarde die Grundlage von Variabilität<br />

und Entstehung neuer Arten sind.<br />

6 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />

Foto: Andreas Friedle<br />

Foto: Archiv der Universität Wien / Fritz Bopp<br />

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