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Zukunft Forschung 01/2023

Das Forschungsmagazin der Universität Innsbruck

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ESSAY<br />

DAS „UNCANNY VALLEY“ DER<br />

MITTELALTERREZEPTION<br />

Was kann man aus vermeintlich realistischen Computerspielen über das<br />

Mittelalter lernen und was nicht? Dieser Frage widmet sich Franziska Ascher.<br />

„Eine Simulation<br />

spiegelt den<br />

Wissensstand und<br />

damit auch die<br />

Weltsicht derer wider,<br />

die sie erschaffen<br />

haben.“<br />

FRANZISKA ASCHER (*1988<br />

in Landshut, Deutschland)<br />

studierte Germanistische<br />

Mediävistik, Neuere Deutsche<br />

Literatur und Psychologie<br />

an der Ludwig-Maximilians-<br />

Universität München. Ihr<br />

Doktoratsstudium, das sie<br />

an der Goethe-Universität<br />

Frankfurt und der Ludwig-Maximilians-Universität<br />

München<br />

absolvierte, schloss Ascher<br />

2020 ab. Seit 2021 forscht<br />

sie als Postdoc am Institut für<br />

Germanistik der Universität<br />

Inns bruck. Außerdem ist sie<br />

Herausgeberin von PAIDIA –<br />

Zeitschrift für Computerspielforschung<br />

und Mitbegründerin<br />

der Inns brucker <strong>Forschung</strong>sgruppe<br />

Game Studies.<br />

Im Jahre 2<strong>01</strong>8 kam mit ‚Kingdom Come<br />

Deliverance‘ (KCD) ein Computerspiel auf<br />

den Markt, dessen größtes Feature die Abwesenheit<br />

eines Features war: keine Drachen<br />

oder Elfen! Stattdessen: beinharter Realismus.<br />

So zumindest wurde es beworben: „Ein realistisches<br />

First-Person RPG, das dich ins mittelalterliche<br />

Europa entführt.“<br />

KCD ist somit zwar kein Simulator, wie<br />

etwa der jährlich neu aufgelegte ‚Landwirtschafts-Simulator‘,<br />

hat aber den durchaus<br />

simulatorischen Anspruch, ein authentisches<br />

Bild des Mittelalters zu zeichnen. Eine Mittelalter-Simulation<br />

sozusagen. Doch kann KCD<br />

– oder irgendein Spiel – diesem Anspruch gerecht<br />

werden?<br />

Nüchtern betrachtet: Gemessen an der Realität<br />

muss eine Simulation immer defizitär erscheinen,<br />

denn Simulationen simulieren nicht<br />

ganzheitlich Realität, sondern bestimmte Aspekte<br />

davon. Doch ist das ein Makel?<br />

Stellen wir uns einen Flugsimulator vor,<br />

in dem es gelegentlich vorkommt, dass Spieler:innen<br />

mit ihrem Flugzeug ins Meer stürzen.<br />

Ist das Spiel deswegen in der Pflicht,<br />

ein komplettes Unterwasser-Ökosystem zu<br />

simulieren? Nein, denn es handelt sich ja um<br />

einen Flugsimulator. Es geht dem Spiel nicht<br />

um Korallenriffe, Meeresströmungen oder<br />

Fischschwärme – und eigentlich nicht einmal<br />

ums Abstürzen. Es geht darum, Spieler:innen<br />

einen möglichst realistischen Eindruck davon<br />

zu vermitteln, wie sich ein Flugzeug steuert.<br />

Die Zielsetzung bestimmt die Simulation.<br />

Außerdem spiegelt eine Simulation den<br />

Wissensstand (und das bedeutet auch die<br />

Weltsicht) derer wider, die sie erschaffen haben.<br />

Das lässt sich gut anhand von Spielen illustrieren,<br />

welche den Klimawandel thematisieren,<br />

denn sie können den Klimawandel maximal<br />

so weit simulieren, wie die <strong>Forschung</strong><br />

ihn versteht.<br />

Nun reden wir aber nicht von Simulation<br />

zu <strong>Forschung</strong>szwecken, sondern von Serious<br />

Games, die zwar Wissen vermitteln wollen,<br />

aber auch als Spiele attraktiv genug sein müssen,<br />

um Spieler:innen bei der Stange zu halten.<br />

Realismus kann der Tod des Spielspaßes sein,<br />

von daher ist Simulation in diesem Kontext<br />

vor allem ein Versprechen. Und zwar das Versprechen,<br />

man könne spielerisch – was auch für<br />

‚leicht‘ und/oder ‚lustvoll‘ steht – Erkenntnis<br />

über die ‚echte‘ Welt erlangen.<br />

Kann man also durch KDC etwas über das<br />

Mittelalter lernen? Etwas bestimmt. Es gelten<br />

jedoch die oben genannten Einschränkungen<br />

und so lernen wir vor allem etwas über das<br />

Mittelalterbild seiner Entwickler:innen. Allzu<br />

oft verbergen sich die ‚Ismen‘ der Gegenwart<br />

hinter einem vermeintlichen Authentizitätsanspruch,<br />

und gerade die mittelalterliche Mentalität<br />

– die zugegebenermaßen schwieriger als<br />

ein Paar Sandalen zu rekonstruieren ist – wird<br />

häufig vernachlässigt.<br />

Mittelhochdeutsche Epen haben wenig Beweiskraft,<br />

was die Lebensrealität mittelalterlicher<br />

Menschen angeht. Doch sie sagen uns<br />

viel über die Ideale und Träume der Menschen<br />

von damals. Und die können Befremden auslösen,<br />

wenn man in das Uncanny Valley der<br />

Mittelalterrezeption fällt: Auf den ersten Blick<br />

scheint alles vertraut und gar nicht so anders<br />

als heute. Liebe, Hass, Familie, Freundschaft<br />

– das sind universelle Konzepte, die man zu<br />

kennen glaubt. Doch in dem Moment, da der<br />

mittelalterliche Text eine fremde Mentalität<br />

offenbart und einem klar wird, dass das, was<br />

man für eine anthropologische Konstante gehalten<br />

hat, vor nicht einmal 1. 000 Jahren noch<br />

anders aussah, ist der Schock nur umso größer.<br />

Die eigene Kultur erscheint plötzlich wie<br />

eine fremde.<br />

Das Mittelalter, wie es uns aus mittelalterlichen<br />

Texten entgegentritt, überrascht einen<br />

immer wieder – mal im positiven, mal im<br />

negativen Sinne. Es ist, bei aller Vertrautheit,<br />

anders. Nicht nur anders als die Gegenwart,<br />

sondern vor allem anders als unsere populären<br />

Imaginationen des Mittelalters.<br />

Was viele ‚Mittelalter-Simulationen‘ aktuell<br />

nicht leisten, ist, diese Andersartigkeit erfahrbar<br />

zu machen. Und dafür ist es völlig zweitrangig,<br />

ob in einem Spiel Drachen vorkommen<br />

oder nicht.<br />

50 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />

Foto: Thomas Mauer<br />

SOS-Kinderdorf dankt KULTIG für die kostenlose Einschaltung!

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